Manuskript Kultur und Gesellschaft Kostenträger : P 62120 Organisationseinheit: 46 Reihe : Zeitreisen Titel : Die Erfindung des Künstlerlebens. Zum 500. Geburtstag von Giorgio Vasari Autorin : Eva Hepper Redakteur : René Aguigah Sendung : 27.07.2011 / 19:30 Uhr Regie : Stefanie Lazai Besetzung : Wilfried Hochhodinger, Bernhard Schütz, Eva Hepper Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Musik O-Ton Klaus Wagenbach: "Le Vite ... - ... die Leben ... Die Leben der Künstler ... - ... das erste große Buch, was uns das Leben der Künstler vorstellt. Und glücklicherweise in einer Zeit, die von Michelangelo über Raffael bis Sodoma und Piero di Cosimo, also, die von Künstlern allerersten Ranges nur so strotzte. Ohne Vasari verstünden wir von der Renaissance nur die Hälfte." Sprecherin: Der Verleger Klaus Wagenbach. Musik O-Ton Horst Bredekamp: "Diese Biografien sind im Umfang und im Anspruch singulär zu ihrer Zeit. Sie begründen, sagen wir, die wissenschaftliche Biografie, das ist das eine ... Sprecherin: Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp. O-Ton Horst Bredekamp: ... Aber das zweite ist, dass Vasari unser modernes Weltbild damit geprägt hat, nämlich mit der großen Antike, dem sogenannten dunklen Mittelalter, das er barbarisch nannte, und dann der Wiedergeburt der Antike, also der Moderne. Damit hat er das moderne Weltbild begründet." Musik O-Ton Gerd Blum: "Während die ältere Forschung Vasari gescholten und kritisiert hat, dass er nicht bei den Fakten geblieben ist, ... Sprecherin: Der Kunsthistoriker Gerd Blum. O-Ton Gerd Blum: ... wird das heute als eine produktive Leistung von Vasari gesehen. Dass er unser Bild, unsere Konzepte, unsere Redeweise über Kunst und Künstler bis heute eben darum prägt." Glockenläuten Zitator Carracci: "O che viso di cazzo del Vasari; egli parla così vituperosamente che seco mi tira ad uscir de termini della creanza." Zitator Carracci: "Oh, dieses Arschgesicht von Vasari, der so Schimpfliches von sich gibt, dass er auch mich dazu bringt, die Grenzen des guten Benehmens zu überschreiten." Sprecherin: Der Barockmaler Annibale Carracci - mit einer kleinen, aber deftigen Dissonanz im Kanon des Lobes und der Ehrfurcht. Die Hymnen wie der ablehnende Kraftausdruck gelten dem einflussreichsten Buch der europäischen Kunstgeschichte: den "Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten" von Giorgio Vasari. Erschienen ist das Werk erstmals 1550. In zwei Oktavbänden von insgesamt über 1300 Seiten verfasste Vasari die erste Abhandlung über die Geschichte der Kunst, die erste systematische Darlegung ihrer Theorie und über 100 Einzelbiografien von Künstlern aus drei Jahrhunderten. Von Cimabue, dem Lehrer Giottos, bis hin zu Michelangelo, den alle überragenden Meister, und Raffael, den Göttlichen: Musik Zitator Vasari: "Wie großzügig und wohlwollend sich bisweilen der Himmel zeigt, wenn er in einer einzigen Person die unermesslichen Reichtümer seiner Schätze, alle Anmut und kostbarste Gaben vereint, die er sonst über einen langen Zeitraum hinweg unter vielen einzelnen aufzuteilen pflegt, ließ sich deutlich an dem ebenso vortrefflichen wie anmutigen Raffael Sanzio aus Urbino sehen... Man darf gewiss behaupten, dass diejenigen, die so außergewöhnliche Gaben ihr Eigen nennen, wie man sie in Raffael ... sah, nicht einfach nur Menschen sind, sondern - wenn es erlaubt ist, dies so zu sagen - sterbliche Götter." Sprecherin: Raffael, Leonardo, Masaccio, Giotto: sie alle feiert Vasari als herausragende Künstlerpersönlichkeiten. Als Maler, die die Grenzen der Kunst zum Wohle und zur Freude der gesamten Menschheit erweitert haben. Mit anderen Künstlern ging er weniger freundlich um. Viele erwähnte er gar nicht, manche fand er belanglos, einige verwies er kompromisslos in ihre Schranken. Musik Zitator Vasari: "Jeder sollte sich damit zufrieden geben, jene Dinge mit Freuden zu machen, zu denen er sich durch natürliche Neigung hingezogen fühlt, und er sollte sich nicht zu Dingen zwingen, die ihm von der Natur nicht gegeben wurden, nur um zu wetteifern, damit er sich nicht umsonst und oftmals mit Schande und Schaden abmühe. ... Wer nicht für eine Sache geeignet ist, dem wird es nie gelingen, so sehr er sich auch bemüht, das zu erreichen, was ein anderer mit Hilfe der Natur mühelos vollbracht hat. Als Beispiel diene uns ... Paolo Ucello, der sich wider sein beschränktes Vermögen bemühte, noch weiter zu kommen und immer nur Rückschritte machte. Gleiches hat ... Jacopo da Pontormo gemacht." Sprecherin: Das musste man sich erst einmal trauen. Ucello, den Virtuosen der Perspektive und Pontormo, einen der wichtigsten Vertreter des Manierismus, als Künstler mit beschränktem Vermögen zu beschreiben! Wer war der Mann, der solches wagte? Welche Motive hatte er? Und warum gelten seine "Viten", seine Lebensbeschreibungen, noch heute als grundlegend, prägend, groß? Musik Sprecher: 1511 wird Vasari als Sohn eines Trödlers und Enkel eines Töpfers in Arezzo geboren. Seine Herkunft: nicht außergewöhnlich. Seine Ausbildung aber ist vorzüglich. Sie wird ihm den entscheidenden Vorsprung vor vielen seiner späteren Künstlerkollegen verschaffen. Denn Vasari beherrscht früh zwei verschiedene Fachgebiete: Bereits im Alter von sechs Jahren besucht er die Lateinschule, wo er eine erstklassige humanistische Ausbildung erhält. Und mit 12 Jahren beginnt er zudem eine Lehre in einer weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Künstlerwerkstatt. Sprecherin: Er ist ein Doppeltalent, und als solches fällt er auf. Kein Geringerer als der Medici- Statthalter von Florenz, der mächtige Kardinal Passerini, entdeckt ihn. Bei einem seiner Arezzo-Besuche fällt Passerinis Blick auf diesen Maler-Lehrling, der Vergil aus dem Kopf zitiert und zeichnet wie ein Großer. Der Kardinal überredet Vasaris Vater, den Jungen in seine Obhut zu geben und nimmt den 13-Jährigen mit nach Florenz. Ein Traumstart. Allerdings auch ein Start, wie er sein muss - wenn man Vasaris Lieblingstopos glaubt, den er in seinen Künstlerbiografien immer wieder verwenden wird: gottgegebenes Talent, früh entdeckt. Über Giotto und seinen Lehrer, den Florentiner Maler Cimabue, erzählt er folgende Geschichte: Musik Zitator Vasari: "Als Giotto zehn Jahre alt wurde, gab ihm Bondone einige Schafe zu hüten, ..., und weil ihn die Neigung seiner Natur zur Zeichenkunst trieb, zeichnete er dabei auf Steine, in die Erde und in den Sand, immer etwas nach der Natur, oder was ihm sonst in den Sinn kam. Da ging eines Tages Cimabue eines Geschäftes halber von Florenz nach Vespignano und fand Giotto, der, während seine Schafe weideten, auf einer ebenen und geglätteten Steinplatte mit einem etwas zugespitzten Steine ein Schaf nach der Natur zeichnete, was ihn niemand gelehrt, sondern er nur von der Natur gelernt hatte. Cimabue blieb ganz verwundert stehen und fragte ihn, ob er mit ihm kommen und bei ihm lernen wolle. Worauf der Knabe antwortete, wenn sein Vater zustimme, so würde er es gerne tun. Cimabue fragte darauf Bondone, und dieser willigte gern darin ein, dass er ihn mit sich nach Florenz führe." Sprecher: 1524, 250 Jahre nach Giotto, kommt Vasari in die Stadt Dantes und Petrarcas, Brunellischis und Masaccios. Florenz, die künstlerische Metropole ersten Ranges, beflügelt auch ihn. Er lernt in verschiedenen Werkstätten und darf am Privatunterricht der Mündel seines Entdeckers teilnehmen - den Medici-Prinzen Alessandro und Ippolito. Ein ungeheures Privileg. Viele Jahre später wird es ihm zum Glück verhelfen, zunächst jedoch bedeutet es sein Verhängnis. 1527 zwingen politische Wirren die Medici zur Flucht aus Florenz. Auch Vasari, als deren Günstling, muss die Stadt verlassen. Hals über Kopf kehrt er zurück nach Arezzo. Mit leeren Händen, wie der Vasari-Biograf Gerd Blum beschreibt: O-Ton Gerd Blum: "Er hat weder eine abgeschlossene zünftige Ausbildung, er kann nicht Meister der Malerzunft werden, er kann nicht eine Werkstatt an einem Ort eröffnen, Lehrlinge ausbilden und auf der anderen Seite: er hat auch seine Ausbildung an der Lateinschule nie zu Ende gebracht, er hat kein Studium aufgenommen, er ist sozusagen weder ordentlich ausgebildeter Gelehrter und Humanist noch auch ausgebildeter, ordentlicher Maler." Sprecherin: Das Jahr 1527 markiert einen Wendepunkt in Vasaris Leben. Nachdem der viel versprechende Auftakt in Florenz jäh zum Ende kommt, muss er die Weichen neu stellen. Und er stellt sie anders, als es sich seine Zeitgenossen je getraut hätten: Gegen alle Widerstände, ohne abgeschlossene Ausbildung und ohne Mentor will sich Vasari durchsetzen. Als freier Künstler auf eigene Rechnung arbeiten und seines eigenen Glückes Schmied werden - eine zutiefst moderne Geste, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. So sieht es auch Klaus Wagenbach, der die Neuedition der deutschen Ausgabe sämtlicher Viten Vasaris initiierte: O-Ton Klaus Wagenbach: "Da war er natürlich der richtige Mann in der richtigen Zeit. Nämlich in einer Zeit, wo der Dürer, unser Mann, noch Ende des 15. Jahrhunderts, also noch in den 90er- Jahren, um 1490 rum, war er in Italien in Venedig, und hat nach Hause begeistert und vollkommen zu Recht beschrieben: >Hier bin ich ein Herr. In Deutschland bin ich ein Knecht.< Weil in Deutschland fand niemand etwas dabei, Albrecht Dürer mal damit zu beschäftigen, seine Haustür zu reparieren. Oder so. Das war ein Handwerker." Sprecherin: Tatsächlich war es den italienischen Malern und Bildhauern schon im 15. Jahrhundert als ersten in Europa gelungen, sich von der wenig prestigeträchtigen Rolle des Handwerkers zum Künstler zu emanzipieren. Vasari aber ging noch einen entscheidenden Schritt weiter in Richtung Moderne: Als erster Künstler- Selfmademan wagte er den Sprung in eine ungesicherte Existenz. Es gab Vorläufer für diese kühne Entscheidung; allerdings nicht unter den Künstlern. Florenz hatte immer wieder Kaufleute und Bankiers hervorgebracht, denen zum Teil sagenhafte gesellschaftliche Aufstiege gelungen waren. Warum, so fragte sich Vasari, sollten die Versprechungen der toskanischen Kaufmannsethik nicht auch für sein Metier gelten? In seiner Autobiografie schreibt er: Musik Zitator Vasari: "Ein ... nicht unwesentlicher Ansporn war der Wunsch nach Ruhm und der Anblick jener vielen, die es vermocht hatten, Außerordentliches zu leisten und Rang und Ehren zu erlangen. Daher sagte ich einige Male zu mir selbst: >Warum steht es nicht in meiner Macht, mir durch beharrliche Anstrengung und Übung die Größe und den Rang zu verschaffen, die sich viele andere erworben haben? Auch sie bestehen doch nur aus Fleisch und Knochen wie ich.< Getrieben von so vielen heftigen Stacheln beschloss ich, keine Mühsal und Entbehrung, keine durchwachte Nacht und keine Anstrengung zu scheuen, um dieses Ziel zu erreichen." Sprecher: Fünf harte und finanziell prekäre Jahre muss Vasari als freier Künstler durchstehen. Reisend zwischen Arezzo, Bologna und Pisa fertigt er seine ersten Fresken, übernimmt Goldschmiedearbeiten und entwirft Festdekorationen. Große Werke gelingen ihm noch nicht, doch für sein Auskommen kann er sorgen. Den entscheidenden Karriereschub jedoch hat er noch vor sich: 1532 kreuzt sein Lebensweg erneut den der Medici. Diese waren nach ihrem dreijährigen Exil zurückgekehrt, machtvoller denn je. Niemand anderes als Ippolito, der ehemalige Schulkamerad aus glücklichen Florentiner Tagen, ruft Giorgio Vasari an seine Seite; Ippolito ist mittlerweile Kardinal in Rom. Glockenläuten Sprecher: Rom wird Vasari als seine eigentliche Schule bezeichnen. Er ist noch immer jung, gerade 21 Jahre alt, und die ewige Stadt wird ihm zur Offenbarung. In den Diensten Ippolitos von Geldsorgen befreit, malt er sein erstes, von ihm selbst anerkanntes Gemälde und fällt auf: Es regnet Lob und Anerkennung. Darüber hinaus knüpft er wichtige Kontakte, schult sein Auge und zeichnet unermüdlich, gemeinsam mit seinem Freund Francesco Salviati. In seiner Autobiografie schreibt er dazu: Musik Zitator Vasari: "Dies waren nicht nur Gemälde, sondern auch antike und moderne Skulpturen und Bauwerke. Und außer dem Nutzen, den ich aus dem Zeichnen von Michelangelos Gewölbe und Kapelle zog, gab es kein Werk von Raffael, Polidoro und Baldessare, das ich nicht zusammen mit Francesco Salviati gezeichnet hätte... Damit jeder von uns beiden die Zeichnungen aller Werke besäße, zeichneten wir des Tages nicht ein und dasselbe, sondern verschiedene Dinge. Nachts kopierten wir dann einer vom anderen die Blätter, um Zeit zu gewinnen und mehr Routine zu bekommen. Ganz zu schweigen davon, dass wir morgens meistens nichts und wenn, dann nur eine Kleinigkeit im Stehen aßen." Sprecherin: Schlafen, essen, sich amüsieren - das scheint nebensächlich für den Künstler, der nach oben will. Vasari arbeitet ohne Unterlass. Der Verzicht auf Annehmlichkeiten, auf Familienleben, auf anderweitige Leidenschaften - er wird tausendfach aufgewogen durch Ruhm und Ehre, die niemals vergehen. Diesen Topos, diesen Erzähl-Standard, installiert Vasari in unzähligen seiner Viten. Am deutlichsten wird er in der Biografie des Michelangelo, des unerreichten Universalgenies des 15. Jahrhundert: Musik Zitator Vasari: "Ein mit Michelangelo befreundeter Priester sagte zu ihm: >Wie schade für Euch, dass Ihr nicht geheiratet habt, denn dann hättet Ihr viele Kinder und würdet ihnen angesehene Werke hinterlassen.< >Nur zu sehr bin ich verheiratet, und zwar mit der Kunst, die mir stets Qualen bereitet hat. Meine Kinder sollen die Werke sein, die ich hinterlasse, und wenn sie auch nicht der Rede wert sind, so werden sie doch eine Weile überdauern. Und welch ein Jammer wäre es für Lorenzo Ghiberti, hätte er die Türen von San Giovanni nicht geschaffen, denn seine Söhne und Neffen haben alles, was er hinterlassen hat, verkauft und zugrunde gerichtet; die Türen aber stehen noch.<" Sprecherin: Von 1532 bis 1537 steht Vasari mehr oder weniger in den Diensten der Medici. Deren Macht ist mittlerweile unanfechtbar. Vasari arbeitet nicht nur für Ippolito in Rom, sondern auch für dessen Bruder Alessandro, der das Amt des Herzogs der Republik Florenz bekleidet. Vasaris Durchhaltevermögen zahlt sich jetzt aus. Anerkennung und ein festes Einkommen sind ihm gewiss. Der Selfmademan hatte sich durchgebissen und auf die richtigen Kontakte gesetzt. Allerdings: die Nähe zu den Medici barg auch Gefahren. Sprecher: Tatsächlich konnte sich Vasari der Gunst der Medici nie sicher sein. Als nach dem Tod Alessandros 1537 der noch minderjährige Cosimo I Regent von Florenz wird, ist er nicht mehr gefragt. Wieder steht Vasari an einem Wendepunkt, jedoch nicht - wie noch 10 Jahre zuvor - an einem Tiefpunkt. Diesmal ist seine Lage alles andere als prekär. Als anerkannter Künstlerunternehmer zählt er zu den reichsten und angesehensten Bürgern seiner Heimatstadt und kann sich seine Auftraggeber aussuchen: in Bologna, in Venedig, in Neapel, in Rom. Musik Sprecher: 1546 arbeitet Vasari für eine der einflussreichsten Persönlichkeiten Roms: Kardinal Farnese. In dessen Haus, so erzählt Vasari die Ursprungslegende, wurde die Idee zu seinem berühmten Buch geboren. Bei einer der typischen Abendgesellschaften des Kardinals mit Gelehrten, Literaten und Künstlern, sei sie entstanden, und er, Vasari, vom Kardinal persönlich dazu aufgefordert worden, das gewaltige Projekt zu übernehmen. Seit Jahrzehnten Sammler von Zeichnungen, Kopien und Informationen, war Vasari dafür tatsächlich geeignet wie kein Zweiter. Auch wenn sich der Abend, wie man heute weiß, so nicht zugetragen hat. Die Idee zu den Viten hatte sich über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt. Der Wunsch nach einem solchen Werk war nicht neu, wie Horst Bredekamp erklärt: O-Ton Horst Bredekamp: "Wir wissen, dass es über bestimmte Künstler wie zum Beispiel Botticelli, bereits eine sehr frühe Biografie gegeben hat, die vor allem vom Marktinteresse her bestimmt war, um zu erkennen, wo sind die Werke von Botticelli, wie ist sein Stil, wie kann ich dessen Werke erkennen. Aus diesen sich über Generationen hinweg aufbauenden Interessen an den Werken von einzelnen Künstlern und Schulen, und den Marktinteressen, also historisches wie Marktinteresse, dieses Zusammenspiel, hat offenbar dieses Großunternehmen der Viten angefeuert und dann in die Wirklichkeit umgesetzt. Es kommt nicht aus dem Nichts, sondern baut sich seit Alberti mindestens, also seit 1430, auf." Sprecher: Was zaghaft mit den Schriften des Architekten und Gelehrten Leon Batista Alberti begonnen hatte, setzte Giorgio Vasari gemeinsam mit seinem Netzwerk aus Freunden und Informanten in großem Stile um. Sprecherin: Vasaris Anspruch war umfassend. Als Orientierung diente ihm die humanistische Einteilung der Epochen, die mit der Wiedergeburt der Antike in die glorreiche Gegenwart Vasaris mündete; in die Endphase der Renaissance. Dieser rinascita, wie Vasari die Epoche nennt, und ihren herausragenden Künstlern setzt Vasari ein Denkmal: mit 133 Einzelviten. Der Kunsthistoriker Gerd Blum: O-Ton Gerd Blum: "Hier prägt er Stereotype über die Entwicklung von Künstlerlebensläufen, von Künstlerbegabungen, über die Eigenschaften von Künstlern, und auch einiger Künstlerinnen, die unseren Diskurs über Kunst und Kunstgeschichte jedenfalls bis in die 60er-Jahre sehr maßgeblich geprägt haben." Sprecher: Vasari feierte nicht nur den Ruhm der Künstler, beschrieb nicht nur ihre Herkunft, Ausbildung, Lebensumstände und ihre wichtigen Werke und kanonisierte damit die Verknüpfung von Charakter, Leben und Werk in der Kunstgeschichte. Vasari zementierte geradezu ein Künstlerbild mit ganz bestimmten Eigenschaften. Nicht selten seinen eigenen: Fleiß, Tugendhaftigkeit, Hingabe, unermüdlicher Arbeitseifer - all das verlangte Vasari von seinen Kollegen. Der Charakter Masaccios etwa, des Ausnahmekünstlers der Frührenaissance, diente ihm als Paradebeispiel: Musik Zitator Vasari: "Er war ein bescheidener, freundlicher, friedfertiger, nachdenklicher Mensch, dem Kleider, Nahrung und die anderen Güter dieser Welt gleichgültig waren. Er war fleißig, entgegenkommend und trieb die Honorare für seine Werke niemals ein, außer wenn er in größter Not war." Sprecherin: Bescheidenheit, Anmut, Freundlichkeit, Großherzigkeit und ein gebildetes Herz attestierte Vasari den wirklich Großen: Michelangelo etwa oder Leonardo da Vinci, den er gleichermaßen als Menschen- wie als Tierfreund beschreibt: Musik Zitator Vasari: "Oft stellte er dies unter Beweis, wenn er an Plätzen vorbeikam, auf denen Vögel zum Verkauf angeboten wurden. Dann nahm er sie mit eigener Hand aus ihrem Käfig, zahlte dem Verkäufer den verlangten Preis und ließ sie fliegen, um ihnen die verlorene Freiheit wiederzugeben. Dafür hatte die Natur ihn ihrerseits sehr begünstigt: Wohin er Sinn, Verstand und Herz auch wandte, es zeigte sich soviel Göttliches in seinen Werken, dass er unerreichbar war, wenn es darum ging, den Dingen hinsichtlich Spontaneität, Güte, Liebreiz und Anmut Vollendung zu verleihen." Sprecherin: Es sind unzählige Geschichten, die Vasari erzählt. Mit jeder einzelnen prägt er das Bild des idealtypischen Künstlers. Ein tugendhafter Charakter war unerlässlich, aber gottgegebenes Talent und Genie erlaubten auch Exzentrik. Mit normalen Maßstäben jedenfalls, das wiederholte Vasari unermüdlich, seien Künstler nicht zu messen. Damit entwarf er einen Topos, einen Erzähl-Standard im Entwurf von Biografien, der so wirkmächtig wurde, dass er noch heute in keiner Lebensbeschreibung von Künstlern oder auch Popstars in der einen oder anderen Variante fehlen darf. Gerd Blum erläutert: O-Ton Gerd Blum: "Der Künstler als Außenseiter der Gesellschaft ist genauso ein Thema, das Vasari begründet hat, in glänzenden Anekdoten, in höchst witzigen Anekdoten, wie auch das Thema des Künstlers als Günstling der Herrschenden, des Künstlers als Freund der Herrschenden: Leonardo, der in den Armen des französischen Königs stirbt, Michelangelo, der jederzeit Zugang zum Papst gehabt habe, Raffael der kurz davor war, zum Kardinal gewählt zu werden. Beide bis heute so folgenreichen Topoi, der Künstler, der an allen hierarchischen Strukturen vorbei direkt in der Nähe des Herzogs als Hofkünstler tätig ist, und der Künstler als Outlaw nahe exzentrisch bis zur geistigen Verwirrung beides haben Vasari und seine Coautoren folgenreich und literarisch brillant entfaltet." Sprecherin: Brillant entfaltet hat Vasari diese Topoi auch durch die Beschreibung von Künstlern, die nicht in sein Schema passten und als Negativbeispiel dienen mussten. Besonders Vasaris unmittelbare Konkurrenten schienen hierfür besonders geeignet. Sprecher: Doch Vasari hat nicht nur Konkurrenten "heruntergeschrieben", er hat auch viele Anekdoten schlichtweg erfunden, um anschaulich und bildreich erzählen zu können. Und manches historisches Faktum hat er bewusst verdreht. Noch einmal der Kunsthistoriker Gerd Blum: O-Ton Blum: "Für uns alle ist bis heute Giotto der Begründer der Renaissance. Der Erste, der sozusagen vor Beginn der eigentlichen Frührenaissance des 15. Jahrhunderts um 1300 bereits als großer Avantgardist und Innovator die neue Rückkehr zur Natur, die neue Rückkehr zur Antike, begründet. Vasari wusste ganz genau, und wird es in der 2. Auflage dann auch stärker anerkennen, dass schon 50 Jahre vor Giotto Nicola Pisano und später sein Sohn Giovanni Pisano Skulpturen geschaffen haben, um 1250, die allem überlegen sind in Richtung Antikenstudium, das Giotto jemals gemalt hat. ... Er hätte also genauso gut diese Bildhauer aus Pisa als Begründer des Renaissance-Stils feiern können, aber das verbot sich für einen aretinischen Untertan des Herzogs von Florenz." Sprecherin: Seit Jahren hatte Vasari versucht, in Kontakt mit dem mächtigen Medicifürsten zu kommen. Cosimo I, der 1537 als 17-Jähriger die Regentschaft in Florenz übernommen hatte, war schließlich Herrscher über die gesamte Toskana. Wer für ihn arbeiten durfte, hatte für sein Leben ausgesorgt. Durch die Beschreibung seines Reiches als alle anderen Regionen überragendes Kunstzentrum drängte sich Vasari dem Medici-Potentaten geradezu auf. Mit Erfolg: Nach Jahrzehnten freien künstlerischen Arbeitens, nahm Cosimo I den Autor der Viten in seine Dienste. 1555 gipfelte die Karriere des Selfmademan Vasari in dem begehrten und überaus gut bezahlten Posten eines Hofkünstlers. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp beschreibt seine Rolle folgendermaßen: O-Ton Horst Bredekamp: "Vasari ist einer der ersten Impressarii des Absolutismus. Also, die Mediciherrschaft ist eines der Modelle des kommenden Absolutismus, und Vasari hat als Generalmanager, als Kulturminister, wie immer man ihn nennen will, alle Mittel von der Musik bis vor allem zur visuellen Kunst, auch selbst als Maler, als Architekt, also er hat alle Künste zusammengeführt, um eine Art Propaganda für diese neue Form der Herrschaft zur Verfügung zu stellen, das ist seine prekäre, großartige, aber eben auch prekäre bildpolitische Leistung." Sprecher: Auch wenn Vasaris Werke im Dienste Cosimos I so unverhohlen der Verherrlichung des Medicifürsten dienten, ihre künstlerische Qualität steht außer Frage. Das gilt sowohl für die Viten, als auch für Vasaris Leistungen als Architekt von Florenz. Musik Sprecherin: 20 Jahre, bis zu seinem Tod 1574, wird Vasari in den Diensten Cosimos I stehen und für ihn das Bild der Stadt Florenz prägen und die Herrlichkeit der Familie der Medici preisen. Neben dem Umbau des Palazzo Vecchio und der Errichtung der Uffizien gestaltet er die beiden großen Kirchen Santa Maria Novella und Santa Croce maßgeblich um und gibt ihnen die Form, für die sie heute berühmt sind. Die Medici hatten den richtigen Mann gewählt. Klaus Wagenbach bringt das ambivalente und doch so fruchtbare Verhältnis auf folgenden Punkt: O-Ton Wagenbach: "Das waren die hohen Herren. Da war man auch schnell, wenn man da einen Fehler machte, war man auch schnell am Galgen. Das waren Herren, die hielten das, was sie für richtig hielten, erst einmal für allgemein richtig. Dem musste er sich beugen. Aber soweit wie Leonardo, der gesagt hat: >Ich bin kein Pfennigmaler. Ich will Gold haben und nicht Kupfer<, soweit waren dann die Künstler, auch Vasari, soweit waren sie dann schon." Musik Sprecherin: Tatsächlich hatten sich Vasaris kühnste Hoffnungen erfüllt. Der Spross einer Töpferfamilie hatte eine unvergleichliche Karriere gemacht - gebaut auf großes Talent, ungeheuren Fleiß und den Glauben an sich selbst. Wie kein Zweiter wusste er seine Aufstiegsmöglichkeiten zu nutzen. Als Vasari im Juni 1574, zwei Monate nach dem Tod Cosimos I, nach kurzer Krankheit mit 63 Jahren starb, gehörte er zu den bekanntesten und erfolgreichsten Künstlern seiner Zeit. Für die Nachwelt wurde er zum Begründer der Kunstgeschichte. Vielleicht aber wird erst heute deutlich, wie sehr Vasari unsere Vorstellungen geprägt hat: mit der Erfindung der Künstlerbiografie und dem Festschreiben des künstlerischen Habitus. Noch einmal Horst Bredekamp: O-Ton Horst Bredekamp: "Vasari hat mit der Begründung, dass Künstler in ihrer außerordentlichen Fähigkeit jenseits der normalen Rahmenbedingungen stehen, also jenseits der Normen stehen, einen Topos entwickelt, der im Grunde die Bestimmung von Künstlern nie mehr verlassen hat. Im Grunde finden wir ähnliche Beschreibungen bei Künstlern heute wie Damien Hirst oder zuvor natürlich bei Joseph Beuys, der in hohem Maße, wenn man seine Biografie betrachtet und so wie er sich inszeniert hat, diese jenseits der Normen sich befindenden Fähigkeiten und Berufungen noch mals repräsentiert. Das ist Vasari sozusagen in der Gegenwart." Benutzte Literatur Gerd Blum, Giorgio Vasari. Der Erfinder der Renaissance, C.H. Beck, München 2011 Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Frankfurt a. M. 1995 Roland Le Mollé, Giorgio Vasari. Im Dienst der Medici, Klett-Cotta, Stuttgart 1998 Giorgio Vasari, Das Leben des Baccio Bandinelli, Wagenbach, Berlin 2009 Giorgio Vasari, Das Leben des Leonardo da Vinci, Wagenbach, Berlin 2006 Giorgio Vasari, Das Leben des Michelangelo, Wagenbach, Berlin 2009 Giorgio Vasari, Das Leben des Raffael, Wagenbach, Berlin 2004 Giorgio Vasari, Jeder nach seinem Kopf. Die verrücktesten Künstlergeschichten der italienischen Renaissance, Wagenbach, Berlin 2008 Giorgio Vasari, Kunstgeschichte und Kunsttheorie, Wagenbach, Berlin 2004 Giorgio Vasari, Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten, Manesse, München 2005 Giorgio Vasari, Mein Leben, Wagenbach, Berlin 2005 1