COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Literatur Sendung vom 8. 4. 2014 Liebesbalancen Muttersuchbilder schreibender Söhne Von Michael Opitz Redaktion: Sigried Wesener Musik: I. Strawinsky: Ödipus Rex (gesungen von Jessye Norman) B. Bartok: Divertimento für Streichquartett Richard Wagner: Isoldes Liebestod (gesungen von Waltraud Meier) Musik: Igor Strawinsky "Ödipus Rex" (Nonn erubescite, reges, gesungen von Jessye Norman), 0:00-0:12 I. Erzähler: Ihre Ehe muss kinderlos bleiben. Musik: Igor Strawinsky "Ödipus Rex" (Nonn erubescite, reges), 0:13-0:27 II. Erzähler: So will es das Orakel. Musik: Igor Strawinsky "Ödipus Rex" (Nonn erubescite, reges), 0:28-0:54 III. Erzähler: Käme ein Sohn zur Welt, es wäre eine Katastrophe, denn er würde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Musik: Igor Strawinsky "Ödipus Rex" (Nonn erubescite, reges), 0:55-1:13 IV. Erzähler: Als Ödipus zur Welt kam, nahm das Schicksal seinen Lauf. Musik: Igor Strawinsky "Ödipus Rex" (Nonn erubescite, reges), 1:14-1:30 V. Erzähler: Er erschlug seinen Vater und kehrte als Mann in den Schoß seiner Mutter zurück. Stärker als ihr Verrat war die Liebe zu seiner Mutter. 1. O-Ton Ch. Meckel, CD 2, 1:00: "Ich habe meine Mutter nicht geliebt." Musik: Zäsursetzendes, den Satz in seiner Tragweite unterstreichendes kurzes Musikstück VI. Erzähler: Christoph Meckels irritierender Satz, er habe seine Mutter nicht geliebt, steht im Zentrum seines 2002 erschienenen Romans "Suchbild. Meine Mutter". Darin widerspricht der 1935 geborene Autor der Selbstverständlichkeit, dass man seine Mutter lieben müsse. Meckel versucht bei seinem Rückblick in die Vergangenheit der Frau ganz nah zu kommen, die ihn immer auf Distanz hielt. Sein sich aus vielen Erinnerungssplittern zusammensetzendes Mutterporträt stellt er dem "Suchbild" über seinen Vater zur Seite, wobei beide Porträts die Flügelbilder eines Triptychons bilden. In dessen Mitte steht Christoph Meckel, der den Eindruck erweckt, als wäre er zwischen seine Eltern gefallen. Anzeichen dafür, dass ihm seine Mutter ein Halt gewesen wäre, gibt es nicht. 2. O-Ton Ch. Meckel, CD 2, Track 3, 2:38-3:03: "Das Fehlende ist nicht vergleichbar mit Wenig und Nichts. [...] Es machte sich gegenständlich als taube Last, die sich nur zögernd zu erkennen gab. Es ballte sich um die Erscheinung einer Frau, die meine Mutter war, meine Mutter sein sollte, eine Mutter, die meine war und also geliebt. Es wurde vorausgesetzt, daß die Mutter geliebt wird, es wurde erwartet, veranstaltet und befohlen." (Suchbild. Meine Mutter, S. 7f.) VII. Erzähler: Christoph Meckels Mutter war umgeben von einer intellektuellen Aura. Die junge Frau hatte bei Martin Heidegger in Freiburg Philosophie gehört und später promovierte sie im Fach Anglistik. Künstler, Schriftsteller und Philosophen waren unter den Gästen, wenn die Meckels zu abendlichen Empfängen einluden, bei denen die kluge Frau eine gefragte Gesprächspartnerin war. In seinen Erinnerungen sieht Meckel seine Mutter vor sich, die mit einem Buch in der Hand auf einem Sofa sitzt und liest. Zitator: "Sie lebte mit Proust, Fontane und anderen, im wohltemperierten Lesen von Literatur. In ihm schien sie aufbewahrt, ein gewähltes Zuhause [...]. Sie literarisierte die Existenz. In der Sprache fand sie das Leben entschlackt und schön, ideale Körperlichkeit ohne Blasenentzündung, unkörperliches Befinden und feine Distanz." (Suchbild. Meine Mutter, S. 80) VIII. Erzähler: Während sie vertrauten Umgang mit ihren literarischen Figuren pflegte, blieb ihr Sohn für sie ein Fremder. Fast will es scheinen, Christoph Meckel wäre auch deshalb Schriftsteller geworden, weil ihm die Literatur eine Chance bot, endlich von seiner Mutter wahrgenommen zu werden; weil er hoffte, dass sie ihm wenigstens als Autor die Zuneigung entgegenbringen würde, die er als Heranwachsender entbehren musste. Zitator: "Gäbe es noch einmal Leben für mich, und wären wieder ähnliche Eltern da - ich ginge fort ohne weitere Folgen. Das Glück zweier Menschen ist die Zeugung des Kindes. Alles Weitere ist endlos offen. Kurzer Abgang ohne Schmerz und Zorn." (Suchbild. Meine Mutter, S. 111) IX. Erzähler: Als Meckel das Buch über seine Mutter zu schreiben begann, lebte sie noch, doch erst nach ihrem Tod veröffentlichte er den Roman. Zu dieser Entscheidung will das dem Roman vorangestellte Motto von Ingeborg Bachmann eigentlich nicht passen: 2. O-Ton Ch. Meckel, CD 2, Track 3, 0:30-0:34: "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar." X. Erzähler: Seiner Mutter mutet er sie nicht zu. Aber es gibt auch keine nachträgliche Versöhnung - Meckel hat sein Mutterbild nicht retuschiert, sondern er zog mit dem Roman einen Schlussstrich unter das Mutterkapitel. 3. O-Ton Meckel, CD 7, 22:45: "Nach dem Schreiben ist etwas zu Ende. Es ist nicht mehr nötig, an die Person zu denken. Sie ist nicht mehr in der Weise da wie vorher." Musik: 4. O-Ton Volker Braun: "Ich erfuhr im Mutterleib, daß man lieben kann, und Liebe entbehren kann, und man kann um sie kämpfen." (Mittagsmahl, 23) XI. Erzähler: Anders als Christoph Meckels Mutter, die mit Liebe geizte, verwöhnte Volker Brauns Mutter ihren Sohn und seine vier Brüder mit Mutterliebe. Ihr hat Volker Braun die Erzählung "Das Mittagsmahl" gewidmet, in der er sich nicht nur an seine Mutter, sondern auch an seinen im Krieg gefallenen Vater erinnert. 5. O-Ton Volker Braun: "In der Stadt Wien gibt es, am Graben, gleich gegenüber vom Stephansdom, ein vornehmes Konfektionsgeschäft, über dessen Türen und Scheiben, in schönen Lettern, der Name des Inhabers prangt: Erich Braun. Immer denke ich, daß es mein Vater sein könnte, der sich darin verbirgt, und seine große Familie verlassen hat, für ein zweites, angenehmes Leben, und bin in Versuchung hineinzugehn, um den Elenden zu umarmen." (Mittagsmahl, 55) XII. Erzähler: Als sich Volker Brauns Eltern kurz vor Kriegsende ein letztes Mal sahen, ahnte seine Mutter, dass sie ihren Mann nicht wiedersehen wird. Vergeblich flehte sie ihn an, doch zu bleiben. Aber er hörte nicht auf ihr Bitten und folgte dem Befehl des Führers. Dieses letzte Beisammensein des Paares verfremdet Volker Braun, wenn in der von ihm beschriebenen Abschiedsszene der Eindruck erweckt wird, als würden Vater und Mutter - der noch Lebende, aber Todgeweihte und die Verheiratete, die allein bleiben wird - sich umarmen können wie es Gegenwart und Zukunft in einer Erzählung können. 7. O-Ton Volker Braun: "Sie schämt sich nicht, den Toten zu umarmen, er faßt gierig das letztemal nach der Überlebenden. Der Tod hat Anspruch auf ihn, und auf sie wartet das Alleinsein; beides steht, zum Greifen nah, im Raum, zwei Ängste, die sich mit ins Bett legen. Sie hat einen warmen Leib, sie kann den Mann noch wärmen. Sie kann sich noch schadlos halten, so lange sie ihn festhält, das ist ihre Macht; aber wie weit reicht sie." (Mittagsmahl, 29f.) XIII. Erzähler: Als längst Frieden war, musste Volker Brauns Mutter weiter kämpfen, die fünf Kinder hatte und keinen Mann, der ihr dabei hätte helfen können, sie groß zu ziehen. Was seine Mutter entbehrte, blieb Volker Braun nicht verborgen und doch sagt er an keiner Stelle der Erzählung den Satz, der den Text grundiert: Ich habe meine Mutter geliebt! 6. O-Ton Volker Braun: "Wenn ich jetzt die Nachricht weitergebe, und jene Frau auch tot ist und war am Ende schwach und mager geworden, ist mir, als habe sie Leib und Blut gegeben; und so jeden Tag, den kein Mann werden ließ; und wir wußten nicht, was es für ein Opfer, für ein Fest war. Und etwas Schmerzliches, Schönes, ein Glück und Unglück will zur Sprache kommen, mit der ich hindurchgeh aus eigener Kraft." (Mittagsmal, 47f.) XIV. Erzähler: Nähe zur Mutter, die für den Heranwachsenden Volker Braun alltäglich war, hätte die Mutter von Christoph Meckel nie zugelassen. 8. O-Ton Volker Braun: "Ich lag mehr Jahre neben meiner Mutter als mein Vater, und ich weiß nicht, wie sie mich ansah zärtlich untröstlich. Ich habe Entsagung gelernt, bevor ich ein Mann war." (Braun, Das Mittagsmahl, 26) Musik: XV. Erzähler: Auch der Vater des 1941 geborenen Wolfgang Hilbig blieb wie Volker Brauns Vater im Krieg, sodass auch Hilbig im elterlichen Ehebett neben seiner Mutter einen Platz einnehmen musste, der eigentlich für seinen Vater bestimmt war. Als Stätte des Leids beschreibt Hilbig das Ehebett in seinem 2000 erschienenen Roman "Das Provisorium". Aus Scham versucht der pubertierende C. alles vor seiner Mutter geheim zu halten, was sich seit dem Erwachen der Sexualität doch nicht verheimlichen lässt. So sehr er sich auch anstrengt, sein aufmüpfiges Glied zu kontrollieren, es führt ein Eigenleben, sodass der Bettplatz neben seiner Mutter für C. zu einer Folterstätte wird. Zitator: "Es kam also darauf an, daß er unsichtbar blieb ... das war am besten durch sein Verschwinden zu erreichen. Es war absurd, aber dieses unmögliche Anhängsel mußte verschwinden wie sein Vater ... in einer Art Stalingrad, in einem Kessel, wo alles in Grund und Boden gestampft wurde, wo nichts wieder herauskam. Es mußte ein blutiges Gemetzel geben, von dem nur noch, wie im Falle seines Vaters, eine amtliche Benachrichtigung übrigblieb, mit der trockenen Bemerkung: Vermißt." (Hilbig, Das Provisorium, S. 208) XVI. Erzähler: Immer wieder hat sich Wolfgang Hilbig in seinem Werk mit seiner Herkunft auseinandergesetzt. Damit zusammenhängende Fragen diskutiert er in seinen Texten, indem er Zwiesprache mit seinen literarischen Figuren hält, wobei auffällig ist, dass deren Biographien der des Autors ähneln. In der 1987 erschienenen Erzählung "Die Weiber" fragt der im Zentrum des Geschehens stehende C. seine Mutter nach den Gründen, warum er eigentlich leben soll. Zitator: "... ich war über vierzig, und sie hatte es bisher vor mir geheimgehalten ... aber schließlich hatte sie sich die Mühe gemacht, dieses wahnsinnig kreischende Bündel, das ich in den letzten Kriegsjahren war, durch das Geheul und Geknatter der Bombennächte zu karren, mich in die Bunker zu schleppen, nein, sie hatte mich nicht einfach am Straßenrand weggeworfen, obwohl es gar nicht aufgefallen wäre. - Ach, und der Staat hatte mich nicht weggeworfen ... auch er konnte mir nicht erklären, wozu ich leben sollte, wenn nicht, um ihm zu dienen, um sein Eigentum an Bevölkerung zu mehren, für ihn lag es auf der Hand, daß ich ihm zu uneingeschränkter ewig währender Dankbarkeit verpflichtet war. Denn er im Grunde hatte mich gemacht ... oh, es war ein Zeugungsakt von ungeheurer Intensität geschehen." (Hilbig, Die Weiber, 69) XVII. Erzähler: Hilbigs Mutter hatte gehofft, ihr Sohn würde wie sein Vater werden, der ein praktischer und allseits geschätzter Mann war. Doch als der Sohn hinter dem väterlichen Vorbild zurückblieb, überhäufte sie ihn mit Vorwürfen. Da sie lange Zeit nicht bereit war zu akzeptieren, wer er geworden war, wollte sich der Sohn von der loszusagen, die ihn geboren hatte. Zitator: "Ich hatte feststellen müssen, daß ich niemand war. - Ich wußte nicht, ob ich existierte; man hatte es mir verschwiegen, [...] denn ich war nicht der Gegenstand geworden, den man mit mir hatte der Welt überreichen wollen. Ja, ich hatte den Fehler gemacht, mich gebären zu lassen, mich aufziehen zu lassen vom Staat und seiner Erziehung, von der Erziehung und ihrem Staat, ich hatte mich geradezu angeboten dafür - doch dann war ich anders geworden. Also hatte ich nichtig zu sein, es gab weder eine Gebärmutter noch eine Erziehung, noch einen Staat für die Kreatur, die aus mir geworden war." (Hilbig, Die Weiber, 86) XVIII. Erzähler: In der Erzählung "Die Weiber" kommt Hilbigs Alter Ego C. zu dem Schluss, dass ihm eigentlich nur noch die Möglichkeit bleibt, seine Geburt rückgängig zu machen, die der entscheidende Fehler war. Von daher wäre es nur konsequent, wenn er sich selbst erschaffen würde, da er erst dann auch allein für sich verantwortlich wäre. Da aber Eigenschöpfung in der menschlichen Genealogie nicht vorgesehen ist, erweisen sich C.s Überlegungen als eine Kopfgeburt. Sie verdeutlichen jedoch sehr genau die prekäre Situation, in der sich Hilbigs Protagonist befindet, der an seine Herkunft gebunden und in ihr gefangen bleibt. Musik: 9. O-Ton Delius MD, Track 7, 0:07-0:30: "Ich habe 1994 "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde" veröffentlicht, in dem es ja sehr um meinen Vater ging. Das war in der Zeit, in der meine Mutter starb, und ich habe damals schon darüber nachgedacht, irgendwann musst du auch einmal versuchen, diese Mutter zu beschreiben. Das hat dann aber noch zwölf Jahre gedauert." XIX. Erzähler: Ebenso wie Christoph Meckel hat Friedrich Christian Delius nach dem Buch über seinen Vater ein Buch über seine Mutter geschrieben. In "Bildnis der Mutter als junge Frau" überrascht die besondere Perspektive, für die er sich entschieden hat, um seine Mutter zu porträtieren. Dazu versetzt er sich in die Lage vor seiner Geburt und kommentiert als Ungeborener, was seine Mutter auf einem Spaziergang durch Rom im Januar 1943 erlebt hat. 10. O-Ton F. C. Delius, MD, Track 10: "Laufen Sie, junge Frau, laufen Sie, wenn Sie wollen laufen, der Kind freut sich, hatte Dr. Roberto in seinem lustigen Deutsch mit kräftiger italienischer Betonung gesagt, und wie immer, wenn sie sich aufmachte zu einem Spaziergang oder zu einer Besorgung in die Stadt, tänzelten ihr die Wörter durch den Kopf, die der Arzt nach der wöchentlichen Untersuchung mit freundlich mahnendem Lächeln und geschmeidiger Stimme auszusprechen pflegte, schöne Frau, junge Frau, gesunde Frau, bewegen gut, anstrengen nicht gut, und der Sauerstoff von römische Luft, etwas mehr Gutes nicht gibt in Italien für Sie und der Kind, und alles ohne Geld, die Stadt Roma sich freut, Ihnen und der Kind seine gute Luft zu schenken, kuriose Ermunterungen und lässige Komplimente, die sie schon vor dem ersten Schritt nach draußen begleiteten," (Delius, S. 7) XX. Erzähler: Der im Februar 1943 in Rom geborene Delius ist in der autobiographischen Erzählung doppelt anwesend. Als fiktiver Erzähler schaut er seiner Mutter über die Schulter, die sich auf dem Weg in eine Kirche befindet, die später Delius' Taufkirche wird. Zwar greift der Autor auf Reales zurück, aber nichts von dem, was er ins Bild setzt, kann die zentrale Figur zum Zeitpunkt des Handlungsgeschehens wirklich sehen. Seine Mutter beschreibt Delius als eine junge, politisch naive und von nationalsozialistischen Ideen verblendete Frau, deren Mann an dem Tag an die Front abkommandiert wurde, als das Paar in Rom ankam. 11. O-Ton Delius, MD, Track 14: "sie durfte sich die Sehnsucht nicht anmerken lassen, das gehörte sich nicht für die Frau eines deutschen Soldaten, die mit aller Geduld in der Heimat zu warten hatte zuerst auf den endgültigen Sieg und dann auf ihren Mann, aber sie war nicht in der Heimat, sie war in der Fremde und sie trug ein Kind, sie hatte sich selbst in das Abenteuer gestürzt," Musik: Belá Bartók, Divertimento für Streichquartett 12. O-Ton Urs Widmer, CD 2, 0:44/2:25: "Ja, ich habe an meine Mutter gedacht. Das Verhalten dieser Frau ist ein Rätsel." XXI. Erzähler: Während Christoph Meckel von seiner Mutter als einer Frau spricht, die er nicht lieben konnte, erfährt man aus dem Roman "Der Geliebte der Mutter" von der leidenschaftlich liebenden Mutter des 1938 geborenen Urs Widmer. Doch mit Liebe überhäufte sie nicht ihren Sohn, sondern ihren Geliebten, den Dirigenten Edwin. Tragisch an der Mutterliebesgeschichte ist, dass es sich um eine platonische Liebe handelt, denn die Mutter liebte nach dem Ende ihrer Affäre weiter den Mann, der sie längst vergessen hatte. Das Liebesvakuum, in dem Urs Widmers Mutter als Kind aufwuchs, geriet außer Kontrolle, als es der Liebe gelang, in die Leere einzudringen, sie auszufüllen und darin sesshaft zu werden. Urs Widmer hat ein Buch geschrieben, in dem die Liebesirrungen seiner Mutter das zentrale Ereignis sind. Als er noch ein Kind war, hatte sie ihn auf dem Arm, wenn sie zum See ging und ins Wasser hineinlief, um dem geliebten Mann näher zu kommen, dessen Haus am anderen Ufer stand. Sehnsuchtsvoll blickte sie dorthin hinüber, wo sie gern gewesen wäre, und während sie träumte, vergaß sie, wo sie sich in Wirklichkeit befand. 13. O-Ton Urs Widmer, CD 3, Track 5, 6:42-715 "Jäh wachte sie auf, vielleicht weil ihr Kind auch mit dem Kopf ins Wasser geraten war und um sich schlug. Sie holte mich hoch und stapfte ans Ufer. Alles naß, die Beine, der Bauch. Eine Wasserspur hinter sich lassend, rannte sie nach Hause zurück und warf mich und sich aufs Bett. - Sie biß sich jetzt oft die Lippen blutig, hatte verkrustete Rinnsale auf dem Kinn. Ihr Kind floh vor ihr, ich, und reckte ihr dennoch die Ärmchen entgegen." (Widmer, S. 94) XXII. Erzähler: Mit Elektroschocks wurde Urs Widmers Mutter behandelt, weil man glaubte, so ihren Liebeswahn heilen zu können. Nach dieser Therapie ging sie zwar nicht mehr zum See, aber nichts half gegen ihre Liebe zu Edwin, für den sie bis zu ihrem selbstgewählten Tod lebte. 14. O-Ton Urs Widmer, CD 4, Track 4, 2:36-2:48 "Die Geschichte ist erzählt. Die Geschichte einer Leidenschaft, einer sturen Leidenschaft. Dieses Requiem. Die Verneigung vor einem schwer zu lebenden Leben. XXIII. Erzähler: Zufällig begegnete der Sohn nach dem Tod seiner Mutter ihrem Geliebten im Museum für Völkerkunde. 15. O-Ton Urs Widmer; CD 4, Track 4, 5:20-6:05 'Ich bin der Sohn von Clara', sagte ich. ,Von wem?' Er sah weiterhin das als Schiff verkleidete Krokodil an. ,Von Clara' - ich nannte ihren Namen von damals _ ,Molinari'. Er wandte sich mir zu. ,Clara Molinari?' sagte er. ,Der Name ist mir im Augenblick nicht geläufig. Ich treffe so viele Menschen.' ,Ich bitte Sie!' rief ich, jäh erregt. ,Clara war das erste Ehrenmitglied Ihres Orchesters! Das werden Sie doch wohl noch wissen!' Edwin schlug eine Hand gegen seine Stirn und rief: ,Aber natürlich! Die gute alte Clara. Wie geht's ihr denn so?' ,Sie ist tot.' ,Ja.' Er nickte. ,Das sind wir alle jetzt immer häufiger.'" (Widmer, 125f.) Musik: Richard Wagner: Isoldes Liebestod, gesungen von Waltraud Meier XXIV. Erzähler: Ebenso wie Friedrich Christian Delius schrieb Urs Widmer mit "Das Buch des Vaters" einen Roman über seinen Vater, der allerdings nicht wie bei Delius vor, sondern nach dem Mutterbuch erschien. Das Leben seiner Mutter blieb für Urs Widmer ein Rätsel. Zwar gelingt es ihm, der Lösung schreibend näher zu kommen, aber zugleich wird durch die Näherung eine seine Herkunft betreffende Frage aufgeworfen, die unbeantwortet bleibt: Ist der Geliebte der Mutter eventuell auch sein Vater gewesen? Musik: 16. O-Ton Peter Scheider, CD 1, 5:45: "Aber eindeutig ist, dass ich auf der Seite meiner Mutter stehe - das ist doch klar." XXV. Erzähler: Dass auch Peter Schneiders Mutter einen Geliebten hatte, erfuhr ihr Sohn erst lange nach ihrem Tod. Zwar hatte er die Briefe seiner Mutter aufgehoben, aber er konnte sie, da in Sütterlin geschrieben waren, nicht lesen. Erst als eine Freundin die Briefe für ihn übersetzt, lernt Peter Schneider seine Mutter als eine Frau kennen, die ihn überrascht in der Unbedingtheit, mit der sie liebte. Das führt zunächst dazu, dass Schneider auf Distanz zu seiner Mutter geht, aber er kommt dabei der Frau näher, die seine Mutter ist. Ihre Geschichte erzählt er in dem Roman "Die Lieben meiner Mutter". Zitator: "In einem [...] Brief fällt der Satz, der wie ein Menetekel über der Leidenschaft der Mutter steht: Das Gefühl der Liebe ist nicht abhängig von deiner Antwort an mich - sehr abhängig ist aber das Glücksgefühl davon. Dem Sohn, dem verspäteten Leser, sträuben sich die Haare, er möchte seiner Mutter ins Wort fallen. Stopp, streiche diesen Satz! Wie soll diese Liebe gut gehen?" (Schneider, 31) XXVI. Erzähler: Peter Schneiders Mutter ist nur 41 Jahre alt geworden. Die verheiratete Frau und Mutter von vier Kindern hatte ein Verhältnis mit dem besten Freund ihres Mannes, von dem dieser wusste. Er akzeptierte nicht nur die ménage à trois, sondern er tolerierte auch die anderen Liebhaber seiner Frau. Peter Schneiders Mutter hat ein freies und sehr selbstbestimmtes Leben geführt, was ihren Sohn verwunderte, als er davon erfuhr. Zu einer Zeit, als dies außergewöhnlich war, nahm sie sich Freiheiten heraus, die vergleichbar mit denen der "68" waren, zu denen ihr Sohn später gehörte. Zitator: "Wenn [die Briefe] von ihren Leidenschaften handeln, entsteht ein anderer, ganz eigener Ton, eine poetische und präzise Sprache, fragend, träumend, hingegeben, aber auch erbarmungslos gegen sich und andere. Es ist, als würde sie in diesen Briefen eine Fähigkeit entfalten, die sie nach und nach entdeckt. Erst in der rückhaltlosen Offenheit für den Tumult, der in ihr tobt, findet sie zu sich selber." (Schneider, 27) XXVII. Erzähler: Schneider fällt es schwer zu glauben, dass es sich bei der Frau, die er in den Briefen kennenlernt, um seine Mutter handelt. Erst allmählich ist er bereit anzuerkennen, dass die liebende Frau und die geliebte Mutter ein und dieselbe Person sind. Peter Schneiders Buch "Die Lieben meiner Mutter" gehört seiner Mutter. Es gehört ihr in besonderem Maße, denn sie hat an dem Buch mitgeschrieben. Im Kern besteht der Roman aus ihren Briefen. Zitator: "Was mir den Atem nahm, war die Wucht ihrer Leidenschaft und die Radikalität, mit der sie sich ihren Gefühlen stellte. Der Sohn, der diese Briefe las, war dreißig Jahre älter geworden als seine Mutter. Worüber hätte er mit der jungen Frau rechten sollen? Es konnte nur darum gehen, sie und ihr kurzes Leben zu verstehen." (Schneider, 25) XXVIII. Erzähler: In Urs Widmers Roman konnte sich der Geliebte der Mutter nicht mehr an die Frau erinnern, die ihn grenzenlos liebte. Der Liebhaber von Peter Schneiders Mutter hatte seiner Geliebten immer wieder versprochen, sie an sein Theater zu holen, damit sie gemeinsam arbeiten können. Eingelöst hat er das Versprechen nicht. Zitator (1): "In Andreas' riesigem Nachlass, der in einem Theatermuseum aufbewahrt wird, kommt der Name seiner langjährigen Geliebten nicht mit einer Silbe vor." (Schneider, 296) XXIX. Erzähler: Bei den literarischen Annäherungen der Söhne an die Lebensgeschichten ihrer Mütter handelt es sich um Balanceakte, da sie versuchen etwas Einmaliges zu beschreiben ohne es doch verklären zu wollen. Kein Sohn wird seine Mutter vergessen, aber ob er sich in Liebe an die Frau erinnert, die ihn geboren hat oder ob das Wort Liebe in der Beziehung zwischen beiden eine Leerstelle bleibt, hängt entscheidend davon ab, ob sie ihm das Gefühl vermitteln konnte, geliebt zu werden. Christoph Meckels Mutter ist dies nicht in dem Maße gelungen wie der Mutter von Volker Braun, die ihren Sohn bedingungslos liebte, und die bereit war, die Liebe zu ihren Kindern zum Inhalt ihres Lebens zu machen. Dazu waren die Mütter von Urs Widmer und Peter Schneider, die von einer selbstbestimmten, keiner Konvention unterliegenden Liebe träumten, nicht bereit. Radikal hat der Krieg in die Wunschvorstellungen dieser Frauen eingegriffen, sie korrigiert und ihnen ein Leben diktiert, in das sie sich fügen mussten. Er ließ ihnen ihr Leben, aber er nahm ihnen einen großen Teil ihrer Hoffnungen. Die Bücher, die ihre Söhne über sie geschrieben haben, bekamen sie - mit Ausnahme der Mutter von Wolfgang Hilbig - nicht zu lesen, und dennoch sind sie in erster Linie ihnen gewidmet. 10 1