COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 28.9.2008, 0.05 Uhr Bergwerk und Abraumhalde Die Spur der Kohle in der Literatur Von Jörg Magenau MUSIK: Billy Joe Shaver, ?Chunk of coal? I´m just an old chunk of coal But I?m gonna be a diamond some day I?m gonna glow and grow ?Til I?m so blue pure perfect I?m got a smile on everybody?s face I?m gonna kneel and pray everyday Lest I should become vain along the way I´m just an old chunk of coal, now Lord But I?m gonna be a diamond some day (Nach der ersten Strophe, 0:56, langsam ausblenden) SPRECHER 2: ZITAT 1 (Ralf Rothmann, Milch und Kohle, S.7): Anthrazit, so hieß auch eine Kohleart, die teuerste damals, und wer kann das Wort hören, ohne an die Haufen zu denken, die an manchen Nachmittagen vor den Kellerfenstern der verschneiten Siedlungen lagen. Dann war die Enttäuschung groß, und man verstand plötzlich, warum man so wenig Schulaufgaben bekommen hatte. Dann gab es nur Butterbrote oder Linsensuppe, und anschließend wurden Eimer geschleppt bis in die Dunkelheit hinein. Knochenarbeit. Also ließ man sich Zeit mit dem Weg und hoffte, dass zu Hause wenigstens eine leichtere Sorte wartete, Eierkohlen und Koks. Um die Haufen herum lag stets feiner Staub, eine hellschwarze, leicht schimmernde Aura, in der es hier und da gestochen scharfe Aussparungen gab: Wo die Hydraulikstempel des Kipplasters oder die Stiefelspitzen des Fahrers gestanden, wo der Schaufelstiel, eine leere Schachtel Collie oder ein paar Kronkorken gelegen hatten. Und wir schrieben unsere Namen in den Staub, wer doof ist, und wer wen liebt. SPRECHER 1: Das Zeitalter der Kohle versinkt langsam in der Vergangenheit. Schon lange gibt es keine Kohlehaufen mehr vor den Wohnhäusern. In Ralf Rothmanns Roman ?Milch und Kohle? über eine Kindheit im Ruhrgebiet der 60er Jahre bedeutete die Kohle vor allem Arbeit, bot aber auch Gelegenheit für eine in den Staub geschriebene Poesie. Schon damals wurden Zechen stillgelegt. Die Kinder spielten im zurückgebliebenen Schrott der Gute-Hoffnung-Hütte. Kohle stand nicht mehr für den Aufbruch in ein neues Zeitalter, für Stahl und Strom und Industrie und den Reichtum der Nation, sondern für den Abschied von einer eher schmutzigen Epoche. Dass die Väter immer noch zur Zeche gingen, hinter den großen Eingangstoren und unter der Erde verschwanden, war eine subventionsgestützte Vereinbarung auf Zeit. Man ahnte, dass sie zu Ende gehen würde, ohne es sich einzugestehen. Und doch, trotz Armut und Arbeit und all dem Kohledreck ist es eine Zeit, die in der Erinnerung seltsam zu leuchten beginnt. MUSIK: Loretta Lynn, Coal Miner?s Daughter Well, I was born a coal miner?s daughter In a cabin on a hill in Butcher Holler We were poor but we had love That?s the one thing my daddy made sure of He shoveled coal to make a poor man?s dollar My daddy worked all night in the Van Lear coal mine All day long in the field hoeing corn Mama rocked the baby at night And read the bible by a coal oil light And everything would start all over come break of morn Daddy loved and raised eight kids on a coal miner?s pay (?) (Ausblenden ab 1:10) SPRECHER 1: Kohle und Kindheit ? das gehört häufig zusammen und nimmt dann die entsprechend sentimentale Färbung an. Vielleicht deshalb, weil es sich von heute aus gesehen so oft um Rückblicke handelt ? wo selbst in Berlin die Kachelöfen langsam knapp werden. Es sind die Älteren, die noch damit aufwuchsen. Martin Walser betrieb neben der Schule Ende der 30er Jahre den Kohlenhandel der Eltern. Als 12-jähriger schippte er Kohle aus Eisenbahnwaggons und lud sie in Säcke, die er zur Kundschaft in Wasserburg am Bodensee brachte. Weil er deshalb allzu häufig in der Schule fehlte, bestellte der Direktor die Mutter zu sich: Sie müsse sich schon entscheiden, ob sie einen Oberschüler oder einen Kohlenarbeiter haben wolle. MUSIK: Allen Toussaint, Working in a Coal Mine Working in the coal mine Goin on down down Working in the coal mine Ooops, about to slip down Working in the coal mine Goin on down down Working in the coal mine Ooops, about to slip down (langsam ausblenden) SPRECHER 1: Etwas mehr als zehn Jahre später und in einem anderen deutschen Staat, Mitte der 50er Jahre, saß der 1941 geborene Wolfgang Hilbig auf den Straßen seiner Heimatstadt Meuselwitz im Leipziger Braunkohle-Tagebaugebiet. Die Straßen waren noch ungepflastert. Der einst helle Sand hatte sich ?durch Kohlenstaub und Asche bis ins Mark verfinstert.? Hilbigs Jugend ereignete sich zwischen ausgebombten Häusern, Staub und Schlamm in einer seltsam düsteren, aufregenden Abenteuerlandschaft. Unförmige, von Pferden gezogene ?Aschewagen? holten die Feuerungsrückstände der Haushalte ab, um damit eines der riesigen, sogenannten ?Restlöcher? zu füllen, die der Tagebau hinterlässt. In der Tiefe verglühte die übrig gebliebene Kohle. Es war nicht ungefährlich, dort zu arbeiten, wie eine Szene aus Hilbigs Erzählung ?Ort der Gewitter? belegt: SPRECHER 2: ZITAT 2 (Wolfgang Hilbig, Der Schlaf der Gerechten, S.16f): Eines Tages waren zwei der armen Tiere selbst in die Asche gefallen und hatten das ganze sich gerade entleerende Fuhrwerk mit in die Tiefe gerissen. ? Dies hatte uns der Schrankenwärter erzählt, der sonst kaum ein Wort von sich gab; das Unglück aber war für ihn zu schrecklich gewesen, als dass er es mit Schweigen hätte übergehen können. Der lockere Rand der Halde ? nur durch den Frost sei er von einer trügerischen Sicherheit gewesen ? habe unter der Last des Gespanns nachgegeben, der dabei stehende Fuhrmann habe sich selbst nur mit einem geistesgegenwärtigen Sprung nach hinten retten können. Die Pferde aber, in das Gewirr ihres Zaumzeuges verfangen, rutschten samt Wagen den steilen Hang hinab bis auf den Boden des Tagebaus, wo sie in die untergründige Glut einsanken, die nur von schwachen Schichten erkalteter Asche bedeckt war. Das brüllende Gewieher ... nein, das Gekreisch der Tiere, sagte der Bahnwärter, sei bestimmt bis zur Stadt hinüber hörbar gewesen; der dumpfe Geruch von verbranntem Fell und Fleisch habe sich über die ganze Gegend verbreitet. ? Mein Großvater, der Pferde mehr liebte als Menschen, so hieß es, sei aus dem nahen Schrebergarten zur Aschehalde gerannt, mit der Flinte in der Faust, doch bevor er den Unglücksort erreichte, wären die Pferde schon verstummt und vom Schlag getroffen gewesen. Trotzdem hätten die Männer noch von oben auf die zuckenden Fleischhügel geschossen, um sie zur Ruhe zu bringen, es sei zwecklos gewesen. Und schließlich habe der tränenüberströmte Fuhrmann seine Tabakspfeife in die Tiefen des Tagebaus geschleudert! SPRECHER 1: Für Wolfgang Hilbig war die zerstörte Landschaft Heimat. Er beschreibt sie mit archaischer Wucht und elementarer Kraft. Hilbig war ein Arbeiterdichter, wie er vielleicht nur hier, im Tagebaugebiet denkbar war. Doch er war nicht das, was man sich in der DDR unter einem Arbeiterdichter vorstellte. Dazu fehlte ihm das verklärende Pathos und jeglicher proletarische Heroismus. Er blieb ein Einzelgänger und hielt sich lieber am Rand der Gesellschaft auf. Anstatt die Industrie und den Sozialismus zu verherrlichen, zeigte er, was der Natur und den Menschen zugefügt wurde. Das untergründige Glimmen und Glühen der Erde nimmt eine vernichtende Kraft an, als komme man dort der Hölle mit ihren Feuern allzu nahe. Es ist, als wollte die Erde sich rächen dafür, dass der Mensch sie so brutal aufgerissen hat. // Dieses Motiv ist auch in Gedichten von Reiner Kunze zu finden, der 1933 als Sohn eines Bergarbeiters in Oelsnitz im Erzgebirge geboren wurde. Zu seinen Kindheits-Orten gehören riesige, hundert Meter hohe Abraumhalden, die sich beklettern ließen ? auch wenn das selbstverständlich streng verboten war. ?Spaziergang im Abraumhaldenwald? heißt eines der Gedichte, in denen er dorthin zurückkehrt: SPRECHER 2: ZITAT 3 (Reiner Kunze, Lindennacht, S. 20): Noch jahrzehntelang nach der letzten lorenfracht schwelt in der halde die kohle Die menschen graben löcher in das erdreich, die wärme mit händen zu greifen, und sagen den kindern: Die zwerge haben eingeheizt Und die zwerge hören es und schüren die glut SPRECHER 1: Kunze schlägt einen Bogen vom zu Ende gehenden Industriezeitalter zurück in die mythologische Vorzeit, als Geister die Natur belebten und die Menschen in ihre Schranken wiesen. Die Zwerge, von denen man den Kindern erzählt, sind gleichwohl nur noch ein kleiner mythologischer Restbestand. Größeres ist wohl nicht mehr denkbar. Dabei waren es einmal Riesen, die sich gegen die menschlichen Eindringlinge wehrten und sie ins Unglück stürzten. So wie der Holländermichel in Wilhelm Hauffs Märchen ?Das steinerne Herz?, wo der ?Kohlen-Munk? seiner Armut und seinem Los als Köhler entkommen will, und, um ein reicher Fabrikbesitzer zu werden, beim Holländermichel sein Herz gegen einen Stein eintauscht. ? Oder der gefürchtete Berggeist Rübezahl aus dem Riesengebirge. Er war Schutz- und Schreckensfigur einer handwerklich orientierten, in Zünften organisierten Gesellschaft, die sich erst vorsichtig vorantastete ins Innere der Erde. MUSIK: Allen Toussaint, Working in a Coal Mine Working in the coal mine Goin on down down Working in the coal mine Ooops, about to slip down Working in the coal mine Goin on down down Working in the coal mine Ooops, about to slip down (langsam ausblenden) SPRECHER 1: Der Mensch lag im Kampf mit der Natur. Die gesellschaftlichen Bedingungen, Lohnabhängigkeit und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen waren jedoch noch kein Thema. Bergleute bezeichnete man in der vorindustriellen Zeit nicht als Bergarbeiter, sondern als Bergmänner. Im Prolog einer für die Jugend bearbeiteten Ausgabe des ?Rübezahl? vom Anfang des 20. Jahrhunderts erscheint ihre vergangene Welt im südschlesischen Waldenburg als gefahrvoll, wird aber zugleich auch wie hinter Butzenglasscheiben zurechtgemacht. Arbeit als Folklore: Es ist der romantische Blick auf die Geschichte. Das heimliche schlechte Gewissen über die Ausbeutung der Natur ist darin ebenso zu erkennen wie das Bedürfnis, elende Lebensverhältnisse zu verklären. SPRECHERIN ZITAT 4 (Rübezahl, Für die Jugend bearbeitet von N. J. Anders, S. 3): Auch der Bergbau blüht im Riesengebirge, denn die hohen, stolzen Bergriesen hüten in ihrem Inneren gar reiche Schätze, Kohlen und edle Erze, die den Menschen unentbehrlich sind und ihnen außerdem reichen Gewinn eintragen. Seit grauen Zeiten sind denn auch viele Tausende von fleißigen Menschen damit beschäftigt, den Bergen ihre Schätze abzuringen, und so sind die Bergleute oder Bergknappen, wie man diese fleißigen Leute nennt, im Riesengebirge eine liebe, altgewohnte Erscheinung. Nun müsst ihr aber wissen, dass der Beruf des Bergmanns gar schwierig und gefahrvoll ist, denn der Bergmann muss jahraus jahrein unter der Erde arbeiten, um derselben ihre Schätze zu entreißen: Kohle, Silber, Eisen und so weiter, und dabei ist er stets Gefahren ausgesetzt, denn die Berggeister sehen nicht immer geduldig zu, wie man sie ihres Eigentums beraubt; oft wehren sie sich dagegen und versuchen die Eindringlinge zu vertreiben. Dann schicken sie plötzlich giftige Gase, welche die armen Bergleute bei der Arbeit überfallen und ihnen die Besinnung rauben, so dass sie in der Grube elend sterben müssen. Dann sprechen die Menschen wohl von einem Grubenunglück, von explodierenden Gasen, Wassereinbrüchen und so weiter, während das Volk und mit ihm die Poesie an dem Glauben festhalten, dass eigentlich nur die ?Berggeister? im Kampf um ihr gutes Recht den Schaden angerichtet haben. MUSIK: Allen Toussaint: Working in a coal mine Working in the coal mine Goin on down down Working in the coal mine Ooops, about to slip down Working in the coal mine Goin on down down Working in the coal mine Ooops, about to slip down Five o?clock in the morning I?m already up and gone Lord, I?m so tired How long can this go on Working in the coal mine Goin on down down Working in the coal mine Ooops, about to slip down Working in the coal mine Goin on down down Working in the coal mine Ooops, about to slip down (langsam ausblenden) SPRECHER 1: Dass der Bergmann für die romantische Dichtung so faszinierend war, hat mit seinem Arbeitsplatz unter der Erde zu tun. In der Finsternis dort unten halten sich normalerweise nur die Toten auf. Die Farbe schwarz steht symbolisch dafür. Mit geschwärzten Gesichtern kehren die Bergleute aus dem Schacht zurück, und auch ihre Kleidung ist so schwarz wie die Nacht. ?Der Bergmann hat sein Totenkleid immer an?, heißt es in Johann Peter Hebels ?Unverhofftes Wiedersehen?, einer ergreifenden Anekdote, die in kaum einem deutschen Lesebuch fehlt. Ein junger Bergmann, der kurz vor seiner Hochzeit noch einmal ans Fenster seiner Braut klopfte, wird verschüttet und kehrt nicht mehr zurück. Die Braut trauert; die Zeit vergeht. Hebel fasst in wenigen Zeilen mehr als 50 Jahre zusammen, in denen sich nicht nur die Französische Revolution ereignete und Europa veränderte. Bis endlich dieser eine, große Moment des unverhofften Wiedersehens gekommen ist: SPRECHER 2: ZITAT 5 (Johann Peter Hebel, Unverhofftes Wiedersehen): Napoleon eroberte Preußen und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben in ihrer unterirdischen Werkstatt. Als aber die Bergleute in Falun im Jahr 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen zwei Schachten eine Öffnung durchgraben wollten, gute drei Ellen tief unter dem Boden, gruben sie aus dem Schutt und Vitriolwasser den Leichnam eines Jünglings heraus, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert war, also dass man seine Gesichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er erst vor einer Stunde gestorben oder ein wenig eingeschlafen wäre an der Arbeit. Als man ihn aber zu Tage ausgefördert hatte, Vater und Mutter, Gefreundte und Bekannte waren schon lange tot, kein Mensch wollte den schlafenden Jüngling kennen oder etwas von seinem Unglück wissen, bis die ehemalige Verlobte des Bergmanns kam, (...). Grau und zusammengeschrumpft kam sie an einer Krücke an den Platz und erkannte ihren Bräutigam; und mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz sank sie auf die geliebte Leiche nieder. SPRECHER 1: Der Tod hat hier die versöhnliche Gestalt eines Schläfers angenommen. Das macht ihn zu einem Freund, der die Schönheit eines vergangenen Glücks bewahrt. Manchmal ist es aber auch umgekehrt so, dass der Schlaf an den Rand des Todes rückt und der Bergarbeiter beim Erwachen in der Dunkelheit unter Tage nicht sofort in die Wirklichkeit zurückfindet. Ralf Rothmann beschreibt in dem Roman ?Junges Licht? so einen Augenblick: SPRECHER 2: ZITAT 6 (Ralf Rothmann, Junges Licht, S. 235): Er setzte sich auf die leere Munitionskiste, lehnte sich zurück und stellte das Helmlicht aus, um seinen Akku zu schonen. Die jähe Schwärze war wie eine kühle Hand auf den Lidern. Sein Schweiß schmeckte salziger als gewöhnlich. Er hörte sich atmen in der Stille, verschränkte die Arme vor der Brust und dachte müde über den Ausdruck ?Brille schießen? nach und dass er noch nie eine Brille geschossen hatte. So etwas gab es nur im Lehrbuch. Seine Sprenglöcher sahen wie alles mögliche aus, aber nicht wie Brillen, und er legte seinen Helm zur Seite und nickte ein. Es war ein leichter Schlaf und dauerte nur wenige Minuten, doch als er wach wurde ? irgendetwas hatte sich bewegt in seiner Nähe ?, versuchte er ein paar hämmernde Herzschläge lang vergeblich, die Augen zu öffnen. Bis er darauf kam, dass sie geöffnet waren, und sein Kopflicht andrehte. MUSIK: Merle Travis, Dark as a dungeon Come an listen you fellows, so young and so fine, And seek not your fortune in the dark, dreary mines, It will form as a habit and seep in your soul, ?Till the stream of your blood is as black as the coal It?s dark as a dungeon and damp as the dew, Where danger is double and pleasures are few, Where the rain never falls and the sun never shines, It?s dark as a dungeon way down in the mine (0:54-1:39, dann ausblenden) SPRECHER 1: Merle Travis vergleicht in diesem berühmten Song die Dunkelheit der Kohlenmine mit einem Burg-Verließ. Die Arbeit dort unten erscheint damit als eine Form von Gefangenschaft und Fron. Was kann man schon erwarten, wenn selbst das Blut, das durch die Adern der Minenarbeiter fließt, so schwarz wie Kohle ist? MUSIK: Merle Travis, Dark as a dungeon (?) It?s dark as a dungeon and damp as the dew, Where danger is double and pleasures are few, Where the rain never falls and the sun never shines, It?s dark as a dungeon way down in the mine (?) SPRECHER 1: Die Geschichte vom Bergwerk zu Falun, die Johann Peter Hebel so nüchtern und knapp erzählte, hat auch E.T.A. Hoffmann aufgegriffen und ein romantisches Schauermärchen daraus gemacht. Hoffmann dramatisierte das Ende, indem er die alte Frau über dem Leichnam des jung gebliebenen Bräutigams sterben lässt. Er schmückte aber auch die Geschichte der jungen Liebenden aus und erfand dem toten Bergmann einen komplizierten Lebenslauf. In Hoffmanns Version handelt es sich ursprünglich um einen Seemann, den das Meer und die Arbeit auf dem Schiff nicht länger faszinieren konnten. Am Hafen, während die Matrosen sich betrinken, überredet ihn ein alter Mann, der sich später als Berggeist zu erkennen gibt, das Metier zu wechseln. Und so wird aus dem, der in den Schiffsmasten direkt unter dem Himmel herumkletterte, einer, der unter der Erde sein Glück sucht. Sein erster Gang in die Tiefe ist aber ein Schock: Es ist ihm, als würde sich ein Höllenschlund öffnen. Doch bald findet er sich zurecht, und er ist besonders geschickt darin, neue Flöze zu entdecken. // Der Seemann als Bergmann ist eine besondere, mythologische Figur, in der sich das Meer und die Erde, Weite und Enge, Licht und Dunkel, Leben und Tod, als gegensätzliche Pole verbinden. Die Kohle gibt das her: Da wo sie zu finden ist, waren früher einmal Ozeane. So ist es nicht verwunderlich, dass auch Wolfgang Hilbig, dieser späte Nachfahr der dunklen Romantik, ?das meer in sachsen? entdeckt hat. SPRECHER 2: ZITAT 7 (Wolfgang Hilbig, Werke 1, S. 81): braunkohle mit mehr als fünfzig prozent wassergehalt wird in sachsen gegraben furchtbare unglücke katastrophen im tertiär pressten das meer in die kohle in sachsen wüst und gottgewollt trat erde über die ufer zerdrückte das meer und seine lagunen mit mammutbäumen das meer kocht und dampft in der kohle in sachsen die menschen in sachsen mit fellen behängt sammeln sich an den küsten der unterirdischen energie schütteln drohende fäuste gegen das meer gegen die neuaufschlüsse des meers (gelbes gras wuchert von den wellenkämmen des abraums hinab zu den straßen gedeiht im sperrfeuer vorüberflammender frontscheiben es ist ruhe doch sachsen sinnt gottes sonntag zu ändern SPRECHER 1: Es sind die großen, geologischen Zeitdimensionen, die hier bei Wolfgang Hilbig in den Blick geraten. Die Kohle, die im ostdeutschen Tagebau abgebaut wird, ist im Tertiär entstanden und viele Millionen Jahre alt. Die Steinkohle, die im Ruhrgebiet gefördert wird, ist noch älter. Kohle ist nicht nur Energieträger, sondern auch so etwas wie festgewordene Zeit. Die Ehrfurcht vor diesen gewaltigen historischen Dimensionen wird bei Franz Fühmann deutlich, der in den 70er Jahren einen Bergwerk-Roman schreiben wollte und sich dafür einer Bergarbeiter-Brigade anschloss, um die Welt unter Tage kennen zu lernen: SPRECHER 2: ZITAT 8 (Franz Fühmann, Im Berg, S.23): Über mir tausend Meter Gestein, das waren zweiundzwanzig Jahrzehntmillionen eines beharrlichen Mühens der Erde, sich aus Magma und Meer zu heben; auf dem Grund, darauf ich hockte und den einst die Sonne gesprenkelt, waren die ersten Reptile getrottet, schwerschädlige gepanzerte Lurche, dann war kein Fuß mehr auf ihn getreten, zweihundertzwanzig Millionen Jahre, und das Flözstück vor mir, das ich zögernd berührte, hatte nie zuvor eine Hand angefasst. ? Jungfräulicher Ort; jedes Streb war Pionierland; hier unten wurden neue Küsten gewonnen, nicht westwärts, sondern hinab in die Zeit. SPRECHER 1: In Ralf Rothmanns Roman ?Junges Licht? macht ein Bergarbeiter eine Entdeckung, die Fühmanns Erfahrung zu vergleichen ist und die eine tiefe Ehrfurcht in ihm produziert. Aber das ist nur ein flüchtiger Eindruck, der in der Routine des Arbeitsalltags keinen Bestand haben kann: SPRECHER 2: ZITAT 9 (Ralf Rothmann, Junges Licht, S.47f): Der Zwischenraum war nicht tief, drei oder vier Zentimeter, und als die Spitze gegen die nächste Schicht stieß, hebelte der Mann den Meißel hoch, was zunächst nicht gelingen wollte. Doch beim zweiten Versuch brach die Kohle heraus, fiel ihm vor die Knie, und er bückte sich, bis sein Helmlicht den Hohlraum ausleuchtete. In die noch unberührte, schwarzglänzende Schicht hatte sich ein Skelett eingedrückt, ein Vogel wohl, nicht größer als eine Kinderhand und mit einem verdrehten Flügel. Statt eines Schnabels hatte das Wesen jedoch einen spitz zulaufenden Kiefer, der sich so deutlich abzeichnete auf dem schwarzen Grund, dass man die winzigen Zähnchen erkannte, jedenfalls einen Augenblick lang. Doch dann löste der Sauerstoff alles auf, die feinen Linien verschwammen vor den Augen des Mannes, was ihn momentlang schwindelig machte, und als er auch den anderen Handschuh abstreifte, ? er schlackerte ihn weg ? und über die Reste des Bildes fuhr, zerfiel es zu Staub. Doch einen Moment lang hatte er etwas von der Kontur gefühlt, den zarten Krallen, und einen leisen Schreck bekommen ? ähnlich dem, der einen durchfährt, wenn man mit den Fingerspitzen über die Rückseite eines Briefes streicht und dabei noch die Hand, ihren Druck, eines längst Verstorbenen fühlt. Er band sich das Halstuch vor den Mund, arretierte den Meißel im Hammer und räumte die zwei Kubikmeter weg, die ihm noch zum Durchbruch fehlten. MUSIK: Cowboy Junkies: Mining for gold We are miners, hard rock miners To the shaft house we must go Pour your bottles on our shoulders We are marching to the slow On the line boys, on the line boys Drill your holes and stand in line 'til the shift boss comes to tell you You must drill her out on top Can't you feel the rock dust in your lungs? It'll cut down a miner when he is still young ?. (1:10, dann ausblenden) SPRECHER 1: Die Industrialisierung im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfasste auch den Bergbau. Der Hunger nach Kohle wurde mit der Erfindung der Dampfmaschinen unersättlich und führte zu Rationalisierungen und verschärften Arbeitsnormen im Bergbau. Aus dem folkloristischen Bergmann wurde der Bergarbeiter, ein Proletarier unter Tage. Im deutschen Kaiserreich dauerte dessen Arbeitszeit im Schnitt 12 Stunden, und auch an den Sonntagen wurde gegraben. Der Zauber, den die Arbeit im Erdinneren bei den Dichtern der Romantik ausgelöst hatte, verflog. Bertolt Brecht spricht nur noch vom ?furchtbaren Leben in der Tiefe?. Nun rückten die unerträglichen Arbeitsbedingungen in den Blick. MUSIK: Brownie McGee, Coal Miner Blues, Mundharmonika-Vorspiel (0:27) SPRECHER 1: Emilé Zolas Roman ?Germinal? aus dem Jahr 1885 ist der Prototyp einer Bergarbeiterliteratur, in der mit den sozialen Missständen die Idee des Sozialismus virulent wurde. Zola schildert einen Streik im nordfranzösischen Kohlegebiet. Sein Held, ein überzeugter Sozialist, zettelt dort einen Aufstand an. Die erbosten Bergarbeiter zerstören die Kohlegrube in einem sinnlosen Akt und vernichten damit ihre eigene Lebensgrundlage. Da sie nun gar keinen Lohn mehr erhalten, verschlechtern sich ihre Lebensbedingungen dramatisch. Belgische Arbeiter rücken an ihre Stelle. Und nachdem das Militär letzte Aufstände niedergeschlagen hat, müssen sie ihre Arbeit bei noch niedrigeren Löhnen als zuvor wieder aufnehmen. Zolas ?Germinal? ist kein Heldenepos der Unterdrückten, sondern ein Buch, das die Widersprüche des sozialen Kampfes hellsichtig darstellt ? wie später etwa auch der amerikanische Sozialist Upton Sinclair in ?König Kohle? aus dem Jahr 1917 oder A.J. Cronin in dem 1935 erschienenen Roman ?Die Sterne blicken herab? über das Kohlerevier in Südwales, wo Cronin als Armenarzt und medizinischer Grubeninspektor arbeitete. MUSIK: Brownie McGee, Coal Miner Blues, Mundharmonika-Vorspiel (0:27) SPRECHER 1: Die Bergarbeiter begannen damit, über ihre Arbeit und ihre Lebensverhältnisse selbst zu schreiben. Die entstehende sozialistische Literatur sollte keine Literatur über Arbeiter, sondern eine von Arbeitern sein. Ein frühes Beispiel dafür ist der Ruhrgebietsdichter Heinrich Kämpchen, 1847 geboren, 1912 in Bochum gestorben. Schon sein Vater war Bergarbeiter, und er begann im Alter von 13 Jahren als Grubenarbeiter in der Zeche Hasenwinkel in Bochum. 1889 wurde er als überzeugter Sozialdemokrat zu einem Sprecher der großen Streikbewegung und schrieb kämpferische Gedichte. Er verlor seine Arbeit und wurde früh zum ?Berginvaliden?. Kämpchen war ein Heimatdichter, der in rührender Naivität die Schönheit der Ruhr-Landschaft besang, aber auch ein Klassenkämpfer, dessen Gedichte in der Bergarbeiterzeitung erschienen sind. Gesammelt liegen sie unter Titeln wie ?Aus Schacht und Hütte? und ?Was die Ruhr mir sang? vor. Darin ist auch die Ballade vom ?Grubenpferd? zu finden, eines edlen Rosses, das zum Arbeitstier unter Tage degradiert worden ist: SPRECHER 2: ZITAT 10: Heinrich Kämpchen, Das Grubenpferd. (...) Das edle Tier, an Licht und Luft gewöhnt Vom Sonnentag, verkümmerte ? sein Fell, Sonst weich und glatt, ward zottelig, und wund Ihm Kopf und Rücken vom Gestein der Decke, Zu niedrig für seinen hohen Wuchs. ? Es mußte ziehen und es zog ? die Geißel Des Treibers brach den Trotz ihm ? aber mehr Das Dunkel und die Moderluft des Schachtes. ? Ein Jammerdasein war?s dem edlen Roß. ? Die Schläge fielen hageldicht, so bald Der Wagenpark nicht schnell genug vom Schacht Zum Schachte flog ? ob schuldig oder nicht, Des Treibers Zorn zerfleischte ihm den Rücken. ? Da ? wieder traf sein armer Kopf der Schlag Von roher Faust, wie?s ihm so oft geschah ? Zerriß die Stränge es und stürmte fort, Durch?s Streckendunkel, sonder Halt und Ziel. ? War?s Wut, Verzweiflung, Freiheitsdrang, wer kündet?s ? Doch seiner Qualen Ende war?s ? man fand es, Den Kopf zerschellt, in einem Wassertümpel. ? Ein Pferd nur, bah, ein Grubenpferd, und darum So viele Worte ? hör? ich Leser sprechen. ? Ja, nur ein Pferd ? ihr habt mich nicht verstanden. ? MUSIK: Brownie McGee, Coal Miner Blues, Mundharmonika-Vorspiel (0:27) SPRECHER 1: Knapp 50 Jahre jünger als Kämpchen ist Hans Marchwitza, 1890 in Oberschlesien geboren, auch er Sohn eines Bergmanns. In seinem autobiographischen Roman ?Meine Jugend? schilderte er, der später in der DDR zu einem einflussreichen Kulturfunktionär aufstieg, die Arbeit, die er mit 14 Jahren aufnahm: SPRECHER 2: ZITAT 11 (Hans Marchwitza, Meine Jugend): Ich war Kohlenzuschmeißer auf der Buchatzgrube in einem vier Meter hohen, staubwallenden und nur von einigen Lampen erleuchteten Raum. ? Meine Hände brannten von dem ungewohnten Schaufeln, Blasen quollen darin auf und platzten. Ich blies alle Weilen hinein, schüttelte sie und klagte leise, wider Willen ... Die acht Stunden wurden mir ewig lang. Ich glaubte zeitweise, ich überlebte sie nicht mehr ... Keiner wollte es den anderen eingestehen, welche Qualen er wieder hinter sich hatte ... Aber über Tage unter den anderen machte ich mich wieder männlich. Ich hatte schon mehrere Male meinen Lohn ausbezahlt bekommen; es war nicht viel, denn ich bekam nur fünfundsiebzig Pfennig für die Schicht. (MUSIK einblenden, Mundharmonika-Vorspiel unter den Text legen) Brownie McGee, Coal Miner Blues I?m just a poor coal loader, I?m diggin? deep down in the mine I?m just a poor coal loader, diggin? deep down in the mine Well the harder I work for my woman, she treats me so unkind Now I?m getting tired of workin?, cause I believe I?ve got a hunch I?m getting tired of workin?, cause I believe I?ve got a hunch Lord I had to go into the mine, with cornbread in my lunch Sometimes I call my woman, call her ?bout five o?clock Sometimes I call my woman, call her ?bout five o?clock I?m goin? down into the mine, sverin? that coal from the rock Play it! Mmmm, I work from sun to sun Mmm, I work from sun to sun I?m talkin? about a hard minin? man, cause his work is never done (ausblenden) SPRECHER 1: Von der Gefährlichkeit der Arbeit im Bergwerk erzählt Anna Seghers in ihrem Roman ?Die Rettung?, der mit dem Satz beginnt: SPRECHERIN: ZITAT 12 (Anna Seghers, Die Rettung, S. 7): Siebenhundert Meter unter der Erde, in dem Spalt, worin sie zu siebt auf ihre Rettung warteten, ungefähr am sechsten Tag nach dem Unglück, erlosch das Licht ihrer letzten Grubenlampe. SPRECHER 1: Sieben Männer sind es, die da im Dunkeln ausharren und auf Rettung hoffen. Der Häuer Bentsch ist so etwas wie ihr Anführer, einer, der die Ruhe nicht verliert und dem die anderen vertrauen. SPRECHERIN: ZITAT 13 (Anna Seghers, Die Rettung, S. 8): Bentsch sagte: ?Dunkel wird?s jede Nacht. Das verlängert?s nicht und verkürzt?s nicht.? Er spürte wie die Dunkelheit seine Atemnot verstärkte. Die Luft war noch schwerer und zäher. Er hätte gern gewusst, wer unaufhörlich die Stirn an seinem bloßen Rücken rieb, schämte sich aber für den anderen, ihn abzutasten oder ihn zu fragen. SPRECHER 1: Anna Seghers lässt keine Verzweiflung aufkommen. Bentsch sorgt dafür, dass die Verschütteten sich als Gemeinschaft empfinden. Einer erzählt Geschichten, um die Zeit und die Angst zu vertreiben. Wasser und Brotreste werden gerecht geteilt. Bentsch gibt die richtigen Kommandos, und als einer in Panik um sich zu schlagen beginnt, ringt er ihn nieder und hält ihn fest. Anna Seghers baut diese Figur als vorbildlichen Arbeiter auf, als Prototyp des solidarischen Führers, dem die anderen schließlich ihr Überleben zu verdanken haben. Berührungen, sich aneinander Festhalten, die körperliche Nähe sind dabei besonders wichtig. Die Arme und die Beine der Verschütteten ? einer hat den Oberschenkel gebrochen ? sind ineinander verschlungen und werden im Dunkel zu einem einzigen Leib. Das Kollektiv hält die bedrohliche Situation besser aus als jeder Einzelne für sich, ja, es stärkt sich in der Gefahr. SPRECHERIN: ZITAT 14 (Anna Seghers, Die Rettung, S. 26f): Plötzlich war seine Atemnot weg und sein Durst und die Not der Unbeweglichkeit. Er fühlte sich unsagbar wohl. So wie er jetzt gebettet war, lag er richtig. Nichts konnte ihn mehr von den Seinen trennen. Niemand konnte mehr sein Fleisch von dem ihren absondern. Niemand konnte mehr ?Bentsch!? rufen, dass ein Ruck durch seinen Kopf ging, seine Arme und Beine, dass er aufstand und allein war. Das war endlich der Friede, den er sich immer gewünscht hatte. Es war kein bloßer Wunsch, keine windige Hoffnung. Es gab ihn wirklich. SPRECHER 1: Der Roman spielt in den Jahren 1929 bis 1933, in den Jahren der großen Weltwirtschaftskrise. Das ist die eigentliche Bedrohung. Die verschütteten und ganz auf sich selbst zurückgeworfen Männer erlben dagegen so etwas wie das Glück des Miteinander als konkrete soziale Utopie des gelebten Augenblicks. Nach ihrer Rettung zerfällt diese so körperlich empfundene Gemeinschaft. Im weiteren Verlauf ihres Romans schildert Anna Seghers gerade das Zerbrechen der Solidarität unter den Arbeitern ? und wie die Nazis sich diese Uneinigkeit zunutze machen. Geschrieben im Exil, erschien das Buch 1937, entfaltete aber erst in der Ausgabe von 1947 im Aufbau Verlag seine Wirkung. In der DDR konnte es als Plädoyer für die Einheit der Arbeiterklasse und die führende Rolle der SED in Dienst genommen werden. MUSIK: The Carter Family: Coal Miner?s Blues (Intro, 0:00 ? 0:16) SPRECHER 1: Im Westen machte zur selben Zeit ein junger Mann eigene Erfahrungen 950 Meter tief unter der Erde: Günter Grass verdingte sich 1946 als Koppeljunge in einem Kali-Bergwerk. Oft fiel dort unten der Strom aus, und in den Stunden, die sie gemeinsam im Dunkel ausharrten, hörte er den Diskussionen der Kumpel zu. Da formierten sich rasch die alten Gruppen wie in der Weimarer Republik: Kommunisten, Sozialdemokraten und Nazis. Und Grass erlebte, wie sich immer wieder die Kommunisten mit den Nazis gegen die Sozialdemokraten verbündeten. Das ist eine seiner politischen Urerfahrungen, die ihn in die SPD führte und seine Aversion gegen jeden Extremismus begründete. So lässt sich mit Günter Grass und Anna Seghers die unterschiedliche ideologische Ausrichtung von Bundesrepublik und DDR aus der Tiefe des Bergwerks verstehen: So wie die Menschen dort unten miteinander umgehen, so wird es auch oben in der Gesellschaft sein. MUSIK: The Carter Family: Coal Miner?s Blues (0:17 ? 1: 15) Some blues are just blues, mine are the miner's blues Some blues are just blues, mine are the miner's blues My troubles are coming by threes and by twos Blues and more blues, it's that coal black blues Blues and more blues, it's that coal black blues Got coal in my hair, got coal in my shoes (ausblenden) SPRECHER 1: Die Welt der Arbeit hat immer eine merkwürdige Faszinationskraft auf Intellektuelle ausgeübt. In der Bundesrepublik entstand in den 60er Jahren die Schreibbewegung ?Greif zur Feder Kumpel?, und als Parallelaktion zur ?Gruppe 47? wurde in Dortmund die ?Gruppe 61? gegründet, in der Arbeiter-Schriftsteller wie Max von der Grün Bedeutung erlangten. Noch in den frühen 70ern verteilten die revolutionär gesinnten Studenten ihre maoistischen Flugblätter vor den Fabriktoren und glaubten daran, selbst ein Teil des Proletariats zu sein. Das änderte aber nichts daran, dass der große Bereich der Arbeit in der westdeutschen Literatur eher selten zum Thema wurde. ? Die DDR-Gesellschaft definierte sich dagegen primär über die Arbeit. Die ganze Aufbau-Literatur der 50er Jahre, Romane wie Erik Neutschs ?Spur der Steine? erzählen davon. Es gehörte zur offiziellen Ideologie des ?Bitterfelder Weges?, dass Schriftsteller Erfahrungen in der Produktion sammeln sollten, um die Gesellschaft an der Basis ? und das heißt: bei der Arbeit ? kennenzulernen. Schriftsteller gingen in den Fabriken in die Lehre und leiteten, um auch etwas zurückzugeben, dort die ?Zirkel schreibender Arbeiter?. SPRECHERIN: ZITAT 15 (Brigitte Reimann, Briefe an die Eltern, S.8): Einen schreibenden Arbeiter haben wir schon kennengelernt. Er gab ziemlich an, und hinterher hörten wir, dass er ein fauler Kunde ist. Der Zirkel hier ist überhaupt sehr blöd; es gibt, heißt es, keine echten Talente darin. Trotzdem werden wir ihn am nächsten Dienstag mal besuchen; wir wollten ja gern einen Zirkel leiten, und wenn man unter zwanzig Nieten eine Begabung findet, lohnt die Sache. SPRECHER 1: So offen wie Brigitte Reimann im Brief an ihre Eltern äußerten sich nur wenige derer, die in die Produktion gingen. Sie zog 1960 nach Hoyerswerda und arbeitete im Kombinat Schwarze Pumpe und betrachtete diese Erfahrung durchaus positiv: SPRECHERIN: ZITAT 16 (Brigitte Reimann, Briefe an die Eltern, S.19): Ich bin sehr froh über diese Lösung, denn ich brauche diesen Kontakt unbedingt für mein neues Buch, und wenn ich in der Werkstatt die nötigen Erkenntnisse gesammelt habe und so rasch weiterarbeite wie jetzt, kann ich das Buch schon im Sommer abschließen. SPRECHER 1: Zwiespältig dagegen die erste Begegnung mit dem ?Zirkel schreibender Arbeiter?, die sie in ihrem Tagebuch festhielt: SPRECHERIN: ZITAT 17 (Brigitte Reimann, Ich bedauere nichts, Tageb. 1955-1963, S.134f): Vorige Woche hat sich der Zirkel schreibender Arbeiter konstituiert. Von 20 Eingeladenen waren 4 erschienen; keine Potenzen, nehme ich an. Nur der kleine Volker Braun, Abiturient und seit 4 Jahren in der Produktion, scheint begabt zu sein. SPRECHER 1: Der ?kleine Volker Braun?, den Brigitte Reimann erwähnte, schrieb damals an einem Theaterstück über die Produktionsbedingungen im Braunkohletagebau. ?Die Kipper? lieferte eine Analyse sozialistischer Arbeit, die in ihrer Stupidität so gar nichts von der erhofften Selbstbefreiung nach der Verstaatlichung der Produktionsmittel zum Vorschein brachte. Das Stück zeigte auch, dass es mit Arbeitsschutzmaßnahmen im volkseigenen Betrieb im Zweifelsfall nicht weit her war. Die Erfüllung der vorgegebenen Normen war ein höheres Ziel als die Sicherheit des Einzelnen. Es dauerte mehr als zehn Jahre, bis Brauns ?Die Kipper? ? mehrfach überarbeitet ? in der DDR erscheinen konnte. Dieser Effekt stellte sich in der DDR immer wieder ein: Wenn die Schriftsteller ihren Auftrag tatsächlich ernst nahmen und die Produktionsbedingungen realistisch beschrieben, gerieten sie in Konflikt mit der Politik. Denn Realismus hieß ja nicht, das Bestehende zu beschreiben, sondern das, was Ideologen für Wirklichkeit halten wollten. SPRECHER 2: ZITAT 18 (Volker Braun, das unbesetzte Gebiet, S. 69): Da man nun einmal vor Ort hauen muss, gehen wir in den Berg, einmal da, einmal dort eine Schicht zu fahren, ein Flöz anzuschneiden und Proben zutage zu fördern; so tief wir eben gelangen und wo in der Gegenwart wir fündig werden. Das bergmännische Verfahren, so sehr es im Dunkeln gräbt, ist das der Literatur gemäße, und auch die Freude, das Bangen, ein Licht anzuzünden (bei der Nacht), ist mir seit der Verdunkelung im Krieg vertraut. Indes, wir kehren nirgends auf Dauer an; weshalb wir wohl seltsame Bergleute sind. SPRECHER 1: Das Dunkel überwinden, das Material durcharbeiten, neue Flöze entdecken: Die Arbeit im Bergwerk wurde für Volker Braun zu einer Metapher für das Schreiben. Der Bergarbeiter ist damit ein natürlicher Verwandter des Schriftstellers - nur dass der eine Bodenschätze sucht, der andere Worten und Sinnzusammenhängen nachspürt. Aber beide bewegen viel taubes Gestein, müssen der Langeweile und der Gefahr trotzen und werden bei ihrer Arbeit stark mit sich selbst konfrontiert. // Damit mag es auch zusammenhängen, dass Franz Fühmann, der für viele der kritischen DDR-Autoren eine Art Mentor gewesen ist, das Bergwerk als seinen Ort entdeckte. Als Fühmann in den 70er Jahren dort einfuhr, musste er zuerst einmal lernen, dass die schöne Ideologie von der Nähe des Intellektuellen zum Proletariat in der Praxis nichts wert war. Es gab keine gemeinsame Sprache. Er musste zur Kenntnis nehmen, dass man da unten nicht ?Decke? und ?Boden? sagt, sondern ?First? und Sohle?, wie ihm der Obersteiger Busse süffisant erklärte. SPRECHER 2: ZITAT 19 (Franz Fühmann, Im Berg, S.9f): ?Dann ist der Kumpel schon sauer, eine Decke, sagt der, hab ich im Bett, und auf dem Boden, da hängt die Frau Wäsche auf; und wenn er dann noch was von ?Wand? liest statt vom ?Stoß?, weil Wände gibt?s in der Grube nicht, da schmeißt der Kumpel die Zeitung weg und sagt: ?Wieder so ein blöder Lügner?.? ? ?Ja aber?, wagte ich einzuwenden, ?der Journalist schreibt doch in erster Linie für Leser, die noch nie in einem Bergwerk waren, wie soll er denen denn das beschreiben? Schreibt er was von ?Sohle? und ?Stößen?, dann schmeißt der Leser die Zeitung weg und sagt: Das versteh? ich überhaupt nicht, das ist doch Blödsinn: eine Sohle hab? ich unten am Fuß, und von Stößen krieg ich blaue Flecke!? SPRECHER 1: Fühmann verwechselte dann auch noch ?Schacht? und ?Grube? und verzichtete weise darauf, die Frage nach der poetischen Wahrheit zu stellen. Doch die stellte sich von ganz allein. Als er nämlich wissen wollte, ob die Kumpel einen Bericht über ihre Arbeit in der Zeitung überhaupt lesen würden, sah der Obersteiger ihn bloß verdutzt an: SPRECHER 2: ZITAT 20 (Franz Fühmann, Im Berg, S.11): Natürlich lese er das nicht, er kenne doch, was er da unten mache, und solch ein Geschreibe interessiere ihn nicht! - Aber warum dann nicht ?Boden?, ?Decke? und ?Wand?, dass es die anderen Leser verständen? ? ?Weil?s gelogen ist!? sagte Obersteiger Busse und packte meinen Arm, und riss mich vom Gleis, auf dem uns donnernd ein Erzzug entgegenrollte. Musik: The Carter Family: Coal Miner?s Blues (1:20 ? 2:30) These blues are so blue, they are the coal black blues These blues are so blue, they are the coal black blues For my place will cave in, and my life I will lose You say they are blues, these old miner's blues You say they are blues, these old miner's blues Now I must have sharpened these picks that I use (ausblenden) SPRECHER 1: Die Bergwerke, in denen Franz Fühmann zu Besuch gewesen ist, sind heute alle stillgelegt. Er, der sich einst als Geologe vom Erdinneren angezogen fühlte, ist heute eher als Archäologe einer versunkenen Epoche zu lesen, die er selbst noch in voller Aktion erlebte. // Die Ruhrgebiets-Romane von Ralf Rothmann sind dagegen bereits im Bewusstein des Untergangs geschrieben. Rothmann benutzt all die Worte, die Fühmann erst mühsam erlernen musste, ganz selbstverständlich, aber doch mit dem Ziel, sie bewahren zu müssen. Wenn er Gezähekiste, Schrapper, Arschleder oder Streb benennt, hält er die Dinge im Verschwinden fest, als müsse er sie in einem Museum der Arbeit ausstellen. Auch Volker Braun kehrt in seinem neuen Roman ?Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer? noch einmal an seine einstige Wirkungsstätte im Lausitzer Tagebau zurück. Er besichtigt eine Arbeitsregion nach dem Ende der Arbeit. Was so aussieht wie eine mehrfach umgegrabenen Mondlandschaft wird noch in Jahrtausenden die Spuren der menschlichen Tätigkeit zeigen. SPRECHER 2: ZITAT 21 (Volker Braun, Machwerk, S. 13): Die Niederlausitz liegt heute ruhig rauchend da, eine Landschaft, durch die die Arbeit gegangen ist, berühmte Gegend, die es hinter sich hat und verlassen wurde von den Mannschaften und Maschinen, und nur Halden, Wüstungen, wiederbewachsene Böden sieht man, das Endbild großer Zeiten. Da war sozusagen das Heu gemacht und die Kohle gegessen, und die Straßen wurden hochgeklappt. Da gibt es verschwundene Orte, die auf den Landkarten, aber nicht auf der Erde zu finden sind, weil sie nichts mehr hergab und nichts weiter versprach (als einmal Ruhe, Erholung und dergl.), grau und nutzlos wie die Valleys in Wales. SPRECHER 1: Der Meister Flick aus Lauchhammer, den Volker Braun durch diese öde Gegend schickt, war einmal Experte für Katastrophen und Havarien im Tagebau. Heute ist er, wie so viele, arbeitslos und kann sich mit diesem Los nicht abfinden. Er ist in einer Gesellschaft aufgewachsen, die sich ganz und gar über die Arbeit definierte, und so erscheint er auch heute in voller Montur mit Helm und allem Werkzeug auf dem Arbeitsamt. Wohin er auch kommt, er will arbeiten und begreift es nicht, wenn andere nichts tun. In den einzelnen Episoden des Romans wird er zu einem Streikbrecher, einem notorischen Baumfäller als 1-Euro-Jobber und einem Abrisswütigen im Örtchen Horno, das weggebaggert werden soll. Denn so ganz hat es diese Gegend eben doch noch nicht hinter sich: Es wird immer noch weiter gegraben. Flick ist ein Ritter von der traurigen Gestalt, ein Don Quijote des Arbeitszeitalters, der die neuen Windmühlen bekämpft. SPRECHER 2: ZITAT 22 (Volker Braun, Machwerk, S. 123): Wer kann sagen, ob nicht die große Abrissarbeit im Osten, die Fabrik um Fabrik dem Erdboden gleichmachte, im Unterbewusstsein der Arbeiterklasse als ebenso hoher Punktsieg gefeiert wird? Über die Fron der Frühschicht, über Norm und Genörgel, Akkord und Rekord, die lebenswierige Mühle. (...) Sieh da, es war die Stunde, die Lohnarbeit auszurotten, die gleichförmige, stumpfsinnige Kläche, und wo man jammernd vorgab, das Werk seiner Hände wegzureißen, schlug man nur grimmig den Kerker zu Klump. SPRECHER 1: Doch der Tagebau ist keineswegs am Ende. Der Klimapolitik und Bürgerprotesten zum Trotz setzen die Energieversorger weiter auf Kohlekraftwerke und nehmen die weitere Zerstörung der Landschaft in Kauf. MUSIK: Gillian Welch, Miner?s Refrain (0:00-1:03) In the black dust towns of east Tennessee All the work's about the same And you may not go to the job in the ground But you learn the miner's refrain I'm down in a hole, I'm down in a hole, Down in a deep, dark hole I'm down in a hole, I'm down in a hole, Down in a deep, dark hole (ausblenden) SPRECHER 1: Es ist erst wenige Monate her, dass die Meldung aufschreckte, auch Nietzsches Geburtsort Röcken in Sachsen-Anhalt müsse dem Braunkohletagebau weichen und damit auch das Grab des Philosophen umgebettet werden. Diese Pläne sind noch nicht ganz vom Tisch. Eine Bestandsgarantie gibt es nur für Geburtshaus, Pfarrkirche mit Friedhof und Gedenkstätte, die dann vielleicht als eine Insel mitten in zerklüfteter Landschaft zu denken wären. Vor diesem möglichen Szenario erhält auch Nietzsches Gedicht ?Vereinsamt? eine ganz neue, dramatische Bedeutung: SPRECHER 2: ZITAT 23 (Friedrich Nietzsche, Vereinsamt): Die Krähen schrein Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnein, - Wohl dem, der jetzt noch ? Heimat hat! Nun stehst du starr, Schaust rückwärts, ach! wie lange schon! Was bist du Narr Vor Winters in die Welt entflohn? Die Welt ? ein Tor Zu tausend Wüsten stumm und kalt! Wer das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt. Nun stehst du bleich, Zur Winter-Wanderschaft verflucht, Dem Rauche gleich, Der stets nach kältern Himmeln sucht. Flieg, Vogel, schnarr Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! - Versteck, du Narr, Dein blutend Herz in Eis und Hohn! Die Krähen schrein Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schein, - Weh dem, der keine Heimat hat! SPRECHER 1: Dem Verlust der Arbeit steht der Verlust der Heimat gegenüber. Das ist die Alternative im Tagebaugebiet. Wer Arbeit hat, gräbt sich selbst den Boden weg; wer keine hat, hat auch keinen Boden unter den Füßen. MUSIK: Gillian Welch, Miner?s Refrain (1:05-2:00) When you search the rain for the silver cloud And you wait on days of gold When you pitch to the bottom And the dirt comes down You cry so cold, so cold I'm down in a hole, I'm down in a hole, Down in a deep, dark hole I'm down in a hole, I'm down in a hole, Down in a deep, dark hole (langsam ausblenden) SPRECHER 1: Eine literarische Figur, die mit dem Kohlezeitalter verschwindet, ist schließlich auch der Heizer. Mit der Kohle kommen ja nicht nur die in Berührung, die sie fördern, sondern auch die, die sie verbrennen: in Kraftwerken oder in den Heizanlagen der Fabriken, in alten Dampflokomotiven oder ?Schiffen. Auf einem Schiff nach Amerika war Kafkas Heizer unterwegs, wohl der berühmteste und erste in der literarischen Reihe dieses fast ausgestorbenen Berufsstandes. Der Heizer stand am Ende der sozialen Hierarchie. In der DDR war es der Beruf der Abgeschobenen, die in der Produktion nicht zu gebrauchen waren oder aus politischen Gründen abgestraft wurden. Der Dichter Wolfgang Hilbig hat jahrelang als Heizer in seinem Heimatort Meuselwitz gearbeitet und über ?Die Arbeit an den Öfen? geschrieben. SPRECHER 2: ZITAT 24 (Wolfgang Hilbig, Die Arbeit an den Öfen, S. 11f): Durch die in Kopfhöhe befindlichen Sichtklappen der geschlossenen Kessel war zu sehen, dass nicht abgeheizt war, sondern alles sorgfältig präpariert für das Anheizen in der Nachtschicht: unter einen dicken Lage von Asche wurde ein Glutbett aufbewahrt, das man durch kräftiges Arbeiten mit den beweglichen Rüttelrosten freilegte, danach entfernte man mit einem Haken die Schlacke, nun wurde Kohle (es war leider, schon über die gesamte Heizperiode hinweg, die denkbar schlechteste Kohle) aufgeschüttet, sie war ebenfalls schon vorbereitet, und alle Zugklappen im unteren Kesselbereich wurden geöffnet und der Saugzug in Betrieb genommen. Dieser war eine Maschine, die von den Heizern äußerst ungern benutzt wurde, und sie manifestierten ihre Abneigung durch bloßes Weglassen eines Buchstabens: Sauzug, so nannten sie die Einrichtung. Sie diente dazu, Luft anzusaugen und durch den Feuerraum des Kessels zu jagen; dies tat sie unter ohrenbetäubendem Geheul, außerdem wurde die Verbrennung um ein Mehrfaches beschleunigt. Unter normalen Umständen (wenn also wirklich brennbare Kohle da war; der seit einem halben Jahr angelieferte Brennstoff glich, nach übereinstimmenden Aussagen aller Heizer, vielmehr dem Abraum, der über den Kohleschichten im Tagebau lagerte) verschlangen die Kessel bei laufendem Saugzug die doppelte Kohlemenge, und damit auch die doppelte Arbeitskraft der Heizer. SPRECHER 1: Wolfgang Hilbig beschreibt die DDR-Gesellschaft aus der Perspektive des Heizungskellers. Ein LKW liefert dort Bücher und Druckschriften an, die von der Parteileitung ausgemustert wurden und nun verbrannt werden sollen. Weil die dicken Papiere Ofen und Abzug verstopfen, kommt es fast zu einer Katastrophe. SPRECHER 2 ZITAT 25 (Wolfgang Hilbig, Die Arbeit an den Öfen, S. 21f): Von einem Aufschrei wurde er plötzlich hinaus in den Hof gerufen. Einer der Genossen (...) zeigte mit ausgestrecktem Arm über das Kesselhaus hin, wo, hinter dem Gebäude, der hohe, aus gelben Klinkern gemauerte Schornstein stand und das Dach überragte. Aus diesem schoss eine schwarze Fontäne, die bei ihrem Austritt noch rot durchglüht war; C., neben seinen beiden Auftraggebern, die ihn anstarrten, als sei er von Sinnen mit dem, was er da anrichtete, betrachtete das Bild ungerührt, aber nicht ohne Interesse: heulend und orgelnd warf der Saugzug das halbverbrannte und noch brennende Papier durch den Kamin gen Himmel. SPRECHER 1: Hilbig war der Heizer unter den Literaten. Mit dem Element der Kohle war er so sehr verbunden, dass seine Schriftsteller-Kollegin Katja Lange-Müller ihm ein Brikett ins Grab warf, als er im Sommer 2007 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin begraben wurde. Polternd schlug es auf dem Sargdeckel auf. MUSIK: Gillian Welch, Miner?s Refrain (1:05-2:00) When you search the rain for the silver cloud And you wait on days of gold When you pitch to the bottom And the dirt comes down You cry so cold, so cold I'm down in a hole, I'm down in a hole, Down in a deep, dark hole I'm down in a hole, I'm down in a hole, Down in a deep, dark hole (langsam ausblenden) SPRECHER 1: Den einstweilen letzten Auftritt in der deutschen Literatur erlebte der Heizer in Lutz Seilers mit dem Bachmannpreis ausgezeichneter Erzählung ?Turksib?. Er hat sich weit in den Osten zurückgezogen, in eine geographische Region mithin, in der das, was hier bei uns verschwunden ist, noch ein wenig länger überdauert. Reisen in den Osten sind ja immer auch Reisen in die Vergangenheit. Der Erzähler in Seilers Geschichte fährt mit dem Zug durch Kasachstan und trifft dort im Gang zwischen den Waggons auf den uniformierten Heizer, der auf den Deutschen nach einem ersten, militärischen Gruß bemerkenswert reagiert: SPRECHER 2: ZITAT 26 (Lutz Seiler, Turksib, S.20): Noch während ich sprach, hatte der Heizer die Lippen gespitzt; seine fein von Ruß umsäumten Augen fixierten meinen Mund, doch die Übersetzung erreichte ihn nicht mehr. Erst, als rutsche Kohle nach in seinem Tender, dann mit einer mühselig aus der Tiefe schürfenden, die Vokale überdehnenden Stimme und ohne sich auch nur im Geringsten aus seiner angespannten Haltung zu lösen, begann er zu sprechen: Ihrweiss niehrt, wahs sohlbe deute, / dass ihrrsoo trau riehrrtbien / eimährre aussallteseite ... SPRECHER 1: Das erlösende ?Das kommt mir nicht aus dem Sinn? aus dem berühmten Gedicht von Heinrich Heine will ihm nicht mehr einfallen. Der Text hakt, und damit droht auch die deutsch-russische Begegnung zu scheitern ? bis der Schlag einer Gleisschwelle die beiden gemeinsam zu Boden wirft und unfreiwillig vereint: SPRECHER 2 ZITAT 27 (Lutz Seiler, Turksib, S.26f): Dabei war der Heizer, auch wenn er es noch so gewollt hatte, nicht imstande gewesen, seinen Kuss mit der gebotenen Flüchtigkeit zu lösen. Im Gegenteil. Seine Zähne hatten sich fest zwischen meine Lippen gedrückt, und in der beschämenden Hilflosigkeit, die der Heizer und ich jetzt teilten, war deutlich zu spüren gewesen. Wie ein Schwall seines warmen, kohligen Atems in mich stieß, an dem ich ? orientierungslos und überwältigt ? immer noch schluckte, würgte und schluckte. SPRECHER 1: Mit dieser Szene endet die Spur der Kohle in der Literatur, vorerst. Noch einmal scheint darin alles auf, was die Kohle und den Kohlenarbeiter so faszinierend machte. Noch einmal treffen der Schriftsteller und der Proletarier aufeinander, doch ihre erotische Verschmelzung ist nur noch beängstigend. Der kohlige Atem des Heizers erinnert an das Todesmotiv der schwarzen Romantik. Doch es ist der Heizer selbst, der im Dampf verschwindet, so wie all die Bergmänner und die Bergarbeiter vor ihm. MUSIK: Ricky Skaggs: Coal Minin? Man Daylight or dark in rain or shine It don't much matter down in the mine Where the tunnel's deep Lord the air gets thin That's the way of life for the minin' man His lungs are weak his back is gone His sixty years are plainly shown Lived half his life down in the ground A cold steel hammer rings a mournful sound Daylight or dark in rain or shine... I'll tell you son he said to me There's just two things I pray to see That the day my Savior calls me home And to see my son stop minin' coal Oh daddy dear I'll tell you true There's nothing else for me to do But to make my livin' underneath this land And live and die a coal minin' man Daylight or dark in rain or shine ... 13