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Während seiner Schulzeit zeichnet er sich vor allem durch ?fortgesetzte Händel und Raufereien? aus. Auch den Universitätsabschluss schafft er nie. Dennoch hat er uns ein gewaltiges Erbe hinterlassen, von dem wir bis heute zehren ? das Turnen. Gerd Steins ist Präsidiumsmitglied des Berliner Turner-Bundes und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Geschichte des Turnens. Take 2: Steins (16) Der heutige Deutsche Turner-Bund hat in seinem Leitbild, was vor anderthalb Jahren verabschiedet worden ist, Jahn als seinen Traditionsbegründer erwähnt. In einem Satz. Das war?s dann aber auch. Andererseits haben Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Turnvereinen auf ihren Fahnen den Jahnschen Kopf abgebildet, oder die von Jahn entwickelte Symbolik mit den 4 F. Sprecherin Die vier F bedeuten: frisch, fromm, fröhlich, frei ? die wichtigsten Eigenschaften für jeden Turner. Klaus Köste war in den 70er Jahren der bekannteste Turner der DDR. Dreimal nahm er an den Olympischen Spielen teil und kam jedes Mal mit Bronze nachhause. Seine Laufbahn krönte er 1972 in München mit dem Sieg beim Pferdsprung. Bis vor wenigen Jahren nahm er regelmäßig an den Friedrich-Ludwig-Jahn Turnfesten in Freyburg an der Unstrut teil. Take 3: Köste (5) Das Jahn-Gedenkturnen in Freyburg, immer am 3. Wochenende im August, das ist ein absolutes Highlight für jeden Turner ...Und vielleicht kann ich mal von der Atmosphäre einiges rüberbringen. Dort sind mehr als Tausende - als dreitausend sogar im letzten Jahr - Teilnehmer, vom 14jährigen Jungen und Mädchen bis zur 87jährigen Turngroßmutti und 91jährigen Opa, der aber immer noch einen Hüftaufzug am Reck konnte. Sprecherin: Unbestrittener Turnstar der Bundesrepublik war damals Eberhardt Gienger. Er wurde dreimal Europameister, zweimal Weltpokalsieger, 1974 Weltmeister am Reck. Heute sitzt er für die CDU im Bundestag und ist Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Olympischen Sportbundes. Take 4: Gienger (29) Mit Friedrich Ludwig Jahn verbindet mich das Turnen. Friedrich Ludwig Jahn war ja unser Vorturner und Gründer der Turnbewegung. In der Hasenheide damals 1811 hat er den ersten Turnplatz errichtet mit einem Gerät, nämlich dem Pauschenpferd, das quasi als die Mutter oder der Vater des Turnens bezeichnet werden kann, und die anderen Geräte, die wir heute dann im Wettkampf nutzen, kamen sukzessive hinzu ... bis sich das Turnen zu einer sehr modernen Bewegungsform entwickelt hat, wo sich, das darf man wohl ohne Übertreibung sagen, die Zuschauer heute noch von der ästhetischen Seite her ergötzen können. Musik 2: Turnermarsch (drunterlegen) Sprecherin: In seinem Buch ?Deutsche Turnkunst? erinnert sich Friedrich Ludwig Jahn an die Anfänge des Turnens auf der Berliner Hasenheide. Hasenheideatmo mit Vogelgezwitscher Sprecher (F.L. Jahn): In schöner Frühlingszeit des Jahres 1810 gingen an den schulfreien Nachmittagen der Mittwoche und Sonnabende erst einige Schüler mit mir in Feld und Wald, und dann immer mehr. Die Zahl wuchs, und es wurden Jugendspiele und einfache Übungen vorgenommen. So ging es fort bis zu den Hundstagen, wo eine Unzahl von Knaben zusammenkam, die sich aber bald nachher verlief. Doch sonderte sich ein Kern aus, der auch im Winter als Stamm zusammenhielt, und mit dem dann im Frühjahr 1811 der erste Turnplatz in der Hasenheide eröffnet wurde. Dort wurden im Freien, öffentlich und vor jedermanns Augen, von Knaben und Jünglingen mancherlei Leibesübungen unter dem Namen Turnkunst in Gesellschaft betrieben. Sprecherin Was den Berlinern in diesem Frühjahr 1811 geboten wird, ist eine Sensation ? junge Männer aller Stände, Schüler, Lehrlinge und Studenten, versammeln sich auf einem freien Platz, der damals noch weit außerhalb von Berlin liegt und Hasenheide genannt wird. Die jungen Leute tragen alle die gleiche Kleidung: Jacken und Hosen aus ungebleichtem Leinen und sie reden sich alle mit ?Du? an. Mitten unter ihnen bewegt sich ein etwa dreißigjähriger Mann mit Glatze und einem damals ganz und gar unmodischen Bart ? offensichtlich ihr Lehrer. Auch er trägt die leinene Kleidung. Auf seinen Zuruf beginnen die Jugendlichen über die Wiese zu laufen. Sie fangen einander, sie raufen, springen über kleine Hindernisse. Und ihr Lehrer, der doch ein erwachsener Mann ist und sich vernünftig und würdevoll benehmen sollte, läuft, rauft und springt mit. Nach kürzester Zeit geraten alle ins Schwitzen. Ihre blassen Stubengesichter färben sich rosig. Die Bewegung an der frischen Luft macht Spaß. Immer wieder ist Gelächter zu hören. ?Turnen? heißt diese neue Art Körperübungen unter freiem Himmel. Und der Mann, der sie propagiert und anleitet, ist Friedrich Ludwig Jahn, Hilfslehrer am berühmten Berliner Gymnasium ?Graues Kloster?. Der junge Lehrer betätigt sich auch als Sprachreformer. Er ist es, der das Wort ?turnen?, ein Wort aus dem Mittelalter, wieder in die deutsche Sprache einführt. Sprecher (F.L. Jahn): Turn in turnen, Turner usw. ist ein Deutscher Urlaut, der auch in mehreren deutschen Schwestersprachen vernommen wird, in ausgestorbenen und noch lebenden, und überall drehen, kehren, wenden, lenken, schwenken, großes Regen und Bewegen bedeutet. Sprecherin Und es geht ihm nicht nur um körperliche Bewegung. Es geht ihm um nichts weniger als um die Erziehung des deutschen Knaben und Jünglings zum deutschen Mann. Sprecher (F.L. Jahn): Des Deutschen Knaben und Deutschen Jünglings höchste Pflicht ist, ein Deutscher Mann zu werden und geworden zu bleiben, um für das Volk und Vaterland kräftig zu würken. Sprecherin 1811, als der junge Friedrich Ludwig Jahn in der Hasenheide mit dem Turnen beginnt, stehen die meisten Fürstentümer, aus denen später einmal Deutschland werden wird, unter französischem Protektorat. Mit seinen Massenheeren hatte Napoleon Preußen und Sachsen einfach überrannt. Ohne Gegenwehr war er 1806 an der Spitze seiner siegreichen Regimenter in Berlin eingezogen. Jahn und die Mehrheit seiner Generation sehnen sich nach einem neuen Krieg gegen Frankreich, der die Franzosen vertreiben und die Deutschen zu einem gemeinsamen Vaterland vereinen soll. Karen Hagemann ist Professorin an der University of North Carolina und Autorin eines Grundlagenwerkes über die Zeit der antinapoleonischen Kriege. Take 6: Hagemann 8. Jahn und seinen Freunden ... war sehr klar, dass für diese Mobilisierung, für diesen Krieg, diesen erstrebten Krieg gegen Frankreich, den erhofften ?Rachefeldzug?, wie es so schön hieß, nicht nur eine mentale Mobilisierung nötig ist, d.h. eine Erziehung, eine Staatserziehung vor allem der jungen Männer, die in den Krieg ziehen sollten, sondern auch eine physische Ertüchtigung. Und das Turnen war in dieser Zeit vor allem gedacht als eine physische Ertüchtigung für den späteren Kriegsfall. Sprecher (F.L. Jahn): Erst wenn alle wehrbare Mannschaft durch Leibesübungen waffenfähig geworden, streitbar durch Waffenübungen, schlagfertig durch erneuerte Kriegsspiele und Immergerüstetsein, kriegskühn durch Vaterlandsliebe ? kann ein solches Volk ein wehrhaftes heißen. Wehrlos ? ehrlos! Sprecherin Als es dann 1813 tatsächlich erneut zum Krieg gegen die Franzosen kommt, gehören die Turner zu den ersten, die sich freiwillig melden. Auch Jahn selbst beteiligt sich aktiv an der Vorbereitung der Befreiungskriege. Er erhält vom König die Erlaubnis, ein Freicorps von Freiwilligen zu gründen unter der Führung des Freiherrn Ludwig Adolf Wilhelm von Lützow und wird einer der erfolgreichsten Werber für diese Einheit. Musik 3: Lützows wilde verwegene Jagd (drunterlegen). Nicht nur Preußen schließen sich den Lützowern an, sondern auch junge Männer aus anderen deutschen Ländern. Erstmals wird die Vision einer geeinten deutschen Nation innerhalb dieser Truppe ein Stückweit wirklich gelebt. Musik 3: Lützows wilde verwegene Jagd (hochziehen und weg). Einer, der den Zeitgeist besonders zündend in Worte fassen kann, ist der Dichter und enge Jahn-Freund Ernst Moritz Arndt. Musik 4: E.M. Arndt: Der Gott, der Eisen wachsen ließ (drunterlegen). Sprecher II (E.M. Arndt) Der Gott, der Eisen wachsen ließ Der wollte keine Knechte. Drum gab er Säbel, Schwert und Spieß Dem Mann in seine Rechte. Drum gab er ihm den kühnen Mut, Den Zorn der freien Rede, Dass er bestände bis aufs Blut, Bis in den Tod die Fehde. ... Lasst klingen, was nur klingen kann, Die Trommeln und die Flöten! Wir wollen heute Mann für Mann Mit Blut das Eisen röten, Mit Henkersblut, Franzosenblut ? O süßer Tag der Rache! Das klinget allen Deutschen gut, Das ist die große Sache... Sprecherin ?Franzosenblut? fordern die deutschen Vaterlandsverteidiger in Tausenden patriotischer Gedichte, Lieder, Predigten und Zeitungsartikel. Dabei stehen sie in ihren Forderungen dem revolutionären Frankreich näher, als sie zugeben wollen. Die Kreise um Jahn verknüpfen die Idee der Wehrhaftigkeit eng mit der Forderung nach mehr politischen Rechten: wer seine Wehrpflicht erfüllt, so argumentieren sie, dem soll auch das Wahlrecht gewährt werden. Die Historikerin Karen Hagemann: Take 7: Hagemann 14. Und Jahn war durchaus radikal. Radikaler als viele seiner liberalen oder frühliberalen Zeitgenossen, in diesem Aspekt auch durchaus ein Liberaler. Er hat vorbehaltlos für alle Männer, die die Wehrpflicht erfüllt haben, das Wahlrecht gefordert. Andere Zeitgenossen haben gesagt, wir wollen mehr politische Rechte nur für die gebildeten Männer. Oder nur für die besitzenden Männer. Sprecherin Frauen sind in diesem System nicht vorgesehen. Ebenso sollen alle, die irgendwie als Fremde gelten, von den Bürgerrechten ausgeschlossen bleiben. Damit sind keineswegs nur die französischen Besatzer gemeint. Es geht um die Frage: wer soll zu der künftigen Deutschen Nation gehören? Wer ist Deutscher? Und wer ist auszugrenzen? Hier vertritt Jahn eine weit verbreitete Auffassung. Take 8: Hagemann 15. Ihm war völlig klar, dass nur christliche, deutsche Männer mehr politische Rechte bekommen dürfen, ... dadurch hat er sich nicht sehr von seinen Zeitgenossen unterschieden. Das bedeutete aber in der Praxis, dass alle, die nicht christlich waren, sprich, vor allem die jüdischen Männer, ausgeschlossen waren. Aber auch alle nicht-deutschen Männer, wie z.B. in Preußen die Männer ... in den Gebieten, die heute zu Polen gehören. Sprecherin Viele der Vordenker des deutschen Nationalstaatsgedankens ? neben Jahn beispielsweise auch der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der Dichter des Deutschlandliedes Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt ? sehen das ähnlich. Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sind ein fester Bestandteil der frühen deutschen Nationalbewegung. Jahn selbst äußert seine Vorurteile gegen Juden, Polen, Sinti, Roma und andere Fremde eher beiläufig. Etwa, wenn er sich gegen den Gebrauch von Fremdwörtern ausspricht: Sprecher (F.L. Jahn): Rechnet man zur Vollkommenheit einer Sprache, wenn sie viel Fremdes hat und immerfort welschen kann, so muss die Rede des schabigen Betteljuden über Luther und Klopstock, über Schiller und Goethe stehen, und wir müssen alle noch in die polnische Judenschule, um Plapperdeutsch zu lernen. Sprecherin: Derartige Redewendungen sind für Jahn und viele seiner Zeitgenossen ?normal?. Erst 1812 erhalten die Juden die gleichen Bürgerrechte in Preußen und werden zu ?Einländern und preußischen Untertanen? erklärt. Und auch dies geschieht nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern im Kontext und unter dem Druck der Mobilmachung gegen Frankreich. Man braucht die Unterstützung der Juden für die Kriegsfinanzierung. Jahns Hass gegen alles Ausländische geht soweit, dass er sich mit seiner ganzen Wortgewalt dagegen ausspricht, den Kindern an der Schule Fremdsprachen beizubringen. Sprecher (F.L. Jahn): Fremde Sprachen an den Schulen zu lehren sind ein Molochsopfer, wo unschuldige Kinder der Höllenglut geopfert werden. Das ist ein grauenvolles Blut-, Schimpf-, Schand- und Fluchopfer der Ausländerei, der Erbärmlichkeit, der Eitelkeit, dem Irrlicht der Allerweltbürgerei gebracht. Durch fremde Sprachen in deutschen Volksschulen werden wir deutsche Leibeigene auf eigenem Boden, Fronknechte und Sprachsklaven fremder Völker. Sprecherin Das Jahr 1814 bildet den Höhepunkt in Jahns Laufbahn. Er und seine Mitturner haben entscheidend zum Sieg über Napoleon beigetragen und werden überall begeistert gefeiert. Jahn kehrt nach Berlin zurück. Für seine Verdienste wird ihm ein Ehrensold zugesprochen, der in etwa dem Jahresgehalt eines Hochschullehrers entspricht und der ihn aller finanziellen Sorgen enthebt. Die Turnbewegung blüht auf und wächst auch über Preußen hinaus. Rund 100 Turnerbünde bilden sich damals mit etwa zwölftausend Mitgliedern, eine enorme Zahl in der damaligen Zeit. Man erwägt sogar, das Turnen als offizielles Fach im Schulunterricht einzuführen. Jahn verfasst gemeinsam mit seinem Turnfreund Ernst Eiselen ein Grundlagenwerk über das Turnen ?Die deutsche Turnkunst?. Dort schreibt er: Sprecher (F.L. Jahn): Die Turnkunst soll die verlorengegangene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wiederherstellen, der bloß einseitigen Vergeistigung die wahre Leibhaftigkeit zuordnen, der Überfeinerung in der wiedergewonnen Männlichkeit das Gegengewicht geben, im jugendlichen Zusammenleben den ganzen Menschen erfassen und ergreifen. Sprecherin Doch bald verändert sich das politische Klima. Ruhe soll wieder die erste Bürgerpflicht sein. Per Königlicher Kabinettsorder wird jegliches Turnen untersagt, da es für die ?Zügellosigkeit an den Universitäten? verantwortlich sei. Die Geräte auf der Hasenheide werden abgerissen, sämtliche Turnanstalten geschlossen. Die damals erlassene Turnsperre wird erst wieder 1842 aufgehoben. 1819 wird Jahn verhaftet. Man wirft ihm vor, die Jugend gegen die bestehende Regierung einzunehmen und fortgesetzt zu ?revolutionären Grundsätzen? zu verführen. Für so gefährlich hält man ihn, dass er zeitweilig Tag und Nacht schwere Ketten tragen muss. Erst sechs Jahre später wird er wieder aus der Haft entlassen. Allerdings steht er weiterhin unter Polizeiaufsicht und der Aufenthalt an Universitäten, Lehranstalten und in Berlin ist ihm ausdrücklich untersagt. Verbittert lässt er sich in der Kleinstadt Freyburg an der Unstrut nieder. 1848 tritt Jahn noch einmal an die Öffentlichkeit ? als Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung. Doch die neueren politischen Entwicklungen, etwa die Forderung nach einer Republik, bleiben ihm, dem überzeugten Monarchisten, fremd. Take 9: Leirich (20) Er ist von seinen Turnern des Kreises Merseburg ja in die Frankfurter Nationalversammlung delegiert worden, aber eigentlich verstand er die Zeichen der Zeit nicht mehr und eigentlich hatte sich der Rest der deutschen Turner schon von ihm abgewandt. Sprecherin So der Sportwissenschaftler Jürgen Leirich, Vorstandsmitglied des Friedrich-Ludwig-Jahn-Fördervereins und in dieser Eigenschaft zuständig für das Jahn-Museum in Freyburg. Take 9: Leirich Die deutschen Turner waren dann auf der fortschrittlichen Seite, die wollten die 48er Revolution, und sie wollten nicht den Nationalstaat mit einer starken Zentralgewalt, also einen König. Damit hatten sie sich von Jahn gelöst und das war eigentlich fast tragisch, dass Jahn dann die Turner gegen sich hatte. Sprecherin Doch ob mit oder gegen Jahn ? in den 1840er Jahren ist der Siegeszug des Turnens nicht mehr aufzuhalten. Nach der Märzrevolution wagen es sogar einige mutige Frauen, diese männliche Bastion zu stürmen. Es ist ihnen durchaus bewusst, welche kulturrevolutionäre Tat sie damit vollbringen. Die Wortwahl in der Satzung des ersten Frankfurter Frauen- Turnvereins von 1849 steht der Jahnschen Kampfrhetorik in nichts nach: Sprecherin II Die Zeit der Rache ist gekommen! Im überwallenden Gefühl unserer angestammten Kraft ergreifen wir mutig die Waffen gegen die Erzfeinde unseres Geschlechts. Unsere Wahlstatt ist der Turnplatz. Dort, unter Gottes freiem Himmel, im Angesicht des Tages, entbieten wir offenen und ehrlichen Kampf der Trägheit, Verweichlichung und Entartung der Frauenwelt. Unsere Losung ist: Deutsches Frauen- und Menschentum. Unfehlbar ist der Sieg. Wir wollen, wir werden die verscherzte Kraft der Jugend uns wiedererobern, und mit dem Körper wird der Geist umschwingen. Sprecherin Die ?Erzfeinde des weiblichen Geschlechts?, damit sind die zahlreichen Gegner des Frauenturnens gemeint. Jahn selbst gehört übrigens nicht dazu. Sprecher (F.L. Jahn): Die Gegenstände der allgemeinen Volkserziehung sind es auch für die Mägdchenschulen. Die Leibesübungen bleiben nicht ausgeschlossen, freilich müssen sie weiblich und mäßig getrieben werden. Sprecherin: Und so argumentieren auch seine Nachfolger. Keinesfalls dürfe ?die beabsichtigte leibliche Ausbildung auf Kosten der zarten Weiblichkeit ausarten, die Zartheit des Empfindens nicht vertauscht werden gegen ein keckes, kühnes männliches Wesen.? Musik 1: Die Mädchen.... Um ?Sittsamkeit und Anstand? nicht zu gefährden, müssen die Frauen in langen Kleidern turnen. Noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gilt für Turnerinnen die eherne Regel: ?Kopf oben, Beine unten und geschlossen.? Da bleiben nur wenige Sportarten übrig: Keulenschwingen, Reigentanz, Balancieren und einige gymnastische Übungen. Take 10: Steins 27. Der Durchbruch in der Frauensportbewegung kam erst nach der Jahrhundertwende, nach 1900, 1910, Erster Weltkrieg. Und ganz intensiv sind die Frauen in Turnvereinen, in Sportvereinen gesehen worden in den 20er Jahren. Sprecherin: Die Zwanziger Jahre bescheren den Frauen neben dem Wahlrecht auch das Turntrikot und damit die turnerische Gleichberechtigung. Diesen Fortschritt feiert der Dichter Joachim Ringelnatz in einem seiner Turngedichte. Take 11: CD Joachim Ringelnatz (gelesen von O. Sander) Am Barren Deutsche Frau, dich ruft der Barrn, Denn dies trauliche Geländer Fördert nicht nur Hirn und Harn, Sondern auch die Muskelbänder, Oberleib und Unterlippe. Sollst das Hüftgelenk zu stählen, Dich im Knickstütz ihm vermählen. Deutsches Weib, komm: Kippe, kippe... Sprecherin: Für die Neue Frau der Weimarer Republik ist - neben Bubikopf, Zigarette, freier Liebe, eigenem Beruf und selbstverdientem Geld - auch der Sport ein wichtiges Zeichen für Modernität und Emanzipation. Doch diese neue Sportbegeisterung hat nichts zu tun mit der traditionellen Turnerbewegung. Take 12: Steins 29. In den gut bürgerlichen oder konservativen Vereinen hatte der neue Frauentypus der 20er Jahre im großen und ganzen keine Heimat gefunden. Die haben eher eine Heimat gefunden in sehr aufgeschlossenen Vereinen, in Berlin z. B. bei Fichte, die sehr gut ausgestattete Frauensportabteilungen hatten. Musik 7: Fichtemarsch Sprecherin Die Fichteturner der Weimarer Republik stehen der KPD nahe. Auch sie berufen sich auf Jahn. Ebenso die sozialdemokratisch geprägte Freie Turnerschaft. Daneben existiert die bürgerlich-konservativ ausgerichtete Deutsche Turnerschaft, es gibt evangelische, katholische und jüdische Turnverbände. Es gibt auch Turnverbände mit ausgesprochen rassistischer und antisemitischer Tendenz. Sie alle betrachten Jahn als ihren geistigen Ahnherrn. Mit dem Machtantritt der Nazis werden all diese unterschiedlichen Turnerbünde unter nationalsozialistischem Vorzeichen gleichgeschaltet. Jahn wird nunmehr zum Vordenker der Nationalsozialisten aufgebaut, wobei die Nazis nicht selten Jahns Äußerungen in ihrem Sinne verfälschen. So steht beispielsweise in Jahns Buch ?Deutsches Volkstum? von 1810: Sprecher (F.L. Jahn): Mischlinge von Tieren haben keine rechte Fortpflanzungskraft, und ebenso wenig Blendlingsvölker ein eigenes volkstümliches Fortleben... Wer die Edelvölker der Erde in eine einzige Herde zu bringen trachtet, ist in Gefahr, bald über den verächtlichsten Auskehricht des Menschengeschlechts zu herrschen... Das Spanische Sprichwort ?Traue keinem Maulesel und keinem Mulatten? ist sehr treffend... Je reiner ein Volk, je besser; je vermischter, je bandenmäßiger. Sprecherin Dieser Text passte den Nazis sicherlich gut ins Konzept. Um das Ganze aber noch drastischer zu machen, wurden in einem 1941 erschienenen Nachdruck zusätzlich noch weitere Passagen eingefügt, wobei man sich typischer Jahnscher Wortbildungen bediente: Sprecher II Nein, Völker lassen sich nicht zusammenvölkern. Die Natur verabscheut solche gräuliche Frevel, und die Zwingbolderei wirkt beiden Verderben und Untergang... Jede Entartung, Ausartung, Umartung und nachherige Fortartung ist anfangs allemal Entbildung und Einwildung, ja himmelschreiende Sünde frevelhafter Entsittlichung. Sprecherin Nicht einmal Jahns Grab lassen die braunen Machthaber in Ruhe. Sport- wissenschaftler Jürgen Leirich: Take 13: Leirich (24) In Vorbereitung der Olympischen Spiele 1936 haben die Nazis Jahn umgebettet von dem ehemaligen Friedhof, der an der Erinnerungsturnhalle in Freyburg war, zum Jahnmuseum. Und dies war eine Propagandaveranstaltung der Nationalsozialisten mit Fackeln und Hakenkreuzfahnen. Und bei Nacht ist dann die offizielle Umbettung vorgenommen worden. Man hat also auch die Knochen untersucht, um ganz sicher zu sein, dass es wirklich der Turnvater Jahn ist, der dort umgebettet worden ist. Sprecherin Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges bildet sich in beiden Teilen Deutschlands die Turnerbewegung neu. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Ideen ihres Begründers findet nicht statt. Im Westen verniedlicht man Jahn als den ?Turnvater? ? wenn man sich überhaupt mit ihm beschäftigt. Eberhard Gienger erinnert sich an das Deutsche Turnfest 1968 in Berlin. Take 14: Gienger (32) Damals gab es einen Karikaturenwettbewerb zum Thema Turnen und gewonnen hat ein Bild, ich weiß nicht mehr, wer?s gemalt hat oder gezeichnet, jedenfalls war das eine Demonstration offensichtlich von Turnfreunden, und sie trugen ein Schild vor sich her, da stand drauf: I like Turn-Daddy Jahn. Und so ist er eigentlich auch bei uns angekommen, dass er der Gründer der Turnbewegung war, dass er der Turndaddy war, dem wir quasi die Turnerei und die Turnbewegung zu verdanken haben. (36) ... Aber ansonsten, was die Historiker über ihn herausgefunden haben, da waren die Athleten und Athletinnen selber nicht so involviert und haben sich glaub ich, wenn ich mich daran so richtig erinnere, auch nicht so sehr dafür interessiert. Sprecherin In der DDR hingegen wird Jahn vor allem für sein Engagement als deutscher Patriot und Widerstandskämpfer verehrt. Klaus Köste: Take 15: Köste (3) Auf dem Weg zur Turnhalle kamen wir immer an den Jahn-Stuben vorbei und dort hatte Vater beizeiten schon erklärt, wer der alte Mann mit dem Bart war, sodass ich auch schon als kleines Kind eine Vorstellung vom Turnvater Jahn hatte. Und ich hab mich dann auch in der folgenden Zeit sehr viel mit ihm beschäftigt. Für mich war er ein wunderbarer Mann, nicht nur weil er das Turnen erfunden hat, sondern weil er damals in den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Fremdherrschaft eine hervorragende Rolle gespielt hat. Take 16: Leirich (15) In der DDR hatte man vor allen Dingen den jungen Jahn ja auch als Vorbild hingestellt. Der junge Jahn, der das Turnen geschaffen hat, und der sich selbst zur Verfügung gestellt hat gegen die napoleonische Fremdherrschaft im Lützowschen Freicorps mitzuwirken. Sprecherin So berichtet auch Sportwissenschaftler Jürgen Leirich. Take 16: Leirich Und dies fand uneingeschränkte Anerkennung des Wirkens von Jahn, er ist ja dann auch bei der Reaktion in Ungnade gefallen, das war die Turnsperre, er hatte Festungshaft, also er war in gewisser Weise auch ein Märtyrer geworden. Und deshalb war das Jahnbild durchweg positiv. Seine antijüdischen Äußerungen wurden vollständig ausgeblendet, die wurden überhaupt nicht erwähnt. Sprecherin Mit der Wende kommt 1990 die deutsche Turneinheit, die natürlich in der Jahnstadt Freyburg an der Unstrut ? wo sonst - vollzogen wird. Mit dabei die beiden Turnlegenden aus Ost und West Klaus Köste und Eberhard Gienger. Take 17: Köste (7) Wir wollten eigentlich in Freyburg an der Unstrut, der Eberhard Gienger und ich, die wir ja beide ? Europameister waren für verschiedene Nationen, den Sprung in die Turneinheit gemeinsam wagen und dokumentieren, und das schon 1990 als einer der ersten Verbände, und dieser Sprung sollte mit dem Fallschirm vollzogen werden..... Leider war dann die ganze Sache doch ein wenig vom Winde verweht, sodass nur der Könner Eberhard als alleiniger mit dem Fallschirm abspringen konnte und ich nahm ihn dann auf der Turnfläche mit dem Mikro in Empfang. Und so vollzogen wir 1990 in Freyburg unter den Augen Friedrich Ludwig Jahns den Sprung in die deutsche Turneinheit. Sprecherin Mittlerweile beginnt der Deutsche Turner-Bund ? wenn auch vorsichtig ? sich mit seiner Geschichte und seinem Gründervater auseinander zu setzen. Beispielsweise hat er anlässlich des Deutschen Turnfestes 2005 in Berlin einen wissenschaftlichen Kongress zur deutschen Turngeschichte ausgerichtet. Gleichzeitig flammen in der Öffentlichkeit immer wieder erregte Debatten auf, ob man Schulen, Sportplätze und Straßen nach Friedrich Ludwig Jahn benennen dürfe. Take 18: Steins (17)Die Diskussion der letzten Jahre ist dadurch gekennzeichnet, immer wenn eine Schule den Namen Jahn verlieren soll, sind auf der einen Seite die drastischen Jahn-Befürworter und auf der anderen Seite die noch drastischeren Jahn-Gegner. Und zu einer differenzierten Sicht kommt es in der Regel nicht. Jede Seite hat seine klassischen Zitate, die man der anderen Seite um die Ohren haut. Sprecherin Diese Debatten sind oft durch großen emotionalen Einsatz, aber wenig Sachkenntnis geprägt. So ist das nun mal mit Vätern: sie ziehen entweder heftige Liebe auf sich oder wütenden Hass. Der Turnvater Jahn bildet da keine Ausnahme. Musik 2: Turnermarsch 15