Literatur EIN BILD ODER TAUSEND WORTE Die literarische Reportage in Polen nach Ryszard Kapu?ci?ski Von Wac?aw Stawny Erzählerin Rahmentext, Zitat Nowak Sprecher 1 Kapu?ci?ski Sprecher 2 Tochman, Jagielski, Nowak, Updike 1. O-TON RYSZARD KAPU?CI?SKI 1:05?50-1:06?35, SPRECHER DARÜBER SPRECHER 1 Bei jeder Krise in der Welt, egal ob der in Ruanda oder in Angola, wiederholt sich dasselbe: Es kommen Menschen zu Wort, die nicht die geringste Ahnung haben, worum es eigentlich geht. Das ist ein Buch gegen die Täuschung der Weltöffentlichkeit durch uns Journalisten. ERZÄHLERIN Das Buch heißt ?Warum Karl von Spreti umgebracht wurde?, der Autor: Ryszard Kapu?ci?ski. Der polnische Reporter Kapu?ci?ski beschreibt darin die Situation in Guatemala, wo 1970 der westdeutsche Botschafter Karl von Spreti von Partisanen entführt und erschossen wurde. Eine alte Geschichte also. Aber immer noch aktuell, sogar aktueller als damals, ist heutzutage, was Kapu?ci?ski den Anlass gab, das Buch zu schreiben: die fehlende Qualität der journalistischen Recherche und der adäquaten Beschreibung der Hintergründe und Zusammenhänge, die Frage der Glaubwürdigkeit der Berichterstattung und der Medien. 2. O-TON RYSZARD KAPU?CI?SKI 1:02?12-1:02?30 / 1:03?05-1:04?20 / 1:05?12-1:05?27, SPRECHER DARÜBER SPRECHER 1 Das kleine Büchlein ?Warum Karl von Spreti umgebracht wurde? habe ich in Mexiko geschrieben. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, das war die Zeit verstärkter Aktivität diverser Partisanengruppen in den Ländern Latein-Amerikas. Und eine solche Gruppierung hat den bundesdeutschen Botschafter in Guatemala ermordet. Das Echo auf den Mord war auf einmal überall in der Presse groß. Aber wie oft in den Medien, so war es auch in diesem Fall: in dem lauten Echo steckte jede Menge Ignoranz. Vor der Ermordung Spretis sind diverse Diplomaten aus den lateinamerikanischen Ländern Opfer von Partisanen geworden, was aber niemanden in der Welt aufgeregt hat. Nun hat sich die Presse auf den Mord gestürzt, weil es um einen Deutschen ging. ERZÄHLERIN Ryszard Kapu?ci?ski ist durch seine Reportagen weltberühmt geworden. Nach seinem Tod 2007 würdigte ihn Der Spiegel knapp und bündig: ?Der beste Reporter der Welt?. In seiner Heimat brachten ihm Texte über die polnische Provinz frühe Anerkennung, dann entdeckte er für sich eine Welt außerhalb von Polen: die fernen Kontinente Asien, Amerika, Afrika; immer wieder Afrika. Sein Interesse galt: den Krisengebieten, den Diktaturen, den Kriegen, den Militärumstürzen, Gefahren, Revolutionen; und vor allem den daran beteiligten und den davon betroffenen Menschen. Kapu?ci?ski war in der Welt als Reporter unterwegs, aber das Ergebnis seiner Arbeit sind Bücher von literarischer Qualität. Denn er verstand, die Beschreibung von Tatsachen in Literatur mit existenziellem Tiefsinn zu verwandeln. Für seine Leser war Kapu?ci?ski als Reporter und Schriftsteller glaubwürdig. 3. O-TON RYSZARD KAPU?CI?SKI 1:02?12-1:02?30 / 1:03?05-1:04?20 / 1:05?12-1:05?27, SPRECHER DARÜBER Ich habe im benachbarten Mexiko gelebt, und ich kannte Guatemala. Nachdem sich eine Welle von Vereinfachungen, Unverständnis und Unsinn durch die Weltpresse ergossen hatte, habe ich meinen polemischen Text über das Guatemala geschrieben, das ich kannte. Über ein unglückliches Land mit den über Generationen währenden, unvorstellbar blutigen, grausamen und nicht endenden Diktaturen. ERZÄHLERIN Die Reaktionen auf die 2010 veröffentlichte Biografie ?Kapu?ci?ski Non-Fiction?, verfasst von seinem Freund Artur Domoslawski, waren heftig. Drei Jahre lang hat Domos?awski für sein Buch recherchiert, die Witwe Alicja Kapu?ci?ska hat ihm das Archiv ihres Mannes zur Verfügung gestellt. Und Domos?awski hat Unerfreuliches herausgefunden. Dass Kapu?ci?ski, trotz seiner Behauptungen, weder Che Guevara, noch Patrice Lumumba, den kongolesischen Rebellen, gekannt hat. Dass er nicht so gefährlich gelebt habe, wie er das manchmal erscheinen ließ. Dass er zwar Verbindungen zum Staatssicherheitsdienst gehabt, niemandem aber geschadet hätte. In ?Kapu?ci?ski Non-Fiction? macht Domos?awski auch keinen Halt vor privaten und intimen Dingen aus dem Leben des Reporters, wie seine Frauengeschichten, das schwierige Verhältnis zu seiner Tochter, von ihm gefärbte Familiengeschichte. Domos?awskis Buch ist 600 Seiten dick, man wird mit Details jeder Art überhäuft und hat nach der Lektüre das seltsame Gefühl, sehr lange durch ein Schlüsselloch geguckt zu haben und fragt sich: macht das durch das Gucken durch ein Schlüsselloch gewonnene Wissen klüger? 4. O-TON: WOJCIECH TOCHMAN 1:09?44-1:11?13, SPRECHER UND ERZÄHLER DARÜBER SPRECHER 2 Das ist ein dummes Buch. ERZÄHLERIN Wojciech Tochman bringt seine Ablehnung unmissverständlich zum Ausdruck. Tochman ist einer der führenden polnischen Reporter aus der Generation nach Kapu?ci?ski. SPRECHER 2 Ein dummes Buch, schlecht dokumentiert. Der Autor hat offensichtlich Probleme mit der Recherche gehabt und noch größere Probleme mit der Auswertung der Fülle des Materials. Ich bin überrascht, dass ein so erfahrener Journalist wie Domos?awski ein derart an der elementarsten Berufsethik vorbeigehendes Buch geschrieben hat, und ein so langweiliges dazu. ERZÄHLERIN Artur Domos?awski ist Reporter und Publizist, Autor von Büchern über Südamerika, Interviewer von Menschen mit weltweit bekannten Namen, Gewinner von literarischen und journalistischen Preisen. Dennoch hat man nach der Lektüre von ?Kapu?ci?ski Non-Fiction" den Eindruck, Domos?awski hat alles aufgeschrieben, was er wusste, ohne zu wissen, was und warum er schreibt. Niemand erwartete von ihm, dass er nicht zeigt, was sich hinter Glanz und Gloria eines großen Namens wie Ryszard Kapu?ci?ski verbirgt. Man erwartet aber Kompetenz im Umgang mit Dokumenten und in der Bewertung von Tatsachen. Metaphorisch und mit Worten von Kapu?ci?ski gesagt: man erwartet, dass ein Autor versteht, ?Warum Karl von Spreti umgebracht wurde?. Kapu?ci?ski wusste nämlich, in seinem dünnen Buch über Guatemala genauso wie in anderen Texten, die Hintergründe kompetent zu interpretieren und die Dinge zusammenhängend zu durchleuchten. 5. O-TON: RYSZARD KAPU?CI?SKI 41?32-42?52 / 51?57-53?16, SPRECHER DARÜBER SPRECHER 1 Als Reporter habe ich damals in Afrika schon mehr als 10 Jahre gearbeitet, das Ergebnis war eine Fülle von Reportagen unterschiedlicher Qualität. Die Revolte in Äthiopien, über die ich berichten sollte, das war ein Militärumsturz. Während meines Aufenthalts dort habe ich laufend Informationen an die Presseagentur in Warschau geliefert und für eine Reportage-Serie recherchiert. Als ich nach der Rückkehr zu schreiben beginnen wollte, stellte ich fest, es geht nicht. Denn die Militärumstürze verlaufen gewöhnlich nach ähnlichem Szenario und dadurch schleicht sich in deren Beschreibung etwas Schematisches ein. ERZÄHLERIN ?König der Könige. Eine Parabel der Macht? ist eines der bekanntesten Werke des Reporters. Durch literarische Mittel erreicht es, was der Titel verspricht: eine universelle ?Parabel der Macht?. 6. O-TON: RYSZARD KAPU?CI?SKI 45?00-46?44 / 55?30-57?14, SPRECHER DARÜBER SPRECHER 1 Ein Buch anzufangen, den tragenden Rhythmus zu finden, ist immer das Schwierigste. Ich wusste schon, wenn ich Probleme mit einem Anfang habe, dann muss ich nach einem Gegenstand, nach einem Detail suchen. Also fing ich an, mir diverse Materialien, Zeitungen, Fotos anzuschauen. Und siehe da, auf einem Foto sitzt der Kaiser Haile Selassie auf dem Thron mit einem Schoßhund. Das Foto erinnerte mich daran, dass ich ihn schon mit seinem unzertrennlichen Hund gesehen hatte. Und dies hat mich zu dem Gedanken geführt, die Geschichte werde nicht ich erzählen, sondern ich lasse sie von seinen Höflingen erzählen. Einer von ihnen sagt: Das ist ein kleiner Hund einer japanischen Rasse, er heißt Lulu. Ein denkbar einfacher Satz, aus dem man nichts mehr wegstreichen kann. Da wusste ich, dieser Satz ist der Schlüssel zu meinem Buch. ERZÄHLERIN Ein auf den ersten Blick banales Detail, ein Foto des Kaisers mit dem Schosshündchen Lulu. Für Kapu?ci?ski aber ein Detail, das ihn auf das Wesentliche hinführte, in dem er ?das Herz der Finsternis? erblickte. Denn am kaiserlichen Hof gab es einen Beamten, dessen alleinige Aufgabe es war, die von Lulu angepinkelten Schuhe der in Bewegungslosigkeit vor dem Kaiser erstarrten Hofbeamten abzutrocknen. Dem Buch ?König der Könige? ist eine Veröffentlichung in der Wochenzeitschrift Kultura vorausgegangen. Dort ist Kapu?ci?skis Reportage in Fortsetzungen unter dem harmlosen Titel ?Ein bisschen Äthiopien?? erschienen. 7. O-TON: RYSZARD KAPU?CI?SKI 47?20-48?50 / 57?54-59?30, SPRECHER DARÜBER SPRECHER 1 Die erste Folge wurde veröffentlicht, dann die zweite, und auf einmal fingen alle an zu fragen: Gut, gut, aber wo sind die Reportagen aus Äthiopien? Du schreibst über den Kaiser, wie er seine Tierchen füttert, und über seinen Hund. Aber wo ist das Land mit den ganzen Festnahmen, dem Machtwechsel, der gewaltigen Revolution? Ich sagte nur: Wartet bitte, seid geduldig, das alles wird kommen. ?.Dann hat sich die Vermutung verbreitet, dass in meiner Reportage über den Kaiser Haile Selassie Edward Gierek, der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei in Polen und sein Zentralkomitee, treffend abgebildet werden. Dies hat die Redaktion in Angst und Schrecken versetzt. Ich wurde ständig gefragt: Was sind das für Texte? Worum geht es? Um Äthiopien? Oder doch nicht um Äthiopien? Nachdem ich die achte, neunte, zehnte Folge abgeliefert hatte, wurde ich in der Redaktion gefragt, wann ich endlich fertig werde? Plötzlich waren alle brennend daran interessiert, dass die Geschichte ihren Schluss findet, um nicht durch sie in Schwierigkeiten zu geraten. SPRECHER 2 ?Das Buch ist mehr als nur ein Dokument. Es birgt in sich sowohl Poesie, als auch etwas kafkaesk Geheimnisvolles.? ERZÄHLERIN schrieb John Updike in seiner Rezension von ?König der Könige?, das kafkaeske Element, das auch in kommunistischen Diktaturen auf Schritt und Tritt zu finden war. Das Zentrum von Warschau, die Flanierstraße Nowy ?wiat. Man geht durch ein Tor und kommt in eine begrünte Gasse, die vielmehr wie ein Hof aussieht. In einem Backsteingebäude mit großen Glasfenstern im Parterre hat das Reportage-Institut seinen Sitz. Draußen stehen rot bespannte Liegestühle und niedrige Holzkisten als Tische. In dem hohen Innenraum mit Bücherregalen, einer Kaffeetheke und Tischen ist eine Buchhandlung mit angeschlossenem Café untergebracht. Ein Tisch aus dunklem Holz und mit schöner Maserung, an dem die Aufnahme stattfindet, ist lang und breit. Hier sitzt Wojciech Tochman, einer der führenden polnischen Reporter und Mitbegründer des Reportage-Instituts. 8. O-TON: WOJCIECH TOCHMAN 45?00-46?23, SPRECHER DARÜBER SPRECHER 2 Unser Büro ist ungewöhnlich, das ist der Tisch hier, der in einer Buchhandlung steht, in der Non-Fiction-Bücher angeboten werden und wo man Kaffee trinken kann. Die Menschen kommen hierher, arbeiten an ihren Computern, lernen Sprachen. Jeden zweiten oder dritten Abend gibt es Lesungen, dann verschwinden die Café-Tische und Stuhl-Reihen werden aufgestellt. In Zusammenarbeit mit Verlagen laden wir polnische und ausländische Autoren ein. Das Reportage-Institut ist eine Privatstiftung, die ich mit meinen Kollegen Pawe? Go?li?ski und Mariusz Szczygie? ins Leben gerufen habe. Die Arbeit des Instituts konzentriert sich auf eine breite Unterstützung der Non-Fiction-Literatur. ERZÄHLERIN Ryszard Kapu?ci?ski war Jahrgang 1932, zwei Generationen später kam Wojciech Tochman auf die Welt. Wie Kapu?ci?ski ist auch er Reporter, Autor hervorragender Dokumentar-Bücher. In seinem Warschauer Reportage-Institut wirkt er eher wie ein Unternehmer. Dass die Erstausgabe des Ryszard-Kapu?ci?ski-Wettbewerbs für literarische Reportage im vergangenen Jahr ausgerechnet mit der Veröffentlichung der umstrittenen Biografie von Artur Domos?awski zusammentraf und die Witwe Alicja Kapu?ci?sk gegen das Buch prozessierte, sorgte für heftige Debatten, die Ende des Jahres noch einmal durch die Zuerkennung des Ehrentitels ?Journalist des Jahres 2010? an Domos?awski angeheitzt worden sind. Der von der Stadt und der Tageszeitung ?Gazeta Wyborcza? getragene und organisierte Wettbewerb konnte sich dennoch behaupten. Neben polnischen Non-Fiction-Autoren, sind auch ins Polnische übertragene Erstveröffentlichungen ausländischer Autoren vertreten. In diesem Jahr kamen sieben ausländische und drei polnische Bücher in die engere Auswahl. Den mit 12.500 Euro dotierten Ryszard-Kapu?ci?ski?Preis erhielt die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch für die Reportage ?Der Krieg hat kein weibliches Gesicht?. In dem auch in deutscher Übersetzung vorliegenden Buch zeigt sie mit den Stimmen der Soldatinnen der Roten Armee ein Bild des Krieges aus weiblicher Sicht. Unter den drei nominierten polnischen Autoren war Wojciech Tochman mit ?Heute zeichnen wir den Tod?, einer Reportage über den Völkermord in Ruanda. SPRECHER 2 ?Immer wieder dasselbe: getötete Eltern, Schwestern, Brüder, abgehackte Füße, abgehackte Hände, meine Notizbücher sind gefüllt mit abgehackten Gliedern, mit Blut und infiziertem Sperma, die Schwestern sind sicherlich vergewaltigt worden, seit Monaten mache ich nachtsüber ununterbrochen Notizen, ich hab schon alles, getötete Eltern auf jeder zweiten Seite, und Kinder, mit blauem Stift, mit schwarzem, mit grünem, so dass ich nach der Farbe meiner Notizen schnell Anfang und Ende jedes Berichts finden kann, auf die Art getötet, auf jene Art getötet, meine Notizbücher sind angeschwollen wie Leichen im Wasser, alle diese Körper sind bei mir, tot, und doch lebendig, verwundet, der erste Errettete, der zehnte, der fünfzigste, ihre getöteten Eltern sind nichts Besonderes, nichts Spezielles, das ist die ruandische Normalität, meine Notizbücher stinken, alles, was ich daran habe, verursacht mir Brechreiz. Noch vor kurzem wollte ich alles über alle Getöteten wissen. Ich wollte jeden Tod verzeichnen, jede Vergewaltigung, jede Infizierung, jeden abgehackten Fuß, jedes in einer Latrine ertränkte Kind. Noch vor kurzem war ich der Meinung, es wäre gut, sie alle zu verzeichnen. Und der Welt verkünden, dass es sie gegeben hat. Und wie sie umgebracht worden sind. Und das es gut wäre, sich an jeden von ihnen zu erinnern, an jeden Einzelnen, an jeden individuell.? ERZÄHLERIN Der Völkermord in Ruanda, die Täter, die Opfer, die Zeugen. Unter den Zeugen zwei polnische UN-Soldaten und sehr schmallippige polnische Ordensbrüder; der Erzbischof Henryk Hoser mit seiner 21järigen Ruanda-Erfahrung, der Wojciech Tochman schließlich nicht erlauben wird, seine eigenen dem Autor gegenüber gemachten Aussagen im Buch zu verwenden. ?Heute zeichnen wir den Tod? ist im Spätherbst 2010 in Polen erschienen. Zwar sind frühere Reportagen von Tochman in mehrere Sprachen übersetzt worden, erstaunlicherweise ist von ihm auf Deutsch fast nichts zu haben. Wojciech Jagielski ist Autor der Reportage ?Wanderer der Nacht? über Kinder in Uganda, die entführt werden, um aus ihnen hemmungslose Söldner in der sogenannten ?Widerstandsarmee des Herrn? zu machen. Vielmehr handelt es sich um eine im Sinne des Wortes Kinder-Miliz, deren Hauptbetätigung das Morden ist. Angeführt wird sie von einem Mann namens Joseph Kony, der sich für den Stellvertreter Gottes hält. Auf das Konto dieser Kinder-Miliz gehen mehr als hunderttausend ermordete und mehr als eine Million aus ihrer Heimat vertriebene Menschen. Jagielski ist immer wieder in den gefährlichsten Krisengebieten der Welt unterwegs, im Kaukasus, in Afghanistan, Tschetschenien, Afrika ? wie sein Vorbild Ryszard Kapu?ci?ski. Im Herbst 1989 ist er ihm erstmals begegnet, da hatte der 29jährige gerade ein Korrespondenten-Praktikum in Moskau absolviert und zerbrach sich den Kopf, worüber Kapu?ci?ski mit ihm reden wollte: SPRECHER 2 Als er in die Redaktion kam, sah ich, dass weder sein Habitus, seine Kleidung, noch sein Auftreten dem Bild von einem Kriegskorrespondenten entsprachen, das ich mir in meiner Fantasie zusammengedichtet habe. Er war nicht hochmütig, nicht vom Leben gezeichnet, nicht wortkarg. Hat mich nicht nach der Zukunft des Kommunismus gefragt. Er wollte die Ticketpreise in der Moskauer U-Bahn wissen, und was es in den Läden zu kaufen gibt, was wie viel kostet. Ich habe ihm alles erzählt, er hörte zu und war begeistert. Er hörte mir so aufmerksam zu, dass ich mich fühlte, als ob ich ihm die teuersten Geheimnisse des sowjetischen Imperiums anvertraut hätte. Nach diesem Gespräch habe ich mich von meinem Bild eines Kriegskorrespondenten im Allgemeinen, und von dem Bild von mir selbst in dieser Rolle, getrennt. Dank der Begegnung mit Kapu?ci?ski habe ich eines der wichtigsten Geheimnisse des journalistischen Handwerks entdeckt und begriffen: die Fähigkeit zuzuhören. Das also, was Kapu?ci?ski so virtuos beherrschte: die Fähigkeit zuzuhören. Sie bewirkt, dass Menschen sich ernst genommen fühlen und spüren, dass das, was sie zu erzählen haben, einem wichtig ist. Dass sie für den Fragenden einzigartig sind, und der Fragende für sie, durch das aufmerksame Zuhören, zum Vermittler wird.? ERZÄHLERIN Die polnische Reportage hat nicht nur durch Ryszard Kapu?ci?ski und Hanna Krall einen guten Ruf. Polen gilt in der literarischen Reportage als Europameister. Das Interesse an Non-Fiction-Literatur ist bei Autoren und Lesern groß, Reportagen ausländischer Autoren werden übersetzt, immer mehr kleine Verlage, wie der Verlag Czarne, veröffentlichen konsequent anspruchsvolle Dokumentar-Literatur . Die Liste ausgezeichneter Autorennamen ist lang: Außer Wojciech Jagielski und Wojciech Tochman müssten auf ihr auch W?odzimierz Nowak mit seiner Reportage ?Die Nacht von Wildenhagen? stehen, Mariusz Wilk mit dem Band ?Schwarzes Eis? und Mariusz Szczygie? mit dem als europäisches Buch 2009 ausgewählten ?Gottland? . Alle Titel sind auch in deutscher Übersetzung erschienen. Die Autoren berichten über Menschen und Tatsachen aus Tschetschenien, Afghanistan, Afrika, vom Balkan, aus der tiefsten russischen Provinz und aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet. Ihre Bücher ermöglichen, wie die von Kapu?ci?ski, das menschliche Tun, Denken und Fühlen zusammenhängend in ihrer existenziellen Dimension zu verstehen. Sie liefern Einblicke, die durch Bilder nicht zu ersetzen sind. 9. O-TON: WOJCIECH TOCHMAN 29?20-34?49, SPRECHER DARÜBER SPRECHER 2 Einige Kollegen schreiben ausschließlich über Polen, einige arbeiten ausschließlich in Russland, polnische Reporter finden ihre Themen überall in der Welt. Deshalb haben wir hervorragende Bücher über Afrika, Australien, Südamerika, Russland und das Europa außerhalb der EU. Viele von diesen Büchern werden in fremde Sprachen übersetzt. Und in diesem Jahr sind drei Non-Fiction-Bücher für Nike, den renommiertesten Literatur-Preis Polens, nominiert. Das ist ein sehr gutes Ergebnis. ERZÄHLERIN Zur Vielfalt und qualitativen Stärke der Reportage-Literatur in Polen hat entscheidend die Tageszeitung ?Gazeta Wyborcza? beigetragen. Sie hat Reporter aus verschiedenen Generationen um sich versammelt, die sehr unterschiedlich orientiert und spezialisiert sind. ?Gazeta Wyborcza? leistet sich eine wöchentliche Beilage für dieses Genre und veröffentlicht jährlich etwa dreihundert Reportagen. Für die polnischen Non-Fiction-Autoren ist längst nicht nur Ryszard Kapu?ci?ski ein Vorbild, auch die Jury-Vorsitzende des Kapu?ci?ski?Wettbewerbs Ma?gorzata Szejnert und die Schriftstellerin Hanna Krall haben unter den jungen Reportern einen guten Ruf. W?odzimierz Nowak arbeitet als Redakteur bei der Tageszeitung ?Gazeta Wyborcza?: 10. O-TON: W?ODZIMIERZ NOWAK 3?02-5?24, SPRECHER DARÜBER SPRECHER 2 Ich bin ein Schüler von Ma?gorzata Szejnert, einer bedeutenden Reporterin aus der Kapu?ci?ski-Generation. Bei der ?Gazeta Wyborcza? war von Anfang an die Reportage sehr gut aufgehoben. Es war für mich unschätzbar, dort das Handwerk direkt bei den Großen, wie sie, zu lernen. Es war learning by doing: ein Gespräch vor einer Recherchen-Reise, klären, wie das jeweilige Thema anzupacken ist, dann Konsultationen nach der Recherche bei der Auswahl des Materials und bei der Redaktion des Textes. Denn zunächst scheint es einem Autor, alles sei attraktiv und unverzichtbar. Es war wichtig zu lernen, sich nicht zu wiederholen und auf bestimmte Dinge verzichten zu können. Eben das habe ich von Ma?gorzata Szejnert gelernt. Sie war die Chefin der Reportage bei ?Gazeta Wyborcza?, als ich dort 1995 begonnen habe, zu arbeiten. Kapu?ci?ski dagegen war für mich eine Art Wegweiser, ein Orientierungspunkt sozusagen. Manchmal kam er in die Redaktion, aber ein Gespräch oder ein Treffen mit ihm, bei dem ich von ihm direkt hätte lernen können, hat es nicht gegeben. ERZÄHLERIN W?odzimierz Nowak war sowohl für den Nike-, als auch für den Ryszard-Kapu?ci?ski?Preis, nominiert. Bekommen hat er den Georg-Dehio-Preis in Deutschland und den Deutsch-Polnischen-Journalistenpreis. Seine Reportagen beeindrucken durch die Sprache, durch die Themen und Menschen, über die er schreibt. Nowak kann offensichtlich sehr gut zuhören, den Sprachstil seiner Gesprächspartner gibt er genauestens wieder. Oft in nur wenigen Sätzen beschreiben seine Gesprächspartner ausdrucksvoll sich und ihr Leben. In ihren knappen Aussagen ist immer wieder das Wesentliche zu finden. SPRECHER 2 ?Über diese Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 1945 erzählt uns Adelheid von selbst, wir müssen nicht fragen. Vierzig Jahre lang erzählte sie es nicht, weil in der DDR solche Themen verboten waren. Die deutsch-sowjetische Freundschaft war Pflicht, Adelheid und ihr Mann waren bei der FDJ, die Söhne bei den Pionieren. Außerdem hatte man keine Zeit: Arbeit, Kinder, Familie, an Samstagen gingen sie tanzen. Das Leben floss schnell dahin, der Kopf war leer. Die Nacht war tief vergraben.? ERZÄHLERIN W?odzimierz Nowak: ?Die Nacht von Wildenhagen?: ?Auf dem Dachboden war es furchtbar still (?). Ich weiß nicht, wie lange das gedauert hat, es schien lange, aber wahrscheinlich waren es nur ein paar Augenblicke. Licht. Von meinem Sack aus sah ich Elsa in den ersten Sonnenstrahlen. Sie schaukelte zwischen den Fenstern, der Kopf hing nach unten, die Schultern waren merkwürdig ausgebreitet. Mir kam in den Sinn, dort würde ein sterbender Engel hängen. Wie auf dem Bild vom Pastor. Ich konnte die Augen nicht abwenden, deshalb habe ich mich wahrscheinlich nicht aufgehängt. Plötzlich, von irgendwo unten, hörte ich schwere Schritte und fremde Stimmen. Die Tür knarrte, die ersten Russen kamen auf den Dachboden. Ich ging tief in die Hocke, die Schnur zog sich enger. Ich glaube, sie waren nicht überrascht von dem, was sie sahen. Sie liefen zwischen den Hafersäcken und schnitten die Frauen los. Die Männer erkannten sofort, dass Elsa noch lebte. Sie war nicht besonders hübsch, aber jung, einundzwanzig Jahre alt. Sie schnitten sie los und rannten mit ihr nach unten. Später habe ich erfahren, dass sie die Halbtote vergewaltigt haben. Sie schmissen die Tür zu, mich und Mutter hinter dem Balken bemerkten sie nicht. Ich schmiegte mich an Mutter flüsterte: Mama, Mama, Mama. Dann begann ich zu schreien. Die Soldaten rannten wieder nach oben. Sie schnitten uns los. Mutter trugen sie hinaus. Ich habe sie nie wieder gesehen. Die Russen haben mir nichts Böses getan. Sie hatten Mitleid mit mir, ?Kleines, ach, Kleines?. Ich wanderte von einem Schoß zum anderen. Sie gaben mir zu essen.? SPRECHER 2 Das vor dem Krieg deutsche Dörfchen Wildenhagen liegt heute auf der polnischen Seite der Oder. Im Winter 1945, aus panischer Angst vor den einrückenden Rotarmisten, haben die meisten Frauen zunächst die Kinder, dann sich selbst umgebracht. Damals noch ein Kind, hätte sich Adelheid Nagel beinahe erhängt. Der gemeinsame Suizid von Wildenhagen war kein Einzelfall; er hat einen Namen: "Nemmersdorfsyndrom". Das im ostpreußischen Nemmersdorf von den Soldaten der Roten Armee an der Zivilbevölkerung verübte grausame Massaker hat die NS-Propaganda ausgeschlachtet, um unter den Deutschen einerseits die Angst zu schüren, andererseits dadurch die Kampfbereitschaft zu steigern. Unter den deutschen Frauen ist aber vor allem die Bereitschaft gestiegen, lieber sich selbst und die Kinder zu töten, als in die Hände des Feindes zu geraten. ERZÄHLERIN Abgesehen von der schriftstellerischen Fertigkeit, der Begabung und Erfahrung eines Reporters, ist eine gute literarische Reportage auch von der Finanzierung abhängig: Reise-, Hotel-, Transportkosten, dazu kundige Helfer am Rechercheort, Dolmetscher. Die eher kleinen Verlage, die die Non-Fiction-Literatur herausgeben, können es sich nicht leisten, diese Kosten zu tragen. Und Zeitschriften und Zeitungen kaufen immer häufiger auf dem freien Medien-Weltmarkt, auch Reportagen. Dies führt zu Konkurrenz, zu Dumping-Preisen und letztendlich zur Verflachung des Journalismus. Autoren wie Tochman, Jagielski, Nowak, Szczygie?, Wilk sind keine ?rasenden? Reporter, sie sind vielmehr Berichterstatter. Für ihre fundierte Recherche und ihre Qualitätsarbeit brauchen sie Zeit, also Geld. Wojciech Tochman ist nicht nur ein ausgezeichneter Reporter, sondern auch ein Organisator. 2010 war er an der Vorbereitung eines internationalen Reportage-Festivals in Warschau beteiligt. An fünf Festivaltagen kamen über fünf tausend Menschen zu den Veranstaltungen. Für 2012 ist eine erneute Ausgabe des Festivals geplant. Nicht zuletzt über das Festival schafft das Reportage-Institut, zusammen mit dem Dokumentar-Theater, einen gesellschaftlichen Raum für die Non-Fiction-Literatur, und versucht, seine ökonomische Basis zu erweitern. Lange bevor Ryszard Kapu?ci?ski tot war, tauchte die durchaus berechtigte Frage auf, welche Zukunft in der vom Internet und von den elektronischen Medien beherrschten Welt die literarische Reportage haben kann? Welche Überlebenschancen angesichts der allgegenwärtigen Digitalkameras, wenn das penetrante Kameraauge imstande ist von überallher Bilder zu liefern, die mehr sagen, als tausend Worte? Der Beweis, dass dies oft nicht stimmt, ist in Reportage-Büchern zu finden. Und erfreulicherweise zeigt sich auch, dass nach wie vor Menschen zu finden sind, denen tausend Worte lieber sind, als ein geschwätziges, nichts sagendes Bild. W?odzimierz Nowak: 11. O-TON W?ODZIMIERZ NOWAK, SPRECHER DARÜBER SPRECHER 2 Ich habe schon den angekündigten Tod der literarischen Reportage mehrmals erlebt. Aber sie lebt immer noch. Mehr noch: Sie wird immer lebendiger. 12 12