COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. TAKE 01 (MUSIK CARLA BLEY: WHISTLING PALOMINO -0:36) KURZ FREI STEHEN LASSEN, UNTERLEGEN RINGELNATZ-ZITATOR "Sie haben das mächtige Meer unterm Bauch Und über sich Wolken und Sterne. Sie lassen sich fahren vom himmlischen Hauch Mit Herrenblick in die Ferne. Sie schaukeln kokett in des Schicksals Hand Wie trunkene Schmetterlinge. Aber sie tragen von Land zu Land Fürsorglich wertvolle Dinge. Wie das im Winde liegt und sich wiegt, Tauwebüberspannt durch die Wogen, Da ist die Kunst, die friedlich singt, Und ihr Fleiß ist nicht verlogen. LEISE ZUSPIELEN: TAKE 01 (MUSIK CARLA BLEY: WHISTLING PALOMINO -0:36) RINGELNATZ-ZITATOR Es rauscht wie Freiheit. Es riecht wie Welt.- Natur gewordene Planken Sind Segelschiffe. - Ihr Anblick erhellt Und weitet unsre Gedanken." EINBLENDEN: TAKE 28 (O-TON KÖSTER) "Ringelnatz! Ich kann nur sagen, dass mir immer seine Gedichte so gut gefallen haben. Ich hab immer gerne viel gelesen und Gedichte gemocht, und diese Art von Gedichten, die er schreibt, haben mir immer gut gefallen!" EINBLENDEN: TAKE 02 (ATMO ANLEGER "ALTE LIEBE") KURZ STEHEN LASSEN, UNTERLEGEN BIS "NASEN WEHEN" SPRECHERIN Cuxhaven, Schiffsanleger "Alte Liebe". Am Kai dümpelt abfahrtbereit eine Barkasse zur Hafenrundfahrt, draußen auf der hier schon breiten Elbe zieht ein Frachtschiff vorbei, das Deck vollgestapelt mit bunten Containern. Ein Krabbenkutter steuert den heimatlichen Niedersachsenkai an. An diesem sonnigen Tag haben Dutzende von Besucherinnen und Besuchern es sich auf den weißen Bänken bequem gemacht, blinzeln aufs Meer hinaus und lassen sich den Wind um die Nasen wehen. Weit weniger friedlich ging es hier vor gut 90 Jahren zu. Im ersten Weltkrieg war Cuxhaven Festung und Marinegarnison. Tausende Matrosen lagen in den Kasernen. Als der oberste Kriegsherr, Wilhelm der Zweite, seinen "Marinern" einen Besuch abstattete, notierte unweit der "Alten Liebe" der Matrose Hans Bötticher aus Wurzen bei Leipzig: RINGELNATZ-ZITATOR "Der Kaiser in Großadmiralsuniform (...) verließ das Schiff. Er kam mir sehr ernst und sehr eitel vor. "Guten Morgen, Matrosen!" grüßte er, obwohl es halb acht Uhr abends war, und ich hörte deutlich, wie von den Leuten, die allerdings schon seit morgens dort angetreten standen, viele statt Hurra "Hunger" riefen." SPRECHERIN Ein Hans Bötticher hat also diese Szene beobachtet? Nach dem Krieg wurde er unter dem Pseudonym Joachim Ringelnatz als Vortragskünstler und Schriftsteller berühmt. Hier ist er selbst zu hören in einer - zugegeben etwas hektischen! - Aufnahme aus dem Jahre 1924: TAKE 03 (HIST. AUFNAHME DRA - RINGELNATZ LIEST SELBST) "Die Badewanne prahlte sehr/ sie hielt sich für das Mittelmeer/ Und ihre linke Seitenwand/ für Helgoländer Küstenland/ Die rechte Seite - gab sie an - / sei das Gebirge Hindustan, / Und ihre große Rundung sei/ bestimmt die Delagoabai. / Den Kettenzug am Regulator / hielt sie sogar für den Äquator./ Sie war - nicht wahr, das merken Sie? - / sehr schwach in der Geografie. " SPRECHERIN 1915, als Ringelnatz freiwillig in der Cuxhavener Garnison einrückt, liegen hinter ihm bewegte Jahre. Er war von der Schule geflogen, ausgerissen, als Matrose um die Welt geschippert und hatte bereits auf den Brettern Münchner Kabaretts gestanden. Noch gar nicht so lange erinnert sich Cuxhaven mit einigem Stolz an seinen berühmten Matrosen, der 1928 in seinem Buch "Als Mariner im Krieg" über seine Kommissjahre an der Elbmündung berichtet hatte. Er notiert: RINGELNATZ-ZITATOR "Cuxhaven hatte geflaggt, (...) diese Stadt (...), die mir gipsern, starr und unerträglich langweilig vorkam." TAKE 04 (O-TON FISCHER) "Das hat den Cuxhavenern nicht so gut gefallen..." SPRECHERIN ... erzählt Erika Fischer, die Vorsitzende der 2001 gegründeten Ringelnatz-Stiftung .... TAKE 05 (O-TON FISCHER) "Und sie haben Jahrzehnte gebraucht, um das abzulegen, und haben ihn erst 1977 mit einer Straße geehrt." SPRECHERIN Inzwischen darf Joachim Ringelnatz an der Elbmündung als vollständig rehabilitiert gelten. Sein Buch "Als Mariner im Krieg" gilt als eines der wichtigsten autobiografischen Bücher über die kaiserliche Marine im ersten Weltkrieg und setzt darüber hinaus der Marinegarnison ein literarisches Denkmal. Hans Bötticher hatte in jenen Jahren, an Bord und an Land, fleißig Tagebuch geführt. Ob er im "Kriegstagebuch", wie er sein Werk selber nannte, seine Erlebnisse literarisch bearbeitet, womöglich schönt oder dramatisiert, muss offen bleiben, denn die originalen Tagebücher sind verloren gegangen. Ringelnatz selber betont jedoch die Authentizität seiner Schilderungen. Mit Verve verwahrte er sich gegen jede Kürzung. Zu seinem Leidwesen hatte das Berliner "Acht-Uhr- Tageblatt" seinen Text vorab in Fortsetzungen in gekürzter Fassung veröffentlicht. Für die Buchausgabe bestand Ringelnatz auf dem ungekürzten Abdruck. An seinen Verleger Ernst Rowohlt schreibt er: RINGELNATZ-ZITATOR "Ein Drama, einen Roman könnte man kürzen. Aber dieses sachliche, wahre Zeitdokument, mit dem wir´s hier zu tun haben zu kürzen, erscheint mir jetzt ein nicht wieder gut zu machender Leichtsinn." SPRECHERIN Er spreche nicht aus "Autorenstolz" oder Eitelkeit, betont Ringelnatz. RINGELNATZ-ZITATOR "Gerade das Überzeugende der Kleinnotizen, des Kleinhistorischen und des Persönlichen an diesem Tagebuche ginge damit verloren. (...) Es scheint gänzlich uninteressant, wenn ich von einem Tage als Einziges und Deprimierendes berichte, dass mir ein Schnürsenkel platzt, aber zehn Jahre später wird auch das einen Leser interessieren, weil es dazu beiträgt, seelische und äußerliche Zustände einer Phase dieser Seemanns-Kriegszeit zu veranschaulichen." SPRECHERIN Und er fügt hinzu: RINGELNATZ-ZITATOR "Wie gern schaut das Publikum in persönlichen Kleinkram hinein. Das Buch soll doch keine Aktualität, sondern ein Bleibebuch werden." SPRECHERIN Dass Joachim Ringelnatz mit seinem Mariner-Buch Literatur von bleibendem Wert geschaffen hat, glauben auch die Cuxhavener Ringelnatz-Freunde. Sie haben anhand der präzisen Schilderungen die authentischen Orte gesucht und ... meistens in der Topografie der Seestadt von heute wiedergefunden. Und so kann man nun auf einen mit historischen Fotos illustrierten Ringelnatz-Stadtplan zurückgreifen. Auf ihm sind die wichtigsten Stationen eingezeichnet und zu einem gemütlichen Spaziergang verbunden. Folgen wir also Erika Fischer! TAKE 6 (0-TON FISCHER) "Wir befinden uns jetzt im Innenhof der Grimmershörn- Kaserne. In dieser Kaserne ist Ringelnatz gewesen." RINGELNATZ-ZITATOR "Dann wurden die Rekruten für die Vereidigung vorbereitet. Ich - Vor- und Zuname - schwöre bei ... und so weiter. Hundertmal mussten sie das hersagen, wurde ihnen das erläutert und vorgekaut. Als dann aber in der Grimmershörn- Kaserne vor seiner Exzellenz die feierliche Vereidigung in einem mit Palmen und Flaggen geschmückten Schuppen stattfand und alle Rekruten gleichzeitig hersagten, hörte man viele Stimmen heraus. (...) Der Sturm heulte, und während des Eidschwures brach plötzlich ein Wolkenbruch los. (...) Ein Mann fiel ohnmächtig um, Exzellenz hielt eine unerschütternde Rede, und die Kapelle (...) suchte den Sturm zu überbieten." <> TAKE 8 (ATMO INNENHOF MIT KINDERSTIMMEN) UNTERLEGEN BIS STICHWORT "FRIEDLICHER EINDRUCK" SPRECHERIN Schon vor vierzig Jahren hat die Bundesmarine ihren Standort Cuxhaven aufgegeben, und in der gut erhaltenen Kaserne, einem vom Jugendstil beeinflußten Bau mit Mannschaftsunterkünften, Offizierskasino und einem richtigen Gefängnis, haben sich nun Arztpraxen, eine Werbeagentur und die Waldorfschule angesiedelt. Auf dem Kasernenhof vermitteln Bäume und ein Spielplatz einen friedlichen Eindruck. Kaum vorstellbar, dass Cuxhaven zu Ringelnatz´ Zeiten neben Wilhelmshaven und Kiel ein wichtiger Kriegshafen war! Walter Flentge, Kapitän zur See und ehemaliger Flotillenkommandeur an der Unterelbe, hat sich nach seiner Pensionierung <1983> viel mit der Marinegeschichte Cuxhavens beschäftigt. TAKE 09 (O-TON FLENTGE) "Es war einmal die Küstenartillerie, die etablierte sich an der Küste mit mehreren Forts und Geschützstellungen, insgesamt waren es bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs 81 Rohre schwereren Kalibers, das war also ganz bedeutungsvoll. Und zum anderen war es die aufkommende, neu entwickelte Minenwaffe." SPRECHERIN "Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser", hatte der Kaiser getönt. Und damit war beileibe nicht nur die Handelsschiffahrt gemeint. Wilhelm II. pumpte Milliarden in den Ausbau der Kriegsflotte. Die Marinebegeisterung im Land nahm pathologische Züge an, schon kleine Jungen steckte man in Matrosenanzüge. Viele Künstler und Intellektuelle ließen sich von Wilhelms Hurra-Patriotismus anstecken. Selbst ein so schräger Vogel wie Ringelnatz war da nicht immun. TAKE 10 (O-TON FLENTGE) "Bei Ausbruch des Krieges war er einer der ersten, der sich freiwillig meldete ... .Und er hat auch einmal ein Gesuch direkt an Seine Majestät den Kaiser gerichtet, wurde natürlich deswegen sogar bestraft und verlacht, aber es gelang ihm dann, "umzusiedeln" gewissermaßen zur Minensuch zu kommen, und da kam er im Frühjahr 1915 nach Cuxhaven und machte einen Kurs als Unteroffizier, einen Kursus zum Minenspezialisten durch." SPRECHERIN Ein Kabarettist und Schriftsteller als Minensucher? Zumindest am Anfang hatte Ringelnatz damit keine Probleme. Trotz der anstrengenden und gefährlichen Arbeit mit den brisanten Minen findet er doch immer mal wieder Gelegenheit, kleine Texte und Gedichte zu schreiben und an Verlage zu schicken. Sein düster-makabres Gedicht "Seemannsgedanken übers Ersaufen", erst 1921 in dem Büchlein "Die gebatikte Schusterpastete" veröffentlicht, mag unter dem Nachhall der Minenräumerei geschrieben worden sein. RINGELNATZ-ZITATOR "Ich sterbe. Du stirbst. Er stirbt. Viel schlimmer ist, wenn ein volles Faß verdirbt. Aber auch wir wollen erst ausgetrunken sein. Besauft euch beizeiten. Alle Flüssigkeiten Finden sich wieder ins Meer hinein, Wo wir den Schwämmen gleich sind, Wo uns nichts gebricht, Weil wir weich sind. Und wenn man in eine Leiche sticht: Sie fühlt es nicht. Wird mich nie mehr acht Glasen wecken, Will ich gerne den Fischen wie Hackfleisch mit Rührei schmecken. Weil das mit Sinn so geschieht, Denn die haben gewiß nicht vergessen, Wieviel Schollen wir in uns hineingefressen. (...) SPRECHERIN Seinen Vorgesetzten in der "Hilfsminensuchdivision Cuxhaven" bleibt nicht lange verborgen, dass ihr Unteroffizier Hans Bötticher schreiben kann. Und so drängt man ihn, zur patriotischen Kriegsweihnachtsfeier Selbstverfasstes zum besten zu geben. Der dichtende Minensucher verweigert sich nicht und liefert postwendend das Gewünschte. RINGELNATZ-ZITATOR "An meinen Rekrut, Weihnacht 1916 Matrosenartillerist! Laß dir noch einmal ins Auge schaun. Und nimm ein grades Wort nicht krumm: Ich hätte dich, der du so dumm, So dumm wie eine Gurke bist, Gar oft von Herzen gern verhaun. Und wenn Dir manche Träne rann Und ich der Tränen lachte, Geschah´s im Zwang, der dich zum Mann, Zum deutschen Manne machte." (...) SPRECHERIN Vergeblich sucht man nach Spuren von Ironie. Der Sänger des sturzbesoffenen Matrosen "Kuddel Daddeldu" und geistige Vater jener faulen Hamburger Ameisen, die nach Australien reisen wollten, aber nur bis Altona kamen, meint sein Plädoyer für eisenharten preußischen Drill absolut ernst. RINGELNATZ-ZITATOR "Nur Männer hart und felsengleich, Nicht Weiber und nicht Knaben, Will unser giftumkochtes Reich An seinen Fronten haben." SPRECHERIN So weit der Dichter, wenn er im Matrosenanzug stramm steht. In seinem Tagebuch - und später in der Druckfassung des "Mariners im Krieg" - redet Ringelnatz´ Alter Ego Gustav Hester dagegen frei von der Leber weg über den menschenverachtenden Drill: RINGELNATZ-ZITATOR "Wir exerzierten und exerzierten. Ich hatte (...) ein Hühnerauge auf der Sohle. Das verursachte mir nun arge Pein. Aber ich verbiß den Schmerz und machte die von [Leutnant] Pfohl aufs äußerste gesteigerten Laufschrittübungen mit, bis ich einmal ohnmächtig zusammenbrach. Und Pfohl ließ nicht locker, auch nicht beim Gewehrexerzieren und beim Turnen." SPRECHERIN Eine Postkarte, im Hof der Grimmershörn-Kaserne fotografiert, zeigt Ringelnatz Arm in Arm mit einem Kameraden unter dem Rohr einer mächtigen Kanone. Die beiden Männer in Matrosenblusen sehen einander ähnlich und nennen sich schalkhaft "Gebrüder Petersen". Die Freundschaft hat keinen Bestand, sein "Halbbruder" fliegt wenig später mit einer Mine in die Luft. TAKE 11 (O-TON FISCHER) "Ringelnatz schreibt auf einer Postkarte, wo die beiden Gebrüder Petersen zu sehen sind, dass sie nun mit großer Gelassenheit dem Herannahen einer englischen Flotte auf dem Exerzierplatz in Cuxhaven entgegen sehen. Also alles ein bißchen ironisch." EINBLENDEN TAKE 12 (WEILL, MARCHE DE L´ARMÉE PANAMÉENNE) KURZ EINBLENDEN SPRECHERIN Bei aller ironischen Brechung des Kommiss-Alltags: Mit großer Energie und zähem Ehrgeiz hält Hans Bötticher an seinem Ziel fest, Offizier zu werden, eine militärische Karriere zu durchlaufen. RINGELNATZ-ZITATOR "Wie gut hatten es die hohen Offiziere mit drei und vier Ärmelstreifen. Sie bezogen reiche Gehälter, mit denen sie sich alles leisten konnten, was andere entbehrten. Und sie waren zum Teil noch so gewissenlos, dann alles aufzukaufen, um für schlimmere Zeiten gedeckt zu sein, während geringer bezahlte Offiziere Mangel und die Mannschaften Hunger litten." SPRECHERIN Die Standes- und Rangunterschiede wurden in der kaiserlichen Marine bewusst betont. TAKE 13 (O-TON FLENTGE) "Natürlich hatten die Offiziere ihre Messe in der Kommandantur, die bis in die jüngste Zeit bestehende Offiziermesse, war ihnen vorbehalten. Dazu eine Kegelbahn, dazu ein Kaffeegarten und Möglichkeiten des geselligen Verkehrs. Das gleiche hatten allerdings auch die Deckoffiziere in einem Kasino, welches sich in der Grimmershörn-Kaserne befand. Für die Unteroffiziere und Mannschaften fand in der Richtung nichts statt." SPRECHERIN 1917 hat Hans Bötticher es tatsächlich geschafft: Er wird zum Leutnant ernannt und kommandiert hinfort das Minensuchboot "Fair Play", einen ehemaligen Hamburger Hafenschlepper. Seine patriotischen Bierzeitungs-Reime anlässlich der Weihnachtgsfeier hatten gewiss einen Anteil an dem Aufstieg. Als er die Beförderung in der Tasche hat, sucht er sich sofort ein standesgemäßes Privatquartier im Villenviertel am Seedeich. TAKE 14 (O-TON FISCHER) (ATMO) "Wir stehen auf dem Deich in der Grimmershörn- Bucht, und wir schauen auf das Haus "Hus kiek in de See". Und genau dieses Haus, da hat er es sich gut gehen lassen, und er beschreibt in seinem Buch, dass er in diesem Haus sich eingemietet hat, als er die Beförderung erreicht hatte." RINGELNATZ-ZITATOR "Ich hatte den Blick auf die See, die derzeit kalt und grau war. Manchmal sah ich Boote meiner Division vorbeifahren. Wenn ich in der Frühe nach dem Hafen ging, musste ich den Exerzierplatz der Minenabteilung queren, und da präsentierten die Posten, und Maate machten vor mir stramm, die noch kürzlich verträgliche oder bösartige Kameraden von mir gewesen waren." SPRECHERIN Die schmucke Villa im Landhausstil mit ihren filigranen Sprossenfenstern, hölzernen Terrassen und Balkonen hat sich äußerlich kaum verändert. Aus der ehemaligen Pension der Geschwister Rohde ist heute ein Hotel geworden. Interessenten können anrufen und fragen, ob zufällig oben im zweiten Stock das ehemalige Zimmer von Ringelnatz frei ist. TAKE 15 (O-TON BÖCKER) "Dann können Sie zumindest die gleiche Sicht haben wie Ringelnatz, das können Sie... SPRECHERIN ... bestätigt Inhaberin Ulrike Böcker. TAKE 16 (O-TON BÖCKER) "Da sieht man den Schifffahrtsweg Cuxhavens. Und da ist natürlich ne Menge los." SPRECHERIN "Hus Kiek in de See" heißt nicht nur so, man überblickt tatsächlich den Deich und das grüne Vorland, wo sich im Sommer bei schönem Wetter Sonnenhungrige in bunten Strandkörben räkeln. Andererseits: So wichtig war Ringelnatz seinerzeit die schöne Aussicht auch wieder nicht, für ihn zählte eher, dass seine Vermieterinnen ein großes Herz hatten: RINGELNATZ-ZITATOR "Ich kaufte Schnäpse und Wein und schmuggelte sie peu-à- peu durch den Zoll in meine Wohnung. Denn ich erhielt viel Besuch und ward auch selber viel eingeladen, so dass ich, wenn ich an Land schlief, jede Nacht erst spät ins Bett kam. Mein Bursche und die Schwestern Rohde hatten es nicht leicht, mich morgens zu wecken." TAKE 01 (MUSIK CARLA BLEY: WHISTLING PALOMINO -0:36) TAKE 17 (O-TON KÖSTER) "Das ist von alten Cuxhavenern mir überliefert worden. Dass hier unten das alte Café Bismarck gewesen war, bis 1954, in dem Ringelnatz da verkehrt hatte." SPRECHERIN Die nächste Station auf unserem Ringelnatz-Stadtplan ist nur einen Katzensprung vom "Hus Kiek in de See" entfernt: die Ringelnatz-Kneipe. Deren Erfinderin, Gründerin und Chefin ist Lisa Köster, übrigens die Mutter von Ulrike Böcker, die das "Hus Kiek in de See" führt. Das Haus in der Dormannstraße hat eine bewegte Vergangenheit: 1898 erbaut als Hotel Royal, dann Café Bismarck, dann ein Frisiersalon. Vor zwanzig Jahren kaufte Lisa Köster das Haus und machte 2002 ihren Lebenstraum wahr: das Ringelnatz-Café. TAKE 18 (O-TON KÖSTER) "Es gab abends nichts, wo man hier in Cuxhaven in Ruhe sitzen konnte, ohne dass jemand kam und sagte: "Möchten Sie noch was esssen? Darf es noch was sein? Kann ich noch was bringen?" Ich wußte, das ist eine echte Lücke , wo keine laute Musik ist und man noch mitm Freund Händchenhalten oder mit ner Freundin was Nettes sich erzählen kann, in Ruhe. Ich war auch 63 Jahre alt, als ich mich entschloss, nach drei Jahren Pension, das nicht mehr aushielt, und dann dachte ich: Ne, bevor du ganz versauerst, machst du das auf." SPRECHERIN Nicht irgend so eine nachgemachte Seemannskneipe mit Fischernetzen unter der Decke, sondern eben eine Ringelnatz-Kneipe. Eine Literatur-Kneipe! Denn mit Ringelnatz ist Lisa Köster groß geworden. TAKE 19 (O-TON KÖSTER) "Ich bin ´38 geboren, ´45, als ich anfing zu lesen, gab es nichts zu lesen für Kinder, auf dem Bort meiner Eltern stand der "Mariner im Krieg". Das las ich begeistert, und da ist mir dieser Mann ganz nahe gekommmen." SPRECHERIN Die Lektion war die solide Grundlage für eine lebenslange Liaison, und dank dieser Begeisterung können sich Gäste im Café Ringelnatz an einem Büchertisch bedienen. TAKE 20 (O-TON KÖSTER) "Gruppe aus dem Ruhrgebiet mit jungen Leuten, waren so vierzehn oder fünfzehn Leute, war mal das netteste Beispiel, und ich tu denn auch noch etwas dazu und geb dann mal diese kleinen Bücher hin, die so ganz einfach zu lesen sind, und die haben dann hinterher hier gegessen und sich gegenseitig vorgelesen und sich weglachen wollten oder auch betroffen waren und sagten: Oh, das wußte ich gar nicht." Das erlebe ich oft." SPRECHERIN Im Café Ringelnatz wird zu Bier und Wein - getreu den Vorlieben des Namenspatrons - einfache Kost gereicht. Während seiner Kommisszeit ist der Mariner oft hungrig ins Bett gegangen. Beim Gedanken an Hausmannskost lief ihm das Wasser im Munde zusammen. RINGELNATZ-ZITATOR "Abschiedsworte an Pellka" Jetzt schlägt deine schlimmste Stunde, Du Ungleichrunde, Du Ausgekochte, du Zeitgeschälte, Du Vielgequälte, Du Gipfel meines Entzückens. Jetzt kommt der Moment des Zerdrücken Mit der Gabel! -- Sei stark! Ich will auch Butter und Salz und Quark Oder Kümmel, auch Leberwurst in dich stampfen. Mußt nicht so ängstlich dampfen. Ich möchte Dich doch noch einmal erfreun. Soll ich Schnittlauch über dich streun? Oder ist dir nach Hering zumut? Du bist ein so rührend junges Blut. - Deshalb schmeckst du besonders gut. Wenn das auch egoistisch klingt, So tröste dich damit, du wundervolle Pellka, dass du eine Edelknolle Warst und dass dich ein Kenner verschlingt." TAKE 01 (MUSIK CARLA BLEY: WHISTLING PALOMINO -0:36) KURZ FREI STEHEN LASSEN, UNTERLEGEN SPRECHERIN "La Paloma" war übrigens das Lieblingslied von Joachim Bötticher. Wo soviel Ringelnatz zum Greifen nahe liegt, drängt es früher oder später zur Gründung eines Museums. In Cuxhaven war es 2002 so weit. Vor der Tür des Fachwerkhauses Südersteinstraße 44 schwenkt er seither selber freundlich seinen steifen schwarzen Hut, freilich nur als lebensgroße Fotografie. Erika Fischer, die literarische Stadtführerin: TAKE 21 (O-TON FISCHER) "Wir befinden uns jetzt direkt gegenüber von Schloß Ritzebüttel in Cuxhaven, in sehr exponierter Lage, in einem alten Fachwerkhaus, das schon 250 Jahre alt ist und sich in sehr gutem Zustand befindet. Es ist im Besitz der Stadt Cuxhaven, und wir dürfen hier jetzt mit dem Ringelnatz- Museum sein. Das Interessante an diesem Haus ist die Verbindung zwischen Literatur und Malerei. Denn dass Ringelnatz auch Maler war, wissen die wenigsten, und es ist uns ein Anliegen, hier sein Lebenswerk zu präsentieren. Es gibt bisher kein Museum in Deutschland. In Wurzen, in seiner Geburtsstadt, eine Ringelnatz-Abteilung im Kulturgeschichtlichen Museum, und wir denken, er hat unbedingt ein eigenes Haus verdient." TAKE 22 (ATMO FAHRRADFAHREN) UNTERLEGEN BIS ... SPRECHERIN Rund ein Dutzend Ringelnatz-Orte verzeichnet der Stadtplan. Etwas außerhalb in Sahlenburg, am besten mit dem Fahrrad zu erreichen, zwischen Sanddünen und Kiefergebüsch, lag das "Seeheim". Dort befehligte Leutnant Bötticher in den letzten Kriegsmonaten eine Maschinengewehrbatterie. Aber die Vaterlandsverteidigung nahm ihn offenbar weit weniger in Anspruch als seine naturwissenschaftlichen Interessen. RINGELNATZ-ZITATOR "Seeheim war vor dem Kriege ein Kindererholungsheim gewesen und mit Bettzeug, Porzellan, Glas usw. reichlich ausgerüstet. Auch ein großes Terrarium fand ich vor, dessen Scheiben zerschlagen waren. Ich ließ es sofort ausbessern. (...) Es wies die verschiedensten Landschaften auf. Harte oder poröse Felsen, Heidelandschaft, (...) unterirdische Gänge und eine eingegrabene Suppenterrine als Teich. Täglich mehrmals (...) lief ich in den Wald oder auf die Wiesen mit Einmachgläsern und einem Fangnetz. Jedesmal brachte ich Schlangen, Eidechsen oder Insekten zurück." SPRECHERIN Das Sanatorium Seeheim ist wohl auch der Ort, wo aus Hans Bötticher - endgültig Joachim Ringelnatz wurde. Manche Verehrer des Dichters glauben, der Name "Ringelnatz" gehe auf "Ringelnaß", also Ringelnatz´poetische Bezeichnung für das geliebte Seepferdchen zurück, was wiederum ein alter niederdeutscher Seemannsausdruck für den zierlichen Knochenfisch sei. Letzteres ist eher unwahrscheinlich, denn das Seepferdchen kommt in der Nordsee überhaupt nicht vor. Das ändert alles nichts daran, dass das schönste jemals von einem Seepferdchen verfasste Liebesgedicht in Wahrheit ... von Ringelnatz stammt. RINGELNATZ-ZITATOR "Als ich noch ein Seepferdchen war, Im vorigen Leben, Wie war das wonnig, wunderbar Unter Wasser zu schweben. In den träumenden Fluten Wogte, wie Güte, das Haar Der zierlichsten aller Seestuten, Die meine Geliebte war. (...) Sie blickte traurig und stellte sich froh, Schnappte nach einem Wasserfloh Und ringelte sich An einem Stengelchen fest und sprach so: Ich liebe dich! Du wieherst nicht, du äpfelst nicht, du trägst ein farbloses Panzerkleid Und hast ein bekümmertes altes Gesicht, als wüßtest Du um kommendes Leid. Seestütchen! Schnörkelchen! Ringelnaß! Wann war wohl das? (...) TAKE 24 (O-TON FISCHER) "Ringelnatz würde sich heute über unsere Spekulationen über seinen Namen freuen. Er selbst ist gefragt worden von einem Journalisten und hat keine Antwort darauf gegeben. Aber wir sind überzeugt, dass Joachim Ringelnatz hier geboren wurde und Hans Bötticher in Wurzen. Denn klar ist, dass er nach Ende des ersten Weltkrieges dieses Pseudonym, Joachim Ringelnatz, benutzt hat, und man kann es ableiten von eben der Ringelnatter." RINGELNATZ-ZITATOR "Nein," schimpfte die Ringelnatter, "die Mode Von heutzutage, die wurmt mich zu Tode. Jetzt soll man täglich, sage und schreibe, Zweimal die Wäsche wechseln am Leibe. Und immer schlimmer wird´s mit den Jahren. Es ist rein, um aus der Haut zu fahren!" So schimpfte die Ringelnatter laut, Und wirklich fuhr sie aus der Haut. Der Vorfall war nicht ohne Bedeutung, Denn zoologisch nennt man das Häutung." SPRECHERIN Zehn Jahre liegen zwischen dem Ende des Weltkrieges und dem Erscheinen von Ringelnatz "Kriegstagebuch". Als Pseudonym wählte er den Namen Gustav Hester, fügte aber, die Maske gleich fallen lassend, hinzu: "Herausgegeben von Joachim Ringelnatz." "Gustav" war der zweite Vornahme des Hans Bötticher, "Hester" ist sein persönlicher Spitzname für Trude Hesterberg, die Chefin des Berliner Kabaretts "Wilde Bühne". Den steinernen Engel im Garten des Kabaretts nannte Ringelnatz allerdings ebenfalls "Hester". Verleger Ernst Rowohlt ließ für die Startauflage stattliche 7000 Exemplare drucken, schon bald folgte eine zweite Auflage, Ende 1930 waren rund 10.000 "Kriegstagebücher" verkauft. "Als Mariner im Krieg" wurde vom Feuilleton aufmerksam registriert und oft ausgesprochen positiv besprochen. ZITATOR "Zu den wenigen guten Büchern, die über den Krieg geschrieben worden sind, gehört Joachim Ringelnatz´ "Mariner im Krieg" ... SPRECHERIN ... heißt es da im angesehenen "Literaturblatt der Frankfurter Zeitung". ZITATOR "Es ist merkwürdig, außerordentlich und vielleicht das menschlichste von allen. (...) Dieses Buch ist weder Tagebuch noch Roman, es hat keine Fabel, keinen Aufbau, keine mit den Begriffen "rechts" oder "links" erfaßbare Tendenz. Es zeichnet den Marinekrieg in einer Weise, wie ihn kein Admiralstabswerk vermitteln kann, zeichnet ihn in hunderten von kleinen Kinobildchen." SPRECHERIN Ringelnatz´ Verleger Ernst Rowohlt hatte offenbar einen guten Riecher - Bücher über den Weltkrieg waren damals Bestseller. Theodor Pliviers Anti-Marine-Roman "Des Kaisers Kulis - Roman der deutschen Kriegsflotte" erreichte eine Auflage von 40.000 Exemplaren, die kritische Abrechnung "Krieg" des ebenfalls linken Autors Ludwig Renn wurde sogar 125.000 mal verkauft. Diese Zahlen sind allerdings nichts gegen den Welterfolg "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque, von dem bereits sechzehn Monate nach Erscheinen im Jahre 1929 eine Million Exemplare verkauft waren. SPRECHERIN Als der Krieg 1918 zu Ende ging und die kaiserlichen Matrosen meuterten, endete auch die Militärkarriere des Leutnants Bötticher. Er verließ Cuxhaven per Dienstfahrrad und lebte fortan als Schriftsteller und Kabarettist überwiegend in Berlin. RINGELNATZ-ZITATOR "Ich komme und gehe wieder, Ich, der Matrose Ringelnatz. Die Wellen des Meeres auf und nieder Tragen mich und meine Lieder Von Hafenplatz zu Hafenplatz. Ihr kennt meine lange Nase, Mein vom Sturm zerknittertes Gesicht. Dass ich so gern spaße Nach der harten Arbeit draußen Versteht ihr das? Oder nicht?" GÜNTER BEYER 6/08 Literaturhinweise: (1) Joachim Ringelnatz, "Das Gesamtwerk in sieben Bänden" Hg. v. Walter Pape Bd. 1 Zürich 1994, S. 70 Ringelnatz -DLR 04.08.2008