Deutschlandfunk Kultur – Zeitfragen 7. Juni 2017, 19.30 Uhr Flucht nach Europa Die Odyssee der griechischen Familie Markopoulos Autor: Mirko Heinemann Redaktion: Winfried Sträter Produktion: 1. Juni 2017 Sprecherin Es war der 9. August 1917, wenige Tage nach Vollmond. Ein Sommerabend, als in der Stadt Ordu plötzlich Feuer ausbrach. Unten, am Markt, brannten Gebäude. Dichter Rauch wirbelte durch die engen Gassen des griechischen Viertels, dessen Häuser dicht am Hang standen. 001. Atmo: Geschrei, Kanonen Sprecherin Ordu liegt im Norden der heutigen Türkei, an der Küste des Schwarzen Meers. Wer den Blick auf das Meer hatte, sah im Mondlicht schemenhaft ein Dutzend Kriegsschiffe, die Feuer spuckten. Die Geschosse schlugen in der Unterstadt ein, eines auch in der griechischen Kirche. Auf den Straßen liefen Menschen zusammen, schrien und weinten. Die Kriegsschiffe hatten Boote ausgesetzt, die auf den Strand zusteuerten. Rufe erschallten: Verlasst eure Häuser! Hinunter zum Hafen! Die Kriegsschiffe hatten die russische Fahne gehisst. Es war ein „Raid“, ein militärischer Überfall. Nach offiziellen Angaben sprengten sie ein Munitionsdepot und zerstörten ein Flugfeld. Als sie wieder ablegten, nahmen sie 3.000 Griechen aus Ordu mit, die in Panik auf die Schiffe geflüchtet waren. Darunter war ein Mädchen, 15 Jahre alt. Es erinnert sich später noch an das Bild, wie es seine Pantoffeln neben die Haustür stellte. Wir sind bald wieder zurück, tröstete die Mutter. 002. O-Ton Diana Heinemann Und alle liefen nach Hafen und da waren Schiffe. Und haben gewartet auf die Leute. Und da hat die Mutter das Kind verloren. Und die Mutter das Kind. Autor So erzählt meine Mutter die Geschichte, die sie von ihrer Mutter hörte. Das 15-jährige Mädchen, das auf dem Weg zum Schiff seine Eltern verlor, .war Alexandra, meine Großmutter. 003. Atmo: Aufblende Schwarzes Meer, Zikaden Autor Fast auf den Tag genau 99 Jahre später lande ich auf dem Flughafen von Trabzon im Nordosten der Türkei. Es ist ein milder Abend im August, wenige Tage nach Vollmond. Das Schwarze Meer liegt still wie ein riesiger Bergsee im Mondschein. Nur 150 Kilometer sind es von hier nach Ordu, in die Heimatstadt meiner Großmutter. In Trabzon, der alten griechischen Metropole am Schwarzen Meer, hoffe ich auf Spuren der Menschen zu stoßen, die einst hier gelebt haben. Sprecherin Eine griechische Sage erzählt, wie ein Trupp Abenteurer ins Land Kolchis im heutigen Georgien aufbricht, um das Fell eines Widders zu erobern. Das Goldene Vlies. Die Argonautensage fußt auf historischen Begebenheiten: Im 8. Jahrhundert vor Christus errichteten griechische Seefahrer die ersten Handelsposten an der Küste des Schwarzen Meeres. 004. Atmo: Bazar von Trabzon. Stimmengewirr, Muezzin Sprecherin Einer davon war Trabzon, das alte Trapezunt. Bis vor hundert Jahren, als das Osmanische Reich unterging, war die Hafenstadt ein Schmelztiegel der Kulturen. Neben Griechisch wurde Türkisch gesprochen, Armenisch, Georgisch und Russisch. Die amtliche osmanische Statistik zählt Anfang des 20. Jahrhunderts in der Provinz Trabzon etwa eine Million Türken, 300.000 Griechen und 30.000 Armenier. Seefahrt, Handel und Handwerk waren fest in griechischer Hand. Autor Das Schwarze Meer habe ich stets mit meiner Großmutter verbunden, die gestorben ist, als ich elf Jahre alt war. Über ihre Fluchtgeschichte hat sie selten gesprochen. Aber wenn, dann umgab sie eine Melancholie, die nur verschwand, wenn sie mit ihren Nachbarn sprach, die ebenfalls Flüchtlinge waren. Dann benutzte sie türkische Wörter, die für uns Kinder fremdartig klangen. Wie die meisten Griechen wurde meine Großmutter nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Gebiet des neu gegründeten Staates Türkei ausgewiesen und ins heutige Griechenland umgesiedelt. Zunächst brachte sie das Kriegsschiff, das sie aufgenommen hatte, in die russische Hafenstadt Suchumi, wo sie bei einer dort lebenden griechischen Familie unterkam. Erst zwei Jahre später traf sie in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, ihre Eltern und Geschwister wieder. Kreuzblende in 009 Atmo: Touristeninfo/englisch Autor Ich gehe in die Touristeninformation von Trabzon. Dem Mitarbeiter erkläre ich, dass ich mich für die griechische Vergangenheit der Stadt interessiere. 010 O-Ton Touristeninfo englisch - Übersetzer (Autor) Leben noch griechisch sprechende Menschen in Trabzon? (Antwort) Nein. Es gibt vielleicht noch einige, die griechische Dialekte verstehen können. Aber das sind keine Griechen in dem Sinn, sie leben hier und pflegen ihre Sprache nicht mehr. Aber hier in den Bergen rund um Macka („Matschka“) und Usignol findet man manchmal noch Menschen, die Griechisch sprechen. Autor Der Mann holt eine Landkarte hervor und umkringelt einige Dorfnamen mit dem Kugelschreiber. Am selben Abend erreicht mich eine Mail des Historikers Theodosios Kyriakidis von der Universität Thessaloniki. Ich war auf seine Forschungen in einem verlassenen griechischen Felsenkloster aufmerksam geworden, das rund 50 Kilometer entfernt von Trabzon in den Bergen liegt. Er mailt mir eine Telefonnummer und einen Namen: Fahrettin Erdogan. Ich wähle die Nummer, und der Mann auf der anderen Seite begrüßt mich enthusiastisch auf Griechisch. Er will mich treffen. Wir verabreden uns für denselben Abend auf dem Meydan in Trabzon. 012 Atmo: Begrüßung Fahrettin Autor Fahrettin Erdogan ist ein untersetzter Mann Mitte 30 mit schütterem Haar und breitem Lachen. Er umarmt mich sofort und stellt mir seinen Freund Mehmet vor. Mehmet kann kein Neugriechisch. Mit Fahrettin spricht er den griechischen Dialekt, den auch meine Großmutter benutzte, wenn sie sich mit anderen Flüchtlingen traf: das Pontiaka. Es rührt mich, die Sprache hier zu hören. 013 O-Ton Fahrettin griechisch - Übersetzer Pontiaka ist altes Griechisch. Mein Vater und meine Mutter haben zu Hause Pontiaka gesprochen, so habe ich das gelernt. Erst später habe ich Neugriechisch gelernt, weil ich als Reiseführer immer mehr griechische Touristen getroffen habe, die auf den Spuren ihrer Vorfahren herkamen. Autor Es wird ein Abend mit einem beinahe babylonischen Sprachgewirr. Die beiden sprechen untereinander Pontiaka, Fahrettin und ich Neugriechisch, Mehmet und ich in gebrochenem Niederländisch, weil Mehmet im Winter in Holland arbeitet. 014 Atmo Gespräch Kan je praten Nederlands...Trapezunda itane international.... Autor Fahrettin gibt mir eine Lektion in Pontiaka, dem Dialekt der Schwarzmeergriechen. 015 Atmo Pontiaka Kalaitchevo...an Milas ine Kalaitchevo. Ine Pontiaka. Autor Pontiaka – das war ein in Griechenland lange verpönter Dialekt. Die Flüchtlinge vom Schwarzen Meer, das die Griechen „Pontos“ nennen, waren Witzfiguren, die Ostfriesen Griechenlands. Erst die jetzige junge Generation pflegt ihre alte Sprache wieder mit Stolz. Junge Musiker spielen wieder die pontischen Lieder. 016 Musik: Ekain kai to tsambasin Autor Fahrettin und Mehmet stammen aus dem Bergdorf Hamsiköy, nahe Trabzon. Die Einwohner des einstmals griechischen Dorfs sind schon vor langer Zeit zum Islam konvertiert. Deshalb gelten sie heute als Türken. Sie erzählen von ihren Familien und ihren Tänzen zur Musik der traditionellen Instrumente: Lira und Laute. Die Lira ist eine einfache Violine, Laute nennen sie die Trommel. Musik hochziehen Autor Beide kennen ein Lied, das mich seit seit meiner Kindheit begleitet: „Ekain kai to Tsambasin“. Der Text ist im Dialekt der Schwarzmeer-Griechen abgefasst. Unter der Musik: Zitatorin Tsambasin ist abgebrannt Es blieben nur die Mauern stehen Es eilten zu Hilfe Die Söhne aus Ordu, dem geliebten. Autor Das Lied spielt in Ordu, der Heimatstadt meiner Großmutter. Tsambasin war eine nahe gelegene Hochebene in den Pontischen Bergen. Dorthin zogen sich die Städter aus Ordu während der heißen Sommermonate zurück, um der Malaria zu entgehen. Unter Pontos-Griechen ist das Lied ein Symbol für den Verlust der Heimat, ähnlich wie das deutsche „Maikäfer flieg“. Musik kurz hochziehen, unter nächstem Sprechertext Abblende Autor Plötzlich gibt es da etwas, da uns verbindet. Ob Deutscher, Grieche, Türke – für Fahrettin spielt das keine Rolle. Wir sind Landsleute, weil wir vom Schwarzen Meer stammen. 017 O-Ton Fahrettin griechisch - Übersetzer Mag sein, dass du Deutsch sprichst. Ich spreche Türkisch. Warum nicht? Sprechen wir Türkisch! Das ändert nichts an deiner Herkunft. Es ist wie im alten Lied, das sagt: Blut kann nicht zu Wasser werden. Autor Er selbst nennt sich nicht „Grieche“, sondern „Romeos“, Römer. Eine Bezeichnung aus der Zeit des Byzantinischen Reichs, als Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert die Hauptstadt des Reiches von Rom nach Konstantinopel, nach Byzanz, verlegte. Die Einwohner von Byzanz sprachen Griechisch, nannten sich aber Römer. Auch auf Türkisch heißen die Griechen „Rum“. Römer. Musik „Yüksek“. Leise im Hintergrund, siehe 008 Sprecherin Nachdem die Osmanische Armee im 15. Jahrhundert das Byzantinische Reich eroberte, mussten die Christen hohe Kopfsteuern bezahlen. Um diese zu umgehen, sind im Laufe der Jahrhunderte viele zum Islam übergetreten. Ihre Sprache wie auch ihre Kultur behielten sie aber bei. Das waren vor allem Bauern, die unter ärmlichen Bedingungen lebten. Die Griechen in der Stadt konnten sich die Steuern eher leisten. Sie bildeten die Kaste der Händler, Handwerker und Seefahrer und zählten zur Wirtschaftselite des Osmanischen Reichs. Autor Als nach der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 alle griechisch sprechenden Christen das Land verlassen mussten, machte dieses Ereignis auch meine Familie zu Nomaden. 018 Atmo: Busfahrt Autor Jetzt fahre ich dort an der Küste entlang, mit einem Überlandbus nach Ordu, in die alte Heimat meiner Großmutter. Das Meer ist unruhig. Es weht der Poyraz, wie die Türken den Nordwind nennen, nach dem griechischen Wort Boreas, der Nördliche. Er bringt Feuchtigkeit an die Küste, deshalb ist sie so grün, so fruchtbar. Efxinos Pontos, gastfreundliches Meer, so nannten die Griechen dieses Wasser in der Antike. Musik (leise im Hintergrund): Ekain kai to tsambasin, siehe 016 Autor Ankunft in Ordu. Das erste, was mir zwischen den Hochhäusern ins Auge fällt, ist ein Plakat. Es zeigt eine Schneelandschaft und eine fröhliche Familie auf Skiern. Werbung für das Skigebiet Cambasin auf 1.800 Metern Höhe. Das Tsambasin aus dem griechischen Lied, das einst abgebrannt ist. Heute ein touristisch vermarktetes Naherholungsgebiet. 019 Atmo: Einkaufsstraße Autor Ordu mit seinen 200.000 Einwohnern zeigt sich als schachbrettartige Neustadt. Ich kenne niemanden, habe keinen Kontakt. Ich schaue nach alten Häusern. Irgendetwas mit Vergangenheit. 020 Atmo Kinder Autor Als ich an einer älteren Villa vorbeikomme, klingele ich am Tor. Im Garten spielen Kinder. 021 Atmo Ezgi: Merhaba - Merhaba. My Family is from Ordu. Do you know how old this building is? - Again please.... Autor Ezgi Demiröz, die Leiterin des Kindergartens, ist eine Frau um die 30 mit heller Haut und langem, schwarzen Haar. Sie spricht nur wenig Englisch, aber sie versteht, wonach ich suche. Sie bittet mich herein. 022 O-Ton Ezgi englisch - Übersetzerin Der Vater eines unserer Kinder kennt sich sehr gut mit der Geschichte von Ordu aus. Er wird mit Ihnen sprechen. Warten Sie hier. Autor So lerne ich Tansel Eribol kennen. Er ist Ende 40, hat graue Stoppelhaare und ein offenes Gesicht. 023 Atmo: Tansel spricht türkisch, dann „Welcome to Ordu“, weiter Autor Tansel ist Heimatforscher und, wie er sagt, einer von vier oder fünf Menschen in Ordu, die sich für die Geschichte der Stadt interessieren. Von ihm erfahre ich, dass seine Familie die gleiche Fluchtgeschichte hat wie meine, nur umgekehrt. Seine Großmutter lebte in Griechenland und wurde als Muslimin vor hundert Jahren in die Türkei umgesiedelt. 024 Atmo: Wanderung, Schritte Autor Gemeinsam wandern wir an das Ende der Neustadt, wo die Berge dicht an die Küste rücken. Dort stehen die Häuser immer steiler am Hang. Wir überqueren eine Brücke. Und plötzlich ist es, als wäre die Zeit um hundert Jahre zurückgedreht. 025 Atmo: Wanderung: zu hören ist „Wow...Greek Part of the city...“ Autor Windschiefe Häuser kleben an den steilen Hängen. Die Altstadt ist durchzogen von Bächen, die den Berg hinunterfließen. Viele Häuser stehen leer, auch herrschaftliche Villen. Unten am Fuß des Hügels steht eine imposante Basilika, äußerlich unversehrt. Es fehlt nur das Kreuz auf der Kuppel. Dies ist Ta?ba?i, das ehemalige griechische Viertel von Ordu. 026 O-Ton Tansel englisch – Übersetzer Wir gehen jetzt zu der großen Kirche hinunter. Direkt neben der Kirche befand sich die griechische Schule. Es gibt sie nicht mehr, sie wurde abgerissen. Sie lag dort unten, direkt neben dem Strand. Autor Von meiner Mutter weiß ich, dass meine Großmutter jeden Morgen vor der Schule zum Meer hinunterging, um zu schwimmen. Heute verläuft dort die vierspurige Küstenstraße. Auf alten Fotos, die mir Tansel später zeigt, kann man erkennen, dass die Treppe neben der Basilika direkt an den Strand führte. Die Kirche, daneben die Schule: Hier muss das Haus meiner Vorfahren gestanden haben, als sie noch hier wohnen durften. 027. Musik: Zara: Ordu'nun Derileri Autor Das wichtigste Produkt von Ordu waren und sind bis heute seine Haselnüsse. Der Reichtum einer Familie bemaß sich an dem Gewicht der Ernte, die sie einfuhr. Die Nüsse wurden auf Schiffe verladen und gingen über das Schwarze Meer nach Europa. Mein Urgroßvater war Besitzer eines dieser Schiffe. Musik kurz hochziehen Autor Eine meiner Großtanten war beim Bey von Ordu als Dienstmädchen angestellt. Der türkische Bürgermeister, der als Pascha angesprochen wurde, galt als strenger Herr. 028. O-Ton Mutter Ich erinnere mich, wie meine Tante erzählte: Die Griechen, um die Gunst des Paschas zu bekommen, haben ihm immer Geschenke gebracht. Die Frau hat die Geschenke gefunden und hat sie am anderen Tag den Griechen zurückgebracht. So liebte sie die Griechen. Autor Im Rückblick wird diese Zeit gerne verklärt. 029 O-Ton Mutter Die Türken mit den Griechen wohnten wie Brüder, und sie arbeiteten wie Brüder. Autor Was passierte in jenen Jahren, als das angeblich so harmonische Zusammenleben der Volksgruppen in Feindschaft umschlug? Musik hochziehen, letzte Strophe, darunter Sprechertext: Zitatorin Die Bäche von Ordu Sind von schwarzem Moos bedeckt Lass uns weggehen, Liebster Meine Mutter weint zu Hause über mich, deren Augen kajalgeschwärzt sind, ach Musik Ausblende Sprecherin Anfang des 20. Jahrhunderts erstarkte der Nationalismus in Europa, auch in den Provinzen des Osmanischen Reichs. Die Minderheiten wollten ihre Unabhängigkeit. 1912 und 1913 tobten die Balkankriege, die auch Stellvertreterkriege der europäischen Großmächte waren, die auf Beute aus dem kriselnden Osmanischen Reich schielten. Danach kam es immer wieder zu ehnischen Säuberungen, Revanchismus und Rache zwischen der osmanisch-türkischen Seite und den Minderheiten im Osmanischen Reich. Guerillas verübten Überfälle auf christliche - und im Gegenzug auf muslimische Dörfer. Was sich zunächst vor allem im Westen des Reichs, auf dem Balkan, abspielte, weitete sich im Laufe des Ersten Weltkriegs nach Anatolien aus. Autor Was geschah 1917 in Ordu? Die Quellenlage ist dürftig. Über den Angriff der russischen Kriegsschiffe und die Evakuierung von mehr als 3.000 Griechen wurde damals in der New York Times berichtet. Auf dem australischen Portal „Greek Genocide Ressource Center“ finde ich einen Zeitzeugenbericht aus Ordu. Über die Bedingungen während des Ersten Weltkriegs klärt mich der griechische Historiker Theodosios Kyriakidis auf, den ich in Thessaloniki treffe. Die Küsten waren damals recht dünn besiedelt, und die kleinen Städte nur unzureichend bewacht. 030. O-Ton Kyriakidis englisch - Übersetzer Nicht nur russische Schiffe, sondern auch Schiffe der anderen Kriegsmächte patrouillierten im Schwarzen Meer. Auch griechische Schiffe. Sie tauchten unvermittelt vor türkischen Küstenorten auf und beschossen sie. Eine ihrer Aufgaben war es, Präsenz zu zeigen, um Massaker an den Griechen zu verhindern. Autor Die New York Times zitiert in ihrem Bericht über den Russischen Raid einen Befehl aus dem Hauptquartier der Osmanischen Armee: Sprecherin „Am 25. Juli 1917 soll kein Grieche über 16 und unter 50 Jahren mehr in Ordu zu finden sein. Alle sollen in das Landesinnere gebracht werden. Zum Umgang mit den Familien folgen spätere Instruktionen.“ Autor Alle Männer im wehrfähigen Alter wären demnach bereits deportiert gewesen. Kyriakidis glaubt, dass dieser Befehl die russischen Kriegsschiffe auf den Plan gerufen haben könnte, weil die Russen Übergriffe befürchteten. Die Evakuierung der Griechen könnte damit sogar das Hauptziel des Raids gewesen sein. Sprecherin Alle Griechen, die nicht auf die Schiffe gelangten, mussten Ordu später verlassen. Der griechische Chronist Ioakim Saltsis schreibt, dass im Herbst 1917 etwa 3.500 Griechen in sieben Gruppen über den 2.000 Meter hohen Pass im pontischen Gebirge wandern mussten. Der Marsch endete in einem Lager im 200 Kilometer entfernten Erbaa. Mehr als 1.000 Menschen, also ein Drittel der Deportierten, sollen unterwegs an Krankheiten gestorben sein. Es war der Beginn dessen, was manche Historiker heute als Genozid an den Pontos-Griechen bezeichnen. Immer mehr Griechen wurden aus Küstenstädten deportiert, 30.000 allein aus der Großstadt Samsun. Irreguläre Einheiten verübten Überfälle auf griechische Dörfer im Hinterland. Am 19. Oktober 1917 titelte die US-amerikanische Zeitung Lincoln Daily Star: „Turks Slaughter Christian Greeks.“ Autor Warum besonders die Pontos-Griechen in das Visier der osmanischen Militärs gerieten, erklärt mir die Genozid-Forscherin und Osteuropa-Expertin Tessa Hofmann von der Freien Universität Berlin: 031. O-Ton Hofmann Die Griechisch-Orthodoxen werden bereits seit den Balkankriegen als die Instrumente der Imperialisten angesehen. Sie gelten als Handlager Großbritanniens, aber auch Russlands. Das betrifft ganz besonders die Pontosgriechen, die aus geografischer Nähe als Handlanger Russlands angesehen werden. Sprecherin Am 19. Mai 1919 landet Mustafal Kemal, der spätere Atatürk, mit einer Militäreinheit mitten im Pontos-Gebiet. Von der Küste des Schwarzen Meeres will er den Widerstand gegen die drohende Niederlage des Osmanischen Reichs organisieren. Dazu gehört auch die Deportation der verbliebenen Griechen, die er für innerstaatliche Feinde hält. 032. O-Ton Hofmann Es kommt im Pontos zur Festnahme und Hinrichtungen von wirtschaftlich und intellektuell führenden Pontosgriechen durch sogenannte Revolutionstribunale, die Mustafa Kemal einsetzt. Sprecherin Wer nicht in die Fänge der Revolutionsgarden geraten will, flieht. 033. O-Ton Hofmann Im Pontosgebiet zog man sich - Griechen und Armenier – zog man sich in die Berge zurück, weniger um dort die Staatsmacht zu bekämpfen, dazu reichten die Kräfte nicht, aber um zu überleben und um auch Zivilbevölkerung zu schützen. Autor Tessa Hofmann hat Berichte von Überlebenden gesammelt. In ihnen liest man, wie kemalistische Kämpfer die Bevölkerung griechischer Dörfer im Hinterland zusammentrieben, in der Kirche oder der Schule einsperrten und dann das Gebäude ansteckten. Viele Flüchtlinge versteckten sich in Wäldern und in Höhlen, um den Todesschwadronen zu entkommen. Sprecherin Die türkische Geschichtsschreibung hingegen stuft die Deportationen und Hinrichtungen von christlichen Armeniern und Griechen als „kriegsbedingt“ ein. Sie seien notwendig gewesen, um der Bedrohung durch innere Feinde Herr zu werden. Taner Akçam1, der als erster bedeutender türkischer Historiker den Genozid an den Armeniern anerkannte, hat die Archive der osmanischen Regierung durchforstet und zahlreiche Anordnungen zu Deportationen von Griechen veröffentlicht. Auch er spricht von Massakern. Im Gegensatz zu den Armeniern aber habe die Politik gegenüber den Pontos-Griechen nicht das Ziel verfolgt, sie zu vernichten. Autor Im Gegenzug kämpften Griechen und Armenier in kleinen Gruppen gegen die osmanische Armee. Oft handelte es sich um Deserteure, die sich in den Bergen verschanzten. Die türkische Regierung leugnet bis heute sowohl die Vernichtung der Armenier wie auch die systematische Verfolgung von Griechen und anderer Christen. Als 2015 der Deutsche Bundestag eine Resolution verabschiedete, die den Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern anerkennt, brach die Türkei vorübergehend die diplomatischen Beziehungen ab. Die Griechen, deren zivile Opfer bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in die Hundertausende gingen, werden in der Resolution nicht erwähnt. Der Bundestag spricht allgemein von „Angehörigen anderer christlicher Volksgruppen“. Dem griechischen Historiker Theodosios Kyriakidis ist das zu wenig. 035. O-Ton Kiriakidis englisch - Übersetzer Nicht nur, dass die Resolution die Griechen nicht erwähnt. Sie beschränkt sich auf einen engen Zeitrahmen, nämlich 1915 bis 1916. Der eigentliche Genozid an den osmanischen Griechen aber beginnt erst 1916. Richtig wäre es gewesen, zum einen die Griechen zu erwähnen und den Zeitraum auszudehnen. Bis 1923 noch wurden Massaker an Griechen verübt, auch an Armeniern, die noch nicht deportiert worden waren. Sprecherin Zur Wahrheit gehört aber auch: Im Ersten Weltkrieg gab es keine Nachsicht, auf keiner Seite. Als das Osmanische Reich kapituliert, erfolgt der Gegenangriff Griechenlands: 1919 stößt die griechische Armee mit Billigung der Westmächte Richtung Ankara vor, dem Sitz der neuen Regierung um Atatürk. Der griechische Staatschef Venizelos träumt von einem großgriechischen Reich mit Konstantinopel als Hauptstadt. 036. Atmo: Istanbul 01, Schifffahrt über den Bosporus Autor Während des Vormarsches der griechischen Armee auf Ankara sammeln sich viele vertriebene Griechen in Konstantinopel, das von den Siegermächten besetzt ist. Sie warten. Und hoffen darauf, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Auch meine Großmutter Alexandra trifft 1919 aus Russland mit einem Dampfer am Goldenen Horn ein. Nach zwei Jahren sieht sie ihre Familie wieder. Alle sind wohlauf. 037. Atmo: Istanbul Autor Ein Jahrhundert später: Ich erreiche Istanbul, das einstige Konstantinopel, mit dem Bus. Das alte Konstantinopel befindet sich auf der europäischen Seite des Bosporus. Nicht weit von der Aya Sofia, der einstigen Prachtkathedrale, liegt das Viertel Fener. Sprecherin Sein griechischer Name Fanari, zu Deutsch: Leuchtfeuer, zeugt von der Zeit, als die griechische Elite des Osmanischen Reichs hier lebte. Die Fanarioten waren dem Sultan treu ergeben, sie übernahmen wichtige Führungsaufgaben. 039. Atmo: Patriarchat, aus der Kirche tönt der Gesang von Priestern Autor Hoch oben auf dem Hügel thront noch das griechische Gymnasium von Istanbul. Hinter dicken Mauern, viele Treppenstufen tiefer, verbirgt sich der Sitz des Patriarchen. Er ist der oberste Vertreter der orthodoxen Kirche. Hier treffe ich Dositheos Anagnostopulos. Der Priester entstammt einer alt eingesessenen Istanbuler Familie und hat lange in Deutschland gelebt. 2.000 Griechen sollen noch in Istanbul leben; es sind die letzten Griechen der Türkei. 040. O-Ton Anagnostopulos Wir haben Gemeinden fast überall. Kleine Gemeinden. Mal zehn Familien, mal fünf Familien, mal hundert Familien. Hier in der Altstadt, in der historischen Altstadt von Konstantinopel, gibt es kaum Griechen. Sprecherin Die Griechen von Konstantinopel, damals 100.000 Menschen, wurden vom Bevölkerungsaustausch ausgenommen. Im Gegenzug durften auch die Muslime in der griechischen Provinz Westthrakien bleiben. Das Klima gegenüber den Zurückgebliebenen war unfreundlich bis feindselig: Die griechische Sprache wurde in der Türkei verboten, wiederholt wurden Griechen Opfer von Pogromen. Autor Inzwischen haben die meisten Griechen Istanbul verlassen. Die jüngere Generation der Türken, erzählt der Priester, bedauere den Verlust an Vielfalt. 041. O-Ton Anagnostopulos Ich kenne sehr viele junge Menschen, Türken, die sind Anfang 20 und studieren an der Universität. Sie kommen zu uns ins Patriarchat, sprechen über die Vergangenheit, über die Gegenwart. Das sind so offene Menschen, so liberal denkende Menschen. Wenn diese Menschen eines Tages an die Macht kommen, wird die Türkei eine andere sein. 042. Musik: Hasret, Sema, aus Beyond Istanbul (ab 0'30'' bis 1'30'' nur Instrumental) Autor Die Große Katastrophe passierte 1922. Sprecherin Während die Griechen in Konstantinopel abwarteten, wurde die griechische Armee von den Truppen Atatürks zurückgeschlagen. Auf ihrem Rückzug legten die Soldaten türkische Dörfer in Schutt und Asche und verübten zahllose Massaker an der muslimischen Bevölkerung. Der Krieg endete mit dem Einmarsch der Türken in Smyrna, dem heutigen Izmir. Der griechische und armenische Stadtteil wurden in Brand gesetzt. Durch wessen Schuld, ist bis heute ungeklärt. Die Ereignisse im September 1922 besiegelten das Schicksal der Griechen in Anatolien und Kleinasien. Musik Ausblende Sprecherin Atatürk handelte mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs einen Deal aus, einen Bevölkerungsaustausch. 1,2 Millionen Christen mussten die Türkei verlassen, im Gegenzug mussten 400.000 in Griechenland lebende Muslime ihre Heimat in Richtung Türkei verlassen. Jeder durfte so viel mitnehmen, wie er tragen konnte. Meine Großmutter Alexandra hatte in Konstantinopel geheiratet und ihren ersten Sohn Tassos bekommen. Mit dem vier Monate alten Jungen im Arm und einem Koffer in der Hand kletterte sie auf das Schiff nach Westen. 044. Musik: Tin Patrida Echasa, Intro der Lyra bis 0:30 und ab 3:30 wieder 30 Sekunden instrumental, unter Sprechertext Autor Meine Familie siedelte sich im Norden Griechenlands an, in der Hafenstadt Kavala. Als gelernter Kupferschmied war mein Großvater ein gefragter Handwerker, er baute eine florierende Manufaktur auf. Andere zogen weiter, nach Amerika, Australien, später nach Deutschland. Sie pflegen bis heute ihre Traditionen und Tänze in Kulturvereinen. Ihre gefühlte Heimat aber blieb für viele das Schwarze Meer. 045. O-Ton Mutter Meine Mutter hat sich gefühlt als Heimat Pontos und nicht hier. Wurde nie die Heimat Griechenland. Musik hochziehen, erste Strophe, darunter Text Zitatorin Ich habe meine Heimat verloren habe geschrien und mich vor Schmerz gewunden Ich kann sie nicht vergessen 1 sprich: Táner Aktscham --------------- ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 16