DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature „Bis nächstes Jahr in Jerusalem“ Geschichten aus dem Nahen Osten im Wedding Von Ursula Rütten Produktion: DLF/WDR 2013 Regie: Ursula Rütten Erstsendung Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 22. November 2013, 20.10 - 21.00 Uhr Atmo: Wegrennen, gehetzt, Verfolgung, Angst Atmo: plafond3 aphex12 Zitator: Die Gewalt kann man vielleicht nie mit Gewalt überwinden aber vielleicht auch nicht immer ohne Gewalt Musik: Ha Tikvah auftakt Ansager: Bis nächstes Jahr in Jerusalem Geschichten aus dem Nahen Osten im Wedding Musik: Ha Tikvah Ein Feature von Ursula Rütten Atmo: Klagemauer1 1. 0-Ton: Arye 18 Vorstellung hebräisch Sprecherin: Arye Sharuz Shalicar. Der Mann im Brennpunkt der Geschichten aus dem Wedding. 1977 in Göttingen geboren, aufgewachsen in Berlin. Die ersten Jahre in Spandau, schließlich Wedding. Mit Anfang zwanzig ausgewandert nach Israel. Seit gut 12 Jahren lebt Arye Sharuz in Jerusalem. Musik: BatAinA3short Plafond10 Auftakt, 23’’) Plafond11 Zitator: Mein Vater Dawud Shlomo Shalicar erblickte das Licht der Welt wenige Monate, bevor David Ben Gurion am 14. Mai 1948 vor dem Bild Theodor Herzls die Unabhängigkeit Israels proklamierte. .. Die Familie lebte in einer kleinen Stadt namens Babol, am Ufer des Kaspischen Meeres im Norden Irans. Von dessen Wasser, das wie Milch schmecke, und dem Duft der Frühlingsblüten an seinem Ufer schwärmte mir meine Mutter gerne vor. Auch meine Mutter ist in Babol geboren. Ungefähr fünf Prozent der Gesamtfläche Babols waren von einer Mauer umgeben. Innerhalb dieser Mauern wuchsen meine Eltern auf, im jüdischen Ghetto, dem >Mahle< von Babol. Zuerst dachte ich, die Mauer Babols, von der mir mein Vater erzählte, sei aus demselben Grund gebaut worden wie die Berliner Mauer, die mir so bekannt war. Doch als ich ihn fragte, ob man die Berliner Mauer mit der Baboler Mauer vergleichen könne, die auch das Ziel hatte, Menschen von Menschen zu trennen, sagte er: „Keinesfalls“. Er hatte einen sehr ernsten Blick, als er mir den Unterschied zwischen der einen und der anderen Mauer erklärte. … Im Gegensatz zur Berliner Mauer wurde die Mauer Babols nicht von irgendwelchen Machthabern gebaut, aus politisch-ideologischen Gründen, sondern vom Volk selbst. Offensichtlich wollten sich 95 Prozent der Bewohner Babols von fünf Prozent der Stadt abgrenzen. Sie wollten so wenig wie möglich mit diesen >Ghettobewohnern< zu tun haben. Das lag daran, dass diese fünf Prozent nicht an den Propheten glaubten und nicht den Koran als ihr Heiliges Buch ansahen, sondern das Alte Testament, die Thora. .. Mein Vater sah mich an: „Du gehörst den fünf Prozent an, mein Sohn. Du bist Jude! Sei froh, dass du wegen deines Glaubens nicht mehr in einem >Käfig< leben musst, jedenfalls nicht heutzutage in Berlin. Ich habe mich auch außerhalb des Mahle nie wirklich frei fühlen können, doch du bist frei. Das solltest du zu schätzen wissen!“ Zitator: Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude. Sprecherin: Arye Sharuz Shalicar Zitator: Die Geschichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde 2. 0-Ton: Arye7 Ich bin in einem sehr guten Elternhaus groß geworden. … sehr gut erzogen. Sprecherin: Arye Sharuz hat nie die Heimat seiner Eltern gesehen. Während Shlomo und Rose Shalicar nach Deutschland auswanderten – um Hass und Rassimus im Mahle von Babol zu entfliehen, verschlug es weitere Mitglieder beider Familien nach Israel und Amerika. Durch Besuche seiner Verwandten in Israel während der Sommerferien wurde dieses Land dem Schüler Arye schon sehr früh vertraut: die Sonne, das Meer, die Leichtigkeit des Lebens dort für ihn. 3. 0-Ton: Arye7 Es kam mir nie in den Gedanken, kriminell oder radikal zu werden, besonders nicht zu meiner Mutter, die der letzte Mensch ist, der für Aggression oder so etwas steht. Dann ziehst du in einen Bezirk, wo alle aggressiv sind oder fast alle Aggressionen in sich herumtragen. Atmo: Wedding Sprecherin: Wedding. Großbezirk Berlin-Mitte. Ein traditionell proletarisches Viertel: Der Rote Wedding. Seit den 1970er Jahren vom fortdauernden Verlust industrieller Arbeitsplätze betroffen und geprägt. Durch die Schließung der AEG-Werke verliert die Elektrobranche hier ihre führende Rolle. Viele Bewohner werden arbeitslos. Abhängig von staatlichen Transferleistungen. Viele Familien verlassen den zunehmend heruntergekommenen, randständigen Stadtteil. Gastarbeiter - Türken, Jugoslawen, Griechen sowie Flüchtlinge vor allem aus den Krisengebieten des Nahen und Mittleren Ostens siedeln sich an, drücken dem Kiez und dem Leben auf der Straße ihren unverwechselbaren Stempel auf: Läden mit landestypischen Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs, Döner- und Kebab-Imbisse, Teestuben. Jugendclubs und Sportvereine sind fest in türkischer und arabischer Hand. Die Minderheit von Zugewanderten ist bald in vielen Straßenzügen Mehrheit. Atmo: Hiphop Fabrik Wedding, Vol. 5, 01 Zitator: Hasshand teilt gerne aus, bricht sich aber viele Knochen. Sprecherin: Türkisches Sprichwort Atmo: Nächste Station: Gesundbrunnen, umsteigen … Sprecherin: Tragfähige einwanderungspolitische Konzepte, Vorbilder und Modelle für ein reibungsloses, tolerantes Zusammenleben gibt es nicht. In jener Zeit ist besonders die Gegend um Wedding-Gesundbrunnen das größte innerstädtische Sanierungsgebiet in Europa. Bis heute ist es im Vergleich zu Gesamtberlin ein besonders junges, internationales und armes Quartier. Wohnumfeld oder treffender gesagt: Arena des Schuljungen Arye Sharuz Shalicar. 4. 0-Ton: Arye3 Meine Eltern haben absolut kein Problem gehabt, in den Wedding zu ziehen, auch obwohl man da mehr Migranten und Schwarzköpfe sieht. Meine Eltern sind Schwarzköpfe, wie die Migranten. Man hat auf der Straße vielleicht, für meine Eltern, weil niemand gefragt hat, wer oder was sie sind. Auf der Straße fühlt man sich, ob auf der Prinzenallee, der Badstraße oder am Gesundbrunnen, man sieht so aus wie 80, 90 % der Frauen und Männer, die da durch die Gegend laufen. Und solange man nicht ins Gespräch kommt über ethnische Zugehörigkeit oder Religion und Nationalität ist alles wunderbar. Man gehört dazu. Bei mir, leider, als 13-, 14-Jähriger war halt eine der ersten Frage: wer oder was bist du, Türke, Araber? Atmo: Sprecherin: Oder - Palästinenser? Aus dem Libanon? 5. 0-Ton: Arye7+8 Du kommst in einen Bezirk und guckst, wie überlebst du? Sprecherin: Basketballplatz Gesundbrunnen-Grundschule am U-Bahnhof Pankstraße: SZENE IMPROVISIERT Sprecher junger Arye: Nein, nix davon. Ich bin kein Türke, auch kein Araber. Ich bin Perser. Junge A: Also bist du auch Muslim. Willkommen bei uns, Habibi. Sprecher junger Arye: Ehrlich gesagt, ich bin kein Muslim. Ich bin eher ungläubig, hab mich noch nie für Religion interessiert. Junge B: Hauptsache, du bist kein Jude. Der Rest ist uns eigentlich egal. Zitator: Ich schwieg. .. Wenn ich jetzt zugegeben hätte, dass ich Jude bin, dann wären zehn Araber, höchstwahrscheinlich allesamt Judenhasser, über mich hergefallen. Was für ein Jude war ich schon? Schweinefleisch gehörte fast zum Alltag auf dem Schulbrot, nach der Schule in der Currywurst oder als Steak auf Grillpartys. Die Thora oder den Talmud hatte ich nicht eine Sekunde in der Hand gehalten .. und in die Synagoge ging ich auch nicht. 6. 0-Ton: Arye 13 Ich hab keine Ahnung gehabt, was die jüdischen Feiertage sind, kannte kein Hebräisch, Sabbat und Israel haben mich nicht interessiert. Aber als ich dann in den Wedding zog, ein Erlebnis nach dem anderen und das immer mit dieser jüdischen Sache, hab ich gemerkt, dass irgendwas in mir steckt, irgendwas an meiner Identität ist, was ich nicht kenne, was mich auch nicht wirklich interessiert hat aber komischerweise alle um mich herum interessiert. Atmo: Dam 7. 0-Ton: Arye 7 Wenn du als 14-Jähriger mit 14-Jährigen zu tun hast, die Drogen verkaufen, die mit vierzehn überzeugt Menschen verprügeln, und die mit vierzehn ein Messer in der Tasche tragen, musst du gucken, was machst du in einer solchen Situation als Alleinstehender, als einziger Jude in so einem Umfeld? Atmo: Koloniestraße1 Sprecherin: U-Bahnhof Pankstraße. Arye hängt hier ab mit seinem Freund ?ahin. Sieht eine Gruppe junger Männer auf sie zukommen, achtzehn-, zwanzigjährige, etwa ein Dutzend. Unter ihnen Shihab, Fadi, Jim und Sunny, Khalil und Mahmoud, Bekannte vom Basketballplatz. Mitglieder einer Gang, die PLO-Boys: SZENE IMPROVISIERT Sprecher junger Arye: Scheiße, die wollen mir ans Leder. Was soll ich machen? Sprecher junger ?ahin (Ansager): Ruhe bewahren, bloß keine Angst zeigen. Vielleicht laufen sie ja an uns vorbei zur U-Bahn hinunter. Sprecher junger Arye: Ganz bestimmt / Sieht wohl eher nicht danach aus Zitator: Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich richtig Angst hatte, verprügelt zu werden. Sie bauten sich vor uns auf und starrten mich stumm an. Fadi stand mir am nächsten: Junge A: Da haben wir ihn ja, unseren Juden. Sitzt hier frohlockend an unserem U-Bahnhof und schämt sich nicht einmal. Zitator: Während wir uns anstarrten, aß Fadi in aller Ruhe Erdbeeren. Richtig saftige, große dunkelrote Erdbeeren. Junge A: Gefallen dir meine Erdbeeren, Jude? Mach mal dein Maul auf! … du willst nicht? Machst nicht, was ich dir sage? Sieh zu, Jude, dass du dein Maul aufmachst, sonst machen wir’s dir auf! Ej, weiter … Machs ganz auf! Weiter! Weiter! Machs Maul auf bis es nicht mehr geht!! …. Erdbeere wird in den Mund gequetscht Friss, Jude, friss! Junge B: Erzähl uns bloß keine blöden Geschichten, von wegen nicht religiös, wohne in Berlin. Du bist Jude und gehörst zum stinkendsten Volk, das auf Erden existiert. Ihr habt uns unseres Landes beraubt und eines Tages werden wir euch alle ausrotten, wie es Hitler schon wollte, und wir werden unser Land zurückerobern. Frieden wird es nie geben, nicht, ehe ihr nicht alle im Meer ersauft! Junge A: Ej, wir müssen los, kommt – und du, du Stinktier, wenn ich dich noch mal in der Pankstraße erwische, schlitz ich dich auf! 8. 0-Ton: Sinan / ?ahin 6+3 Definitiv sind in Berlin gewisse Kieze vorhanden, die eine bestimmte Eigendynamik haben, Eigenstruktur, Parallelgesellschaft. Diese Gesellschaften entwickeln eigene Prinzipien, Dynamiken, die ganz andere Wertschätzungen mitentwickeln, ganz andere Weltvorstellungen. Mein Name ist Sinan, ich bin 36 mittlerweile. Ich bin in Kiel geboren, zwischenzeitig in der Türkei zur Schule gegangen, 5 Jahre, und im Anschluss, 1986 nach Deutschland zurückgekommen, direkt nach Berlin. Sprecherin: Sinan stellt sich mit seinem richtigen Namen vor. In seiner Autobiografie nennt Shalicar seinen Jugendfreund ?ahin. Ein Pseudonym, wie für alle weiteren Personen, über die Shalicar erzählt. 9. 0-Ton: ?ahin 4+5 Das war ein recht ansprechbarer Zeitgenosse. Mit dem konnte man reden. .. Wir waren fast Nachbarn im Wedding. Der gemeinsame Schulweg hat natürlich auch viel dazu beigetragen, .. Es ist definitiv nicht nur der Antisemitismus. Es ist Antisemitismus, weil es leichter ist. Man kann dafür sehr viel Lob ernten, weil es im Endeffekt nicht wirklich verboten ist, antisemitisch zu sein, und es wird auch in den Familien nicht anders unterrichtet. Ich kann von mir nicht bestätigen, dass meine Eltern Judenhasser sind, aber die waren ja auch religiös. Und wenn es Grund gibt, Juden zu hassen, dann wüsste ich das. Ich hab genug gelesen, auch den Koran gelesen, aber ich habe nirgends den Grund gesehen, den Sharuz anzufeinden, nachdem ich wusste, dass er Jude war, und so entstand mit der Zeit eine Freundschaft. Sprecherin: Eine Freundschaft mit einem gläubigen Muslim. Zitator: Obwohl beide Eltern Türken waren, sah er mehr wie ein Deutscher oder Pole aus. Er hatte hellblaue Augen und eine sehr helle Haut. Er war so fromm, dass er kein bisschen kriminell war. Das war für einen Weddinger Jugendlichen sehr untypisch. 10. 0-Ton: ?ahin 9+6+9 Ob es nun Gewalt allgemein oder Antisemitismus ist oder Islamhass, der steht ja nicht am Kiosk, und man holt sich das ab, sondern es ist eine Phase, die ein Mensch durchmacht, woraus er solche Erkenntnisse trifft. Wenn ein Iraker, der seinen Kumpel oder seine Familie im Krieg verloren hat, hierherkommt, der hat erst mal ein Trauma zu bewältigen. Das macht er nicht mit einem Psychologen oder sonst was, das macht er in seiner Familie, die er vielleicht noch hat, sprich, in dem Trümmerhaufen, wo er herkommt. Den schleppt er nun mit sich. Dass dieser Trümmerhaufen erst mal nicht gedeckelt ist, ist klar. Da kann man dran arbeiten, nur das Ding ist halt, da setzt niemand richtig an. Man muss sich selbst entwickeln, und die Entwicklung fehlt, weil die Angst da ist, aus dem Kiez heraus selbst das zu verlieren. Und das ist schon wenig, was man da hat. Und das zu verlieren würde einfach zu viel bedeuten. Um das zu erhalten, muss man einfach auf Biegen und Brechen seinen Platz sichern, und sei es, Antisemit zu sein. Das habe ich nicht gemacht. Das ist meine Geschichte des Ganzen. .. das heißt, wenn ich als Weddinger aufgewachsen bin, habe ich zuerst gegen den Wedding zu kämpfen. Das heißt: mit sich selbst: Wie komme ich hier heraus?! 11. 0-Ton: Arye7 Es ist ja nicht nur der Hass gegenüber den Juden, es ist der Hass gegenüber allem um einen herum: der Hass gegenüber Juden, der Hass gegenüber Deutschen, der Hass gegenüber allen, die nicht zu ihnen gehören, der Hass gegenüber Türken und Arabern, Türken gegenüber Kurden, es ist ein Frust in einem drin gegen das meiste um einen herum, aber gegen den Juden auf jeden Fall. Atmo: Akzent: HipHopFabrik Wedding, Vol. 5 Gettosound Zitator: Meine Weste war nicht so rein wie die ?ahins. Geklaut hatte ich schon mehrmals. Bei Prügeleien zog ich mich nicht zurück. Seit mehreren Jahren kritzelte ich hin und wieder in öffentlichen Toiletten meinen Spitznamen an die Wände, der sich von >Weapon< über >Strike< zu >Bomber< änderte und sich schließlich zu >King I< festigte. 12. 0-Ton: Arye7 Ein zwei Jahre hab ich mit mir selber gekämpft: was machst du? Wie kannst du in diesem Bezirk überleben oder am einfachsten leben? Musst du dazu gehören oder musst du so weitermachen mit der Angst, tagtäglich. Ich hab mich langsam entschieden, dass du Teil dieser Sache werden musst, um in diesem Bezirk nicht nur dich selber, sondern auch deine Familie zu schützen. Atmo: Akzent Future6 13. 0-Ton: ?ahin 11 Die Öffnung der Berliner Mauer ist ein krasser Einschnitt gewesen. Dadurch haben sich auch in den Kiezen sehr viele Sachen verändert. Atmo: Future6 Sprecherin: Wiedervereinigung: East goes West. Und auch dieses: Krieg in Afghanistan. Seit 1978. Abzug der Sowjetischen Truppen 1989. Es folgt ein innerafghanischer Machtkampf – bis heute andauernd. Erster Golfkrieg. Iran gegen Irak. 1980 bis 1988. Zweiter Golfkrieg. 1990/91. Irak annektiert Kuwait. Mit betroffen und involviert drei nichtarabische Staaten im Nahen Osten: Israel, der Iran, die Türkei. 1991 folgende: Krieg in Jugoslawien. Starke Fluchtbewegungen nach Deutschland aus all diesen Kriegsregionen. Nach Öffnung der Berliner Mauer und dem Ende des Kommunismus in Europa folgt die Neuordnung Europas. Neoliberalismus beherrscht die Wirtschaftsordnung. Das Gewicht von Gewerkschaften und Sozialdemokratie schwindet. Traditionelle Arbeitermilieus lösen sich auf. Die Kluft zwischen Arm und Reich verfestigt sich, ebenso die Kluft zwischen den Perspektiven von sozialem Aufstieg und Absturz. Sozial und ökonomisch abgewickelte, Neuland suchende Ostdeutsche ringen vor allem mit Einwanderern um knapper werdende Ressourcen und – um Deutungshoheit über Heimat und Zugehörigkeit. In Stadtvierteln mit hohem Migrationsanteil formieren sich Gangs orientierungs- und perspektivloser, von der Mehrheitsgesellschaft nicht beachteter, ausgegrenzter Jugendlicher. Zeitgleich tobt der völkische Terror auf Deutschlands Straßen: Hoyerswerda – September 1991. Rostock-Lichtenhagen – August 1992. Mölln – November 1992. Solingen – Mai 1993. Der Zeitraum, in dem auch Arye Sharuz seine Orientierung auf den Straßen des Wedding zu suchen beginnt und findet. 14. 0-Ton: Arye7 Meine Kriminalität hat sich in erster Linie in der Graffitikultur wiedergegeben. Ich war ein überzeugter Graffitisprüher, hab das Jahre lang gemacht und hab meinen Respekt in erster Linie als Graffiti-Sprüher bekommen. Auch in die Black Panthers bin ich reingekommen, weil ich als Graffiti-Sprüher respektiert wurde und man meine Dienste gerne in dieser Gruppierung gehabt haben wollte. Atmo: Dindin 4 15. 0-Ton: BodyMurat 1 (2) Mein Name ist Murat, bin aus Wedding. Man nennt mich Body Murat, von den Black Panthers. Unter dem Namen bin ich erreichbar. Sprecherin: Geboren 1971 in der Türkei. Hochgewachsen, athletisch. Breite Schultern. Oberarme, Brustkorb muskelbepackt. Warme braune Augen. Drei-Tage-Bart. Längst nicht mehr im Outfit der Gang wie damals, in den späten 1980er Jahren: das schwarze Haar am Hinterkopf lang bis auf die Schultern fallend, vorne kurz geschnitten und gegeelt. Längst trägt Body Murat nicht mehr jene schwarze Bomberjacke mit dem aufgedruckten Schwarzen Panther, dem Logo der Gang von einst. 16. 0-Ton: BodyMurat 5+3+4+8 Die Gründung war genau auf der Mitte des Fußballplatzes gewesen. Wurde gegründet 1987/88, wurde die gegründet. Das war am Nauener Platz. Das war unser Stützpunkt, unser Treffpunkt. Wir waren damals 16, 17, von den Black Panthers. Musik: DinDin4 17. 0-Ton: Arye9 Die Generation von Body Murat, also den erwachsenen Black Panthers, das waren die Leute, die in den Achtzigern die Black Panthers aufgebaut haben, das ist die Generation von den älteren Brüdern und Onkeln von den Jungs, mit denen ich mich angefreundet habe, Mitte der Neunziger. Das sind Jungs gewesen um den Nauener Platz, die in erster Linie sich gegenseitigen Schutz geben wollten, auch vor Nazis, Deutschen, .. die in die Gegend kommen und stänkern wollen. 18. 0-Ton: BodyMurat 8+7 Wir haben angefangen mit 30, 40 Leuten, das war so wie ein Kettensystem. Wenn jemand Probleme hatte, hat sich das gleich rumgehört. … Die Idee kam .., wo ich mit meinen Kumpels in Reinickendorf in eine Diskothek reingegangen sind, wir waren da 15, 16, haben uns amüsiert. Nach der Diskothek wollten wir nach Hause gehen, dann haben uns 20, 30, richtig ältere Skinheads umzingelt. Ein paar sind abgehauen, ein paar haben was richtig auf die Fresse bekommen, wie ich, mich haben sie richtig gesülzt mit Baseballschlägern. Der nie mit Gewalt aufgewachsen ist. Das war der Anfang. Nach dieser Attacke, was wir von den Skinheads bekommen haben, haben wir gesagt, das lassen wir uns nicht mehr gefallen. Das Wort: Türken kommen hier nicht mehr rein, gibt’s nicht mehr. Nazis wird’s auch nicht mehr geben, also die wird’s immer geben, aber die würden nicht mehr die große Fresse haben, wo wir unser Revier haben, wo wir sind. Die Gegenattacke, das war unser Auslöser. Musik: DinDin4 19. 0-Ton: Arye9 Zum anderen gab es aber auch, diese ganze Ganggeschichte ist auch Gang gegenüber Gang und Bezirk gegenüber Bezirk. D.h., du hast viel Konkurrenz gehabt zwischen Wedding und Kreuzberg, Kreuzberg und Schöneberg, auch die Spandauer. Dann hast du Gangs sogar in Wilmersdorf gehabt und im Süden, in Mariendorf, Tempelhof, und jede Gang hat ihr Revier beschützt. Ich hab die Juniors kennengelernt von den Black Panthers, das waren sehr nette Jungs, gute Menschen. .. Die, die wussten, dass ich Jude bin, waren o.k. mit mir. Das waren Türken, die weniger ein Problem damit gehabt haben, ob du Jude bist oder nicht. Die, bei denen ich gut angekommen bin, waren auch diejenigen, die in erster Linie Interesse an der Graffitisache hatten. D. h., ich bin in erster Linie gut angekommen, weil ich viel Graffiti gemacht habe, damals und meine Dienste für die Black Panthers beansprucht wurden: Aro, mach doch bei uns mit. Sprecherin: Aus dem pubertären Weapon, Strike, King I (-Sprüher) wurde Aro. Boss Aro. Arye Shalicars zeitgleich Berlin markierende Graffiti-Gruppe nannte sich ASP. Atmo: HipHopFabrik Wedding SL in da House 20. 0-Ton: Arye10 ASP haben wir damals Aro-Sebi-Posse genannt. .. Das war damals, Anfang der 90er, ne coole Sache, das hat Spaß gemacht. Ende der 80er war es Scateboardfahren, Anfang der 90er war es Sprühen, Mitte der 90er war es Techno-und House-Hören. Alle paar Jahre hat sich das so ein bisschen geshiftet. Die ASP-Sache war wirklich ne kleine Sache von zwei, drei Leuten. Auch wieder so’n Zusammenschluss von Freunden, die nicht nur Graffiti machen sondern auch wieder so ein bisschen Schutz geben, und das hat sich dann entwickelt in diese BerlinCrime-Großgruppierung. Musik: Stumme Zeugen Zitator: Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass es keinen Weddinger mehr interessierte, welche Abstammung oder welche Religion man hatte. Wichtig war, ob man sich als Weddinger fühlte, ob man bei den Gang-Kämpfen dabei war oder nicht. Da ich unbedingt von allen akzeptiert werden wollte, war ich immer dabei, wo es nach Stunk roch. Wann immer ich hörte, dass es Probleme mit anderen Gangs aus anderen Bezirken gab, war ich einer der Ersten, der anfing zum Gang-Fight aufzustacheln. Wann immer man losziehen wollte, um zu sprühen, war ich dabei. Ich wurde mehrfach von der Polizei nach Hause begleitet. Musik: Stumme Zeugen + Diese Waffen Diese Waffen sind alles, was wir heute brauchen, diese Waffen bringen uns an unser Ziel. Diese Waffen können nichts dafür, dass wir sie missbrauchen. Diese Waffen - war schon immer und es bleibt immer – nur ein Spiel. Zitator: Ob am Gesundbrunnen, in der Osloer Straße, am Nauener Platz, in der Koloniestraße oder am Leopoldplatz, auf der Prinzenallee und sogar in der Pankstraße war ich nun gerne gesehen und wurde von allen mit Wangenküssen begrüßt. Von den Türken und Kurden zweimal, von den Arabern dreimal. 21. 0-Ton: BodyMurat 9+10 Wir wurden 17, haben wir mit Sport angefangen, mit Kampfsport, Fitness. Aber wir haben wirklich nur die Leute uns vorgenommen, die wirklich gegen eine Nation, gegen den Menschen waren. ... Das hat einfach gar nicht gepasst. … Dann wurden wir in manchen Situationen auch gewalttätig. Zahn um Zahn. Messer, Schusswaffen. Zur Sicherheit hatten wir natürlich was gehabt. Das war jetzt nicht gleich: wir wollten mit Messern auf die Leute zugehen. Das war ganz normal – in dem Alter – Mann zu Mann kämpfen, so mit Fäusten. Faust zu Faust. Messer gegen Faust war nicht unser Ding. Das war nur für Notwehr, falls einer Messer rausholt. Sie verstehn? Musik: Diese Waffen Diese Waffen beschützen mich Tag für Tag und verschaffen mir Respekt auf Weddings Straßen. Dein Schutzengel passt auf dich auf, doch er fliegt weg, wenn sie dich packen .. 22. 0-Ton: Arye11 Black Panthers war noch vor Berlin Crime. Diese Gang-Sache ist parallel gelaufen zu dieser Graffiti-Sache berlinweit. Berlin Crime hat so mit 16, 17 angefangen. 23. 0-Ton: Nima22 BC das war ein Zusammenschluss von Sprühern aus ganz Berlin, von Tempelhof, Reinickendorf, Wedding, Kreuzberg, Marzahn sogar, also viele auch aus dem Osten. Ich glaub, das war die erste Gruppe, Mitte der 90er, die so’n Zusammenschluss aus Ostberlin, Südberlin, Nordberlin, Westberlin, aus ganz Berlin viele Leute vereint hat, viele unterschiedliche Leute, viele Nationalitäten. Wir waren auch deutschlandweit bekannt für unsere verrückten Aktionen. Wir haben damals Straßenschlachten mit der Polizei angezettelt, wirklich organisiert vorgegangen.)) Atmo: Nima / Intro Zwiespalt Absolute Stille. In den Jahren zwischen grau, schwarz und weiß ist vieles entstanden, das eigentlich nicht für eure Ohren bestimmt war. 24. 0-Ton: Nima 1+2+6 Hallo, mein Name ist Nima. (und) hab auch nen bestimmten Ruf in der Szene als Horror-Rapper und hab auch bestimmt so 15, 20 Alben rausgebracht, von mir alleine und in Kollaboration mit anderen Leuten, Frauenarzt von den Atzen, MC Bogy, Manni Marc. Sprecherin: Atze: Alt-Berlinerisch: Bruder. Nima ist gebürtiger Perser, wie Arye Shalicar. Als Rapper bekannt unter dem Namen Basstard. 25. 0-Ton: Nima 1+24+12 Ich bin seit 28 Jahren, seit ich zwei bin, in Berlin und bin mit dem Arye aufgewachsen im Wedding. .. Der nannte sich Aro oder Boss Aro. Der hat wirklich komplett ganz Wedding voll getagged mit seinem Namen. Man kann schon sagen, dass er so ne Art Anführer war. Der war so ne Art Antrieb für alle, dass alle mitmachen, dabei sind. Ohne ihn wär es schwer gewesen, das ganze so kontinuierlich am Laufen zu halten. Der hat auch viel organisiert. Wenn wir uns getroffen haben, sind z. B. alle am Bahnsteig gestanden, und auf seinen Befehl hin sind dann alle runtergesprungen und haben in Minuten den kompletten Bahnhof zugesprüht. Das war so wie ein Jugendidol für mich. Musik: Berlin Crime Auftakt 26. 0-Ton: Arye11 Berlin Crime hab ich auch sehr überzeugt gemacht. .. Das war auch eine Gruppierung, die wie die meisten Party machen, Spaß haben, die Graffiti machen und die sich auch teilweise Schutz geben. Berlin Crime hätte mich nicht vor einem arabischen Clan retten können, wenn es dazu gekommen wär. Musik: Berlin Crime Refrain Berlin Crime, Berlin Crime .. Wir sind die Kings 27. 0-Ton: Arye11 Die großen arabischen Clans, die man in Deutschland mittlerweile kennt. Die hab ich mit Leib und Seele schon in den 90ern kennengelernt. Du legst dich da nicht mit einer Person an, du legst dich mit hunderten von Jugendlichen und Männern an. Und das sind Jugendliche, die Hälfte von denen war schon im Gefängnis, die andere Hälfte ist auf dem Weg ins Gefängnis, und die haben keinen wirklichen Gott. Das sind keine wirklichen Muslime. Auch Islam interessiert die nicht wirklich. Da ist das Kriminelle, die kriminelle Bande, was zählt. Musik: Berlin Crime Refrain Berlin Crime, Berlin Crime .. Wir sind die Kings 28. 0-Ton: Nima 16+17+11+15 Der war eher so’n Mackertyp, so’n Alpha-Tier-Mensch, der immer so seine Stärke zeigen wollte. Das musste er als Schutzfunktion machen. Er musste dieses starke Ego aufbauen, um überhaupt bestehen zu können. Dieses Graffiti-Ding war auch wirklich so ein Schritt raus aus dieser schwer kriminellen Umgebung. So’n supersympathischer Typ, der halt immer so den Macker raushängen lassen hat, aber trotzdem superintelligent war. Also man hat es ihm auf den ersten Blick vielleicht nicht angesehen. Damit hat er auch immer Scherze gemacht, so wie: ja, der Kanake hat Abitur gemacht. Der hat immer ne Menge lustiger Sprüche herausgehauen. Aber wenn man ihn dann mal was ernstes gefragt hat, zum Beispiel über irgendwelche Kriege oder geschichtliche Sachen, dann hat der ganz weit ausgeholt und konnte stundenlang geschichtliche Fakten nennen, wie so ne Enzyklopädie hat er rausgeholt und frei vorgetragen. Das war unglaublich. Ich war sehr traurig, als er dann nach Israel ging, weil das war immer so ’n krasser Bezugspunkt für mich. .. Der war von Anfang an wie ’n Bruder für mich. Musik: Berlin Crime 1’40’’ .. Porno-Mafia, gehen auf Groupie-Jagd, das ist Rap, Berlin bleibt hart 29. 0-Ton: Arye11 … Heute, viele Jahre später, es war eine schöne Zeit. Ich hab auch sehr viel Gutes erlebt, Freundschaften erlebt, Muslime, Nichtmuslime, besonders die Graffiti-Szene. Du hast in der Graffiti-Szene alle Nationalitäten, alle Farben, alle Religionen. Das Gespräch handelt nicht von wo du herkommst, ethnische Zugehörigkeit, Religion, sondern, ich glaub, es gibt kein anderes Hobby, wo du so viele Nationalitäten hast, die sich wie Brüder fühlen, Brüder und Schwestern. Die Leute haben zu 100 Prozent hinter diesen zwei Buchstaben gestanden. Musik: Berlin Crime (Arye, Boss Aro) 2’16’’ (-2’54’’) Ich bin Boss Aro, mehr brauch ich nicht zu sagen. B o doppelt s, überall kennt man den Namen. Berlin Crime, meine Gang macht Stress, schmeißt die Stühle durch den Club, jetzt gibt’s Stress. … 30. 0-Ton: Nima 28+29 Als wir damit angefangen haben mit dieser ganzen Rap-Geschichte, war Aro oder Arye schon auf dem Weg Richtung Israel, hat schon angefangen zu studieren, war öfter als jetzt hier. Dann hab ich ihm irgendwann erzählt, ich rappe jetzt und will mein erstes Album machen. ((Er war total skeptisch: ja wie, wie kommst du dazu? Weißt du überhaupt, was ein Schweifreim ist? War schon ein bisschen lustig. Als es dann wirklich Früchte getragen hat und wir so ein Label, Bassboxx hieß das, aufgemacht haben und angefangen haben, tapes und CDs zu verkaufen und anfingen, uns deutschlandweit einen Namen zu machen und Sharuz das alles mitbekommen hat, war er schon begeistert davon.)) Er hatte auch die ganze Zeit schon Lust, auch zu rappen, ein Album zu machen, und irgendwann haben wir das auch gemacht. Wir haben zusammen mit ihm bei Manny Marc im Keller ein Album aufgenommen und haben ihn auch so ’n bisschen gecoacht und ihm gezeigt, wie man das macht, und haben auch ein komplettes Album aufgenommen. Das ist aber nie erschienen. Atmo: Triangel Zitator: Beobachte deine Gedanken – sie werden Worte beobachte deine Worte - sie werden Handlungen Beobachte deine Handlungen – sie werden Gewohnheiten Beobachte deine Gewohnheiten sie werden dein Charakter beobachte deinen Charakter denn er wird dein Schicksal Musik: Havana Nagila (ab 14’’ – 37’’) Atmo: BusAshdod4 31. 0-Ton: Shabnam 2 (16) Vorstellung hebräisch ev. mit 0-Ton Shabnam1, Vorstellung französisch, überblenden Sprecherin: Shabnam ist Aryes jüngere Schwester. Deutschlehrerin in Paris, verheiratet mit einem französischen Juden. Die Schulferien verbringt sie in ihrer Wohnung in Ashdod, einer Hafenstadt südlich von Tel Aviv. Nach dem Abitur ist sie zunächst, wie wenig später der jüngste Sohn der Familie, Richard, dem großen Bruder nach Jerusalem gefolgt. 32. 0-Ton: Shabnam 14 + 15 Schlechte Vorfälle habe ich nicht wirklich erlebt. Nur, früher, als ich gesagt hab, dass ich die Schwester von Arye bin, hat man, ah, whow, gut, richtig positiv. Ich war immer so stolz, ah, mein großer Bruder ist richtig berühmt hier im Wedding. Ich hatte auch immer so ne Bomberjacke an, war von ihm, hab ja gesagt, er war immer mein Vorbild, wollte seine Sachen immer anziehn und hatte so ne Bomberjacke an mit nem schwarzen Panther, und ich wusste nicht, dass es so ein Symbol von ner Gang war. Ich wollte es nur anhaben, weil es mir gefallen hat. ..Hinten auf der Bomberjacke stand drauf Aro, Aro 1, oh, Aro, und ich hab nix verstanden. Ich wusste gar nicht, wovon die reden. Ich wollte auch sprayen. Ich hatte sogar ein Pseudonym mit nem one hintendran wie er, wollte wie er losgehen und sprühen, aber er hat gesagt, das ist nichts für Mädchen, ist gefährlich und hat mir nicht erzählt, warum es so gefährlich ist. O.k. ich hör dann. Was mein Bruder sagt, ist dann richtig. Atmo: L1 – 4 33. 0-Ton: Richard 1 Vorstellung hebräisch - Shmi Richard … Sprecherin: Richard ist das jüngste der Geschwister Shalicar, Jahrgang 1984. Er lebt wie Arye Sharuz in Jerusalem. 34. 0-Ton: Richard 7 +12 Ich hatte eigentlich die gleichen Probleme wie mein Bruder, aber ich hatte etwas mehr Glück, weil mein Bruder, viele Leute kannten ihn und die mich dann kennengelernt hatten und wussten – hier der Jude - und erfahren hatten, dass ich der kleine Bruder von ihm bin, hatten mich dann in Ruhe gelassen. Damals, als ich zwölf, dreizehn war, kann ich mich erinnern, hab ich zum ersten Mal gehört von einem palästinensischen Freund, „Netanjahu, der Stinker“. Da musste ich erst mal heraus knobeln, wer Bibi Netanjahu ist. Als 13, 14-Jähriger, mit Israel nichts zu tun, wusste ich nicht, wer Netanjahu ist. Aber irgendwie habe ich gefühlt, dass ich da ne Verbindung habe. Meine Probleme haben mit 16, 17 angefangen, im Jahr 2000. Als ich die Aliyah gemacht habe, also als ich nach Israel gezogen bin, hab ich direkt die israelische Staatsangehörigkeit bekommen. Ich wollte in die Armee. Ich war damals 21. Deswegen hab ich mich freiwillig gemeldet. Nicht irgendetwas Unwichtiges in der Armee zu machen, sondern was wirklich sehr Wichtiges, für eine längere Zeit. Atmo: Jaffator 1 + 2 35. 0-Ton: Arye13 Ich kann mir vorstellen, wenn ich den Hass nicht erlebt hätte, Fanatismus und kranke Ideologien,.. wär ich bis heute wahrscheinlich ein junger säkularer Berliner. 36. ((0-Ton: ?ahin 5 Ich kann das nachvollziehen, weil ich im gleichen Moment, wie ich hier spreche, mit dem Gedanken spiele, auch Ähnliches zu vollziehen, sprich, mir ein anderes Leben vorzustellen, woanders, aufgrund der hier gegebenen Zustände. Zustände heißt für mich das Gesamtbild, das Berlin mir momentan und Sharuz damals liefern konnte. … Weil Heimat ist dort, wo man auch gerne ist. Das war er nicht mehr. Das weiß ich. Und ich bin’s auch nicht mehr. )) Musik: Lemez Lovas Zitator: „Home away from Home“ Sprecherin: Inschrift im Abfertigungsraum der israelischen Fluglinie EL Al, Flughafen Berlin-Schönefeld. Als das Gespräch mit ?ahin in Berlin erfolgte, saß Aryes Jugendfreund bereits auf gepackten Koffern. Jetzt lebt er im Land seiner Vorfahren, in der Türkei. Den Entschluss zur Aliyah, zur Auswanderung ins Gelobte Land, machte sich Arye Sharuz Shalicar nicht leicht. Dieser existenzielle Entschluss war das Ergebnis etlicher Umwege und gleichwohl der Suche nach Alternativen: im – damals vergeblichen - Anschluss an die Jüdische Gemeinde in Berlin, im anfänglichen Studium der Judaistik an der FU Berlin, das Ergebnis von mehrmonatigen Gastaufenthalten in israelischen Kibbuzim, bei Verwandten in Israel und Amerika und in der größten jüdischen Gemeinde in Europa: in Paris. Als deutscher Staatsbürger folgte Arye Sharuz sogar der Einberufung zum Grundwehrdienst bei der Bundeswehr. Anders als die meisten jüdischen Deutschen. 37. 0-Ton: Arye14 Ich hab die Wahl gehabt zwischen Wehrdienst und Zivildienst. Zivildienst ist länger und nicht wirklich ausschlaggebend, um etwas wirklich Neues kennenzulernen. Es hat mich auch angezogen kennenzulernen diese ganze Armeegeschichte: wie fühlt sich das an, wenn man in der Armee ist – kennt man sonst nur aus Filmen. Atmo: BenJehuda1 Zitator: Obwohl ich es in Los Angeles großartig fand, wusste ich, dass ich mich dort auf lange Sicht nicht zu Hause fühlen würde. Ich wollte dahin, woher meine Vorfahren kamen. Atmo: Ben Jehuda1 38. 0-Ton: Arye20 Nächstes Jahr in Jerusalem. Das ist ein Spruch, den man sich gesagt hat in den 2000 Jahren der Diaspora, als Juden außerhalb Israels gelebt haben, gezwungenerweise, und sich dann jedes Jahr zu Neujahr und zu den Festen, zu allen möglichen Anlässen, gegen Ende gesagt haben: Auf Wiedersehen. Und beim nächsten Mal dann in Jerusalem, in der Heimat. Musik: Havana Nagila (0’ 58’’ I’m a Jew for Allah, I’m a Jew for Jesus … a Jew for you, a Jew for me, for girls, for gypsies) Atmo: Damaskustor 1 Atmo: Muezzin 1 + 6 +2 (Klagemauer) Sprecherin: In Israel sind Dreiviertel der acht Millionen Einwohner Juden. Rund 100.000 (Juden) sind iranischer Herkunft. 1,6 Millionen sind israelische Araber. Diese sind von der allgemeinen Wehrpflicht ausgenommen. Araber leben in Stadtvierteln und Dörfern überwiegend unter Ihresgleichen. Ebenso wie die ultraorthodoxen Juden, die Haredim. Seit 2003 durchzieht ein inzwischen rund 760 Kilometer langer stacheldrahtbewehrter Grenzwall das Land. Doppelt so lang wie die Waffenstillstandslinie von 1949, die Israel vom Westjordanland trennt, dem Gebiet unter palästinensischer Selbstverwaltung. Ostjerusalem inbegriffen. Israels Reaktion auf Raketen-, Scharfschützen- und Selbstmordattentate nach der Zweiten Intifada um die Jahrtausendwende. Seither wurden bei mehr als 20.000 Anschlägen über 1000 Israelis getötet und mehr als 7000 verletzt. Der größte Teil dieses Walls ist ein elektronisch gesicherter Metallzaun, in dicht besiedelten Gebieten eine haushohe Betonmauer. Wachtürme mit fest installierten Maschinengewehren, ferngesteuerte Kameras, Checkpoints. Etwa nach Ramallah, Hauptstadt der Palästinensischen Autonomiebehörde, fünfzehn Kilometer nordwestlich von Jerusalem oder nach Bethlehem, acht Kilometer südlich von Jerusalem. Zitator: (Checkpoint Kalandia) This Road leads to area A. It is under Palestinian Government. No entry for Israelis. Danger of life and against israelian law. Atmo: Damaskustor 2 Sprecherin: Für viele Juden gelten Araber und Palästinenser, als Kollaborateure der feindlich gesinnten Nachbarn im Gaza-Streifen, Westjordanland und der gesamten Region der an Israel grenzenden Länder Syrien, Ägypten, Libanon und Jordanien. Es geht um nichts weniger als das hier und seitens des Irans überwiegend negierte Existenzrecht Israels, mitsamt ausgeprägten antisemitischen Obsessionen. Und es geht um den von Israels Regierung negierten Anspruch der Palästinenser auf einen eigenen Staat. Bereits in den siebziger Jahren hat Herbert Marcuse im Vorwort für die hebräische Ausgabe von Der eindimensionale Mensch eine Bedingung für die friedliche Koexistenz von Juden und Arabern im Nahen Osten formuliert, die bis heute nicht erfüllt ist: Zitator: Nur eine freie arabische Welt kann neben einem freien Israel bestehen. 39. 0-Ton: Arye 16 Ich hab im Ausland Christen aus dem Libanon getroffen, Christen aus Syrien getroffen, ob das in der Türkei war, wo ich zu Besuch war oder in Deutschland, die mir gesagt haben, Arye, ganz ehrlich, wir haben kein Problem mit Israel, aber wir haben in unserem Land die Hisbollah, und wir haben die Iraner, und diese dunklen Kräfte halten uns gefangen. Das sind dieselben dunklen Kräfte, die auch im Wedding säkulare Muslime und frei denkende Muslime und Muslime, die sich halb deutsch fühlen, gefangen halten. Nicht nur die Deutschen, auch die demokratisch gesinnten Türken und Araber. Davon gibt es genug, die haben auch Angst vor denen. Genau wie im Libanon, genau wie in Jordanien, wie im Iran, in Ägypten oder in Syrien, wo man halt das Abschlachten sieht. Musik: Lamentation Walloo Auftakt Zitator: Nach meinem Kibbuzaufenthalt diente ich bei den Fallschirmspringern in der israelischen Armee. Da ging es schon um einiges >kriegerischer< zu als bei den Sanitätern in Elmshorn. .. So wie in Deutschland einige Jahre zuvor musste ich wieder eine Uniform anziehen. Dieses Mal war es jedoch anders. Dieses Mal freute ich mich darauf und tat es mit Stolz. Es war ein großartiges Gefühl, diese Uniform anziehen zu dürfen, eine Uniform, auf der ZHL, die hebräische Abkürzung für IDF, Israel Defense Forces, eingestickt ist. Musik: Lamentation Walloo 40. 0-Ton: Arye 15 Ich bin stolzer Zionist, bis heute. Stolzer Jude auch, mittlerweile. Ich hab gefühlt, dass diese zionistische Bewegung mich angesprochen hat als eine Bewegung, die für Heimat war, die darauf sich zurückgesehnt hat auf eine Zeit, wo du dein Land hast, deine Flagge, deine Hymne, da, wo du wirklich hingehörst, wo du das Recht hast, deine Grenzen zu verteidigen, wo du das Recht hast, deine Familie groß zu ziehen, mit der Sprache, die deinem Volk gehört, das ist das Hebräische. Atmo: L1–3 Ha Turim Sprecherin: Ha Turim. Eine von 23 Haltestellen der Stadtbahn Linie 1. Im Hochhaus gegenüber, dem Sitz der Jerusalem Capital Studies, im Ersten Stock, ist das Hauptbüro von Major Arye Sharuz Shalicar. Die L 1 verkehrt seit Sommer 2011 auf einer Länge von knapp 14 Kilometern quer durch Jerusalem. Teilweise entlang der Demarkationslinie zum Osten der Stadt, der von der Palästinensischen Autonomiebehörde als staatliches Hoheitsgebiet beansprucht wird. 41. 0-Ton: Arye 16 Ich arbeite seit mittlerweile vier Jahren in der Israelischen Verteidigungsarmee, bin hier Sprecher und arbeite in erster Linie mit den europäischen Medien. … Ich mache diesen Job sehr gerne, weil ich glaub an diese Institution, die dieses Land zu Recht verteidigt und die Grenzen hält, weil wir haben ja an der Grenze, nicht einmal, zweimal, Unruhen gehabt, nicht nur in letzter Zeit, sondern seit der Staatsgründung. und das ist auch das, was ich teilweise im Wedding im Gefühl hatte: alles dreht und wendet sich: Araber, Türke, Kurden, alle sind die ganze Zeit am stänkern und Stress machen, und wenn du als einziger Jude dich nicht wirklich verteidigst, ob das allein ist mit eigenen Kräften oder mit Hilfe, bei mir war es mit Hyssein, zum Beispiel. Auch hier im Nahen Osten musst du als einziger jüdischer Staat dich konstant verteidigen. Das ist eine Situation, mit der ich mich identifiziere, und ich hoffe, dass es irgendwann zu einer Situation kommt, wo man hier in Frieden leben kann, wo die Grenzen vielleicht auch offen sind. Ich weiß nicht, wo mein Weg mich hinführen wird … Musik: 2nd Train Meditation Ansager: Bis nächstes Jahr in Jerusalem. Geschichten aus dem Nahen Osten im Wedding. Ein Feature von Ursula Rütten Ansager: Es sprachen: Anja Herden Stefan Kaminski Serhad Çokgezen Ali Youssefi Nurreddin Shamari Ton und Technik: Michael Morawietz und Petra Pelloth Regie: Die Autorin Eine Koproduktion des Deutschlandfunks und des Westdeutschen Rundfunks Köln, 2013 WedJerFea1 2