COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung : "Zwischen Engagement und literarischem Eigensinn" - der südafrikanische Schriftsteller J. M. Coetzee AutorIn: : Kai Wiegandt Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 8.6.2010 Regie : NN Besetzung : Sprecher 1 (Autorentext), Sprecher 2 (Zitate) : O-Töne im V-Speicher Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 "Zwischen Engagement und literarischem Eigensinn" - der südafrikanische Schriftsteller J.M. Coetzee von Kai Wiegandt Deutschlandradio Kultur: 8.6.2006 Redaktion: Barbara Wahlster O-Ton Schwedische Akademie verkündet Nobelpreis an Coetzee, CD 1, Track 8, 0.00 [Schwedische Akademie verkündet Nobelpreis an Coetzee, auf Schwedisch] 0.14 Sprecher 1 2003 erhält J. M. Coetzee den Nobelpreis für Literatur. Coetzee ist nach Nadine Gordimer der zweite südafrikanische Autor, der ihn bekommt, aber in Südafrika schütteln viele Menschen den Kopf über die Entscheidung. Selbst Fachleute, die sich freuen wie der Johannesburger Literaturprofessor David Attwell, nennen die Verleihung an Coetzee einen ungewöhnlichen Vorgang. O-Ton David Attwell, Overvoice schon eingesprochen, CD 1, Track 6, 0.39 Well because Coetzee is an unusual writer ... Ungewöhnlich, weil Coetzee ein ungewöhnlicher Autor ist. Es gab viele Kontroversen in Südafrika über seine Bücher. Er ist kein Autor, der Ansichten der breiten Masse vertritt. Sein Verhältnis zur südafrikanischen Gesellschaft ist komplex und widerborstig. ... is complex and oblique. 0.58 Sprecher 1 "Komplex und widerborstig" - zwei Worte für eine lange Geschichte, deren eine Hälfte in Coetzees Romanen steht, die andere in den Geschichtsbüchern. O-Ton Protestgesänge von Soweto, CD 1, Track 2, 0.22 [Protestgesänge] 0.31 Darauf : Sprecher 1 Siebzehn Jahre vor dem Nobelpreis: Die 20.000 schwarzen Kinder, die an diesem Tag auf Sowetos Straßen unterwegs sind, sind freudig erregt. Statt nach dem Morgengebet in die Schule zurückzukehren, haben sie eilig Plakate angefertigt, auf denen steht: "Zur Hölle mit Afrikaans, der Sprache unserer Unterdrücker" und "Zur Hölle mit Bantu- Erziehung". Plötzlich beginnt die Polizei auf die Kinder zu schießen. Hunderte sterben. Eine Augenzeugin erinnert sich an eine Szene am Rande des Geschehens. O-Ton Augenzeugin Soweto, Overvoice schon eingesprochen, CD 1, Track 1, 6.37 Having seen the most shocking cruel acts ... Ich habe unbeschreiblich schockierende und grausame Handlungen der Polizei gesehen. Ein kleines Kind, vier Jahre alt, es spielte im Sand, es warf den Sand spielerisch in die Luft und schrie: Black Power, Black Power, Black Power. Ein Polizist schrie das Kind an: Was hast du gesagt? Und das Kind voller Angst, eingeschüchtert: Nein, ich hab nichts gesagt. Und dann schüttelte der Polizist das Kind und schrie wieder: Sag mir, was du gesagt hast! Und das Kind stotterte ganz leise: Black Power. Und der Polizist nahm seine Waffe und er erschoss das Kind durch den Mund 7.15 Sprecher 1 In seiner Nobelpreisrede bei der Verleihung in Stockholm lässt Coetzee eine Robinson Crusoe-Figur über die Pest nachdenken. Diese Figur hat einen Diener, "seinen Mann". O-Ton Coetzee Nobelpreisrede, CD 4, Track 1, 24.31 We should make due preparation for death, or else be struck down where we stand. As he, Robinson, was made to see when of a sudden, on his island, he came one day upon the footprint of a man in the sand. ... How, then, did it come about that his man of his, who is a kind of parrot and not much loved, writes as well or better than his master. 26.22 Darauf: Sprecher 2 Overvoice Wir sollten uns gebührend auf den Tod vorbereiten, sonst werden wir gefällt, wo wir stehen. Wie er, Robinson, erkennen musste, als er plötzlich eines Tages auf seiner Insel einen menschlichen Fußabdruck im Sand entdeckte. Es war ein Abdruck, und daher ein Zeichen: für einen Fuß, für einen Menschen. Aber es war auch das Zeichen für viel mehr. Du bist nicht allein, besagte das Zeichen; und auch: Ganz gleich, wie weit du segelst, ganz gleich, wo du dich versteckst, man wird dich aufspüren. Im Pestjahr, schreibt sein Mann, verließen andere aus großer Furcht alles, ihre Häuser, ihre Frauen und Kinder, und flohen so weit von London weg, wie sie konnten. Als die Pest vorüber war, wurde ihre Flucht von allen Seiten als jämmerliche Feigheit verdammt. Aber, schreibt sein Mann, wir vergessen, welcher besondere Mut vonnöten war, um der Pest standzuhalten. Es war nicht einfach der Mut eines Soldaten, der eine Waffe in die Hand nimmt und den Feind angreift: es war, als ob man den Tod selbst auf seinem fahlen Pferd angriffe. Selbst in Hochform sprach sein Inselpapagei, der geliebtere von beiden, kein Wort, das ihm nicht sein Herr und Meister beigebracht hatte. Wie kommt es dann, dass dieser Mann, sein Mann, der eine Art Papagei ist und nicht sehr geliebt wird, genauso gut wie oder besser als sein Herr und Meister schreibt? Sprecher 1 Die Romane, für die Coetzee mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird, beziehen sich auf Soweto und ähnliche Ereignisse, und auch die Rede ist ein Beispiel dafür, wie Coetzee Geschichte verarbeitet: allegorisch. Als Prototyp des Kolonisten und Kapitalisten macht sich sein Robinson Crusoe eine Insel zueigen, bringt seinem Diener Freitag Sprechen bei, um ihn anweisen zu können - ungefähr so, wie die Bantu-Erziehung in Südafrika dazu diente, den Schwarzen gerade so viel Englisch beizubringen, dass sie als billige Arbeitskräfte taugten. Herr ist Robinson erst dadurch, dass er einen Diener hat. Der Herr ist also auf den Diener angewiesen, nicht umgekehrt. Es liegt nahe, das auf die Apartheid zu beziehen, aber wie stets bei Coetzee ist das nicht zwingend. Lösungen bietet er schon gar nicht an. Als Professor für postkoloniale Literaturen an der Freien Universität Berlin verfolgt Russell West-Pavlov Coetzees schriftstellerische Entwicklung seit vielen Jahren. O-Ton Russell West-Pavlov, Mini-Disc, Track 3, 7.48 Interessant ist vielleicht bei den früheren Werken zu sehen, dass sie, auch wenn sie keine Patentlösungen, keine einfachen Schwarzweißbilder anbieten, sehr tiefgehend die Psyche untersuchen, und das, was sie da finden, wird sehr kritisch durchleuchtet, und es ist kein schönes Bild, was aus dieser frühen Literatur entsteht. Also von daher Coetzee nicht als Politiker der Antiapartheidbewegung, aber auf jeden Fall vielleicht als Psychologe oder psychologischer Kritiker dieser Mentalität. 8.50 Sprecher 1 Das Aufregende an Coetzees Büchern sind nicht die Worte, aus denen sie gemacht sind, sondern die Fragen, die sie entwickeln, die Klarheit und der Scharfsinn, mit der sie ethische und philosophische Dilemmas erlebbar machen. Eine unkonventionelle Mischung aus Ethik und Metaphysik durchzieht sie, wie in diesem Satz aus dem Roman Warten auf die Barbaren. Sprecher 2 Alle Kreaturen bringen, wenn sie auf die Welt kommen, die Erinnerung an Gerechtigkeit mit. [J.M. Coetzee, Warten auf die Barbaren, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, Frankfurt: S. Fischer, 2003, S. 255] Sprecher 1 Coetzee sagt schon damals, 1980, "Kreaturen" und nicht "Menschen". Auch für Tiere soll der Satz gelten, und sie sind es, denen sich Coetzee vor allem in seinen Romanen um die Jahrtausendwende zuwendet. Das heißt, es sind immer nur seine Figuren, die Meinungen zu den Rechten von Tieren vertreten, und dabei geht es auch um die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet und ihn zum Menschen macht. Wie bei Kafka, auf den er sich häufig bezieht, ist bei Coetzee die Grenze zwischen Mensch und Tier weniger klar gezogen, als wir es gewohnt sind. Seine Figur Elizabeth Costello aus dem gleichnamigen Roman denkt das konsequent weiter. Sprecher 2 Rings um uns herrscht ein System der Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens, das sich mit allem messen kann, wozu das Dritte Reich fähig war, ja es noch in den Schatten stellt, weil unser System kein Ende kennt, sich selbst regeneriert, unaufhörlich Kaninchen, Ratten, Geflügel, Vieh für das Messer des Schlächters auf die Welt bringt. Und wenn man Haarspalterei betreibt, wenn man behauptet, Treblinka sei sozusagen ein metaphysisches Unternehmen gewesen, das nur dem Tod und der Vernichtung gedient habe, während die Fleischindustrie letztlich dem Leben diene [...], dann kann das die Opfer genauso wenig trösten, wie es die Toten von Treblinka getröstet hätte - verzeihen Sie mir die Geschmacklosigkeit -, wenn man zur Entschuldigung ihrer Schlächter vorgebracht hätte, dass sie das Körperfett der Toten zur Seifenherstellung und ihre Haare als Matratzenfüllung benötigten. [J.M. Coetzee, Elizabeth Costello, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, Frankfurt: S. Fischer, 2004, S. 85] Sprecher 1 So unkonventionell die Aufwertung des Tiers in Coetzees jüngeren Büchern wirken mag, ist sie doch nur das Gegenstück zu seinen frühen Büchern, in denen er fragt, was vom Menschen in einem unmenschlichen System wie der Apartheid übrig bleibt. Vielleicht ein Tier? In seinem Roman Leben und Zeit des Michael K, der 1983 auf Englisch erschienen ist, erzählt er von einem geistig zurückgebliebenen farbigen Mann, der hungrig durchs Land zieht und von einem Lager in ein anderes gesteckt wird, bis nur noch seine Instinkte und Grundbedürfnisse übrig bleiben. Das Buch ist eine Parabel auf den Unterdrückungsapparat, der im Südafrika der siebziger und achtziger Jahre immer kafkaeskere Formen annimmt. Auf welche soziale Wirklichkeit Coetzees Roman zielt, verdeutlichen die Worte Barbaras von der Johannesburger Hilfsorganisation "Black Sash" (Schwarze Schärpe). Die Frau hilft Ende der siebziger Jahre Opfern der Apartheid. O-Ton Barbara, Overvoice schon eingesprochen, CD 1, Track 5, 12.11 This man has come here ... Dieser Mann hier fragt nach seinem Status gemäß Paragraph 10 Absatz 1b des Wohngesetzes für Städte. Es geht um sein Recht, auf Dauer in einer Stadt leben zu dürfen. Dieses Recht kann er auf zweierlei Art erwerben. Erste Möglichkeit: Er hat zehn Jahre lang ununterbrochen für denselben Arbeitgeber gearbeitet, ohne eine Gefängnisstrafe und ohne eine Geldbuße über 500 Rand, also sechshundert Mark. Zweite Möglichkeit: Er hat nach Maßgabe der Pass- und sonstigen Gesetze 15 Jahre lang legal in der Stadt gelebt. ... for 15 years. 12.46 13.00 All these actions ... Alle diese Vorgänge sind im staatlichen Computer gespeichert. Das heißt, von dem Moment an, in dem ein Schwarzer seinen Pass, sein Lebensbuch erhält, wird jeder Orts- und Arbeitsplatzwechsel festgehalten. Die Verwaltung kann jederzeit seinen Lebenslauf auf den Bildschirm holen und feststellen, welche Bestimmungen auf ihn zutreffen. Es bleibt dem Mann gar keine andere Möglichkeit, als den Behörden stets die Wahrheit zu sagen. Jede Aussage kann ja mit der Datei im Computer verglichen werden. 13.35 Sprecher 1 Schon während der Kindheit empfindet Coetzee die Apartheid als Schuld, die ihn als Angehörigen der weißen Rasse mit trifft. Geboren wird er am 9. Februar 1940 in Kapstadt, statt den Initialen J. M. trägt er noch die Vornamen John und Maxwell. Zuhause wird Englisch gesprochen, mit den Verwandten Afrikaans, die Vorfahren sind Buren und Engländer. In Kapstadt studiert er Englisch und Mathematik, arbeitet später in London als Programmierer für IBM und heiratet in England seine erste Frau Philippa Jubber, mit der er zwei Kinder hat. Nach einem längeren Aufenthalt in den USA kehrt Coetzee 1972 nach Kapstadt zurück, arbeitet als Englischprofessor und veröffentlicht die ersten Romane: Dusklands, Im Herzen des Landes, Warten auf die Barbaren. Gut möglich, dass der zu Zweifeln neigende Coetzee erst in diesem Lebensabschnitt zu der Überzeugung findet, die er Jahre später in einer Rede formulieren wird. O-Ton Coetzee Rede Siemens-Stiftung München, CD 1, Track 7, 0.00 I am a fiction writer. If I was put on any earth for any reason, it was to tell stories. 0.08 Sprecher 2 Overvoice Ich bin Schriftsteller. Wenn es einen Grund gibt, warum ich auf der Welt bin, dann den, Geschichten zu erzählen. Sprecher 1 Wer mehr als die dünnen Lebenslinien der offiziellen Biographie erkennen will, muss zu Coetzees Büchern Der Junge, Die jungen Jahre und Sommer des Lebens greifen, denn Coetzee gibt keine Interviews. In den drei Büchern ist meist in der dritten Person und im Präsens von einem in Kapstadt geborenen, ganz offensichtlich dem Autor ähnlichen John die Rede. Als kleiner Tyrann kommandiert er die überfürsorgliche Mutter herum, als Programmierer in London schwankt er zwischen Selbstverachtung und dem Ehrgeiz, Literatur in der Tradition T. S. Eliots und Ezra Pounds zu schreiben. Die ausdrucksvolle Musik des Sitar-Spielers Ustad Vilayat Khan liebt er, bemüht sich im Bett aber vergeblich, das Feuer eines echten Künstlers erkennen zu lassen. In keinem anderen Buch geht Coetzee so hart ins Gericht mit seiner Hauptfigur, in keinem erzählt er zugleich mit so slapstickhaftem Humor. Hier denkt John über seine Kommilitoninnen nach, die D. H. Lawrences Bücher verschlingen. Sprecher 2 Er selbst hatte sich gehütet, ein Anhänger des Lawrence-Kults zu werden. Die Frauen in Lawrence' Büchern beunruhigen ihn; er stellt sie sich als erbarmungslose weibliche Insekten vor, Spinnen oder Gottesanbeterinnen. Unter dem durchdringenden Blick der blassen, schwarz gekleideten Priesterinnen des Kults an der Universität war ihm zumute wie einem furchtsam herumhuschenden kleinen Junggeselleninsekt. Mit einigen von ihnen wäre er gern ins Bett gegangen, das konnte er nicht leugnen - nur wenn man eine Frau zu ihrem dunklen Kern führte, konnte schließlich ein Mann zu seinem eigenen dunklen Kern vordringen -, aber er hatte zu viel Angst. Ihre Ekstasen würden wie Vulkanausbrüche sein; er wäre zu mickrig, um sie zu überleben. [J.M. Coetzee, Die jungen Jahre, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, Frankfurt: S. Fischer, 2002, S. 92] Sprecher 1 Der Junge, Die jungen Jahre und Sommer des Lebens lassen sich genauso gut als Romantrilogie lesen wie als dreiteilige Autobiographie. Obwohl Coetzees erste Heirat in den Zeitrahmen von Die jungen Jahre fällt, kommt sie zum Beispiel im Buch nicht vor, und auch andere wichtige Lebensereignisse lässt Coetzee in seinen autobiographisch erscheinenden Büchern weg. Die Rücksichtslosigkeit, mit der er in ihnen Fragen von Schuld und Verantwortung verhandelt, mildert das aber nicht. Denn Gerichtsschauplätze sind Coetzees Bücher alle: Schuld und Sühne-Romane, in denen es gänzlich unschuldige Figuren kaum gibt, dafür um so mehr Bekenntnis- und Verhörszenen. Sei es, dass der Bekennende eine gute Figur machen will, sei es, dass er seine Zuhörer mit zur Schau gestellter Härte gegen sich selbst beeindrucken will, der Bekennende hat viele Gründe, nicht die Wahrheit zu sagen, und womöglich sind sie ihm nicht einmal bewusst. Darin liegt der Grund für die besondere Form von Coetzees Autobiographien, in denen Johns scheiternde Lieben oder seine Folterung des kleinen Bruders in keiner Vergangenheit liegen, über die der Erzähler beschönigend urteilen könnte. Coetzee will das Foto und keine Bildmontage, und er will nicht jedes Foto: Es ist, als wäre ihm nur das Schlechteste über John wahrhaftig genug; als schriebe er es allein darum auf, weil das auf keinen Fall in seinem Interesse liegen kann. Musik Indischer Sitar-Spieler Ustad Vilayat Khan, begleitet von Tabla-Spieler O-Ton Winnie Mandela 1979, Overvoice schon eingesprochen, CD 1, Track 1, 22.29 The Afrikaaner will never ... Der weiße Afrikaaner wird sich niemals, niemals freiwillig verändern. Er verschließt sich immer mehr und mehr in sein Lager, und es gibt nichts, was man dagegen tun kann. 22.42 Sprecher 1 Winnie Mandela, deren Mann seit vielen Jahren auf der Gefängnisinsel Robben Island inhaftiert ist, sieht 1979 wie so viele ihrer Mitbürger, keine Hoffnung mehr. O-Ton De Klerk, Overvoice nicht nötig, CD 1, Track 10, 0.00 [Bekanntgabe der Freilassung Mandelas durch De Klerk auf Afrikaans] 0.16 Sprecher 1 Erst mehr als ein Jahrzehnt später verkündet der amtierende Präsident De Klerk die Entlassung des Freiheitskämpfers Mandela aus dem Gefängnis. Rassistische Gesetze werden abgeschafft, und die ersten freien Wahlen 1994 gewinnt Mandelas Partei ANC mit 63 Prozent der Wählerstimmen. Mit der Einsetzung einer "Wahrheits- und Versöhnungskommission" beginnt bald darauf die Aufarbeitung der rassistischen Vergangenheit. Täter und Opfer politisch motivierter Verbrechen berichten von ihren Erfahrungen mit der Apartheid, viele Verhandlungen werden vom Fernsehen übertragen. Im Vordergrund steht Versöhnung, nicht Strafe, und die Gesellschaft diskutiert plötzlich Fragen, mit denen sich Coetzee schon lange beschäftigt. O-Ton Russell West-Pavlov, Mini-Disc, Track 3, 0.02 Ich wäre versucht zu sagen, dass sich eigentlich nichts ändert für Coetzee nach der Apartheid, weil die Komplexität der Situation, die er vorher kannte, nach wie vor besteht. Eigentlich werden die Sachen noch komplizierter in Südafrika nach der Apartheid. 0.24 1.12 Nach wie vor ist sein Anliegen, in Frage zu stellen, zu problematisieren, er vermeidet Schwarzweißbilder, er vermeidet Patentlösungen. Das hat ihn bestimmt nicht überall und immer sehr beliebt gemacht. 1.33 Sprecher 1 Russ West-Pavlov denkt besonders an Coetzees Roman Schande, dessen Handlung in der Zeit unmittelbar nach der Apartheid angesiedelt ist. Die Affäre des geschiedenen weißen Literaturprofessors David Lurie mit einer farbigen Studentin fliegt auf, und eine Kommission der Universität soll entscheiden, ob David genug Reue zeigt, um seine Anstellung behalten zu können. Hat David nur seine Autorität als Dozent missbraucht, um mit ihr zu schlafen, oder handelt es sich um eine Art Fortsetzung der Apartheid, in der regelmäßig weiße Männer schwarze Frauen vergewaltigten? Coetzee hat Davids Luries Tribunal deutlich an die Wahrheits- und Versöhnungskommission angelehnt, vor der überall im Land, in Kirchen, Kinosälen und Turnhallen, Opfer und Täter aussagten. David hat das Gefühl, dass das Komitee versucht, sein Herz zu durchleuchten und es für jedermann sichtbar auszustellen. Doch was für ihn zunächst wie die Anmaßung religiöser Autorität aussieht, entpuppt sich als Aneignung der Beichtpraxis für ein Rollenspiel, das ökonomischen Regeln folgt: Der Angeklagte soll den Preis der Demütigung zahlen, indem er öffentlich seine Schuld eingesteht. Ob er sie aus innerer Überzeugung anerkennt, ist egal. Im Gegenzug profitiert er von einer Amnestie. David lässt sich auf das Spiel nicht ein. Gekündigt, sucht er Unterschlupf bei seiner Tochter Lucy, die auf dem Land eine Farm betreibt. Als junge Schwarze unter dem Vorwand, telefonieren zu müssen, Lucys Haus betreten, kommt es zu jener Szene, für die Coetzee in Südafrika so viel Kritik geerntet hat. Sprecher 2 Er bekommt einen Schlag über den Schädel. Er hat noch Zeit zu denken: Wenn ich noch bei Bewusstsein bin, ist alles gut, ehe seine Glieder zu Wasser werden und er zusammenbricht. Er spürt, wie er über den Boden der Küche geschleift wird. Dann ist alles schwarz um ihn. Er liegt mit dem Gesicht nach unten auf kalten Fliesen. Er könnte versuchen aufzustehen, aber seine Beine können sich irgendwie nicht bewegen. Er schließt die Augen wieder. Er befindet sich in der Toilette, der Toilette von Lucys Haus. Benommen kömmt er auf die Füße. Die Tür ist abgeschlossen, der Schlüssel ist fort. Er lässt sich auf dem Toilettensitz nieder und versucht, sich zu erholen. Das Haus ist still; die Hunde bellen, aber eher pflichtgemäß als rasend. "Lucy!" krächzt er, und dann, lauter: "Lucy!" [J.M. Coetzee, Schande, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, Frankfurt: S. Fischer, 2002, S. 85] Sprecher 1 Währenddessen wird Davids Tochter vergewaltigt. Als er sie sieht, ist sie versteinert, will aus Scham nicht sprechen, obwohl Schande und Schuld bei den Vergewaltigern liegen. Denkt zumindest David, der gezwungen ist, sich mit den schwarzen Vergewaltigern zu vergleichen. Ist nicht auch er eine Art Vergewaltiger gewesen, als er mit der der farbigen Studentin schlief? Fordert er, dass hart bestraft wird, womit er selbst mehr oder weniger straflos weggekommen ist? Lucy weigert sich, die Täter anzuzeigen. Sprecher 2 "Aus meiner Sicht ist das, was mir zugestoßen ist, eine rein private Angelegenheit. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, könnte das als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden. Aber hier und heute nicht. Es ist meine Sache, ganz allein meine." "Und dieser Ort wäre?" "Dieser Ort ist Südafrika." [J.M. Coetzee, Schande, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, Frankfurt: S. Fischer, 2002, S. 145] Sprecher 1 Lucy versteht ihre Vergewaltigung als Preis, den sie für die Taten ihrer Vorfahren zahlt. Für David ist das eine unakzeptable Sicht der Dinge. Der Konflikt zwischen ihm und Lucy provoziert Fragen, die deutschen Lesern wohlbekannt sind: Inwiefern Nachfahren für die Taten ihrer Mütter und Väter verantwortlich sein können; wie man mit geschehener Schuld umgehen soll. Indem man aufs Verbrechen zurückblickt und es bestraft oder indem man nach vorne blickt und eine Lösung sucht, mit der alle leben können? Wenn man will, kann man in Davids und Lucys Umgang mit der Vergewaltigung die westliche und die afrikanische Art der Schuldbewältigung erkennen, wie sie der Vorsitzende der Wahrheits- und Versöhnungskommission Desmond Tutu unterscheidet. O-Ton Desmond Tutu, Overvoice schon eingesprochen, CD 3, Track 1, 14.40 In Germany it was possible ... In Deutschland konnten die Nürnberger Prozesse geführt werden, weil es klare Gewinner und Verlierer gab. Das war hier nicht der Fall. Das Apartheidregime und die Befreiungsbewegungen waren beide unbesiegt, das ganze endete in einem Patt. Wir müssen einfach akzeptieren, dass die Kommission das Ergebnis von Verhandlungen und Abmachungen ist. Ein Kompromiss, und zwar ein sehr wichtiger Kompromiss zwischen den Amnesieverfechtern, die sagen "lasst uns vergessen" und damit sozusagen die Opfer ein weiteres Mal zu Opfern machen, indem sie so tun, als sei das, was ihnen zugefügt wurde, nie geschehen. Und auf der anderen Seite denjenigen, die Gerechtigkeit verlangen, Gerechtigkeit im Sinne gerechter Strafe und Vergeltung. Ich hoffe, wir werden deutlich machen können, dass es verschiedene Arten von Gerechtigkeit gibt. Die westliche, die auf Vergeltung abzielt, und die afrikanische, auf Versöhnung und Wiedergutmachung gerichtete. Gerechtigkeit im afrikanischen Sinne sucht eher zu heilen. Wenn es Streit gegeben hat, rennt man nicht zum Kadi, damit eine Partei einen übergebraten bekommt. Man versucht, beide wieder zusammenzubringen. ... try to bring them together 16.27 Sprecher 1 Am Ende von Schande ist Lucy keine glückliche Frau. So einfach, sagt Coetzee, ist es nicht. Musik Indischer Sitar-Spieler Ustad Vilayat Khan, begleitet von Tabla-Spieler Sprecher 1 Es ist möglich, dass Coetzee auch wegen der Feindseligkeit, mit der Schande in Südafrika aufgenommen wurde, 2002 nach Australien ausgewandert ist. Der damalige südafrikanische Präsident Thabo Mbeki hatte persönlich Coetzees Darstellung der Vergewaltigung einer weißen Frau durch Schwarze als rassistisch und unzeitgemäß gegeißelt. Seither lebt Coetzee in Adelaide, am anderen Ende der Welt. Ist er jetzt noch ein südafrikanischer Schriftsteller? Oder ein australischer? Coetzee haben solche Fragen nach der eigenen Identität immer interessiert, ganz ausdrücklich stellt er sie in seinem Roman Zeitlupe, der in Adelaide spielt. Russell West-Pavlov. O-Ton Russell West-Pavlov, Mini-Disc, Track 3, 3.14 Heutzutage ist es zunehmend schwierig zu sagen, ein nationaler Schriftsteller ist ein Schriftsteller, der in seinem Land lebt und in der Sprache seines Landes schreibt und nur über sein Land schreibt. 3.32 3.36 Es gibt sehr viele Schriftsteller, die im Ausland leben, die in einer anderen oder in verschiedenen Sprachen schreiben. Interessant ist, dass Coetzee schon in Australien gelebt hat, als er den Nobelpreis gewonnen hat, aber zu dem Zeitpunkt die australische Staatsbürgerschaft noch nicht angenommen hatte, von daher war er noch kein australischer Schriftsteller, er hat aber schon in Australien gewohnt, und ich denke, das zeigt ein bisschen die Komplexität der Situation. Andererseits ist es interessant, dass so viele Südafrikaner nach Australien ausgewandert sind. Die Landschaft ist sehr ähnlich, die Geschichte der zwei Nationen ist nicht unähnlich - es gibt Unterschiede natürlich, aber beide sind Siedlerkolonien, wo die Kolonialmächte versucht haben, entweder die Ureinwohner auszurotten oder als eine Art Unterklasse beizubehalten, und vielleicht ist der Unterschied zwischen einem südafrikanischen Schriftsteller und einem australischen Schriftsteller gar nicht so groß. 5.00 Sprecher 1 Fest steht: Seit Coetzee in Australien lebt, sind seine Romane essayistischer und thesenhafter geworden. Er hat selbst einmal in einem Aufsatz geschrieben, dass die Alterswerke von Schriftstellern eine Tendenz zum Thesenhaften auszeichnet. Tolstoi sei es im Alter müde geworden, in eine realistisch erscheinende Geschichte zu kleiden, was er der Welt sagen wollte. Zu mühsam, wenn die Zeit knapp wird. Auf Coetzee trifft diese Diagnose nur halb zu, denn mit jedem Buch erfindet er eine neue Form. In seinem 2007 erschienenen Roman Tagebuch eines schlimmen Jahrs ist die Buchseite mittels zweier Linien in drei Ebenen unterteilt wie ein Notensystem: Oben stehen Essays, verfasst vom Protagonisten, einem ältlichen Schriftsteller namens C., der in Australien lebt. In der Mitte Tagebucheinträge von C., unten Einträge der jungen Anya, die für C. Sekretärinnenaufgaben erledigt. Ein Ausspielen des Essays gegen das Tagebuch, der Objektivität gegen die Subjektivität von Meinungen, und zugleich ein Dreiklang, der mal harmonisch, mal dissonant tönt. Statt Thesen aufzustellen, hält Coetzee die Behauptungen, die in seinen Büchern stehen, in der Schwebe - zwischen in Stein gehauenen Wahrheiten und Meinungen, die Menschen mit individueller Geschichte am Mittagstisch herausrutschen. So treibt Coetzee in seinem Alterswerk das literarische Spiel auf die Spitze. Und immer scheint durch seine Romane, auch wenn die inzwischen in Australien spielen, Südafrika durch. 1