Deutschlandradio Kultur, Deutschlandrundfahrt, 27.10.2007, 15.05 Uhr ?Sushi-Schalen statt Kaffeekannen ? Typisch Kahla in Thüringen? Von Mandy Schielke --- Kennungsmusik, O-Töne drauf, dazwischen Musik steht für einen Moment hochkommen lassen O-Ton Bernd Leube: II 8 9.40 plus 9.00 ?Gäste, die von weit herkommen und Kahla zum ersten Mal sehen, bescheinigen uns die Schönheit dieser alten, historischen Stadt. Eine Schönheit, die wir als Kahlsche - so heißen wir nämlich - gar nicht mehr sehen.? O-Ton Frank Meinhardt: 19 4.22 ?Wenn man in Kahla wohnt und kein Kahla-Porzellan hat, da passt was nicht. Das kann nicht sein.? O-Ton Heinz Berger: II 5 8.48 ?Die blaue Farbe, ich will es mal so sagen, war Arme-Leute-Geschirr, was die Reicheren waren, die hatten weiß, das ?weiße Gold? nannte sich das auch. Die hatten weiß gehabt mit Gold verziert.? O-Ton Günther Raithel: I 7 7.50 ?Wenn man sagen kann, wir haben 60 internationale Designpreise, wenn sie mir das vor vierzehn, fünfzehn Jahren gesagt hätten, hätte ich gesagt, sie sind ein Fantast. Das geht nie. Es war möglich.? Sprecher: Sushi-Schalen statt Kaffeekannen ? Typisch Kahla in Thüringen. Eine Deutschlandrundfahrt mit Mandy Schielke. I. KAHLA ? EINE ANNÄHERUNG Atmo: III 1 7.20 ? 8.20 Auf dem Waldweg Autorin: Es regnet. Ein Radweg führt an Buchen und Birken vorbei. Rechts ein Felsvorsprung, links rauscht die Saale, grau an diesem Herbstmorgen. Die drei Radfahrerinnen in modernen, luftdurchlässigen Outdoor-Jacken stört der Nieselregen offenbar überhaupt nicht. Eine steigt ab, schaut nach links, kneift die Augen zusammen. Sie versucht die Dächer von Kahla auszumachen. Erfolglos. O-Ton Frau: III 1 0.04 ?Ne, da sind die Bäume davor. Leider. Aber wir haben hier übernachtet, wir haben den Ort angeguckt. Ist sehr hübsch.? Autorin: Und wie heißt die Burg weit oben über dem Felsvorsprung? O-Ton Frau: III 1 0.38 ?Das weiß ich jetzt nicht. Das kann ich nicht sagen. Die Lichtenburg. Gel. Ja. Die Burg ist da.? Autorin: Der Bürgermeister der Stadt, die man nicht so richtig sehen kann, eilt herbei, mischt sich ein. O-Ton Bernd Leube: III 1 0. 50 ?Leuchtenburg auf dem Lichtenberg. Fast richtig.? (kichern) Autorin: Bernd Leube war mal Lehrer. Er ist frisch rasiert, ein bisschen blass, und trägt ein olivgrünes Oberhemd unter dem hellgrauen Anzug, der an den Schultern ein bisschen zu groß ist. Man kann die Stadt vom Saale- Radwanderweg, wo jährlich Tausende Touristen entlang radeln einfach nicht sehen. O-Ton Bernd Leube: III 1 1.28 ?Man fährt auf dem schönen Radwanderweg mitten durch das Grün an Kahla vorbei. Und wenn man Kahla sehen will, dann muss man durch ein paar Äste lugen und kann dann ein paar Häuser erkennen. Aber schon gar nicht diese wunderschöne Silhouette, dieses stufenhaft aufgebaute Bauwerkensemble oberhalb der Stadtmauer.? Autorin: In 200 Meter Entfernung, im Tal, die Stadt. Der Sportplatz liegt dazwischen und eben die Saale. O-Ton Bernd Leube: II 8 8.00 ?Man kann sich die Gegend ohne die Saale gar nicht vorstellen. Die Saale hat dieses Tal zwar nicht geformt, das war ein Grabenbruch aber die Saale strömt durch ihre ruhige Art des Dahinfließens die Ruhe aus, die die Wanderer, die die Spaziergänger hier genießen und sagen. Kahla an der Saale. Das gehört zusammen.? Musik 1: RIAS Orchester: ?An der Saale hellem Strande?, Komposition: F.E. Fesca / Text: F. Kugler Sonoton, LC 07573, Bestell-Nr. SCE 001 II. WIE SIE SEHEN, SEHEN SIE NICHTS Autorin: Kahla, Kleinstadt in Thüringen, im südlichen Saaletal, nur 80 Kilometer von der bayrischen Landesgrenze entfernt. O-Ton Bernd Leube: II 8 9.40 plus 9.00 ?Gäste, die von weit herkommen und Kahla zum ersten Mal sehen, bescheinigen uns die Schönheit dieser alten historischen Stadt. Eine Schönheit, die wir als Kahlsche- so heißen wir nämlich - gar nicht mehr sehen.? Autorin: Und manchmal einfach auch nicht sehen können. Ein anderes Beispiel. Atmo: Bundesstraße II 12 2.27 ? 2.48 Autorin: Auf der Bundesstraße auf der anderen Seite der Stadt braust der Verkehr durchs Tal in Richtung Jena. Kaum ein Auto biegt ab, folgt dem Straßenschild mit dem Pfeil und dem Schriftzug: ?Historische Altstadt.? Sie ist auch nur zu erahnen. Hochgewachsenes Gestrüpp versperrt die Sicht. O-Ton Bernd Leube: II 12 6.05 ?Wie sie sehen, ist nichts zu sehen.? Autorin: Früher waren auf dem Grundstück, das jetzt die Sicht versperrt, Schrebergärten und eine Schlosserei. Seit über zehn Jahren aber liegt es brach und ja, es sieht fürchterlich aus, sagt der Bürgermeister beschämt. Die Stadt will das Grundstück kaufen, eine Schneise schlagen. Die Gäste die durch das Saaletal fahren, sollen sehen wie hübsch die alte Porzellinerstadt ist, schon von weitem. Der Eigentümer will verkaufen. Das ist gut. Aber. O-Ton Bernd Leube: II 12 7.40 ?Leider werden ja zunehmend diese nicht mehr bewirtschafteten Kleingartengrundstücke von so genannten schwarzen Schafen in unserer Bevölkerung als wilde Mülldeponie benutzt, und so liegen da einige Säcke mit Hausmüll oder gar Sondermüll, Autoreifen und Ähnliches in den Gebüschen versteckt. Das Zeug muss entsorgt werden und das ist aus der Portokasse nicht zu machen.? Autorin: Und deswegen muss er jetzt Förderanträge schreiben. Er kennt das Spiel. Im nächsten Frühjahr soll alles erledigt, der Blick auf die Altstadt endlich frei sein, hoffentlich. III. DIE STADT, DIE MENSCHEN Autorin: Kahla liegt an der ehemaligen Handelsstraße zwischen Nürnberg und Naumburg. 876 wird die Stadt erstmals urkundlich erwähnt. Dem Kloster Fulda wird in einer Urkunde die Zehntenpflicht von 117 Ortschaften bestätigt. Kahla ist damals eine davon. Atmo: In der Stadt, Auto fährt über Kopfsteinpflaster Autorin: Kopfsteinpflaster zieht sich durch das verwinkelte mittelalterliche Zentrum, das im Krieg im Gegensatz zum 15 Kilometer entfernten Jena nicht beschädigt wurde. Rechts und links dreistöckige Wohn- und Geschäftshäuser. Das älteste Steinhaus ist über 400 Jahre alt. Die Fassaden sind schlicht, aber saniert und frisch angestrichen. Rund um den Marktplatz, wo auch das Rathaus steht, sind sie aufwendig gestaltet mit Erkern und verzierten Fensterbögen. O-Ton Bernd Leube: II 8 0.27 ?Leider ist in den Jahren der DDR kaum in die Schönheit dieser Altstadt investiert worden, besonders die letzten 10 Jahre. Kahla ist übrigens über 1130 Jahre alt. Ist sehr vieles verfallen. Die schlechten Fassaden, die sie jetzt noch sehen, etwa 10 Stück, so muss man sich Kahla 1990 vorstellen, Braunkohlenheizung, graue Fassade, kaum schöne Farbe dran.? MUSIK 2: Air: ?Once upon the time? Komposition: Jean-Benoit Dunckel / Text: Nicolas Godin Virgin, LC 03098, Bestell-Nr. 383761-2 Autorin: Seit der Wende sind viele Familien weggezogen, vor allem junge Leute, meistens in den Westen. Der ist nicht weit. 7500 Menschen leben heute in Kahla. Früher waren es 10 000. Fast jeder fünfte ist jetzt ohne Arbeit. Damals hatte jede Familie mindestens ein Mitglied, das in der Porzellanfabrik arbeitete. Heute schaffen eine Keksfabrik und eine Firma für Zahnbohrer die meisten Arbeitsplätze, sagt der Bürgermeister und trotzdem sind es nicht die Kekse oder die Zahnarztutensilien mit denen sich die Menschen identifizieren, sondern es ist das Porzellan. Kahla Porzellan. Traditionen sind eben langlebiger als der Zeitgeist. O-Ton Bernd Leube: II 8 5.32 ?Das Porzellanwerk, seine Ergebnisse, die vielen Designerpreise, seine Marktstellung in Europa erfüllt die Kahlerer Bevölkerung mit Stolz. Man redet voller Stolz von den Produkten, die im Porzellanwerk ständig neu erfunden werden und sagen, das ist unser Porzellan. Und sehr oft kommen Besucher nach Kahla und sagen: Kahla kenn ich, das ist doch Porzellan.? Autorin: Der Stadtarchivar geht auf der anderen Straßenseite. Er macht seinen Vormittagsspaziergang. Heinz Berger ist 79 Jahre alt. Er geht gebeugt, aber sein Körper ist drahtig. Kommt vom Fahrradfahren, sagt er und grinst. Aus ihm sprudeln die Geschichten, die Kahla geprägt haben und ja, sogar Martin Luther sei einmal in der Stadt gewesen und habe hier gepredigt, 1524. Dann will er zur Stadtmauer. Sie ist nämlich fast vollständig erhalten. Er kramt einen kleinen, weißen Zettel aus der Gürteltasche. O-Ton Heinz Berger: VI 7 0.38 ?Die Stadtmauer ist 1322 Meter lang um die Stadt herum. Fünf bis neun Meter hoch und ein Meter dreißig bis ein Meter sechzig stark.? Autorin: 20 Jahre hat es gedauert bis sie fertig war, sagt er belehrend. Dort wo einst der Stadtgraben war, wachsen jetzt Brennnesseln, dicht an dicht. Dann blickt er nach Osten zur Leuchtenburg oben über dem Dohlenstein. Ein Orientierungspunkt fast überall in der Stadt. O-Ton Heinz Berger: VI 8 0.18 ?Das kann man auch früh schon sehen, da kommt die Sonne immer hinter der Burg hoch. Das ist eben schön.? Atmo 8 1.00 ? 2.00 plus Treppe 9 0.00 In der Stadt Autorin: Außerhalb der Stadtmauer und dem historischen Stadtkern ist das Gymnasium. In einem alten Backsteinhaus. Atmo: VI 20 ab 0.30 Auf dem Schulhof ab 1.55 im Schulhaus Autorin: Die Hofpause ist zu Ende, schnell und gleichförmig strömen die Mädchen und Jungen hinein ins Schulhaus. An den Wänden im Flur hängen Fotokollagen. Die Aufnahmen sind nur wenig belichtet. Die Schüler am Brennofen sehen klein aus. Andere Wandtafeln erklären den Werkstoff Porzellan, der die Stadt seit über 160 Jahren bestimmt hat. Niklas Kroll, ein großer schlaksiger Junge aus der zwölften Klasse erzählt von der Partnerschaft des Gymnasiums mit dem Porzellanwerk, darüber, dass er und seine Mitschüler durch Seminare dort mitbekommen, was das ist: die Arbeitswelt. Auch im Ethikunterricht gehen die Schüler schon mal ins Werk, reden über Arbeitslosigkeit und Verantwortung, erzählt er. Sein Vater arbeitet in der Porzellanfabrik, in der Geschäftsführung. Niklas hat vor, Ingenieur zu werden, mit Porzellan aber will er nichts zu tun haben. Trotzdem. O-Ton Niklas Kroll: VI 22 2.10 ? 2.25 ?Diese Zusammenarbeit bringt auch viele Möglichkeiten sich allgemein was Wirtschaft betrifft weiterzubilden und da mal Vorstellungen zu sammeln und das hilft ja auch dann weiter, wenn man jetzt nicht direkt im Porzellanwerk arbeitet, sondern sich einen anderen Beruf sucht oder auch ins Studium geht irgendwann. Dass man eine Vorstellung davon hat und nicht nur den theoretischen Unterricht kennt.? Autorin: Ein anderer erzählt, dass er ein Praktikum in der Marketingabteilung bei Kahla Porzellan gemacht hat und darauf hofft auch nach dem Studium von den internationalen Kontakten des Werkes zu profitieren. Atmo: VI 14 plus 14 2.12 Stimmen und Musik im Jugendclub, bitte erst freistehen lassen Autorin: Der Jugendclub JC Screen ist gleich um die Ecke. Er ist in einem Flachbau untergebracht, schmal und lang gezogen wie eine Baracke. Es ist Nachmittag geworden. Die Fenster sind weit geöffnet. Kinder stehen am Billardtisch. Ihre Baseballmützen haben sie tief ins Gesicht gezogen, so dass man kaum glauben kann, dass sie wirklich sehen, was sie da machen mit ihren Queues. Draußen auf den Steinbänken lungern die Älteren umher, rauchen. Stefan ist 21 und hat gerade eine Ausbildung angefangen. O-Ton Stefan Gerlach: 1 VI 12 0.42 ? 0.46 ?Kahla ist eine schöne ruhige Stadt. Ist nicht so groß wie Gera, hier hat man auch nicht so viele Möglichkeiten, Geld auszugeben.? Autorin: Sarah ist hübsch geschminkt, geht aufs Gymnasium und kann Stefans Zufriedenheit überhaupt nicht verstehen. O-Ton Mädchen: VI 13 3.16 ?Ich persönlich will irgendetwas mit Versicherungen machen und da habe ich in Kahla keine großen Chancen.? Autorin: Und was ist mit dem Porzellanwerk? Ja, unsere Eltern und Großeltern sie hatten irgendwie alle was damit zu tun, sagen sie. Aber jetzt ist das eben anders, findet Frank, groß und hager, auf seiner Nase sitzt eine Nickelbrille. O-Ton Frank: VI 12 1,42 ?Porzellanwerk auf keinen Fall, weil ich anderen Vorstellungen habe von meinem späteren Leben.? Autorin: Er macht sich und Stefan ein Bier auf. Stefan nimmt lässig einen Schluck. Er will noch was sagen. O-Ton Stefan Gerlach: VI 12 4.03 ?Ich hab Kahla Porzellan zu Hause, hab ich geschenkt bekommen. Das ist Neues. Es ist schon schön aber so herausragend ist es nun nicht unbedingt.? Autorin: Die 18Jährige Sarah, die, die weg will, kneift ihre hübschen Augen zusammen und schüttelt den Kopf. O-Ton Sarah: VI 12 1.55. ?Das ist Kult, das muss man haben. Hat überall, jeder.? Musik 3: Chulcha Candela: ?Hamma? K: Andreas Herbig Polystar, LC 04324, Bestell-Nr. 5303739 Autorin: Das kleine Kahla ist umgeben von großen Bergen. Dem Pfaffenberg, dem Walpersberg, dem Hornissenberg und dem Lichtenberg, der größten Erhebung im mittleren Saaletal mit der Leuchtenburg. Die sieht man schon, wenn man die Autobahn A4 in Richtung Kahla verlässt. Ein Orientierungspunkt für alle Kahlschen. Atmo: VI 16 0.00 ? 17 Vor dem Rathaus Autorin: Es ist spät. Gleich wird es dunkel. Auf dem Marktplatz vor dem Rathaus wartet der Bürgermeister. Er steht neben dem gusseisernen Brunnen mitten auf dem Platz und erzählt, dass die Stadt nach der Wende so viel Geld in die Straßensanierung gesteckt hat, dass am Ende für den Brunnen nichts mehr übrig war. Also haben sich ein paar ?Kahlsche? zusammengeschlossen und den Marktbrunnenverein gegründet. Überhaupt gibt es in Kahla verblüffend viele Vereine, über fünfzig. Jedes Jahr am Tag der Einheit feierten die Marktbrunnenfreunde nun ein Volksfest vor dem Rathaus. Die Einnahmen legten sie für den Brunnen zurück. Irgendwann konnte der neue Brunnen angeschafft werden. O-Ton Bernd Leube: III 7 1.00 ?Nun fehlt auf der Mittelsäule noch die Schutzpatronin der Stadt, die heilige Margaretha mit ihrem Drachen, den sie da optisch bekämpft.? Atmo: III 7 5.00 plus 8 0.40 - plus Klavierspiel 8 1.00 ? 1.46 Treppen hoch im Rathaus, Rathaussaal aufgeschlossen Autorin: Die Schutzpatronin. Eine Frauenfigur. Ein Bein auf dem Drachen. In der rechten hält sie einen Spieß, den sie in das Ungeheuer gerammt hat. Margaretha hat das Böse besiegt, die Macht die sie vom christlichen Glauben abbringen will. Eine starke Frau als Sinnbild der Stadt. Überall in Kahla sieht man sie. Auch im großen Saal im Rathaus. Bernd Leube schließt die Tür auf, dann geht er hinein in diesen unglaublichen Kuppelsaal. An den Wänden hängen barocke, goldene Spiegel. Auch der üppige Stuck ist vergoldet, Engel und immer wieder die Gestalt der Schutzpatronin. Vor siebzehn Jahren durfte man den Festsaal nicht betreten, Einsturzgefahr. Das Dach war aufgerissen, so dass man direkt hinauf zum Himmel sehen konnte, erinnert sich der der 58Jährige. Jetzt feiern die betuchten Leute aus Jena hier Hochzeit, wie in einem Märchenfilm. Dann geht er auf die Bühne, setzt sich ans Klavier. Atmo: Klavierspiel Autorin: Seit siebzehn Jahren ist Bernd Leube Bürgermeister der Stadt, seine letzte Amtszeit ist angebrochen. Er ist verheiratet, sein Sohn studiert Politikwissenschaften. In seiner Diplomarbeit beschäftigt er sich mit der Rolle seiner Heimatstadt während der Märzrevolution 1848, erzählt der Vater stolz. Früher, vor der Wende war Bernd Leube Schuldirektor. Zu seinen Aufgaben zählte es auch, den Lehrern, die in den Westen fahren wollten, Beurteilungen zu schreiben. O-Ton Bernd Leube: II 11 0.50 ?Da kamen die Herren der Staatssicherheit, so ihre Kollegen wollen fahren, wir brauchen eine Beurteilung, da hat sich Leube hingesetzt und geschrieben, dass das klassenbewusste Lehrer sind, so wie die das hören wollten. Und von acht Lehrern sind vier nicht wiedergekommen. Sind drüben geblieben. Da hieß es Leube, das ist Deine politische Führung. Du bist Schuld, dass die nicht wieder gekommen sind.? Autorin: Irgendwann hat er selbst die Tochter eines Kirchfunktionärs für das Abitur vorgeschlagen. Man hat ihn immer mehr unter Druck gesetzt. Leube blickt nach unten, hält inne. Dann hat er das nicht mehr ausgehalten. Mehr sagt er nicht. Nur. O-Ton Bernd Leube: II ?Die beiden Ärzte, die mich behandelt haben, ein Allgemeinmediziner und die Psychologin, beide in diesem Neuen Forum, haben dann gesagt, wir haben ein neues Zuhause für Dich. Komm mal.? Autorin: Das war 1988. Direktor ist er erst einmal geblieben. In der Schule hat er das Klingelzeichen abgeschafft und lieber Musik durch die Lautsprecher schallen lassen. O-Ton Bernd Leube: II 11 2.59 ?Wenn ich aufgelegt habe, da kam Rolling Stones, Beatles, Deep Purple. Das waren so meine Truppen, weil ich selber Beatmusik gemacht habe. Und die Jungs und Mädchen haben dann eben schon Depeche Mode und AC/DC mitgebracht.? Autorin: 1990 kandidierte er dann auf der Liste des Neuen Forums für das Bürgermeisteramt. Musik 4: Hansi Biebl: ?Es gibt Momente? K: Hansi Biebl / Text: Kurt Demmler Colosseum, LC 03387, Bestell-Nr. CST 8206.2 IV. UNTERWEGS MIT DEM FABRIAKANTEN Autorin: Kahla war nie eine reiche, vornehme Stadt. Es war ein Ackerbürgerstädtchen bis 1844 das Porzellanwerk gegründet wurde. Atmo: Lüftung 17 8.00 oder II 1 0.30 Autorin: Die Luft ist trocken und warm in der Fabrikhalle, fast 30 Grad trotz der Lüftungspropeller, die alle Geräusche überdecken. Schuld sind die beiden Brennöfen. 250 Meter lang ist die Fertigungshalle des Porzellanwerks. An der Seite kann man einen langen Blick durch die sechzehn Hallenschiffe werfen, der irgendwann verschwimmt. An der Pressmaschine steht der Geschäftsführer Holger Raithel. Er trägt einen modernen Anzug, Hemd und Krawatte viel zu warm für diesen Ort. Dann zeigt der 35Jährige auf das Laufband, auf dem die Teller in gleichem Abstand aus der Maschine laufen. Der Werkstoff, das Porzellan ist noch ungebrannt und fühlt sich samtig an. O-Ton Holger Raithel: 17 8.20 ?Das ist noch die Rohform, der Artikel ist noch ganz weich, den kann noch ganz leicht mit den Händen zerbrechen? Atmo: In der Fabrik bitte hochziehen Autorin: Die grauen Teller laufen direkt auf eine Frau im sommerlichen Trägerhemd und mit rotem Bürstenhaarschnitt zu. Konzentriert pinselt die Frau Petroleum auf Stellen, die rissig sein könnten, überprüft die maschinelle Pressung. Das macht sie seit Jahrzehnten, sagt sie schüchtern. An die Wärme hat sich die Frau gewöhnt und auch an den Lärm der Belüftungsanlagen. Ist eben so. Dafür muss sie keine Staublunge mehr befürchten ? die alte Porzellinerkrankheit. Dann fahren die Teller in den Brennofen. 900 Grad. Porzellan, was ist das für ein Werkstoff? O-Ton Holger Raithel: I 14 027 ?Es besteht zu 50 Prozent aus Kaolin, 25 Prozent aus Feldspat und 25 Prozent aus Quarz und wird dann mit Wasser zu einem homogenen Teig letztendlich verrührt und dann in verschiedenen Formen entweder gegossen, gepresst, druckgegossen oder eben anderen Herstellungsverfahren die Form gegeben.? Autorin: 1994 übernimmt Raithels Vater, Günther Raithel, der zuvor beim Konkurrenten Rosenthal in Bayern arbeitete, das in Konkurs gegangene Porzellanwerk. Er beteiligt sich zunächst mit 51 Prozent an der Fabrik, den Rest hält die staatliche Thüringer Industriebeteiligungsgesellschaft. Mittlerweile ist Kahla/Thüringen Porzellan GmbH ein reines Familienunternehmen. Seit 1997 macht es Gewinne. Zahlen nennt der junge Mann mit Kinnbärtchen nicht. Nur so viel: Der Umsatz habe sich in den vergangenen zehn Jahren auf rund 25 Millionen Euro mehr als verdoppelt. O-Ton Holger Raithel: I 6 4.50 ? 5.24 ?Dadurch, dass mein Vater über 30 Jahre bei Rosenthal tätig war, viele Jahre dann auch als Vorstand, bin ich sozusagen mit der Muttermilch mit Porzellan aufgewachsen. Ich habe das tagein tagaus gehört bei uns zu Hause das Thema, ich habe all meine Ferienarbeit in der Porzellanfabrik verbracht, ich war in Tunnelöfen, ich kenne wirklich diesen Werkstoff seit Kindesbeinen und durch mein Studium hatte ich auch noch die Möglichkeit ein Diplom in Keramik zu machen. Das ich auch da einen Erfahrungsschatz mitbringen konnte, dass mir hier die langjährigen Keramiker kein ein X als O vormachen konnten.? Autorin: Vor zwei Jahren hat der 35Jährige die Geschäftsführung von seinem Vater Günther Raithel übernommen. Günther Raithel ist ein eleganter Herr, in der Brusttasche seines dunkelblauen Sportjacketts steckt ein seidenes Einstecktuch. Als er Anfang der neunziger das erste Mal das Werk besichtigt, macht er das incognito. Niemand sollte wissen, wer er ist, erzählt er. Die Größe des Werkgeländes, immerhin 200 000 Quadratmeter, hat ihn verblüfft. Dennoch. O-Ton Günter Raithel: I 7 2.45 ? 2.59 plus 7 4, Ich war schon erschlagen, ob der schwarzen Höhlen, ich habe dann zu meiner Frau gesagt, Du Kahla ist kein Porzellanwerk das ist ein Eisenwerk. Mir fiel eben auf, dass das kohlschwarz war und überall der Dreck rum lag und wenn man edles Porzellan herstellt, dann kann man nicht überall seinen Müll und seine Kippen hinschmeißen, das war hier gegeben.? Autorin: Sein Jackett hat der 67Jährige jetzt ausgezogen und locker über beide Schultern gehängt. Auf seiner Stirn zeigen sich kleine Schweißperlen. Kahla, das war ein Experiment, aber eines mit Chancen. O-Ton Günther Raithel: I 7 7.50 ?Wenn man sagen kann, wir haben 60 internationale Designpreise, wenn sie mir das vor vierzehn, fünfzehn Jahren gesagt hätten, hätte ich gesagt, sie sind ein Fantast. Das geht nie. Es war möglich.? Atmo: I 22 3.30 Glasurmaschine (kurz freistehen lassen) Autorin: Den ersten Brand haben die Teller jetzt hinter sich. Die Hitze hat dem Porzellan das Wasser entzogen, sie sind fester aber noch nicht fertig. Weiter geht?s mit der Glasur. Saugnäpfe saugen die Teller vom Band, tauchen sie sekundenschnell in die weiße flüssige Masse und legen sie zurück auf das Gummifließband. Dann geht es weiter zum zweiten Ofen. Der zweite Brand ist noch heißer. 1400 Grad.10 Stunden dauert solch ein Fertigungsprozess. 20 000 Teller laufen im Porzellanwerk täglich vom Band. 40 000 Artikel insgesamt, Kaffeebecher, Schalen, Zuckerdosen. Atmo: im Werk 22 8.10 plus Klappern bei 8.45 Autorin: 330 Menschen arbeiten bei Kahla. Früher waren es über 2000. Maschinen erledigen jetzt die meisten Arbeiten. Zwei Frauen sitzen sich an einem kleinen Tisch gegenüber. Ihnen ist warm trotz leichter Kleidung. Neben sich auf dem Boden haben die Keramformerinnen kleine Ventilatoren aufgestellt, die höchstens die Beine ein bisschen erfrischen. Ein Laufband führt an ihnen vorbei. Den Tassen darauf fehlen die Henkel. Darum kümmern sich die zwei kräftigen Frauen, drücken den Henkel fest an den Becher. Acht Stunden täglich. Ein paar Schritte weiter steht eine nagelneue Maschine, die auch das kann. Trotzdem. O-Ton Holger Raithel: II 1 8.43 ?Bei der Hohlgeschirrlinie ist es immer noch notwendig durch die Vielfalt der Geometrie von kleinen Schälchen bis hin zur großen Kanne einfach viel manuellen Arbeitsaufwand auch reinzusetzen.? Autorin: Auch Frank Meinhardt schwitzt, in seinen Koteletten haben sich kleine Schweißperlen verfangen. Seine blauen Augen strahlen vertrauensvoll. Er ist seit 1981 im Werk, früher war er Brigadeleiter, heute ist er Schichtleiter. Sein Großvater war Porzellanmaler, erzählt er, und dass zum Kombinat Feinkeramik früher nicht nur das Werk in Kahla gehörte, sondern es insgesamt siebzehn Fabriken gab. 10 000 Tonnen Geschirr jährlich. Zwiebelmuster, Strohmuster, Mokkatässchen mit goldenem Rand für die Sowjetunion. Massenware, sagt der 49Jährige. O-Ton Frank Meinhardt: I 19 3.35 ?Es wurde von der Qualität her so gearbeitet, dass man sagte, 50 Prozent, allerhöchstens 60 Prozent der Ware die gefertigt wurde, ist am Ende reguläre, verkaufsfähige Ware geworden, was nicht ganz so dramatisch war, weil der Rest ohnehin in die osteuropäischen Länder exportiert worden ist.? Autorin: Er grinst so breit als wolle er so seine Schüchternheit verbergen. Auch heute geht über die Hälfte der Produktion in den Export in über 60 Länder. Dennoch. O-Ton Frank Meinhardt: I 19 4.22 ?Wenn man in Kahla wohnt und kein Kahla-Porzellan hat, da passt was nicht. Das kann nicht sein.? Autorin: Er ist froh, dass er einen festen Arbeitsplatz hat und die Umbruchsphase nach der Wende vorbei ist. Zweimal stand die Firma beinahe vor dem Aus. O-Ton Frank Meinhardt: 19 5.26 ?Ich hab allein innerhalb von drei bis vier Monaten nach der Wende meine eigene Abteilung von 240 Mann auf knapp 70 Mann zurückgefahren. Da hatte man Angst, dass die Leute einem die Scheiben einschlagen zu Hause. Das ist kein Spaß gewesen.? Autorin: Und dann erinnert er sich daran, dass die Arbeiter nach dem ersten Konkurs 1991 selbst einmal überlegt haben, das Werk in Kahla zu kaufen. Im Nachhinein ist er froh, dass sie es nicht getan haben. Von Märkten und Marketing habe man doch überhaupt keine Ahnung gehabt. Die 1700 Artikel, die momentan im Werk gefertigt werden, kennt er allerdings in- und auswendig. Auflaufformen, Milchkännchen, Teekannen. O-Ton Frank Meinhardt: 20 0.17 ?Ich glaube nicht, dass Sie eine finden, die ich nicht kenne:? Autorin: Günther Raithel, der Seniorchef nickt ihm zu, klopft ihm sanft aber zufrieden auf die Schulter. Und Frank Meinhardt grinst wieder aufgeregt. Musik 5: Supertramp: Crime of the Century Komposition und Text: Rick Davies, Roger Hodgson A & M, LC 00485, Bestell-Nr. 988692-8 Musik 6: Maximilian Kock: Sibeliusiana Komponist: Maximilian Kock UBM Records, LC 07877, Bestell-Nr. UBM 1178 V. ZUR GESCHICHTE DES PORZELLANS UND DER FABRIK Regie: Klaviermusik (Chopin), verspielt kurz freistehen lassen, dann unter Autorin ziehen Autorin: Mitte des 17 Jahrhunderts hat man sie endlich. Die exotischen Heißgetränke aus Ostasien, dem Vorderen Orient und Mittelamerika: Tee, Kaffee, Kakao. Aber woraus nur soll man die heißen Sachen standesgemäß trinken? Also schifft man auch die zarten Tässchen und Kannen aus dem edlen weißen Material nach Europa. Denn niemand hierzulande kennt das Geheimnis des Werkstoffes. Experimente scheitern. Einem geborenen Thüringer Johann Friedrich Böttger gelingt es 1708 am Hof des Sachsenkönigs August dem Starken, Porzellan herzustellen. Aus Versehen. 1710 entsteht dann in Meißen auf der Albrechtsburg die erste europäische Porzellanproduktionsstätte. Über einhundert Jahre später, 1844, gründet Christian Eckardt die Porzellanfabrik in Kahla. Atmo: Kreuzlende, Klaviermusik noch einmal kurz hoch dann Atmo im Verwaltungsgebäude 15 5.00 ? 5.11 Schritt 17 1.00 Schritte und Treppe O-Ton Holger Raithel: 15 3.10 ?Hier im Werk ist die Tasse von 1865 die älteste Tasse.? Autorin: Sagt der Chef Holger Raithel. Er beugt sich über eine Vitrine im Verwaltungsgebäude aus den 60er Jahren, hält seine Krawatte fest und schaut auf das dünnwandige Gefäß mit goldenem Rand. Verschnörkelt ist sie und ziemlich groß, bauchig und sich nach oben hin öffnend. O-Ton Holger Raithel: I 15 3.13 ?Was man hier auch noch sieht, neben Tassen wurden damals viele Pfeifenköpfe hergestellt und auch Stockknäufe, also die Endstücke, die Griffstücke für die Spazierstöcke damals.? Autorin: Damit geht es los in Kahla. 1914 zählt die Porzellanfabrik zu den größten Porzellanherstellern Europas. Nach dem zweiten Weltkrieg wird aus dem Werk ein volkseigener Betrieb. 1991 privatisiert die Treuhand das Werk. Zwei Jahre später ist auch der neue Chef, der mit der Porzellanbranche eigentlich gar nichts am Hut hatte, pleite. Günther Raithel zieht von der deutschen Porzellanmetropole Selb in Bayern nach Thüringen, übernimmt die Fabrik, holt junge Designer nach Kahla und fängt neu an. Atmo: I 14 3.16 Teller wird abgestellt, Autorin: Aronda, Update oder Five Senses heißen die neuen Linien. 1997 geht von der Stadt in Thüringen dann eine kleine Revolution aus. Holger Raithel. O-Ton Holger Raithel: 16 4.04 ?Kahla war damals der Traditionsbrecher als Barbara Schmidt und Günther Raithel den Mut hatten zu sagen, wir machen mit Update eine Form mit ganz wenigen multifunktionalen Teilen und verzichten bewusst auf die Kaffeekanne.? Autorin: Die Königin des Service. Schon lange bahnte sich ihr Verschwinden an. Man brauchte sie einfach nicht mehr. Die italienische Espressokultur schwappte nach Deutschland. Zuerst in die Restaurants später in die Küche zu Hause. O-Ton Holger Raithel: 16 4.57 ?Entweder sie verwenden noch klassische Technik und haben dann meistens eine Thermoskanne, die designorientiert ist oder aber sie verwenden Kaffeevollautomaten, Pads, was wollen sie da mit einer Kaffeekanne?? Musik 7: Bach Collegium Japan: Kantate über den Caffee Komponist: Johann Sebastian Bach / Text: Christian Friedrich Henrici Musikmanufaktur, LC 00324, Bestell-Nr. BIS-CD-1411 VI. PENDELN ZWISCHEN METROPOLE UND PERIPHERIE ? DIE CHEFDESIGNERIN BARBARA SCHMIDT Atmo: Autobahn, Kreuzblende im Geschäft auf der Stargarder Straße (V 6) Autorin: 300 Kilometer nordöstlich von Kahla bummelt Barbara Schmidt, Chefdesignerin bei Kahla durch ein Einrichtungsgeschäft im Berliner Prenzlauer Berg. Sie trägt einen dunklen Wollmantel unter dem sich ein dicker Babybauch nach vorn wölbt. Die Geburt ihres zweiten Kindes steht kurz bevor. Deshalb bleibt sie auch in Berlin. Sie ist die, die die Kaffeekanne abgeschafft hat. Seit 1991 arbeitet die 40Jährige für die Thüringer Porzellanmarke, pendelt zwischen Berlin und Kahla, teilt sich dort eine kleine Wohnung mit einer Kollegin aus der Fabrik. Ideen für neue Formen findet sie in der Hauptstadt oder auf Reisen, nach Japan zum Beispiel. Dass sie irgendwann Porzellan formen will, wusste sie schon als sie noch ganz klein war. Der Grund: ein hübscher alter Schrank in ihrem Kinderzimmer, gefüllt mit Manufakturporzellan. Eine Wunderkammer. O-Ton Barbara Schmidt: V 1 3.03 ?Ab und zu hat mein Vater den aufgeschlossen und uns die Sachen gezeigt und erklärt und wir durften das Ganze mal anfassen. Ja, das war eine sehr wichtige Kindheitserinnerung, was sehr schön ist für uns.? Autorin: Wie alle Kinder in der DDR ist Barbara Schmidt mit dem Strohmuster und dem Zwiebelmuster auf Tellern und Tassen groß geworden. Und dann klärt sie ein europäisches Missverständnis auf. Die Zwiebel im Zwiebelmuster ist gar keine Zwiebel, sondern ein Granatapfel: ein chinesisches Glückssymbol. Dabei lächelt sie vorsichtig. Porzellandesign hat die Berlinerin in Halle studiert. Porzellan ist für sie irgendwie ein ganz besonderer Werkstoff, kühl und abweisend und trotzdem berührt man ihn so gern. O-Ton Barbara Schmidt: V1 3.50 plus 4.39 ?Es ist ein Werkstoff mit sehr vielen interessanten Eigenschaften. Es gilt ja als etwas sehr Edles, was sehr Feines. Dünnes Porzellan ist ja so ein großes Ideal. Und es ist extrem hart. Es ist härter als Stahl.? Autorin: Und es klingt schön. Atmo: Porzellan V 4 0.00 Autorin: Die Umbruchsituation Anfang der neunziger Jahre in Kahla ist Barbara Schmidt damals als junge Designerin sehr entgegen gekommen. Schnell musste was Neues her. Teller wurden eckig. Es gab keine Zwänge, erzählt sie. Zuckerdosen wurden so groß, dass ein Löffel drin Platz hatte und der Deckel trotzdem zuging. Die kleine Vertiefung verschwand aus Untertassen. So konnten sie auch als kleine Teller für Oliven oder Pralinen auf dem Tisch stehen. Und ja, plötzlich gehörten auch Sushi-Schalen zum deutschen Service. Ihrer Meinung nach hat die Porzellanbranche relativ spät erkannt, wie man Geschirr weiterentwickeln muss, um am Zeitgeist zu bleiben. O-Ton Barbara Schmidt: V 1 6.33 ?Es haben sich die Tischsitten liberalisiert. Man ist nicht mehr unter dem gesellschaftlichen Druck, etwas Bestimmtes aufdecken zu müssen, wenn man Besuch bekommt, oder auch für sich selbst im Alltag.? Atmo: VI 24 Porzellanklappern Autorin: Geschirr muss in Zeiten der Patchworkfamilien flexibel kombinierbar sein. O-Ton Barbara Schmidt: V 2 3.47 ? 3.54 ?Das ist eigentlich das Schönste, wenn ich das schaffe, dass man sich im Alltag freut, wenn es so schön funktioniert, dass man es gerne ansieht, gerne in die Hand nimmt.? Atmo: Kinder vor dem Kindergarten. Kurz hochziehen, dann bitte Kreuzblende mit der Musik Autorin: Porzellan soll etwas für den Alltag sein, betont sie. In Kahla essen übrigens auch die Kleinen im Kindergarten von Porzellantellern. Plastikgeschirr, wie in der Kita ihres Sohnes in Berlin, käme in Kahla nie auf den Tisch. Musik 8: Air: ?Spacemaker? Komponisten: J.-B. Dunckel, N. Godin Virgin, LC 03098, Bestell-Nr. 383761-2 VII. DER MANN AM BRENNOFEN: DER STADTARCHIVAR Autorin: Zurück nach Thüringen, nach Kahla. In der Margarethengasse fast gegenüber vom Rathaus wohnt Heinz Berger gemeinsam mit seiner Frau in einer kleinen engen Wohnung. Der Stadtarchivar sitzt am Küchentisch, der mit einer gelben Linoleumtischdecke bezogen ist. Dann steht er auf, öffnet den Glasschrank hinter sich, nimmt eine blau bedruckte Kaffeetasse heraus. O-Ton Heinz Berger: II 5 7.18 ?Kahla? O-Ton Heinz Berger: II 5 8.48 ?Die blaue Farbe, ich will es mal so sagen, war Arme-Leute-Geschirr, was die Reicheren waren, die hatten weiß, das ?weiße Gold? nannte sich das auch. Die hatten weiß gehabt mit Gold verziert.? Autorin: Der heute 79Jährige hat über dreißig Jahre im Porzellanwerk gearbeitet, seine Frau noch länger. In den 50er Jahren studierte er in Jena Literatur. Doch dann kamen die Arbeiteraufstände rund um den 17. Juni 1953. Gern erzählt er nicht aus dieser Zeit. O-Ton Heinz Berger: IV 6 4.55 ?Dort bin ich dann strafversetzt worden nach Kahla und musste im Porzellanwerk arbeiten. Da habe ich im Brennbetrieb gearbeitet als Einsetzer.? Autorin: Heiß war es an den Öfen, viel wärmer als heute. Dann holt er einige Schwarz- Weiß-Fotos aus einem Ordner. Spärlich bekleidete Männer tragen Stiegen voll Porzellan durch das Werk. O-Ton Heinz Berger: IV 9 0.02 - 037 ?Die haben den ganzen Tag acht Stunden und länger geschwitzt. Und dann gingen die Männer, mitunter auch Frauen und vor allem die Männer gingen dann in die Kantine oder in die Gaststätten. Es gab ja sieben oder acht Gaststätten in Kahla, die alle gut gelebt haben. Die gingen alle dort hin, hatten alle ihre Kneipen gehabt und da wurde dann vor allem Bier getrunken.? Autorin: Er hat sich arrangiert mit dem Leben in der Kleinstadt, es irgendwann sogar liebgewonnen, sagt er. Im Werk hat er schließlich auch seine Frau, eine Porzellanmalerin kennengelernt und eine Familie gegründet. Das Schreiben hat er vermisst. O-Ton Heinz Berger: II 5 4.17 ? 4.32 ?Dann hat die Porzellanfabrik eine Betriebszeitung herausgegeben, war damals ein Beschluss vom ZK der SED. Das also die Großbetriebe Betriebszeitungen herauszubringen haben, um eben die Werktätigen zu informieren. Und da haben sie sich mich eben ausgeguckt und es hat mir ja auch gelegen.? Autorin: Heinz Berger zieht er ein vergilbtes ?Porzelliner Echo? aus einer Schublade hervor. So groß und eng beschrieben wie eine Tageszeitung. O-Ton Heinz Berger: IV 8 2.17 ?Das war die erste Ausgabe. 20. Juni 1957.? Autorin: Er setzt seine Brille auf, liest ein paar Überschriften. O-Ton Heinz Berger: IV 8 2.55 ?Gewerkschafter wählen die Kandidaten der Nationalen Front, Sieben Lehrlinge wurden ausgezeichnet, Gute Erfolge beim 9. Berufswettbewerb (blättern). Der Arbeitsablauf und die Normen. Dauerheim für Kleinstkinder in Kahla eröffnet, haben wir also auch gebracht.? Autorin: Jetzt macht er Stadtführungen oder fährt mit seinem Fahrrad über die Berge. Später im Wirtshaus erzählt einer, der seinen Namen nicht nennen will, dass Kahla früher ? als die Porzellanfabrik noch nicht so modern war - auch als Stadt der freien Liebe bekannt war. Bei so viel nackter Haut im Porzellanwerk sei das auch gar nicht anders gegangen, sagt der Mann mit dem Schnauzbart und kichert dabei. VII. DIE LETZTE BEMERKUNG Atmo: Glocken Autorin: Aber wie nennt man sie eigentlich, die Bewohner von Kahla? Bernd Leube, der Bürgermeister. O-Ton Bernd Leube: II 9 1.14 ?Wir sind auf keinen Fall die Kahlaer, das kann man sagen aber das klingt in unserem Dialekt etwas gekünstelt. Wir sind die Kahlschen. Und die Sprache ist kahlsch.? Autorin: Woher sie kommt, es weiß keiner so genau. Aber Bernd Leube ist fest überzeugt davon, dass sie sich vom Sächsischen unterscheidet und auch vom Dialekt, der in Jena gesprochen wird. O-Ton Bernd Leube: II 9 1.52 ?Ist eben typisch kahlsch? Autorin: Er hält kurz inne, dann räumt er ein, dass die ?Nichtkahlschen? das wohl nicht unterscheiden könnten. Regie: Hier bitte schon Schlussmusik abfahren, darauf den letzten O-Ton. O-Ton Bernd Leube: II 9 2.00 ? 2.18 Nu pass ma uf......nu. ENDE 1