COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Manuskript Kultur und Gesellschaft Forschung und Gesellschaft Ein "Homer der Insekten". Der zweite Frühling des Entomologen Jean-Henri Fabre Autor/in : Kurt Darsow Redakteur/in : René Aguigah Sendung : 31.03.2011 / 19:30 Uhr Regie : Stefanie Lazai Besetzung : Sprecher, Sprecherin, Zitator REGIE: Musik SPRECHERIN Fast zweitausend Meter erhebt sich der Mont Ventoux über die sonnenverbrannte Ebene der Provence. Radsportfreunden ist der höchste Berg Frankreichs zwischen Alpen und Pyrenäen ein Begriff. Legendäre Helden der Landstraße wie Louison Bobet, Raymond Poulidor und Eddy Merckx haben seine mörderischen Steigungen gemeistert. Den Engländer Tom Simpson dagegen kostete die "Königsetappe der Tour de France" 1967 das Leben. Mit Amphetaminen vollgepumpt, stürzte er kurz vor dem Gipfel vom Rad. SPRECHER Hundert Jahre vor diesem Tod des ersten Doping-Opfers machte eine kleine Gruppe französischer Wanderer sich auf, den windumtosten Kalkfelsen zu bezwingen. Nicht sportlicher Ehrgeiz trieb sie an, sondern wissenschaftliche Neugier. Doch selbst diese eher harmlose Leidenschaft konnte an der steilen Nordflanke des Bergriesen böse enden. Wirbelnde Wolkenmassen nahmen den Wanderfreunden die Sicht. Im Nebelregen sahen sie kaum die Hand vor Augen, und jeder Schritt konnte der letzte sein. SPRECHERIN Nur ein hagerer, kleiner Mann mit breitkrempigem Hut behielt auch in aussichtsloser Lage den Überblick. Er war nicht nur körperlich zäher als die meisten seiner Begleiter, sondern er kannte sich auch mit den örtlichen Verhältnissen genauestens aus. Mehr als zwanzig Mal hatte er den "Berg der Winde" bereits im Alleingang erkundet. Er wusste, wie man sich dort bei aufziehenden Wolken zu verhalten hatte. Die Große Brennnessel und das Gänsefußgewächs Guter Heinrich dienten ihm als botanische Wegweiser. Wo sie vermehrt auftraten, konnte es bis zur rettenden Berghütte nicht mehr weit sein: ZITATOR "Unsere Kameraden trauen dieser Methode nicht. Sie reden davon, den rasenden Abstieg fortzusetzen und notfalls nach Bédoin zurückzukehren. Verlot, der seinem ausgeprägten botanischen Instinkt vertraut, stimmt mir zu, dass wir die Suche fortsetzen, die Mutlosesten beruhigen und ihnen zeigen sollen, dass man im Dunkeln die Hütte findet, wenn man die Pflanzen mit den Händen befragt. Sie sehen unsere Argumente ein, und kurz darauf erreichen wir über ein Brennnesselgestrüpp nach dem anderen das Ziel." SPRECHER Souvenirs entomologiques heißt das zehnbändige Hauptwerk des französischen Insektenforschers Jean-Henri Fabre, dem dieses Reiseabenteuer entstammt. Als der Verlag Matthes & Seitz Berlin im vergangenen Jahr damit begann, Fabres Erinnerungen erstmals komplett in deutscher Sprache herauszubringen, war die Begeisterung einhellig. Als "verlegerische Großtat" wurde das Projekt gefeiert. Von "der schönsten und ergreifendsten naturgeschichtlichen Prosa, die je Tinte und Papier gesehen hat" war in einer Rezension die Rede. Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff sah sich durch Fabre "in eine Zeit versetzt, in der es noch keine albernen Designermöbel gab und die Menschen sich frei von medialen Bilderfluten auf ihr eigenes Können, ihr eigenes Gedächtnis und ihre eigenen Augen verlassen mussten." REGIE: "Cigale de Provence" MENZEL 1 Die Fragen kommen aus der Natur, und die Fragen sind selten solche, die aus dem Labor ausschließlich heraus entwickelt werden können. Sie können aber natürlich in ihrer spezifischen Art, mit ihrer besonders tief gehenden mechanistischen Wurzel dann nur im Labor beantwortet werden. Und ich glaube für das Verständnis der Zeit dann um den Beginn des 20. Jahrhunderts, in die Fabre noch hinein gewirkt hat, da ist dann dieser Durchbruch zu einer experimentellen oder sagen wir besser: einer empirischen Form von Verhaltenswissenschaft schon gelungen. SPRECHERIN Für den Berliner Neurobiologen Randolf Menzel steht der 1823 geborene Jean-Henri Fabre seiner eigenen Wissenschaft entschieden näher als biologische Jäger und Sammler des 19. Jahrhunderts wie Henry Walter Bates oder Alfred Russel Wallace. Während diese in den Tropenwäldern Brasiliens und Indonesiens ihre Packtaschen mit unbekannten Arten füllten, war Fabre, der Sohn eines Pflügers und Feldhüters aus dem Massif Central, eher an der Exotik des Alltags interessiert. In einem von mannshohen Disteln umgebenen Bauernhaus unweit der Ortschaft Sérignan im Departement Vaucluse nahm er die Insekten seiner Heimat unter die Lupe, für die er sich schon als Kind begeistert hatte. SPRECHER Ob es an dieser Bodenständigkeit liegt, dass Fabre ausgerechnet heute, im Zeitalter der Globalisierung seinen "zweiten Frühling" erlebt? Lenkt er den Blick von den fernen Küsten auf die heimischen Biotope zurück? Die von dem Pfarrer und Hobby-Entomologen Friedrich Koch mustergültig übersetzten ersten beiden Bände der Erinnerungen eines Insektenforschers können sich jedenfalls über Zuspruch nicht beklagen. Und auch die zur Finanzierung des verlegerischen Husarenritts erforderlichen Subskribenten stellten sich im Handumdrehen ein. Allerdings wäre der Bucherfolg wohl kaum möglich gewesen, wenn Fabres Naturverständnis nicht mit einer Beredtheit daherkäme, die ihm - bevor er 1915 hochbetagt starb - um ein Haar noch den Nobelpreis für Literatur eingebracht hätte: ZITATOR (eindringlich) "Ist denn anzunehmen, dass die Höhen des Mont Ventoux, gepeitscht vom böigen Mistral, der Buchen und Tannen entwurzelt - Höhen, wo der Nordostwind den Schnee sechs Monate lang umherwirbelt, Bergkämme, die den größten Teil des Jahres in kalte Wolken und Nebel gehüllt sind - als Winterzuflucht für ein Insekt in Frage kommen, das die Sonne so liebt? Ebenso gut könnte man es im Eis des Nordpols überwintern lassen." SPRECHERIN Natürlich war der Mont Ventoux für den unersättlichen Beobachter keine bloße Kletterpartie. Während der Bergwanderung hatte er stets die Vegetation im Blick, die beim Aufstieg zum Gipfel immer karger und nördlicher wird, aber seine Ausführungen zur klimatischen Verteilung der Pflanzenarten bildeten lediglich den erzählerischen Rahmen für einen jener entomologischen Glücksfälle, die selbst in 18oo Meter Höhe auftauchten. Fabre traute seinen Augen nicht: Unter einer Steinplatte entdeckte er dort, eng aneinander gedrängt, Hunderte von Sandwespen. SPRECHER Immer wieder ist in den aktuellen Rezensionen der Erinnerungen von solchen "Rätseln" die Rede. Nicht ihre "Lösungen", scheinen die Rezensenten zu begeistern, sondern wie in allen guten Krimis die Denkbewegungen, die zu ihnen führen. Nach dem literarischen Modell dieser "Ermittlungen" muss man nicht lange suchen. Wie Fabre im vorliegenden Fall das "Sandwespengeheimnis vom Mont Ventoux" lüftet, erinnert auf frappierende Weise an die Methoden des Meisterdetektivs Auguste Dupin aus Edgar Allan Poes 1841 veröffentlichter Geschichte Die Morde in der Rue Morgue. Auch er sammelt Beobachtungen und zieht logische Schlüsse daraus. Er besitzt nicht nur einen findigen Verstand, sondern versteht sich zugleich als Psychologe: MENZEL 2 Die große Kunst eines Naturforschers im Sinne des auslaufenden 19. Jahrhunderts war, die Tiere so zu beobachten, dass sich daraus dann Vorstellungen für das Innenleben der Tiere entwickelten, also, was ist denn das, was denkt sich sozusagen ein Insekt oder warum treibt es diese eigentümlichen Verhaltensweisen? Und wozu nützen sie, aber auch, wie kommen sie zustande? SPRECHERIN Hatten die Sandwespen auf dem Mont Ventoux ihr Winterquartier aufgeschlagen? Warteten sie dort, von einer Steinplatte geschützt, auf wärmere Zeiten? Dagegen sprach allein schon die Jahreszeit: Es war August, als Fabre seine Bergwanderung unternahm. In diesem Monat waren die hitzeliebenden Hautflügler für gewöhnlich im Flachland mit der Fortpflanzung beschäftigt. Wie hätte eine Zeit der Freude für sie also eine Zeit der Starre sein sollen? SPRECHER Am ehesten erinnerte das sonderbare Verhalten Fabre noch an dasjenige der Zugvögel. Im August, aber mehr noch im September, bevölkerten sie in großen Massen die Olivenhaine der Provence. Bevor sie sich auf den Weg nach Afrika machten, schöpften sie dort Kraft für den Rest der Reise. Dieses Motiv zieht Fabre auch für die Sandwespen vom Mont Ventoux ins Kalkül. Eine noch viel erstaunlichere Beobachtung, die der Insektenforscher dort ein paar Jahre zuvor gemacht hatte, weist jedoch in eine völlig andere Richtung: ZITATOR "Im Oktober fand ich die Kapelle auf dem Mont Ventoux mit Siebenpunkt-Marienkäfern Coccinella septempunctata bedeckt, den "Tierchen des lieben Gottes", wie der Volksmund sagt. Diese Insekten hingen dicht an dicht wie eine Schicht am Boden und an den Wänden, so dass die schlichte Kapelle aus wenigen Metern Entfernung aussah, als bestünde sie aus lauter Korallenperlen. Ich wage nicht zu sagen, wie viele Myriaden von Marienkäfern es waren." REGIE: Musik SPRECHERIN Das symbolisch aufgeladene Bild der mit Marienkäfern übersäten Kapelle macht den Fall noch rätselhafter. Theologen würden dabei von einer "Epiphanie" sprechen. Doch bevor Fabre den metaphysischen Wink aufgreift, der so gar nicht zu seinem Empirismus passen will, sieht er lieber noch einmal genauer hin: Als reiselustig waren ihm die "Siebenpunkt-Marienkäfer" bisher ebenso wenig aufgefallen wie die Sandwespen. Wer die kleinen Brummer jemals bei ihrem schwerfälligen Flug erlebt hat, dürfte wohl kaum auf die Idee kommen, dass sie sich in Höhen hinaufschrauben können, in die es selbst der Mauersegler nur in seinen wildesten Flügen schafft. Könnten Stürme die "Tierchen des lieben Gottes" in eine Region katapultiert haben, in die sie aus eigener Kraft nie gelangt wären? SPRECHER Bei dieser unbefriedigenden Erklärung lässt Fabre es bewenden. Metaphysik ist seine Sache nicht. Vielleicht bekommt er ja mehr über die "Intelligenz hinter dem Geheimnis der Dinge" heraus, wenn er ein Insekt ins Auge fasst, das die Niederungen des Daseins bevorzugt und sich unwiderstehlich zu Schmutz und Unrat hingezogen fühlt? Die Rede ist vom Scarabaeus sacer, dem Heiligen Pillendreher, auch unter der Bezeichnung Mistkäfer bekannt. Den alten Ägyptern war der schwarzglänzende Geselle heilig, weil er angeblich den Gang der Sonne symbolisierte. Fabre hingegen kommt er eher wie das Urbild des Sagenhelden Sisyphos vor: ZITATOR "Ein Stück noch, und wir sind da, aber sachte, ganz sachte! Der Anstieg ist gefährlich, und eine Kleinigkeit bringt alles in Gefahr. Siehe da, ein Fuß rutscht aus auf glattem Kiesel, und Kugel und Käfer rollen holterdipolter hinunter. Mit unermüdlicher Hartnäckigkeit beginnt der Käfer von vorn. Zehn oder zwanzig Mal wird er den Aufstieg versuchen, bis seine Beharrlichkeit die Hindernisse überwindet oder er, klug geworden, die gerade Straße wählt." MENZEL 3 Mir liegen natürlich auch besonders die Physiologen nahe, die an der gleichen Schwelle standen durch einerseits Beobachtung, andererseits aber Intervenieren etwas über die Mechanismen heraus zu bekommen, und da gibt es wunderbare Aussprüche etwa von Johannes Müller, der sagt, da kann man ein Tier durch ein Experiment sozusagen in eine Zwangsjacke bringen, und in seiner Not gibt es uns dann eine Antwort. SPRECHERIN Die "Zwangsjacke", von der Randolf Menzel spricht, hat auch Fabre den Insekten bereits angelegt. Bevor er sich in die thymianduftende Einöde von Sérignan zurückzog, hatte er sein Brot jahrzehntelang als Grundschullehrer verdient. Unter den Dorfkindern gab es ebenfalls immer wieder Dickschädel, an denen jede Pädagogik abprallte. Um so einen hoffnungslosen Fall muss es sich in Fabres Augen auch beim Skarabäus gehandelt haben. Er kannte scheinbar nur eine Marschrichtung, auch wenn ihm noch so viele Hindernisse in den Weg gelegt und Umgehungen angeboten wurden. War er mit diesen starren Verhaltensmustern darum unter die Maschinen zu rechnen? Solche Analogien ließ Fabres hohe Meinung von den Insekten nicht zu. Eher schloss er sich Schopenhauer an: ZITATOR (mit Nachdruck) "Jeder ungeschickte Mensch kann einen Käfer zertreten, aber alle Professoren dieser Welt können keinen herstellen." MENZEL 4 Diese Forscher haben dann jeweils auf ihrem Gebiet die Empirik dadurch hinein gebracht, dass sie die Reproduzierbarkeit in den Vordergrund gestellt haben. Und wenn man unter natürlichen Bedingungen, Freilandbedingungen Reproduzierbarkeit feststellen will, dann muss man sich auf ganz besondere Sorten von Verhalten beschränken, die stark genetisch bedingt sind, die wenig durch Lernen und Erfahrung überformt werden und die eine artspezifische Komponente haben. SPRECHER Mochte das Gehirn des Skarabäus auch noch so rudimentär sein, im Rahmen seiner Möglichkeiten wies es ähnliche Konstruktionsfehler auf wie dasjenige des Menschen. Wenigstens war das die Auffassung Émile Blanchards, eines Kollegen Fabres, der dem allseits verachteten "Straßenkehrer" jedoch auch ungeahnte Fähigkeiten zuschreibt. In einem prachtvoll illustrierten Werk mit dem Titel Metamorphosen, Verhaltensweisen und Instinkte der Insekten traut er ihm sogar das Prinzip der gegenseitigen Hilfe zu: ZITATOR "Unser Insekt wird manchmal von einem unüberwindlichen Hindernis aufgehalten: Die Kugel ist in ein Loch gefallen. Hier zeigt der Skarabäus ein wahrlich erstaunliches Verständnis der Lage und die noch erstaunlichere Fähigkeit, mit Individuen derselben Art zu kommunizieren. Als er merkt, dass er das Hindernis nicht überwinden kann, lässt er die Kugel offenbar im Stich und fliegt davon. Nach einiger Zeit kommt er wieder, und zwar gefolgt von zwei, drei, vier oder fünf Gesellen, die sich alle an derselben Stelle niederlassen, um mit vereinten Kräften die Last zu heben." REGIE: Zikadengesang wie oben ZITATOR "Drei Weinleserinnen kommen des Wegs. Ein kurzer Blick auf die offenbar in Gedanken versunkene Gestalt. Es wird höflich gegrüßt und zurückgegrüßt. Bei Sonnenuntergang kommen sie wieder, die vollen Körbe auf dem Kopf. Die Gestalt sitzt immer noch da, auf demselben Stein, starrt auf dieselbe Stelle. Meine Reglosigkeit und mein Ausharren an diesem einsamen Platz mussten sie verwundern. Ich sehe, wie sich eine mit dem Finger an die Stirn tippt, und höre sie flüstern: ,Armer Trottel, der Ärmste!' Und alle drei bekreuzigen sich." SPRECHER Insekten haben keine gute Presse. SPRECHERIN Sie stechen und saugen Blut. - Sie fressen Ernten auf und übertragen ansteckende Krankheiten. - Sie rufen Phobien hervor und bevölkern unsere Träume. SPRECHER Dass ein Mann, der sich mit "Ungeziefer" abgab, drei Weinleserinnen im 19. Jahrhundert verdächtig vorkam, ist also durchaus nachvollziehbar. Wer vor Insekten im Staub herum kroch, konnte nach damaligem Verständnis nur des Teufels sein. Aber vielleicht ließ der Entomologe sich ja gar nicht zu seinen Beobachtungsobjekten herab -vielleicht blickte er sogar zu ihnen auf? SPRECHERIN Die bis auf ein paar gelbe Ringe am Hinterleib pechschwarze Knotenwespe Cerceris tuberculata könnte diesen Verdacht erhärten. "Gelehrter Mörder" spricht Fabre das Raubinsekt respektvoll an. Zur Aufzucht seiner Nachkommen verwendet es ausschließlich in allen Farben des Regenbogens schillernde Prachtkäfer, was für einen erlesenen Geschmack spricht. Dabei stünden ihm unzählige andere Leckerbissen zur Verfügung. Was macht die Knotenwespe so wählerisch? Warum lässt sie ihre Brut lieber darben, als ihr profane Kost anzubieten? SPRECHER Der Insektenforscher Léon Dufour hatte beobachtet, dass die Knotenwespe ihre Beute selbst bei größter Sommerhitze wochenlang frisch hielt. Hatte sie den Prachtkäfern eine antiseptische Flüssigkeit verabreicht, wie Dufour meinte? Beweisen liess sich die Vermutung nicht. Auch Fabre kam in diesem Fall mit bloßem Nachdenken nicht weiter, sondern musste wie Sherlock Holmes zu Lupe und Skalpell greifen. Was er dabei entdeckte, war nicht weniger als ein "imaginäres Wunder": ZITATOR "Welch überraschendes Licht im Dunkel unseres Problems! Die Prachtkäfer leben fern von Fäulnis und Mist, vor denen die empfindliche Jägerin vermutlich einen unüberwindlichen Ekel hat; sie sind von unterschiedlicher Größe, wie ihre Jäger, die sich somit das Passende aussuchen können; und sie sind besonders verletzlich dort, wo der Stachel des Hautflüglers eindringen kann: denn an dieser gut zugänglichen Stelle liegen die Bewegungszentren der Flügel und Beine nebeneinander." SPRECHER Mit anderen Worten: Knotenwespe und Prachtkäfer passen wie Schlüssel und Schloss zusammen. Unter Millionen von Insekten sucht sich der Räuber dank intimer anatomischer Kenntnisse ausgerechnet jenes Beutetier aus, das sich auf Grund seines Nervenkostüms mit einem einzigen Stich lähmen lässt und das dadurch bewegungslos ist und gleichzeitig am Leben bleibt. Fabre zögert nicht, dieser Instinkthandlungen die "Ressourcen einer sublimen Wissenschaft" zuzuschreiben. Hier von einem bloßen "Zufall" zu sprechen, wie es die Darwinisten taten, kam ihm abwegig vor. MENZEL 5 Auch bei Darwin ist es nicht der Zufall, der so was zustande bringt, aber das war sein Problem. Fabres Problem war, dass er ein Anti- Evolutionsbiologe war. Und dass er das aus einer Art Voreingenommenheit betrieben hat und dass die ihn geradezu ideologisch davor geschützt hat, sich der Erklärungsstärke der Evolutionsbiologie wirklich zu stellen. Die Tierwelt und die Pflanzenwelt ist voller solcher wunderbaren Rätsel, und es bedarf keiner zusätzlichen Annahmen, um auch solche ganz speziellen Formen von Anpassungen zwischen Räuber und Beute, zwischen den Geschlechtern, zwischen Signalen und Verhalten evolutionsbiologisch zu erklären. REGIE: Bienenschwarm SPRECHERIN Das Institut für Neurobiologie der Freien Universität ist ein langgestreckter Flachbau an der Königin-Luise-Straße in Berlin Dahlem. Seit 1976 erforscht Randolf Menzel hier die neurologischen Eigenschaften der Honigbiene. Dabei hat er sich vor allem mit dem Lernvermögen und der Gedächtnisleistung seines Forschungsobjekts beschäftigt. Der als Entdecker der sogenannten "Bienensprache" bekannt gewordene Zoologe Karl von Frisch hatte sich zwar auch bereits auf dieses dem Menschen aus mancherlei Gründen besonders nahe stehende Insekt konzentriert, aber er hatte es wenigstens noch in seiner ganzen Verhaltensbreite wahrgenommen und nicht nur unter ganz speziellem Blickwinkel. SPRECHER Was könnte den Entwicklungsgang der wissenschaftlichen Moderne besser kennzeichnen als diese radikale Verengung der Sichtweise? Schon rein äußerlich haben Fachzeitschriften wie Nature oder Journal of Neurophysiology, in denen Randolf Menzel seine weltweit beachteten Forschungsergebnisse publiziert, nichts mit den handkolorierten Kompendien aus Fabres Zeiten zu tun. Sie sind stilistisch in einem Maße ausgenüchtert, dass man sich fragt, wo zwischen Fluoreszenzbildern und Erregungskurven die persönliche Anteilnahme bleibt, die bei Fabre aus jeder Zeile spricht. Hat der Berliner Neurobiologe vielleicht einen ähnlich engen Bezug zu seinen Studienobjekten, den er unter den puristischen Sprachzwängen der "Wissensgesellschaft" nur nicht preisgeben darf? MENZEL 6 Ich hatte keine Beziehung als Jugendlicher oder Kind zu Bienen. Ich war nie irgendwelchen Bienen ausgesetzt bis kurz vor meiner Doktorarbeit, als ich Martin Lindauer in Frankfurt kennengelernt habe, aber ich hatte ein sehr starkes Interesse an der Problematik der neuronalen Plastizität, wie es mit Lernen zusammenhängt und der neuronalen Grundlagen für Sinneswahrnehmungen, Farbensehen insbesondere, und das hat mich dann zu den Bienen geführt. Sie sind ideale Studienobjekte, wenn man sich nicht von deren Stichen zu sehr beeindrucken lässt. SPRECHERIN Was die heutige Forschung veranlasst, mit immer größerem Aufwand immer spezielleren Fragen nachzugehen, kommt im Gespräch mit Randolf Menzel nur andeutungsweise heraus. Während Fabre von der "Weisheit einer Grabwespe" spricht, ist bei ihm von "neuronaler Plastizität" die Rede - ein bemerkenswerter Unterschied: Jeder Anflug von Anthropomorphismus, von Vermenschlichung, wird strengstens vermieden. Dabei sind die Tiefenblicke der heutigen Wissenschaft kaum weniger menschenbezogen als Fabres Freilandansichten. Auch wenn sie eine noch so scharfe Optik verwendet, blickt die Forschung unweigerlich durch eine menschliche Brille, einfach weil es keine andere gibt: Da speziesübergreifende Hirnleistungen wie die Lernfähigkeit und das Gedächtnis mit zunehmender Komplexität immer schwerer zu durchschauen sind, dient die Honigbiene dazu, im Einfachen das Verwickelte zu begreifen: Sie bietet sich dem Menschen als ideales Modellobjekt an, dessen größtes Erkenntnisproblem nach wie vor er selbst ist. MENZEL 7 Dann muss man eben das Gehirn freilegen; das bedeutet, das Tier ist dann schon in einer Zwangsjacke, so dass es eben unter dem Mikroskop nicht jetzt sich verschieben kann. Das ist natürlich eine wichtige Voraussetzung, aber das ist auch möglich zu kombinieren mit einem Registrieren des Verhaltens. Ja, da muss man dann zum Beispiel die olfaktorische Bahn, wie also von den Antennen ausgehend Düfte im Gehirn kodiert werden, über die verschiedenen Stationen anschauen. Und der Unterschied in der räumlich-zeitlichen Veränderung dieser neuronalen Verschaltungen, der gibt uns dann ein Indiz für eine Gedächtnisspur. SPRECHER Wie Menzel mit seiner Arbeitsgruppe herausfand, sind neuronale Erregungen in einem bestimmten Hirnareal der Honigbiene an Hand des Calciumgehalts der dortigen Nervenzellen nachweisbar. Da die chemischen Veränderungen sich durch einen fluoreszierenden Farbstoff im Lichtmikroskop sichtbar machen lassen, konnte auf diese Weise das Duftgedächtnis der Honigbiene sehr genau erforscht werden. Indem man die Versuchstiere bestimmten Düften aussetzte und sie mit Belohnungen in Gestalt von Honiggaben verband, ließen sich zudem erstaunliche Einblicke in das Lernvermögen der hochintelligente Insekten gewinnen. Auch dabei kam der Mensch den Forschern als Kontrastfigur immer wieder in die Quere. Je mehr die Wissenschaft von ihm absieht, desto mehr drängt er sich anscheinend ins Bild: MENZEL 8 Wenn man sich anschaut, wie auf der zellulären Ebene Gedächtnis organisiert wird, wie Gedächtnisspeicherung im Verlaufe von Prozessen nach dem Lernen in sukzessiven Schritten sich entwickelt, dann findet man ganz erstaunliche Ähnlichkeiten, geradezu Übereinstimmungen in der Dynamik und in den Mechanismen für die Gedächtnisbildung bei der Biene, aber auch bei der Schnecke und beim Menschen. REGIE: Halloween theme song ZITATOR "Es war ein denkwürdiger Abend. Ich werde ihn den Abend des Nachtpfauenauges nennen. Wer kennt ihn nicht, diesen prächtigen Schmetterling, einen der größten unter den europäischen Nachtfaltern, gekleidet in kastanienbraunen Samt mit einer Halskrause aus weißem Pelz? Jeder der mit Grau und Braun übersäten Flügel, mit zickzackförmigen grauen Querstreifen und Rändern von gleicher Farbe, trägt in der Mitte einen runden Fleck, ein großes Auge mit schwarzem Augapfel und verschiedenfarbiger Iris, in der sich schwarze, weiße, kastanienbraune und amarantrote Ringe aneinanderreihen." SPRECHERIN Am Morgen dieses Tages war der Nachtfalter mit dem magischen Auge auf den Flügeldecken in Fabres Arbeitszimmer aus seinem Puppengehäuse geschlüpft. Und am Abend dieses Tages wurde der stille Raum mit dem kleinen Arbeitstisch, an dem der Insektenforscher von 1879 bis 19o7 an seinen Erinnerungen feilte, zu einem Ort des Grauens. Umstürzende Stühle und die angstvollen Schreie seines kleinen Sohnes Paul ließ Schlimmes erwarten: ZITATOR "Komm schnell und sieh die Schmetterlinge, die so groß wie Vögel sind! Meine ganze Kammer ist voll davon!" SPRECHERIN Zu Hunderten flatterten sie unter der Zimmerdecke. In der Küche schlug die Magd mit der Schürze um sich, um die Invasion abzuwehren. Mit auf- und zuklappenden Flügeln umschwebten die Nachtvögel die Drahtglocke, unter der das frisch geschlüpfte Weibchen saß. Sie ließen sich auf den Schultern der Hausbewohner nieder, klammerten sich an ihre Kleider, streiften ihre Gesichter. SPRECHER Szenen wie diese machen begreiflich, warum Surrealisten wie André Breton und Luis Buñuel den Insektenforscher verehrten. Es gibt eine Collage von Max Ernst, die wie eine Illustration zu den unheimlichen Ereignissen in Fabres Bauernhaus wirkt. Auch dort bricht eine Invasion von Nachtfaltern über die Menschen herein. Auch dort reagieren sie mit weit aufgerissenen Augen auf die Boten der Finsternis. Doch das Idol der Surrealisten hatte weit mehr zu bieten als einen bizarren Bildervorrat. Sein eigentliches Metier war das Fragen, das Erkunden und das Begreifen. Zwar wusste er noch nichts von Pheromonen, aber dass es den Nachtfaltern um das frisch geschlüpfte Weibchen ging, war ihm auf den ersten Blick klar. ZITATOR "Die verliebten Nachtpfauenaugen sind also von allen Punkten herbeigekommen, ohne dass ich weiß, wodurch sie benachrichtigt wurden, um der am Morgen in meinem verborgenen Arbeitsgemach geborenen Heiratsfähigen ihre Huldigung darzubringen. Für heute stören wir den Schwarm der Freier nicht weiter. Die Flamme der Kerze gefährdet die Besucher, die sich unbesonnen darauf werfen und dabei versengen. Morgen wollen wir dieses Studium nach einem wohlüberlegten Plan wieder aufnehmen." SPRECHER So diskret wie Jean-Henri Fabre ist die Wissenschaft schon lange nicht mehr. Altmodische Tugenden wie Höflichkeit und Rücksicht hat sie gegenüber den Mitbewohnern der Erde längst abgelegt. Statt die liebestollen Nachtpfauenaugen sich selbst zu überlassen und sie vor dem sengenden Kerzenlicht zu bewahren, nimmt sie sie bis in ihre molekularen Bestandteile auseinander. Mag die krabbelnde Parallelwelt während dieser "Reise ins Innere" auch immer menschenähnlicher geworden sein - näher ist sie uns dadurch nicht gerückt. Was an Wissen über sie gewonnen wurde, ging an Empathie verloren. SPRECHERIN Dass Jean-Henri Fabre uns heute mit seinen entomologischen Freilandansichten so unmittelbar anspricht, hat natürlich auch mit dem dramatischen Rückgang der biologischen Vielfalt zu tun. Bei 400.000 Käferarten, 150.000 Schmetterlingen und 120.000 Hautflüglern, die es schätzungsweise auf der Erde gibt, scheinen sich die Einbußen auf den ersten Blick in Grenzen zu halten. Doch Fabre, "Homer der Insekten", wie Victor Hugo ihn nannte, besteht darauf, dass es auf jede einzelne Art ankommt. Wie ein freundlicher Nachbar hat er die Insekten seiner Heimatregion immer wieder besucht und in wunderbar nachgedunkelten Familienporträts festgehalten, was sie der Nachwelt bedeuten: ZITATOR "Ihr weidet das Tier aus, und ich studiere es lebend; ihr macht aus ihm ein Ding des Schreckens und des Mitleids, ich mache, dass man es liebgewinnt; ihr arbeitet in der Werkstatt der Folter und der Zerstückelung; ich arbeite unter dem blauen Himmel, beim Gesang der Zikaden; ihr erforscht den Tod, ich erforsche das Leben." REGIE: Zikadengesang wie oben bis zur Absage 1