COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 7. April 2008, 19.30 Uhr Unter dem Pflaster liegt der Strand Wie der Protest aus den Hörsälen auf die Straße kam Von Martin Hartwig Spr. vom Dienst Unter dem Pflaster liegt der Strand Wie der Protest aus den Hörsälen auf die Straße kam Von Martin Hartwig Minicollage: Töne 68 Musik etc endet abrupt mit dem PLOPP einer Weinflasche: Sprecher Als Weinjahr bleibt 1968 gewiss nicht Erinnerung. Die Traubenblüte war spät, der Sommer insgesamt kühl und im August fiel in den Weinanbaugebieten mehr als drei mal so viel Regen wie sonst. 1968 war ein unreifer Jahrgang. 1. O-Ton: (Koenen) Ich habe es als ein Jahrzehnt der psychopolitischen Überspannung gesehen. Und diese Überspannung hatte ihre fatalen und für manche sogar auch ihre tragischen Seiten, da wo es dann in den Terrorismus glitt, ganz sicher für viele ihre tragischen Seiten. Ihre verbiesterten Seiten, ihre finsteren Seiten und auch ihre produktiven Seiten und insofern ist das ein Abschnitt in der Mentalitätsgeschichte, nicht nur der Bundesrepublik, sondern der ganzen fortgeschrittenen Gesellschaften - hauptsächlich der westlichen, teilweise aber der östlichen. Sprecher Gerd Koenen, Historiker, 1968 beim SDS, in den 70er Jahren Mitglied und Funktionär beim Kommunistischen Bund Westdeutschland - KBW - und Autor des Buches "Das rote Jahrzehnt". Koenen ist zweifellos das, was häufig als "68er" bezeichnet wird. 2. O-Ton: (Koenen) Viele Akteure der Zeit sind vielleicht auch ein bestimmten innere Zyklus folgend. Beugen sich noch mal über das, was in ihrem Leben solche Spuren hinterlassen hat und bewerten es zum Teil dann eben auch sehr viel nüchterner oder sogar polemischer, als sie das vielleicht vor zehn oder 20 Jahren noch getan hätten. Andere wiederum sind auf die Seite der fanatischen oder frenetischen Ehrenrettung gewechselt. Ein bisschen auch von der anderen Seite her. Ich denke da an dieses Buch des Herrn von der Bildzeitung, Herrn Diekmann, wonach 68 oder die 68er, was immer das sein soll, am Werteverfall und all diesem Schuld sein sollen. Und in diesen Frontstellungen wird das eben immer aufgeputscht diskutiert. Sprecher Ein Jahr feiert Geburtstag, alle sind dabei. Ob Peter Schneider, Daniel Cohn-Bendit oder Rainer Langhans - viele Akteure der damaligen Zeit haben zum Anlass mild kritische Erinnerungsbücher vorgelegt oder wie etwa Götz Aly scharfe Abrechnungen mit der eigenen Vergangenheit verfasst. Anders als etwa die fünfziger Jahre sind die Ereignisse noch nicht in den Händen der Fachhistoriker, die sich darüber in ihren wissenschaftlichen Zirkeln austauschen, sondern immer noch Gegenstand von publizistischen Kontroversen. Dabei macht schon die zeitliche Eingrenzung der Epoche Schwierigkeiten. Atmo: Sprechchöre: Ho Ho Ho Chi Min Sprecherin Dass 12.000 überwiegend junge Menschen - die meisten von ihnen Studenten - über den Berliner Kurfürstendamm ziehen und dabei frenetisch den Namen eines südostasiatischen Staatspräsidenten skandieren, das war zweifellos 1968, anderseits gab es diese Demonstrationen, wenn auch kleiner, schon 1966 und 67. Schon 1965 demonstrierte der SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund, in Bonn gegen die Notstandsgesetze, eben jene Gesetze, die später oft als eines der stärksten Motive für die Studentenbewegung angeführt wurden. Auch an der Freien Universität Berlin kam es schon Mitte 1965 zu Protesten und Streiks. Uwe Wesel, emeritierter Professor für Rechtsgeschichte und damals wie heute kritischer Sympathisant der Bewegung. 3. O-Ton: (Wesel) Es fängt an 1965 mit einer Einladung von Erich Kuby, der damals der einzige bedeutende linke Journalist der Bundesrepublik war, meistens für die Süddeutsche Zeitung schrieb, und der ASTA hatte einen Raum beantragt für Erich Kuby, der über 20 Jahre deutsche Niederlage und so weiter sprechen sollte, und dann hat man im Rektorat festgestellt, dass Kuby irgendwann mal in Berlin gesagt habe, schon das Wort Freie Universität zeige ja, dass da irgendwas mit der Freiheit nicht stimmt. Das ist typisch Kuby, und als man das im Rektorat entdeckt hatte, hat man dem Asta, der das Audimax schon beantragt hatte und war auch schon genehmigt, gesagt: euch wird das Audimax nicht gegeben, Herr Kuby wird an der FU nicht sprechen. Das war der Auslöser für die Studentenbewegung. Dann sind einige Studenten mit Pappschildern um den Henry-Ford-Bau herumgegangen und haben dagegen protestiert, in Berkeley war schon dieses "Free Speech Movement" und sie haben dann auch gesagt: wir wollen auf diesem Campus jederzeit jeden zu jedem Thema hören. Sprecherin Vielleicht muss man den Beginn der Protestbewegung noch weiter zurückdatieren und bei den sogenannten Schwabinger Krawallen 1962 anfangen, als sich nach der Vertreibung einiger Straßenmusiker aus dem Englischen Garten Tausende von Jugendlichen fünf Tage lang heftige Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. Vielleicht fängt 1968 aber auch schon 1960 an, als in Niedersachsen der erste Ostermarsch stattfand. Wie immer man den Beginn der Proteste auch datiert: charakteristisch für eine ganze Generation waren sie zu diesem Zeitpunkt wohl nicht. Sprecher Eine 1966 im Auftrag des Spiegels durchgeführte Umfrage des Allensbach -Instituts für Meinungsforschung bescheinigte den Studenten, daß sie in der Mehrzahl konformistisch, apolitisch, vergnügungs- und karriereorientiert sind. Andere Studien aus dieser Zeit kommen zu dem gleichen Ergebnis. Zwei Jahre später zeichnen die Untersuchungen das Bild einer hochpolitisierten Generation. Das Ereignis, das wie kein ein anderes zu dieser Radikalisierung beigetragen hat und von vielen als die Initialzündung der Bewegung angesehen wird, war die Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967. Atmo: Demonstration - Unter ganze Passage Sprecherin Am 2. Juni 1967 kam Mohammad Reza Pahlavi, der Schah von Persien, im Rahmen eines Staatsbesuches in der Bundesrepublik für einen Tag nach West-Berlin. Schon im Vorfeld hatte sich der Protest gegen den brutalen Diktator formiert. Am Schöneberger Rathaus wollte er sich, wie wenige Jahre zuvor John F. Kennedy, der deutschen Bevölkerung zeigen. Anders als Kennedy traf er dabei aber nicht nur auf jubelnde Berliner, sondern auch auf wütende Demonstranten. Auf dem Platz hatte sich auch noch eine dritte Gruppe versammelt: Die Jubelperser. Rund 150 eigens zu diesem Zweck vom Schah eingeflogene gut trainierte Männer. Sie beschränkten sich jedoch nicht aufs Jubeln, sondern begannen mit Holzlatten auf die Demonstranten einzuprügeln. Die Polizei ließ sie eine ganze Weile gewähren und griff dann halbherzig ein. Da die Ereignisse live im Radio übertragen wurden, kamen, als am Abend eine Aufführung der Zauberflöte in der Deutschen Oper auf dem Programm stand, deutlich mehr Demonstranten als erwartet. Unter ihnen war auch der Student Benno Ohnesorg. Atmo/O-Ton: Film Polizeistaatsbesuch Sprecherin Anstatt die Menge aufzulösen, kesselte die Polizei die Demonstranten ein und gestattete den Jubelpersern erneut, auf Schahgegner einzuprügeln. Danach setzte die Polizei mit Knüppeln und Tränengas selbst das Werk fort. Wer aus dem Polizeikessel fliehen konnte, wurde von so genannten Greiftrupps verfolgt. In einer Seitenstraße traf ein solcher Greiftrupp auf eine Gruppe von Studenten. Einer von ihnen war Benno Ohnesorg. Atmo: Demo Sprecherin Aus eineinhalb Metern Entfernung wurde dem 26-Jjährigen in den Hinterkopf geschossen. Ohnesorg, Student der Romanistik und Germanistik, war erklärter Pazifist und Mitglied der evangelischen Studentengemeinde. Dass so einer einfach erschossen wurde, entfachte Wut - nicht nur bei denen, die ohnehin schon protestierten. Bundesweit kam es zu Proteste und Ausschreitungen. Gerd Koenen: 4. O-Ton: (Koenen) Ja über den Schah konnte man sich empören. Aber das eigentliche Erweckungserlebnis durch diese Schüsse auf diesen Studenten, gerade dass er nicht ein Aktivist war, sondern eher jemand, der nur mitgegangen war zu dieser Demonstration, sorgte für die Empörung -auch für diesen Unschuldston natürlich und also dieses Grundgefühl, dass das eine Notstandsübung war, dass das kein Zufall war, sondern systematisch und das zeigt was jetzt kommt. Sie wollten uns zeigen, wo es lang geht, wenn man wirklich aufmuckt und das war diese Schlüsselerfahrung, das war eine gewisse Autosuggestion. Dann plötzlich: Ja wenn das so ist, ja dann muss man ganz anders auftreten. Sprecherin Die terroristische Gruppe "Bewegung 2. Juni" bezog sich in ihrem Namen direkt auf das Ereignis. Von jetzt ab konnte man argumentieren, dass man sich nur verteidige, denn "Sie hatten angefangen" Sprecher Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, einen wirklichen Beginn der Protestbewegung, die später als die 68er bezeichnet werden sollte, festzumachen, aber wenn es ein Datum gibt, müsste es der 2. Juni 1967 sein. Uwe Wesel: 5. O-Ton: (Wesel) Ich würde sagen, 80 Prozent waren auf Seiten der linken Studenten, nach der Erschießung Benno Ohnesorgs. Der 2. Juni 1967, das war das eine und das andere war, dass dann auch dieser Funke dieser Studentenrevolte dann übersprang auf die Bundesrepublik, ich war damals noch Assistent in München, 1967, und ich habe dann erlebt, wie selbst die Münchner Studenten in einer Riesenprotestdemonstration auf die Straße gegangen sind gegen die Erschießung von Benno Ohnesorg und sich dann auch da radikalisiert haben. die Studentenbewegung der Bundesrepublik ist dann ganz weit geworden. Atmo: [unter ganze Passage legen] Gewitter/Demonstration... Sprecher Alle redeten 1968 vom Wetter, denn es spielte offensichtlich verrückt. Erst gab es einen extrem kalten Winter mit bis zu 20 Minusgraden, der April des Jahres wiederum brachte Temperaturen um die 30 Grad, und dann konnte man im Juli auf der Zugspitze wieder Ski fahren, während in Pforzheim ein Tornado gesichtet wurde. Insgesamt regnete es sehr viel. Schlechte Bedingungen für Demonstrationen, trotzdem gab es 1968 in Berlin praktisch jede Woche Protestkundgebungen. Und nicht nur dort. Auch wenn Berlin in der Rückschau oft wie der einzige Schauplatz von Protesten wirkt - bundesweit waren junge Leute in einem bis dahin nicht gekannten Umfang auf der Straße. Sprecherin In Bremen trotzten im Januar Schüler der Kälte und lieferten sich über fünf Tage Auseinandersetzungen mit der Polizei. Anlass war die Erhöhung der Straßenbahnfahrpreise. In Frankfurt versuchten Jugendliche unter Rufen wie "Heil Lübke" und "Lübke raus" in das Hotel Frankfurter Hof einzudringen und zum Bundespräsidenten zu kommen. In Nürnberg wurde aus Protest gegen die Notstandsgesetzte der SPD-Parteitag gestört, während es in München scharfe und gewalttätige Proteste gegen Rechtsradikalismus gab. An Anlässen, Solidarität oder Protest zu bekunden, mangelte es ja nicht, erst recht da man sich als Teil einer internationalen Bewegung sah. In Kuba trotzte Castro der Blockade, während Che Guevara die Revolution nach Bolivien trug, Martin Luther King wurde erschossen, in Algier kämpften Studenten, in Wien wurde zum ersten Mal der Opernball gestört, in Spanien kämpften Arbeiter gegen die faschistische Regierung ... und immer wieder Vietnam. Atmo: Amerikanische Kriegsreportage Sprecher Seit 1965 führte die größte Militärmacht der Welt offen Krieg gegen die Hälfte eines kleinen Landes in Asien. 1968 waren über 400.000 US-Soldaten dort, die sich in einem schwierigen Dschungelkampf verhakt hatten und auf die ausbleibenden Erfolge mit immer größerer Brutalität reagierten. Atmo/O-Ton: Vietnamkongress / Grußadressen Sprecherin Am 17. Februar 1968 wurde im Audimax der Technischen Universität Berlin der Vietnamkongress des SDS eröffnet. In Anlehnung an das Russell-Tribunal, das 1967 unter dem Vorsitz des Philosophen und Nobelpreisträgers Bertrand Russell über den Vietnamkrieg zu Gericht saß, wollte der Studentenverband, der sich jetzt auf dem Zenit seiner Macht befand, eine international wahrnehmbare Abrechnung mit dem Vorgehen der Amerikaner in Vietnam vornehmen. Atmo/O-Ton: Dutschkerede Sprecherin 5.000 Teilnehmer, darunter viele aus dem Ausland, nahmen an dem Kongress teil, auch einige prominente Intellektuelle. Tatsächlich brachte der Kongress dem SDS die gewünschte Aufmerksamkeit. Die nationale und internationale Presse berichtete ausführlich - und brachte zudem einen Star hervor: 6. O-Ton: (Dutschke) Heute muss man entweder die US-Aggression in Vietnam verurteilen, oder man muß sich mit ihr identifizieren. Ein Zwischending hilft nur den Henkern und nimmt Partei gegen die Opfer, die Vietnamesen. Sprecherin Rudi Dutschke, von den Medien schon zuvor als der Anführer der Studenten identifiziert, wurde jetzt endgültig zur Leitfigur des Protestes und zum Hassobjekt Nummer 1 erkoren. Er galt als Anführer, geschickter Redner und Demagoge - obwohl es gar nicht leicht war, seinen ellenlangen Vorträgen zu folgen. 7. O-Ton: (Dutschke) [Kurz frei, dann unter Sprecher legen und weg] Der revolutionäre deutsche Sozialismus verschwand historisch von der politischen Bühne nach dem zweiten Weltkrieg, um erst nach 20 Jahren in einzelnen Abteilungen der Studentenschaft, einzelnen Fraktionen der Lohnabhängigen in Industrie und Verwaltung und in Gruppen von Schülern wieder geschichtliche Realität zu gewinnen. Die marxistische Theorie individualisierte sich ... Sprecherin Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Hans Jürgen Krahl, Christian Semler, die Kommune 1, Horst Mahler, Hans Magnus Enzensberger, später dann auch Daniel Cohn-Bendit und zwei gute Dutzend mehr- die Gruppe der tonangebenden: Männer - es waren wirklich alles Männer - war überschaubar. Gerd Koenen: 8. O-Ton: (Koenen) Antiautoritär war ja zumal in Deutschland alles andere als fröhlich hedonistisch. Fröhlich hedonistisch war auch dieser antiautoritäre SDS-Flügel nicht. Man muss sich nur die leitenden Figuren wie Rudi Dutschke oder wie hier in Frankfurt Hans- Jürgen Krahl anschauen, das waren ja keine fröhlichen Hedonisten, das waren ja verbissen puritanisch strenge Denker und Forderer - Hochleitungsethiker würde ich mal sagen mit protestantischem Reformatorenlook, keine Flower-Power-Kinder oder sonst etwas. Sprecherin Dementsprechend agierte man auch im Alltag durchaus autoritär. 9. O-Ton: (Koenen) Beispielsweise wenn Studenten, eine Mehrheit, abstimmte und sagte, wir wollen aber die Vorlesung hören, dann wird die radikale Minderheit nicht gesagt haben: Na dann, o.k. entschuldigt! Wir gehen jetzt, sondern sagten Nix da, die Notstandsgesetze drohen oder was immer gerade drohte, hier findet heute gar nicht statt und ihr seid Fachidioten und ihr könnt nach Haus gehen. Abmarsch! In dem Sinne antiautoritär war diese Bewegung nie. Auch in den Diskussionen in den Zentren der Bewegung ging es insofern durchaus autoritär zu, als ja die großen Matadore die Szene beherrschten. Weshalb ja nicht zufällig die ganze Frauenbewegung beginnt mit einer Rebellion gegen die Matadore der Bewegung. Sprecher Dass die Geschichte der 68er Protestbewegung selbst in der Rückschau immer auf die Aktivitäten einiger Personen reduziert wird, liegt auch daran, daß die beteiligten Organisationen nicht besonders groß waren. Der SDS hatte nie mehr als 2500 Mitglieder. Die berühmte Kommune 1 bestand aus etwa zehn Leuten. Angesichts des Abdruckes, den diese Jahre in der Geschichtsschreibung hinterlassen haben, stellt sich also die Frage, wer eigentlich 68er war? Atmo Wir sind eine kleine radikale Minderheit..... Sprecherin 1968 gab es in der Bundesrepublik knapp 360.000 Studenten (heute sind es fast zwei Millionen). Selbst wenn man von der im Sinne der Studentenbewegung äußerst positiven Annahme ausgeht, dass jeder zehnte Student sich in irgendeiner Form aktiv am Protest beteiligte, dann kommt man auf noch nicht mal 40.000 Aktive. Zum Vergleich: die Junge Union hatte in dieser Zeit über 100.000 Mitglieder und auch der RCDS und die verschiedenen Burschenschaften konnten es, was die Zahl der Mitglieder anging, durchaus mit den revolutionären Organisationen aufnehmen. Zudem waren sie mit deutlich mehr Mitteln ausgestattet. Trotzdem sollten die konservativen Verbände für 30 Jahre an Universitäten nur noch eine Nebenrolle spielen. Atmo Wir sind eine kleine radikale Minderheit..... Sprecher Auch wenn die Zahl derjenigen, die aktiv protestierten, nicht sehr groß war, ist es ihnen offensichtlich gelungen. eine ganze Generation entscheidend zu prägen - in die eine oder andere Richtung. Wenn man die 68er als Geburtenjahrgang betrachtet, als die Alterskohorte derjenigen, die damals in der Bundesrepublik zwischen 20 und 30 Jahre alt waren, sind sie gut zehn Millionen Personen stark. Das zumindest ist eine sehr große Gruppe und sie nahm an den Ereignissen in den Städten über die Medien teil. Denn so wie der Vietnamkrieg in nie gekanntem Ausmaß in den Medien stattfand, so fand auch der Protest gegen ihn in den Medien statt. Auch wenn sich die Wortführer der Protestierenden schlecht und falsch dargestellt fühlten: über mangelndes Interesse der Öffentlichkeit konnten sie nicht klagen. 1968 verging kaum eine Tag, ohne dass sich jemand im Rundfunk oder Fernsehen zu den Protesten und Anliegen der APO äußerte. Und selbst vergleichsweise kleine Demonstrationen schafften es in die Nachrichten. 10. O-Ton: (Koenen) Die Empörungseskalation: Mit vergleichsweise zahmen Protestaktionen, waren ja auch von der anderen Seite her hochgradig abrufbar. Also entstanden so Eskalationen, die man heute auch so nicht machen kann. Heute müssen sich Leute die für irgendetwas demonstrieren, auf den Kopf stellen und wer weiß was für fantastische Aktionsformen sich ausdenken damit sie für 30 Sekunden ins Fernsehen kommen Sprecherin Das Fernsehen hatte Ende der 60er Jahre zwar schon große Bedeutung und begann, das Radio zu überholen - noch waren die Tageszeitungen jedoch der Ort, an dem die Köpfe und Herzen der Bundesbürger gewonnen oder verloren wurden. Alle großen Zeitungen hatten die 60er Jahre hindurch steigende Auflagen, doch kein Verlagshaus expandierte so stark wie der Axel Springer Verlag. Sein Flaggschiff, die Bild-Zeitung, wurde 1967 jeden Tag über vier Millionen Mal verkauft und es schoss scharf gegen die Studenten. Zitator Stoppt den Terror der Jungroten jetzt! Sprecherin hieß eine der Schlagzeilen. Oder noch appellativer: Zitator Man darf nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei überlassen! Sprecher Der Sender Freies Berlin machte sich die Mühe und stellte 1966 die geläufigen Beschreibungen der protestierenden Studenten zusammen. Atmo: SFB [Regie: unter Sprecherin legen] Extremisten, Radikalisten, Radikalinskis, politische Rowdies, Randalierer, Skandalmacher .... Sprecherin Die extreme Härte und Aufgeregtheit, mit der die Springerpresse, aber auch viele andere Zeitungen auf die Proteste reagierten - lediglich die Frankfurter Rundschau galt als Blatt auf Seiten der Studenten - sicherte zumindest andauernde Aufmerksamkeit. Fortsetzung Atmo: SFB [Regie: kurz und unter Sprecherin weg Sprecher Das Börsenjahr 1968 war ein relativ gutes. Der Dax legte von 503 auf 555 Punkte zu, ein Plus von 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Arbeitslosigkeit lag 1967 im Jahresmittel bei 1,5 Prozent - Tendenz sinkend. Ein System, das Vollbeschäftigung, steigenden Wohlstand und eine stabile Gesellschaft hervorbringt, ist gar nicht so leicht zu kritisieren und so mussten beträchtliche theoretische Anstrengungen unternommen werden, die repressiven Seiten des Systems herauszuarbeiten und in Ermangelung einer aufständischen Arbeiterklasse ein revolutionäres Subjekt zu entdecken. Der populärste Theoretiker in dieser Hinsicht war Herbert Marcuse, der in die USA emigrierte Philosoph der sogenannten Frankfurter Schule. Seine Vorlesungsreise 1967 durch die Bundesrepublik glich der Tournee eines Popstars: Immer wieder wurde er von Medienvertretern gefragt, wie denn die schließlich revolutionierte Gesellschaft aussehen solle. 11. O-Ton: (Marcuse) Ich glaube immer noch an die Macht des Negativen, und dass wir zum Positiven immer noch früh genug kommen. Was die Studenten eigentlich wollen, außerhalb, nicht nur in Berlin, sondern auch außerhalb Berlins, habe ich, glaube ich, in meinem Vortrag wenigstens angedeutet, nämlich zunächst einmal den Fragestellern klar machen, dass es eigentlich unmöglich ist, dass sie überhaupt diese Frage noch stellen können. Das heißt, dass sie immer noch nicht wissen, was eigentlich an der Gesellschaft, in der sie leben, falsch ist, was eigentlich an dieser Gesellschaft so grauenhaft ist, dass sie zunächst einmal darüber aufgeklärt werden müssen. Sprecher Konkreter wurde er selten. Trotzdem oder deswegen war Marcuse ein attraktiver Theoretiker für die protestierenden Studenten, denn er zeigte die totale Herrschaft einer kapitalistischen Verwertungslogik auf, die von den Beherrschten - eindimensionalen Menschen, die von der Kulturindustrie verformt sind - nicht mehr erkannt und bekämpft werden kann. Dieses Privileg kam den Studenten zu, ihnen war die Möglichkeit gegeben, den großen Verblendungszusammenhang zu erkennen und aufzuheben. Nicht nur, dass er die Studenten quasi zum Protest ermächtigte, war an Marcuse attraktiv. Er drängte im Gegensatz etwa zu Horkheimer und Adorno stärker auf Aktion und war insgesamt optimistischer, was die Gestaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft anging. Obwohl er sich hartnäckig weigerte, irgendetwas über die konkrete Gestalt der nachrevolutionären Gesellschaft zu sagen. In diese Lücke stießen dann Rudi Dutschke und der SDS, die die Idee einer Räterepublik vertraten. Es kursierten viele theoretische Schriften in diesen Tagen. Gerd Koenen: 12. O-Ton: (Koenen) Wir waren weder die Rekruten existierender radikaler Bewegungen noch waren wir Leute aus einer nun plötzlich gewonnen theoretischen Erkenntnis heraus so und so handelten, sondern die Grundbewegung war schon umgekehrt. Es gab eine lebensweltliche Radikalisierung, so würde ich das nennen, die ganz jäh war, die dem vorauslief und die man dann hektisch versuchte mit Großtheorien zu stopfen. Das hatte etwas Berauschendes. Es gab wirklich so etwas wie einen Lektürerausch, fast mit einem faustischen Drang, irgendwie zu finden, was die Welt im Innersten zusammen hält. Sprecher Allerdings war diese Erkundung durchaus interessengeleitet. 13. O-Ton: (Koenen) Also alles Material der Wirklichkeit war ja sehr schnell immer nur ein Beleg für das, was man ganz im Allgemeinen und grundsätzlich zeigen wollte. Dadurch standen die Dinge sehr schnell auf dem Kopf. Das war auch schon 68 so. Man befasste sich mit ungeheuer vielen Dinge. Ich denunziere das auch gar nicht. Auf ne verquere Weise habe ich auch sehr viel gelernt. Nur, es stand auf dem Kopf, weil alle konkreten Probleme der Gesellschaft, der Gegenwart in jeder Sphäre immer hauptsächlich als Illustrationsmaterial dienen sollten für etwas, was man im Prinzip schon wusste. Sprecher 1967/68 waren die theoretischen und ideologischen Differenzen zwischen den einzelnen Gruppen, etwa im SDS oder in der Studentenbewegung, noch nicht so groß wie dann in den 70ern, obwohl sich die Trennungslinien bereits deutlich abzeichneten. Noch hielt die Dynamik der Ereignisse alle in Atem und wenn es in Deutschland mal eine Woche kein besonderes Ereignis gab, dann hatte eine Protestbewegung woanders auf der Welt Erfolge oder Niederlagen zu verzeichnen, die der revolutionären Aufmerksamkeit bedurften. Zudem gab es mit Rudi Dutschke noch eine Person, die die divergierenden Kräfte zusammen halten konnte und den Protest symbolisierte. Er schien alles gleichzeitig sein zu können: Radikal und bürgerlich, militant und pazifistisch, marxistisch und christlich, Theoretiker und Pragmatiker, Revolutionär und Reformer. Das war am 11. April 1968 vorbei. 14. O-Ton: Reportage Reporter zu Dutschke Attentat Spr. vom Dienst Unter dem Pflaster liegt der Strand - Wie der Protest aus den Hörsälen auf die Straße kam Von Martin Hartwig Es sprachen: Marina Behnke, Victor Neumann und Helmut Gauss Ton: Inge Görgner Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 1