COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport Vom Schlachtort zur Europastadt - Die Region um Aachen und diverse Grenzüberschreitungen - Autor Tim Hannes Schauen Red. Claus Stephan Rehfeld Sdg. 13.04.2010 - 13.07 Uhr Länge 18.44 Minuten Moderation Der Zweite Weltkrieg begann mit einer Provokation und einer politischen wie militärischen Grenzüberschreitung der Deutschen, der weitere folgten. Die verheerenden Folgen überschritten die Grenzen des Vorstellbaren. Im Oktober 1944 überschritten die Amerikaner die Grenze und befreiten die erste deutsche Großstadt: Aachen. Friedliche Grenzüberschreitungen folgten, erst mit Kaffeeschmuggel, schließlich der ganz normale Grenzverkehr. Eine weitere Grenzüberschreitung war die Bildung der ersten Europastadt vor über 10 Jahren in der Städteregion von Aachen durch Herzogenrath und Kerkrade im deutsch-niederländisch-belgischen Dreieck. Vom Schlachtort zur Europastadt. Oder: Von den Folgen diverser Grenzüberschreitungen.Tim Hannes Schauen faßt Sie zusammen. -folgt Script Sendung- Script Sendung Autor Die Befreier kommen über die Grenze. Im September 1944 stehen amerikanische Truppen vor Aachen. Von der belgisch- deutschen Landesgrenze sind es nur noch vier Kilometer bis in's Aachener Zentrum. Die Nazis befehlen, dass alle Einwohner die Stadt verlassen müssen. Mehr als Zehntausend aber widersetzen sich ? und bleiben. Am 21. Oktober 1944 ist es dann soweit: Die Amerikaner nehmen die Stadt Karls des Großen ein. Die Grenze hat ein Loch... Im Stadtteil Haaren sitzen zwei Damen beim Kaffee. Wilma Mandelartz, 81 Jahre alt. O-Ton Wilma Mandelartz Ich bin ein Aachener Mädchen. Autor Wilma Mandelartz war 18, als sie 1945 aus der Evakuierung zurückkam. O-Ton Wilma Mandelartz Was sehr schlimm war, alles nur ein Trümmerhaufen, da gab es kein Metzger, keine Bäcker nix auf der Strasse wurden denn Butterbrote gemacht, wenn denn ein Bäcker noch da war, da standen wir Schlangen für Schnitte Brot. Ich war ja ein junges Mädchen, ich bin dann zweimal gegangen, da hat der mich erkannt, sagt er: "Zurück! Du warst ja gerade hier, wa?" Jaja, et war schon ne fiese Zeit. Autor Thea Simon, 80 Jahre, sitzt gegenüber. Ihr Elternhaus stand in Würselen, knapp fünf Kilometer außerhalb von Aachen. O-Ton Thea Simon Wir wohnen eigentlich ziemlich hoch, und wir konnten nach Aachen gucken, wenn es da brannte. Autor Der Kampf um Aachen war schon im Oktober 1944 vorbei, der Kampf um's Überleben ging weiter. Die Grenznähe spielte dabei eine wichtige Rolle. O-Ton Wilma Mandelartz Und dann wie der Krieg um war, ja, da gingen wir ja rüber schmuggelen, nach Lemiers rüber, nach die Holländer. Da kriegteste Kaffee oder Kakao, da mussteste aber wat mitnehmen, aber wir Städter hatten ja nix zum Tauschen, die Bauern hatten ja wat zum Tauschen, Eier und Speck. Aber wir hatten dat ja nit, wir Aachener hatten ja eher Hunger wie Schlaf, wir waren ja alle Mann schlank wie die Tannen, wa? Ja, et gab ja nix. Autor Die Landesgrenzen verlaufen hier wie der Zickzack eines zerrissenen Papiers. Je nachdem, wo man in Aachen ist, liegen Holland oder Belgien nur ein paar hundert Meter weit weg. An einer Stelle jedoch kommen sie zusammen, die drei Landesgrenzen. Am Dreiländerpunkt bei Vaals. O-Ton Wilma Mandelartz Und dann sind wir viel durch den Wald gelaufen, schmuggeln, bis an die Grenze, bis Vaals, ne halbe Stund sind wir gelaufen, denn hatten wir den Kaffee in der Tasche oder im Rucksack, und wenn die Zöllner kamen, ja die waren ja flott, die jungen Männer. Autor Wenn die Zöllner kamen, dann war der Kaffee weg. Dann ging Wilma am nächsten Tag wieder. Die Sehnsucht nach Kaffee war groß. O-Ton Wilma Mandelartz Achso, und dann hatten wir eine Bekannte, die hatte den Kaffee in der Heinrichsallee hinter der Türe stehen, so einen Sack, und da kamen die Zöllner: "Sie haben auch Kaffee hier, man hat uns gesagt, sie haben Kaffee." Da sagt die: "Setzen Sie sich mal hintern Tisch und dann mach ich ihnen mal ein Tässchen Kaffee", und dann war dat gelaufen, kamen die Zöllner selbst Kaffee holen. Autor Geld hatten man nicht, bezahlt wurde mit Kaffee oder Zigaretten. Gehandelt wurde mit Allem. O-Ton Wilma Mandelartz Und dann hab ich nen Bekannten gehabt, der hatte Armbanduhren und ich ging denn damit und tauschte die Armbanduhren, und die gingen nur von hier bis in den Garten, da blieben die stehen. Das weiß ich noch gut, ja. Dann hatte ich mal einen Kasten mit Kreuzchen. Ja, es war die Stadt: Da standen die alle zusammen in Clübchen, ich sag: ich hab Kreuzchen und was kriege ich dafür? Da kriegte ich dafür Zigaretten, wir ham ja nie geraucht, aber die gab ich denn wieder weiter, so ging eine Hand in die andere für zu Essen, war nur et Essen, war nur essen. Autor Die Nähe zu den Nachbarn auf der anderen Seite der Grenze war für die Versorgung der Aachener Region wichtig. Überlebenswichtig. O-Ton Wilma Mandelartz und Thea Simon W: Und dann wurden wir durch den Zoll kontrolliert. T: Da hatten wir denn schon mal sowas umgebunden, was wir mehr hatten, dann wat Loses drüber, ja, dat stimmt. W: Und ich hatte zwei Taschen auf'm Tisch, der Zöllner saß da, zwei Taschen und eine Tasche hatt ich auf der Erde zwischen den Beinen. O-Ton Kurt Cremer Wir sind jetzt im ehemaligen Zollamt Horbach, an der Deutsch-Niederländischen Grenze. Autor In einem alten Zollhaus auf freiem Feld steht das Zollmuseum Friedrichs. Kurt Cremer tritt an's Fenster. O-Ton Kurt Cremer So, wenn wir jetzt hier einen Blick aus dem Fenster werfen, dann sehen wir hinten die ersten Häuser auf niederländischem Hoheitsgebiet. Autor Kurt Cremer ist groß und drahtig. Er trägt einen braunen Ledermantel, ist pensionierter Zolloberamtsrat. Früher hat er die Grenze bewacht, jetzt führt er durch das Zollmuseum. Vom Altertum bis in die Neuzeit ist hier mehr oder weniger Alles zu besichtigen, was mit Zoll, Geschichte und Grenze zu tun hat. Grenzgeschichten hat der Zöllner auch am Programm. O-Ton Kurt Cremer In den Jahren 1948 bis 53 blühte hier an der Westgrenze, insbesondere an der Deutsch-Belgischen Grenze, der Kaffeeschmuggel, weil es sehr hohe Preisunterschiede gab und die Abgaben auf Kaffee sehr hoch waren. Damals bekam ein Schmuggler, der 30 Kilo Kaffee über die Grenze brachte, 60 D-Mark Tragelohn, während ein Zöllner im Monat zwischen 150 und 180 Mark verdiente, das hieß, der Schmuggler, der dreimal über die Grenze ging hatte so viel wie ein Zöllner, der 30 Tage arbeiten musste. Und bald hatten die Schmuggler soviel Geld verdient, dass sie nicht mehr zu Fuß liefen mit ihren 30 Kilo auf dem Buckel, sondern die kauften sich schwere amerikanische Straßenkreuzer und fuhren dann über Feldwege und Waldwirtschaftswege mit voller Ladung über die grüne Grenze. Autor Nachdem die Schlacht um Aachen geschlagen war, entstand hier entlang der Zickzackgrenzen, vor allem in den dichten Wäldern, die "Aachener Kaffeefront." Gegen die Hausfrau, die ein Pfund in der Handtasche schmuggelte, da hatten die Zöllner nicht so viel, aber gegen organisierten, gewerbsmäßigen Schmuggel ? für diesen Kampf wurde aufgerüstet. O-Ton Kurt Cremer Und damals hatten die Zöllner nur einen 24 PS-VW zur Verfolgung, und da konnte man natürlich mit Chevrolet und Cadillac nicht mithalten, und dann wurden zwei Porsche angeschafft... Autor ...mit denen Jagd auf Kaffeeschmuggler gemacht wurde. Und in manchem Auto bot sich ein groteskes Bild: O-Ton Kurt Cremer ...der gesamte PKW, der war ausgeschlachtet, selbst der Fahrer saß noch auf Rohkaffee, und insgesamt waren 32 Zentner Rohkaffee in diesem Fahrzeug. Autor Genug für ein Weilchen im Gefängnis. Ohne Kaffee. Die "Kaffeefront." war hart umkämpft, die Zöllner hatten Schießbefehl, um die 40 Menschen ließen hier ihr Leben. Im Zollmuseum berichtet Kurt Cremer von Schmugglern mit Panzerspähwagen und schusssicheren Reifen. O-Ton Kurt Cremer Die betrieben natürlich gewerbsmäßig diesen Schmuggel und verdienten natürlich auch in rauhen Mengen ihr Geld damit. Autor Vom illegalen Handel mit Kaffee profitierte auch manches Eifeldorf, südöstlich von Aachen gelegen. Die heftigen Kämpfe im Hürtgenwald hatten Landschaft und Eifeldörfer verwüstet. O-Ton Mann Die Eifel, das war ja ne ganz arme Gegend. Autor Monschau-Mützenich. In seinem Einfamilienhaus am Ortsrand sitzt ein Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte. Dabei ist es schon über 50 Jahre her, dass man ihn in's Gefängnis gesteckt hat. Er hat Kaffee geschmuggelt, eine Kolonne angeführt, das heißt: auch andere Leute haben für ihn getragen. Angefangen, sagt der Mann, habe es ganz klein. O-Ton Mann Und nach dem Krieg. Meine Tanten, die wohnten in Belgien. Hier gab es nichts. Ja, was machte man als junger Bursche? Ich lief nach Eupen zu meinen Tanten hin... Autor Eupen, das ist die andere Seite des großen dunklen Waldes westlich von Mützenich. In Belgien. O-Ton Mann ...und bekam dann ein Pfund Kaffee, für dieses Pfund Kaffee bekam ich hier zwei Pfund Butter, und beim nächsten Mal, das ich runterlief, mit den zwei Pfund Butter, dann bekam ich vier Pfund Kaffee, aber ich hab keine vier Pfund Kaffee, sondern ne Stange Zigaretten und etwas Schokolade mitgebracht. So baute sich das langsam auf. Belgien war ja unter den Siegermächten, aber es gab dort keine Butter. Und hier bekam man für Kaffee alles. Und dann kamen auch welche von Deutschland auf uns zu, die Kaffee haben wollten. Wir waren ja die ersten Kaufleute, auch wenn wir schleichende Kaufleute waren, aber die ersten Kaufleute, die mit'm Ausland Geschäfte machten. Autor So entstand ein stiller aber reger Handel mit den Nachbarn und Verwandten in Belgien. Mehr oder weniger das ganze Dorf Mützenich war auf diesen Schwarzhandelsrouten im Wald unterwegs. O-Ton Mann Kühe brachten wir rüber. Und für eine Kuh zahlte man hier einen Sack Kaffee 60 Pfund und in Belgien bekam man drei Sack Kaffee...dann ham wir Solinger Ware: Essbestecke, Schneidescheren... so fing dat damals langsam an. Und anschließend haben wir uns regelrecht aber nur auf den Kaffee konzentriert. Da waren von Düsseldorf zwei Polizisten, die kamen mit dem Motorrad mit dem Beiwagen, holten den Kaffee ab, einer von Neuwied und einer von Köln, der holte den Kaffee ab. Autor Kaffee war Luxus und Währung zugleich. O-Ton Mann Und dann diese 15 Kilometer bis Mützenich liefen wir die Nacht mit den 60 Pfund Kaffee, und bei uns am Haus oben, da war an der Treppe so ein Überbau, da hatten wir die Dachziegel weggenommen, und ne Leiter lag hinter dem Haus immer. Und wenn die jetzt von der Grenze kamen, kam die Leiter schnell an's Dach, und jeder die Leiter hoch und warf seinen Sack da oben in diesen Anbau, da wurden schnell der Dachziegel wieder drüber gezogen von da oben. Autor So lief das, der Mann, seine Träger, das Dorf kamen zu etwas Wohlstand. Mancher Zöllner schaute weg oder machte mit. O-Ton Mann Ich hatte einen Zöllner an der Hand und wusste so ungefähr wo die Streifen waren. Autor 1952 aber, da werden sie allesamt geschnappt. 49 junge Mützenicher Schmuggler und drei Zöllner stellt man Anfang 53 in Köln vor Gericht. Auch die Söhne des Bürgermeisters sind dabei. O-Ton Mann Für die Schmuggelei, da hab ich ein ganzes Jahr gesessen, sechs Monate U-Haft und sechs Monate Strafhaft. Autor Die meisten der jungen Burschen kommen mit ein, zwei Wochen davon. O-Ton Mann Man hatte ja nichts, wir waren damals 17 Jahre. Und dann kamen die Engländer so stolz und warfen die Kippen noch so lang, warfen die einem so vor die Füße, ich hab mich niemals gebückt, wir gingen damals schon nach Eupen hin und hatten unsere eigenen Zigaretten, aber die nicht schmuggelten, die hatten ja nichts, die hatten kein Kaffee, die hatten keine Schokolade, zu Essen hatte man hier auf'm Land, aber so die anderen Sachen, die man im Leben so braucht, und es war alles kaputt. Wir wohnten da oben sofort an der Grenze, 200 Meter, da waren wir über die Grenze. Wenn man so im Wald ist, man wird wie ein Tier. Man tritt so wie ein Tier und geht wie ein Tier und hört wie ein Tier. Neenee, da begegnete einem keiner. Da stand man schon irgendwo an der Seite, man hörte die eher wie die einen. Ein Zöllner war da in diesem Hang und schoss. Der hatte einen Hinweis bekommen und schoss auf uns. Der schoss mit der Pistole, und im Laufen mit der Pistole schießen - man war damals so trainiert, so schnell - der war kein guter Schütze, der traf nicht. Autor Die Kirche im Eifeldorf Schmidt heißt im Volksmund: Sankt Mokka. Die Aachener Kaffeefront ? in Mützenich war das Hauptquartier der Schmuggler. Auf deutscher Seite. Autor Tief im belgischen Wald. Eine Stunde Fußmarsch vom deutschen Ort Roetgen entfernt. In einer Holzhütte sitzen Dieter Fischer und Franz Braun. Früher stand hier der Reinartzhof. Ein Weiler aus ein paar Häusern und autark lebenden Menschen. 1338 ist der Ort "Reinart" erstmals urkundlich erwähnt, 1971 aus Wasserschutzgründen zwangsgeräumt. Früher am Pilgerweg Aachen-Trier gelegen, heute kommen täglich Wanderer vorbei, die den Eifelsteig gehen. An den Reinarzthof erinnern eine kleine Kapelle, die Gedenktafel, ein paar Grundmauern. Und Franz Braun und Dieter Fischer in der Holzhütte. O-Ton Dieter Fischer Das ist belgisches Hoheitsgebiet, nach 1918 ist das belgisch geworden. Das war im Besitz meiner Familie mütterlicherseits, ich habe hier des öfteren Ferien gemacht, hier war mein Zuhause. Autor Der Mann neben ihm nickt. O-Ton Franz Braun Ja mein Name ist Franz Braun, ich bin 1959 geboren, also 60 Jahre alt, auch ich habe hier meine Kinderzeit ein bisschen jünger als er, verbracht, ich weiß, wie die Menschen hier gelebt haben, ich hab's selbst noch als Kind erlebt. Hier war ein Treffpunkt, dort oben war ne Gaststätte, und hier trafen sich auch Schmuggler, Wilddiebe und eben auch ja, wenn man einen Dachstuhl baute, dann fällte man eben Bäume im Wald. Das war so gesehen auch Holzdiebstahl, aber das war Selbstverständlichkeit. Autor Die Grenze geht heute noch über manches Grundstück und durch manche Familie. O-Ton Franz Braun Der Schmuggel war also auch schon zwischen den beiden Weltkriegen da, ich weiß, dass Schmuggel immer hierzu gehörte, das war dann auch noch kein geeintes Europa, das heißt in diesen Bereichen wurde immer geschmuggelt. Ich weiß, mein Vater erzählte, dass sie mit seinem Vater zusammen hier schon vor dem 2. Weltkrieg jüdische Menschen rübergeschmuggelt haben, das war n sehr lukratives Geschäft, mein Vater betonte es immer, ihm war gar nicht bewusst, wie gefährlich das war. Er war 1917 geboren und 1940 musste er dann als Soldat der deutschen Wehrmacht hier nach Belgien einmarschieren, und weil es eben hier belgisch war, waren seine ganzen Cousins beim belgischen Militär, und er hat also mir immer erzählt, dass er nur in die Luft geschossen hat, weil er Angst hatte, er könnte nen Vetter treffen. O-Ton Dieter Fischer Reinartzhof war schon ein Zentrum hier. Also ich erinnere mich an drei bestimmte Kaffeesorten, das war also "Schlüsselkaffee", das war der "Schwarze Katz" und "Mocca Turc." O-Ton Franz Braun Meine Mutter stammt aus Aachen, Beamtentochter aus Aachen, mein Großvater war Hausmeister im Rathaus, in den 50er-Jahren, wenn ich ihn in Aachen besucht hatte, hatte er immer ein Gebet vor dem Essen gesprochen, zum Schluss dann: "Und segne uns das, was Du uns von Reinartzhof bescheret hast." Das heißt, mein Vater hat die gesamte Familie von meiner Mutter in Aachen unterstützt, dort herrschte Not. O-Ton Dieter Fischer Ich erinnere mich auch an den Namen der Krankenschwester, die dann unterwegs mit dem Fahrrad war, die hat geschmuggelt auf Teufel komm raus, um die alten Leute selbstverständlich zu versorgen, die ist dann auch über die Grenze gefahren, mit Fahrrad, hat viele Sachen untergepackt, die Zöllner haben sie teilweise laufen lassen, die Zöllner hatten so gesehen auch das Gefühl, da kann man was tun, da muss man was tun, man muss auch nicht alles gesehen haben. Autor Eine lange, schnurgerade Strasse. Auf der rechten Seite: einzelne Häuser, alle unterschiedlich angestrichen, auf der linken: einheitlich tiefrote Klinker, die Häuser niedriger, die Fenster größer. Die linke Straßenseite heißt Nieuwstraat und liegt im holländischen Kerkrade, die Neustrasse auf der rechten Seite gehört zum deutschen Herzogenrath. In der Nieuwstraat, also auf niederländischer Seite, setzt ein junger Mann gerade zwei Kinder in's Auto. Das Kennzeichen hat schwarze Buchstaben auf gelbem Untergrund. Niederlande. O-Ton Vater Ich hab nen gebürtig deutschen Pass, aber bin hier halt mit ner Aufenthaltsgenehmigung. Wir fahren jetzt schwimmen zum Aquana, in Würselen. Autor ...in Deutschland... Das Haus, in dem er in Holland lebt, gehört ihm. Seine Arbeitsstätte jedoch, die liegt auch in Deutschland. Würde man ihn nicht fragen, sagt er, würde er sich darum eigentlich kaum mehr kümmern. O-Ton Vater Nö, macht keinen Unterschied. Autor So ist das mit der Landesgrenze: Hier wohnen, dort arbeiten, die Grenze stört nicht. Nur ein paar Kilometer von dieser Herzogenrather Grenzstrasse entfernt sitzt Renate Menne in ihrem Esszimmer. Im Stadtteil Merkstein geboren, nie weggezogen, vor kurzem ist sie fünfundsiebzig Jahre alt geworden. O-Ton Renate Menne Also grundsätzlich gehen wir jetzt nach Kerkrade auf den Markt, der ist sehr gut bestückt, kaufen wir normal ein, was man so braucht, Gemüse, Obst und n bisschen Geflügel, und da gibt es vor allen Dingen einen super gebackenen Fisch, der wird immer gegessen. Und nach dem Krieg hatte ich ne Schulfreundin, die wohnte in der Neustrasse, aber auf deutscher Seite, und die hab ich dann ja natürlich öfter besucht, und hab von da auch immer schon mal als junges Mädchen Kaffee geschmuggelt. War sehr aufregend, war wirklich sehr aufregend. Ich hatte oft schweißnasse Hände vor Angst, dass man mich erwischt. Jaja, also wenigstens einmal in der Woche: mal habe ich nur ein Pfund Kaffee mitgenommen, mal hatte ich auch zwei, ich hatte auch schon mal fünf. Autor Wenn in den 50er-Jahren die Straßenbahn eine Staubwolke hinter sich her zog, gingen auf der Nieuwstraat die Fenster auf und Socken voll Kaffee oder Zigaretten flogen rüber zur Neustrasse. Der hohe Zaun in der Straßenmitte wurde später durch ein fußhohes dreieckiges Mäuerchen ersetzt. Ende der 70er erschoss ein RAF-Terrrorist auf der Flucht hier zwei niederländische Zöllner. Der Kaffeeschmuggel heute ist kein Schmuggel mehr, nur noch ein Einkauf mit enormer Ersparnis: ein bis zwei Euro pro Pfund. Das Hauptaugenmerk der Zöllner gilt jetzt vielmehr dem Drogenschmuggel. Haschisch und Marihuana zum Eigenbedarf sind nur auf einer Straßenseite geduldet, die Droge Kaffee ist auf beiden Seiten legal. O-Ton Renate Menne Aber Gottseidank hat dat sich geregelt, dass die Grenze weggefallen ist, und die Stadt Herzogenrath und Kerkrade haben ja ein sehr gutes Verhältnis miteinander. Autor An der Grenze schieben ein deutscher und ein niederländischer Polizist gemeinsam Dienst. Sanitäter retten auf beiden Straßenseiten. Bloß in einer Hinsicht wird diese Grenze wohl immer bestand haben, sagt Renate Menne. O-Ton Renate Menne Wenn Fußball gespielt wird, Deutschland - Niederlande, dann ist da oben oft Krawall, da gibts dann Remmidemmi auf der Neustraße. Autor 21. Oktober 2009: 65 Jahre, nachdem Aachen von amerikanischen Truppen eingenommen wurde, tritt das Aachen-Gesetz in Kraft: Zusammen mit neun umliegenden Städtchen bilden diese Orte die "Städteregion Aachen". Aachen ist kreisfreie Stadt, es ist entgrenzt, so wie die ganze Gegend hier. Euregio nennt man sie.Seit dem 12. Jahrhundert waren Herzogenrath und Kerkrade eins, seit dem Wiener Kongress 1815 geteilt. Heute bilden sie wieder die symbolische Europastadt Eurode. In den Köpfen der Bewohner spielen die Grenze kaum noch eine Rolle. Das vereinte Europa ? hier wird es gelebt. -Ende Beitrag Schauen- MOD Vom Schlachtort zur Europastadt. Oder: Von den Folgen diverser Grenzüberschreitungen in und um Aachen. Tim Hannes Schauen berichtete. Morgen im Länderreport ab 13.07 Uhr: Schwere Übergänge. Das Ruhrgebiet und die finanziell schwer angeschlagenen Kommunen. Am Mikrofron verabschiedet sich von Ihnen Claus Stephan Rehfeld. -ENDE Sendung-