Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 29. August 2015 - 11.05 - 12.00 Uhr Zukunft gesucht - Junge Russen und ihre Sehnsucht nach einem anderen Staat Mit Reportagen von Markus Dichmann Am Mikrofon: Anne Raith Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - "Hab ich jemals darüber nachgedacht, Russland zu verlassen? Ja klar! Denn natürlich läuft hierzulande einiges schief. Aber es gibt auch einiges Gutes hier! Und wenn ich nicht glauben würde, dass es Russland irgendwann besser gehen würde, dann würde ich auch nicht bleiben. Aber ich hoffe einfach auf eine bessere Zukunft." "Ich glaub', die Gesichter der Leute hier, die Art und Weise wie sie leben, wie sie denken - das sind die Gesichter eines modernen Russland! Das sind Leute, die was mit sich anfangen wollen, auch für dieses Land. Ja." "Ich bin Russin. Ich muss optimistisch sein! Das ist der einzige Weg, in diesem Land zu überleben." "Zukunft gesucht - Junge Russen und ihre Sehnsucht nach einem anderen Staat" Gesichter Europas mit Reportagen von Markus Dichmann Am Mikrophon ist Anne Raith Reportage 1 - Mit Technologien die Welt verbessern - Yandex, das russische Google "Krim nash" - "Die Krim ist unser" - dieser Ruf hallt durch die Straßen Moskaus, auch heute noch, über ein Jahr nach der Annexion der Krim. Seit der Annexion und dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine sind die Zustimmungswerte für Präsident Wladimir Putin in Russland so hoch wie nie. 87 Prozent sollen es zuletzt gewesen sein. Für viele symbolisiert Putin Sicherheit und Stabilität. Doch nicht alle lassen sich von diesem nationalen "Wir"-Gefühl anstecken. Ab und zu vernimmt man auch eine Replik auf den Ruf "Krim nash" - nämlich "Nam Krisch", was schwer zu übersetzen ist, aber sinngemäß bedeutet: "Das ist unser Ende". Es sind junge Russen, die sich für ihr Land eine andere Zukunft wünschen. Die sich nach mehr Offenheit sehnen, nach größeren Freiheiten. Einige der jungen Frauen und Männer, die wir kennenlernen werden, zeigen ihren Unmut ganz offen, andere begleitet eher ein diffuses Gefühl der Unzufriedenheit, das sie darüber nachdenken lässt, ihre Heimat zu verlassen. Wieder andere hoffen auf die Kraft der Veränderung im Land. Durch das Internet zum Beispiel. Das "Runet", wie das "russische Internet", wenn man so möchte, genannt wird. Mit über 80 Millionen Nutzern ist Russland Europas am schnellsten wachsender Onlinemarkt. Und eine der wenigen Branchen der russischen Wirtschaft, die konkurrenzfähig ist. 1,3 Millionen Menschen haben hier Arbeit gefunden. Etwa beim Internetdienstleister Yandex: R2D2, Chewbacca und Han Solo - das sind die ersten drei Gesichter, denen man auf dem Campus von Yandex über den Weg läuft. Also eigentlich läuft man einem jungen Mann über den Weg, der die Star Wars Kultfiguren auf seinem T-Shirt trägt. Dazu Jeans und Flips Flops, so wie fast alle hier. Ziemlich leger für russische Verhältnisse, denn in Moskau tragen junge Russen gerne teuren Business-Look, um zu zeigen wie gut es ihnen geht. Das Durchschnittsalter der Yandex-Mitarbeiter liegt etwa bei 27, 28 Jahren, erzählt Vladimir Isaev. Er ist der Pressesprecher des Unter- nehmens, selbst Mitte 30, mit einer Ingenieursausbildung im früheren Leben. Sein Kopf ist blank rasiert, sein Schnurrbart ziemlich extravagant, im Stile von Asterix. Mit ihm arbeiten allein hier in Moskau 4.000 junge Russen für Yandex. "Das junge Russland? Ja, wahrscheinlich schon, ja. Klingt gut! Hier arbeiten fast nur junge Leute, die gerade mit der Uni fertig sind. Für die meisten ist das hier bei Yandex der erste Job!" Der erste Job in einer Firma mit eigenem Campus, den man in vielerlei Hinsicht so auch im kalifornischen Silicon Valley vermuten könnte. Alles ziemlich grün, die Gebäude mit viel Glas und architektonisch verspielt, überall Fahrräder und den Coffee to go im Pappbecher gibt's gleich an der nächsten Ecke. Und auch das Geschäftsmodell erinnert an Kalifornien. Die namensgebende Suchmaschine Yandex ist das Hauptprodukt der Firma und Nummer vier auf dem Weltmarkt, nach Google, der chinesischen Suchmaschine Baidu, und Yahoo. In Russland ist Yandex sogar Marktführer. Daneben bietet der Konzern noch zig andere Dienste, wie zum Beispiel einen Karten- oder einen Bezahldienst. Insgesamt macht Yandex einen Jahresumsatz von über 700 Millionen Euro. Für Russland eine seltene IT-Perle in einer von Rohstoff- Exporten dominierten Wirtschaft. "Natürlich glauben wir an neue Technologien und daran, dass sie die Welt verbessern können. Sie machen sie offener, fairer, ehrlicher und transparenter. Das ist die Idee hinter jeder Technologie und deshalb fahren wir so auf sie ab." Transparenz möchte das Unternehmen auch im Inneren widerspiegeln. Durch eine kleine elektronische Schranke geht es - Vladimir nach - rein ins Gebäude und dann durchs gläserne Treppenhaus in die einzelnen Stockwerke. Die Büros sind offen oder nur durch Glaswände voneinander getrennt. Bei so viel Transparenz musste sich Yandex in den vergangenen Jahren aber auch viele neugierige Blicke gefallen lassen. Und braucht eine gute Rechtsabteilung. "Yandex hält sich komplett raus aus der Politik. Wir haben zum Beispiel auch immer noch eine Niederlassung in der Ukraine, mit 500 Topp-Leuten. Warum auch nicht? Aber wir sind nun mal ein russisches Unternehmen, mit Sitz in Moskau. Also folgen wir streng den russischen Gesetzen. So einfach ist das. Das Problem ist nur, dass manche dieser Gesetze missbraucht werden können." Wie zum Beispiel 2011: Der FSB, der russische Inlandsgeheimdienst, will Kunden-Daten von Yandex-Money, einem Bezahldienst, auch bekannt als das russische PayPal, inzwischen nur noch eine Tochterfirma von Yandex. Der FSB will Namen und Daten von Personen, die Geld an den Anwalt und Blogger Alexei Nawalny überwiesen haben, um damit den Oppositionellen und seine Arbeit zu finanzieren. Yandex gab die Daten damals heraus - gezwungenermaßen, aber unter viel Kritik. Ein ähnlicher Fall erschüttert 2014 die russische IT-Szene, der Fall Durow. Pawel Durow ist der Gründer und Erfinder von VKontakte, einem sozialen Netzwerk und um in der Analogie zu bleiben, dem russischen Facebook. Schon 2011 hatte der Geheimdienst ihn erstmals aufgefordert, Gruppen bei VKontakte zu schließen, über die Oppositionelle Großdemonstrationen gegen Putin organisierten. Ab da nahm der Kleinkrieg zwischen Durow und dem FSB seinen Lauf. "Eine der Legenden, die ich gehört habe, ist, dass er sich geweigert haben soll, pro-ukrainische Gruppen zu sperren. Eine andere, dass er keine Homosexuellen-Gruppen blocken wollte. Aber wir wissen es nicht und können es auch nicht offiziell kommentieren." Inzwischen hat Durow die Kontrolle über sein Unternehmen verloren, weil sich als Hauptanteilseigner ein Putin-naher Milliardär eingekauft hat. Vergangenes Jahr hat Durow Russland ganz verlassen und lebt jetzt angeblich in Dubai oder Singapur. Auch bei Yandex fühlt man den Staat im Nacken und entwickelt ganz eigene Methoden dagegen. Beim Gang an die US-Technologie-Börse NASDAQ hat Yandex zum Beispiel vor dem Kauf der eigenen Aktien gewarnt. Die Investoren und ihr Geld seien durch die russische Gesetzgebung nicht ausreichend geschützt. Vladimir Isaev betont allerdings regelmäßig, dass es sich als IT- Unternehmen in Russland trotzdem ganz gut arbeiten lasse. Viele IT- Gesetze seien nicht strenger als in England oder Frankreich. Und die Probleme, die es zweifelsohne gebe, die beträfen letztlich auch nur einen winzigen Teil der russischen Gesellschaft. "Ich mein`, das ist alles dramatisch für diejenigen, die in Moskau leben, Hipster, weltoffene Leute, die schon mal nach Europa gereist sind und echte Demokratie gesehen haben. Aber fahren Sie nur mal 50 Kilometer raus aus Moskau, da lieben sie Putin! Weil er für Stabilität gesorgt hat. Vor 15 Jahren hatten die Leute da nicht mal genug zu essen. Wir sitzen hier in einem durchdesignten Büro, haben all diese Spielzeuge, unsere iPhones. Aber 50 Kilometer von hier entfernt haben die Leute nicht mal Gas oder Elektrizität!" Erst Gas und Elektrizität, dann Breitband und WLAN. Technologie ist für den jungen Familienvater Isaev der Weg in ein anderes Russland. "Hab ich jemals darüber nachgedacht, Russland zu verlassen? Ja klar! Ich habe zehn Jahre lang in der Ukraine gelebt. Ich habe auch schon in Norwegen gelebt und für eine norwegische Firma gearbeitet. Wahrscheinlich denken auch andere junge Leute darüber nach, Russland zu verlassen. Ich kenne ja selbst genug, die das planen. Denn natürlich läuft hierzulande einiges schief. Aber es gibt auch einiges Gutes hier! Und wenn ich nicht glauben würde, dass es Russland irgendwann besser gehen würde, dann würde ich auch nicht bleiben. Dann würde ich auch meine Kinder ins Ausland schicken. Aber ich hoffe einfach auf eine bessere Zukunft." Literaturpassage 1 Im Frühjahr 1947 sitzen ein Schriftsteller und ein Fotograf in einer New Yorker Bar und nehmen einen Drink, dem im Laufe des Abends noch weitere folgen sollen. Der eine, John Steinbeck, ist auf der Suche nach einem neuen Projekt. Der andere, Robert Capa, hat gerade eines beendet. Niedergeschlagen sind sie beide. Aber nicht aus beruflichen Gründen, sondern weil sie Schwierigkeiten haben, die aktuellen Nachrichten zu verdauen. Nachrichten über Russland. Über Truppenaufstellungen und Atomwaffen-experimente. Mehr als der Inhalt stößt Steinbeck und Capa jedoch die Machart auf. Das seien keine Nachrichten, beklagen sie, sondern Agenturtelegramme, derart verändert, dass sie dem persönlichen Denkmuster und dem Namenszug des zuständigen Redakteurs entsprächen. Und so beschließen die beiden Männer, sich selbst ein Bild zu machen. Ihre "Russische Reise" beginnt... "Ab dem Augenblick, als bekannt wurde, dass wir in die Sowjetunion reisen würden, wurden wir mit Ratschlägen, mit Mahnungen und Warnungen bombardiert, hauptsächlich von Leuten, die noch nie dort gewesen waren. Eine ältere Frau teilte uns in ängstlichem Tonfall mit: "Sie werden verschwinden, Sie werden verschwinden, sobald Sie die Grenze passiert haben." Und aus Gründen des investigativen Journalismus fragten wir: "Kennen Sie jemanden, der verschwunden ist?" "Nein", sagte sie, "ich persönlich kenne niemanden, aber es sind viele Leute verschwunden." Und wir sagten: "Das mag wohl stimmen, wir können das nicht beurteilen, aber könnten Sie uns den Namen von jemandem nennen, der verschwunden ist? Kennen Sie jemanden, der jemanden kennt, der verschwunden ist?" Und sie antwortete: "Tausende sind verschwunden." Wir stellten fest, dass Tausende an akuter Moskauitis litten - einem Zustand, der es erlaubt, jede Absurdität zu glauben und sämtliche Tatsachen beiseite zu schieben. Später stellten wir fest, dass die Russen unter Washingtonitis leiden - derselben Krankheit. Wir fanden heraus, dass uns die Russen ebenso verteufeln, wie wir die Russen verteufeln. Wir brachen mit der schönsten Gerüchteausstattung, die jemals zusammengetragen wurde, in die Sowjetunion auf." Reportage 2 - Mit kritischen Gedanken den Lauf der Zeit verändern - Die Lomonossow-Universität in Moskau Die Lomonossow-Universität ist die größte Universität in ganz Russland. Und eine der ältesten. Gegründet im Januar 1755, haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viele sowjetische beziehungsweise russische Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Wissenschaft hier studiert - unter ihnen nicht wenige Nobelpreisträger. Heute zählt die Staatliche Universität in Moskau zu den russischen Spitzenhochschulen. 40.000 Studierende werden an 39 Fakultäten ausgebildet. Nachwuchs für die heimische Branche, eine Perspektive für junge Russen und für Russland selbst. Eine Exzellenzinitiative des Bildungsministeriums soll dafür sorgen, dass russische Hochschulen im internationalen Vergleich weiter aufholen. Denn das Renommee mag gewachsen sein, in Forschung und Lehre jedoch ist noch Luft nach oben, finden Studenten und Dozenten... Ein Hörsaal der Lomonossow-Universität Moskau. Vorne am Rednerpult steht eine zierliche Studentin in einem etwas strengen schwarzen Kleid, ihre halblangen, dunkelbraunen Haare fallen perfekt gescheitelt auf die Schultern. Die junge Frau verteidigt hier und heute ihre Diplomarbeit. Anhand der Berichterstattung der Deutschen Welle hat sie versucht zu analysieren, wie Russland und der Westen einen "Informationsweltkrieg" führen. In Russland verdient eine Diplomverteidigung wirklich ihren Namen. Die Veranstaltung ist öffentlich, jeder Zuhörer darf aufstehen und eine Frage stellen. Zum Schluss ist Artem Lysenko dran. Er ist heute der sogenannte Opponent. Er hat die Arbeit vor der Notenvergabe geprüft und konfrontiert die Studentin jetzt mit den Mängeln. Doch nach diesen 15 Minuten kommt er zu einem überraschenden Ergebnis: Er schlägt eine 5 vor. Das ist in Russland die Bestnote. Artem Lysenko ist Dozent an der journalistischen Fakultät der Lomonossow-Universität, eine Fakultät mit ganz ausgezeichnetem Ruf, viele Größen des russischen Journalismus haben hier studiert; unter anderem auch die regime-kritische Anna Politkowskaja, die 2006 vor ihrer eigenen Haustür erschossen wurde. Ein schwarz-weiß-Portrait hängt in der Eingangshalle des Gebäudes. Nach der Verteidigung erklärt Lysenko seine Entscheidung. Er eben die Aufgaben des Opponenten erfüllen müssen. "Meine Funktion an diesem Tag war, dass ich als Opponent dabei war. Ich musste also kritisch diese Arbeit betrachten. Und in erster Linie hat die Frau ein großes Potential, und auch diese Arbeit hat ein großes Potential. Deswegen fand ich auch wichtig von den Nachteilen ausführlich zu sprechen, die sie in Zukunft dann wahrscheinlich korrigieren kann. Das ist der Sinn einer Diplomarbeit, meiner Meinung nach." Ein paar Tage später, in einem Café in der Moskauer Innenstadt. Hier sitzt eine andere Studentin des gleichen Instituts: Anastasia Arinushkina. 22 Jahre alt, schmal, zierlich, mit dunkel-blonden Haaren und Zöpfen à la Pippi Langstrumpf. Fast immer hat sie ein Lachen im Gesicht. Sie saß bei der Diplomverteidigung mit im Hörsaal. "Es ist überhaupt nicht gewöhnlich, dass die Opponenten so kritisch sind. Aber am Ende, das war für mich auch überraschend, dass er meinte, dass die Arbeit eine 5 verdient. Die Leiterin, sie ist ... also sie ist Professorin, sehr alt und arbeitet schon seit sehr langer Zeit an der Uni. Und deswegen - meiner Meinung nach - der Opponent wollte keine Probleme mit ihr haben, nicht mir ihr streiten." Sture Professoren, starre Strukturen - Gründe für die Studentin, sich Gedanken über ein Master-Studium im Ausland zu machen, nachdem sie gerade ihren Bachelor abgeschlossen hat. Obwohl sie im Grunde ganz zufrieden war mit ihrem Studium in Russland. "Meistens waren meine Lehrer sehr objektiv und sehr professionell und sie haben uns immer beigebracht, dass wir auch objektiv bleiben sollen." Vorsichtiger wird sie, wenn es um ihre berufliche Zukunft geht. Anastasia Arinushkina will Journalistin werden. Und da sieht es - finanziell wie ideell - sehr viel schwieriger aus in Russland. "Zeitungen, die bei uns kritisieren, sind wirklich sehr arm. Es gibt zurzeit keine Möglichkeiten. Aber vielleicht würde ich gerne für eine russische Redaktion im Ausland arbeiten oder für ausländische Redaktionen in Russland arbeiten." Was es tatsächlich bedeutet, für eine regime-kritische Zeitung zu arbeiten, hat sie schon am eigenen, ohnehin nicht prall gefüllten Geldbeutel gespürt. Bei einem Praktikum für die angesehene Zeitung "Nowaja Gaseta". "Da mussten wir sogar in der S-Bahn schwarzfahren, weil die Redaktion uns kein Geld geben konnte, dass wir normal fahren. Es geht aber nicht nur um Bezahlung. Für mich ist es auch wichtig das zu schreiben, was ich wirklich denke." Das sagt sie und klingt ziemlich mutig. Dabei steht vor dem Redaktionsgebäude der "Nowaja Gaseta" bis heute eine kleine Statue. Eine Statue der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja. "Das ist schon fast 10 Jahre vorbei und die Lage in Russland hat sich etwas verändert. Die Journalisten sind jetzt besser beschützt. Was uns wirklich noch bedroht, ist, dass wir ins Gefängnis geschickt werden können. Davor habe ich natürlich Angst, wie alle Leute vielleicht, aber das bedeutet gar nicht, dass ich schweigen soll." Studenten vom Schlage einer Anastasia Arinushkina, die erlebt auch Dozent Artem Lysenko in seinen Vorlesungen und Seminaren. Zurück in den Gängen der Lomonossow-Universität erzählt er: "Wenn es um meine persönliche Erfahrung geht, dann sind meine Studenten, mit denen ich kommuniziere, oft sehr kritisch, ja, was die Macht betrifft. Viel kritischer als in der Gesellschaft durchschnittlich. In diesem Sinne bin ich optimistisch. Einige von ihnen haben Schwerpunkte, die ich gut finde. Gut für unser Land." Denn Russland, findet Lysenko, stecke in einer Sackgasse. Außenpolitisch, da hätten die vergangenen Jahre ihr Übriges getan. Russland stehe nach der Krim-Annexion und der Ukraine-Krise isoliert da. Und im Inneren, da nage die Korruption am Land und auch an der Hochschule "Ich war zum Beispiel letztes Jahr in der Aufnahme-Kommission der Lomonossow Universität. Und das durchschnittliche offizielle Aufnahme-Niveau war so hoch, wie es noch nie war. Das waren die besten der besten sozusagen. Wir haben anonym die Aufsätze gelesen und wenn man sieht, was sie schreiben - da gibt es so viele grammatikalische Fehler, da kann man kaum glauben, dass sie so gute Noten bekommen haben." Entweder man kennt die richtigen Leute, oder man hat entsprechend viel Geld. Denn es lässt sich an der Lomonossow auch ganz offiziell "auf Vertrag" studieren, wie in Russland ein reines Bezahlstudium genannt wird. So kaufe sich ungefähr die Hälfte aller Studenten ein, erzählt Lysenko - mit schicken Autos und teuren iPhones, aber wenig Interesse am Lernen. Und während das Lernen viel kostet, wird die Lehre schlecht bezahlt. "Das liegt wirklich unter der Würde von akademischer Arbeit. Diejenigen, die diesen Job doch machen, sind eigentlich Idealisten. Ich mach das, weil es Spaß macht, mit klugen und interessanten Studenten in Kontakt zu treten und wahrscheinlich auch ihnen etwas zu übergeben, was ich weiß." Denn der 40-jährige Lysenko denkt schon an die nächste Generation. Seine eigene, die hat er eigentlich abgehakt. "Im Jahr 2011 gab es sehr viele Proteste gegen die zweite Präsidentschaft von Putin, da gab es eine ziemlich starke Opposition in Russland und jetzt man redet davon, dass diese Opposition sich verloren hat. Wenn man fünf Jahre zurück blickt, dann sieht man eigentlich, was sich wirklich so verändert hat. Oder wie ein russischer Spruch sagt. Im Laufe von fünf Jahren ändert sich in Russland sehr viel. Im Laufe von 200 Jahren? Nichts." Literaturpassage 2 Unsere Gastgeber hatten viele Fragen an uns. Sie wollten über Amerika Bescheid wissen, über seine Größe, seine Getreidesorten, seine Politik. Sie sprachen ängstlich vom Krieg, sie haben so viel Krieg erlebt. Sie fragten: "Werden uns die Vereinigten Staaten angreifen? Werden wir in diesem Leben unser Land nochmals verteidigen müssen?" (...) Das hätten sie aus unseren Zeitungen. Wir sagten ihnen, dass wir nicht glaubten, dass diese Zeitungen und diese Kolumnisten, die nur vom Krieg sprächen, wahre Repräsentanten des amerikanischen Volkes seien. Die uralte Sache, die immer zur Sprache kommt, kam zur Sprache. "Warum kontrolliert Ihre Regierung dann nicht diese Zeitungen und diese Männer, die da vom Krieg das Wort reden?" Und wir mussten abermals erklären, wie wir das bereits viele Male getan hatten, dass wir nicht an eine Kontrolle der Presse glaubten, dass wir der Meinung seien, die Wahrheit siege immer, und dass Kontrolle schlichtweg das Böse in den Untergrund treibt. In unserem Land zögen wir es vor, dass sich diese Leute in der Öffentlichkeit um Kopf und Kragen redeten und sich um Kopf und Kragen schrieben, statt sie zu unterdrücken und ihr Gift im Geheimen verströmen zu lassen. Reportage 3 - Mit politischem Willen das Land umkrempeln - Die Anti-Korruptionsstiftung von Alexej Nawalny ...sich um Kopf und Kragen reden und schreiben kann man sich in Russland auch heute noch. Gerade, wenn es um politisches Engagement geht, darum, öffentlich Kritik zu üben oder Versagen anzuprangern. Das haben in den vergangenen Jahren nicht wenige mit Lagerhaft, Gefängnis oder sogar mit dem Leben bezahlt. Die Journalistin Anna Politkowskaja zum Beispiel oder der Politiker Boris Nemzow, der im Februar dieses Jahres in Moskau erschossen wurde. Die Hintergründe konnten in vielen Fällen nicht zweifelsfrei geklärt werden konnten oder bleiben trotz Klärung unklar. Manche mag das abschrecken, andere spornt es erst recht an. Wie die Studentin Anastasia, die, wie gehört haben, trotzdem Journalistin werden möchte. Oder wie die Mitarbeiter der Antikorruptionsstiftung des Oppositionellen Alexei Nawalny. Breitbeinig sitzt er auf seinem Stuhl, die Unterarme auf den Oberschenkeln, die Hände zwischen den Knien verschränkt. Das ist Alexei Nawalnys Erklär-Haltung. Kommt ein ganz besonders wichtiger Punkt, dann richtet sich der Hüne auf, lehnt sich zurück, gegen die Lehne und verschränkt die Arme vor der Brust. So referiert er vor einer Gruppe Zuhörer, Journalisten und Mitarbeiter seiner Stiftung: der Anti- Korruptionsstiftung. Der Anwalt und Blogger Nawalny ist das Gesicht der Stiftung. Nach der Ermordung des Politikers Boris Nemzow im Februar dieses Jahres vielleicht sogar das Gesicht der russischen Opposition. Aber natürlich wäre er nichts ohne die Leute, die hier im Büro der Anti- Korruptionsstiftung arbeiten, recherchieren, Akten durchwühlen. 20 Festangestellte und etwa 30 Freiwillige sind das. Einer der Freiwilligen ist Leonid Volkov. Jetzt zeige sich, ob Leonid wirklich Deutsch könne. Der habe das jedenfalls immer behauptet, aber er habe das eigentlich nie geglaubt, witzelt Nawalny mit einem Grinsen im Gesicht, als er Volkov vorstellt. "Ich habe Deutsch in der Schule gelernt, deshalb ist es für mich ein bisschen problematisch über Politik oder Business zu sprechen. Weil mein Deutsch ist eigentlich von der 10. Klasse. Ich kann über Schwefelsäure sprechen. Aber nicht über etwas mehr Modernes." Leonid Volkov spricht neben Deutsch noch diverse andere Sprachen und ist in seinem Leben schon eine Menge herumgekommen. Zuletzt hat er in Luxemburg gelebt und gearbeitet, für ein erfolgreiches IT- Unternehmen, das 3D-Drucker entwickelt. "Das war so eine Art selbst gewähltes Exil. Mir war klar geworden, dass ich mich zwischen IT und Politik entscheiden musste. Und mir war klar geworden, wenn ich in Moskau bleiben würde, dann würde ich mich nicht aus der Politik heraushalten können. Dann würde sie 100 Prozent meiner Zeit beanspruchen." Aber die russische Politik lässt ihn auch in Luxemburg nicht los. In den Medien verfolgt er die Entwicklungen in seiner Heimat, erfährt, dass seinem Freund Nawalny der Prozess wegen Korruption gemacht werden soll. Er kündigt bei seiner Firma, kehrt nach Moskau zurück und lebt seither von seinem Ersparten. Jetzt arbeitet dieser eigentlich so gemütlich wirkende Mann, mit braunem Vollbart und kleinem Bäuchlein unter dem karierten Hemd, jetzt arbeitet er wie besessen auf einen Tag hin: den 18. September 2016. Dann wählt Russland sein Parlament, die Duma. Bis dahin soll Volkov eine Strategie entwickeln, wie sich Nawalnys wichtigste Botschaft an den Wähler bringen lässt: Wir müssen der Korruption ein Ende setzen! "Wir müssen erklären, dass jedes einzelne Schlagloch in jeder einzelnen Straße in jeder einzelnen Region Russlands einen Namen hat. Die sind da nicht wegen des russischen Klimas oder wegen irgendwelchen russischen Eigenarten oder weil die Bären hier Balalaika spielen. Jedes Schlagloch hat den Namen eines Politikers, der sich um das Loch kümmern sollte; der den Auftrag, die Straße zu reparieren, aber an seinen Neffen vergeben hat oder irgendeinen anderen Verwandten und der dabei 70 Prozent der Kohle eingesteckt hat." Beim Thema Korruption angekommen, verliert auch Nawalny selbst seine sonst demonstrative Gelassenheit. Er springt von seinem Stuhl auf und deutet auf die Wand hinter sich. Da hat sein Team mit diversen Notizen, Dokumenten und Fotos eine Art Organigramm der Korruption geschaffen. Es soll zeigen, wie Vladimir Yakunin über Offshore Firmen Geld aus dem Land schafft - Yakunin, Chef der russischen Eisenbahngesellschaft, Ex-KGB Mann, Putins Nachbar in der Datschen- Siedlung. Die ganze Wand ist voll mit Zetteln und Bildern. Das, sagt Nawalny, sei Stand 2013. Inzwischen könnten ihre Rechercheergebnisse den ganzen Raum füllen. Nawalny ist sich sicher: Da, genau da müsse man anfangen. Ganz oben müsse die Korruption zuerst bekämpft werden. Leonid Volkov sieht das ähnlich. "Die Korruption im kleinen existiert wegen der Korruption im großen Stil. Das ganze politische System baut darauf auf, dass Korruption toleriert wird, solange du mindestens 20 Prozent nach oben abdrückst; ein korruptes System, das den Bürgern eines der reichsten Länder der Welt nicht erlaubt, ein anständiges Leben zu führen. Aber egal ob es jetzt um einen Streifenpolizist geht, der ein paar Rubel will, oder einen von Putins Freunden, der Milliarden in die Tasche steckt. Der Ansatz sollte beide Male lauten: Null Toleranz." Diese Botschaft entwickelt Volkov derzeit politisch weiter. Und er tut das, mit einem anderen Russland im Hinterkopf. Einem Russland nach und ohne Präsident Putin. "Ich glaube nach wie vor, dass wir das reparieren können. Das wir Russland wieder auf seinen eigentlich europäischen Weg bringen können. Denn Russlands Regime ist nichts Besonderes! Es ist dem von Salazar in Portugal sehr ähnlich, auch dem von Franco in Spanien - es ist ein weicher Totalitarismus. Und wir wissen ja nur zu gut, dass diese Regime nie ihre Führer überlebt haben." Volkov denkt mittelfristig an ein Russland ohne Putin, aber kurzfristig hat er ein ganz anderes Problem. Denn Nawalnys Fortschrittspartei ist zumindest für die Regionalwahlen, die noch in diesem Jahr anstehen, nicht zugelassen. Die Aktivisten wollen deswegen vor das russische Verfassungsgericht ziehen, rechnen sich aber kaum Chancen aus. Volkov aber kratzt das herzlich wenig. Wahlkampf macht er trotzdem. "Ich meine, wenn man in Russland Politik machen will, dann kann man nicht NICHT optimistisch sein. Wäre ich kein Optimist, hätte ich in Luxemburg bleiben sollen. Aber wir müssen uns natürlich schon mit mehr und mehr mittelalterlichen Restriktionen herumschlagen. NGOs werden verboten, Theaterstücke werden aus den Programmen gestrichen. Diskussionen über die Homo- Ehe wie in Westeuropa? An so etwas brauchen wir hier gar nicht erst zu denken! Mittelalterliche Absurditäten, die 2015 in einer eigentlich europäischen Kultur wieder zum Leben erwachen." Reportage 4 - Mit ehrenamtlichem Engagement die Gesellschaft wandeln - Freiwilligenarbeit in einem Moskauer Tierheim Freiwillige Arbeitseinsätze galten zu Sowjetzeiten oft als "freiwilliger Zwang", weil sie von Betrieb oder Partei angeordnet wurden. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff "Subbotnik" für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Sonnabend. Vielleicht steht das Ehrenamt deshalb nicht besonders hoch im Kurs. Bei einer Umfrage gaben 49 Prozent der Befragten an, sie hätten kein Vertrauen in Wohltätigkeitsorganisationen, weil sie ihrer Meinung nach Geldwäsche betrieben oder ineffizient seien. Und der World Giving Index, der die Spendenbereitschaft und Wohltätigkeit der Bewohner eines Landes misst, listet Russland auf Platz 126. Ein paar junge Leute versuchen, ihr Land auf der Liste nach oben klettern zu lassen. Sie machen sich jedes Wochenende auf den Weg, um freiwillig zu helfen, in einem Tierheim am Rande Moskaus. Man hört ihn schon aus der Ferne, den Sound von Moskaus größtem Tierheim, weit draußen in der Moskauer Peripherie, inmitten einer Industriebrache und unfertiger Straßen. Hinter hohen Wellblechwänden leben hier knapp 3.000 Hunde, den Großteil ihrer Zeit: eingesperrt in Käfigen, in elendig langen Gitter- Reihen. Zwei mal drei Meter sind die Käfige groß, manchmal ist ein Hund darin, manchmal sind es zwei, manchmal drei. Die Tiere sind hier draußen völlig sich selbst überlassen, nur um das Nötigste kümmern sich ein paar Angestellte. Den Rest übernehmen am Wochenende Freiwillige wie Elena Iokimanskaya. Viele nehmen stundenlange Wege in Kauf, um den Hunden das zu geben, was ihnen sonst keiner gibt: Zuwendung, Streicheleinheiten, Gassi gehen. Die 32-Jährige kommt schon seit vier Jahren hierher und kümmert sich um etwa 40 Hunde. Während sie erzählt, lässt sie einige der Hunde aus den Käfigen. Vor lauter Freude springen sie ungestüm an ihr herauf. Genau wie alle anderen Freiwilligen ist Elena jung, sehr gut ausgebildet und beruflich erfolgreich. "Ich arbeite für eine internationale Firma als Finanz-Analytikerin. Ich bin schon sowas wie ein Big Boss. Naja, vielleicht kein Big Boss, aber ich hab schon mein eigenes Team. Aber jeden Samstag, statt irgendeinen Film zu gucken, shoppen zu gehen, auf der Datscha zu grillen oder so, komme ich her. Deswegen halten mich viele für einen Freak! Auf der Arbeit habe ich das hier zwei Jahre lang geheim gehalten! Erst jetzt, da ich bewiesen habe, dass ich meinen Job drauf habe, traue ich mich, davon zu erzählen. Aber vorher?" Und das ist nicht der einzige Grund, warum sich Elena Iokimanskaya in ihrer Heimat oft nicht wohl fühlt. Sie lebt vegan, reist beruflich oft und gerne in die USA, postet Fotos von ihren Reisen im Internet, hat schon mal laut darüber nachgedacht, Russland auch auf Dauer zu verlassen. Damit eckt sie an. Und dass in Amerika nicht nur Imperialisten hausen, darüber muss sie sich auch immer wieder mit ihren Eltern streiten. "Ich gehöre nicht hierher", sagt sie, "nicht in dieses Russland." "Viele junge Leute glauben nicht, dass sich hier was ändern lässt. Und die einzige Lösung, die sie sehen, ist eben zu gehen. Auch ich lebe mit der Idee schon lange, lange Zeit, aber wie man sieht, ich bin immer noch hier. Aber es geht mir nicht so richtig aus dem Kopf." Kseniya Vasilchenko ist vor drei Jahren zum ersten Mal im Tierheim gewesen, um einen Welpen zu adoptieren. Seitdem ist die drahtige blonde Frau so etwas wie die Chef-Freiwillige. "Da hat sich etwas in mir verändert. Wenn man das erste Mal ins Tierheim kommt, ist das echt nicht leicht. Es stresst viele Leute. Aber ich hab angefangen, mir zuzutrauen, mit den Hunden zu arbeiten. Ich habe eine tiefe Verbindung zu ihnen entwickelt. Ich würde nicht sagen, dass ich vorher Angst hatte, aber wenn du 100 dieser Hunde auf einmal hast, kann das gefährlich werden. Aber es hat angefangen, mir zu gefallen. Und wurde ein großer Teil meines Lebens." Kseniya Vasilchenko stand auch an vorderster Front, als das Tierheim seine bisher schwärzeste Stunde erlebte. Ein Wintertag in Moskau im Dezember 2012: An diesem Tag stellt der bisherige Leiter des Tierheims plötzlich und ohne Begründung den kompletten Betrieb ein und lässt auch die Freiwilligen nicht mehr aufs Gelände. Erst 10 Tage später schaffen es die Tierschützer, sich Zugang zum Tierheim zu verschaffen. Hinter den Wellblechwänden finden sie verwahrloste, kranke, dehydrierte Hunde. Tote Tiere liegen zwischen den Lebenden, es stinkt bestialisch. "Das ist schwer zu beschreiben. Du musst da deine Gefühle einfach ausblenden und dich stattdessen einfach an die Arbeit machen; die Käfige sauber machen, Futter und Wasser verteilen. Natürlich war das schwer. Wenn man das so gesehen hat, da hätte man eigentlich auch den Verstand verlieren und wegrennen können. Aber dazu hatten wir einfach gar nicht erst die Möglichkeit." Die Aktivisten bringen alles an die Öffentlichkeit. Der Druck wirkt und die Tierheimleitung geht in andere Hände über. Unter dem neuen Direktor gibt es inzwischen ein kleines Krankenhaus für die Tiere, neues Personal wurde eingestellt und die Hunde werden besser geschützt und umsorgt. In der Mitte des Tierheims befindet sich ein kleiner, umzäunter Sandplatz. Hierhin dürfen nur die Hunde, die weder für Mensch, noch Hund noch für sich selbst eine Gefahr sind. Die Resozialisierten, die eine kleine Chance haben, noch etwas anderes in ihrem Leben zu sehen, als die Gitterstäbe des Tierheims: "Immer wenn irgendein reinrassiger Hund hier ankommt, dann ist der in der Regel auch schnell wieder weg, denn die werden eher wieder adoptiert. Hier in Russland ist ein Hund immer noch ein Luxusobjekt. Die Leute adoptieren die Tiere nicht aus Mitgefühl. Einige wenige, ja, aber leider nicht viele." Aber genauso viele Hunde wie gehen, kommen jedes Jahr auch wieder dazu. Und einige Tiere sind selbst bei allem Mitgefühl nicht mehr vermittelbar. Sind traumatisiert, verstört, gefährlich. Genau deshalb engagieren sich Freiwillige wie Kseniya Vasilchenko. Auch wenn sie, nach allem, was sie erlebt hat, auf der Hut ist: "Aber wissen Sie, ich bin Russin. Ich muss optimistisch sein! Das ist der einzige Weg in diesem Land zu überleben. Aber wir sind auch professioneller geworden und haben die Situation genau im Blick. Wenn's drauf ankommt, sind wir bereit einen Krieg anzuzetteln, für unsere Hunde zu kämpfen." Literaturpassage 3 "Ein Bauer fragte: "Was würde die amerikanische Regierung tun, wenn die sowjetische Regierung Geld an Mexiko verliehe und das Land militärisch unterstützte, mit dem erklärten Ziel, die Verbreitung der Demokratie zu verhindern?" "Tja, wir vermuten, wir würden euch den Krieg erklären." Und er sagte: "Aber ihr habt der Türkei, die an uns grenzt, Geld geliehen, mit dem Ziel, die Verbreitung unseres politischen Systems zu verhindern. Und wir haben euch nicht den Krieg erklärt." Und unser Gastgeber sagte: "Uns scheint das amerikanische Volk ein demokratisches Volk zu sein. Können Sie uns erklären, warum die amerikanische Regierung mit reaktionären Regierungen befreundet ist, den Regierungen von Franko und Trujillo, mit der Militärdiktatur der Türkei und der korrupten Monarchie Griechenlands?" Es lag keine Feindseligkeit in ihren Fragen, nur Verwunderung. Schließlich stand unser Gastgeber auf, und er erhob sein Glas, und er sagte: "Irgendwo muss die Antwort liegen, und diese Antwort muss schnell gefunden werden. Lasst uns auf die Hoffnung trinken, diese Antwort möge gefunden werden, denn die Welt braucht Frieden, braucht ganz dringend Frieden." Reportage 5 - Mit Optimismus an Veränderung glauben - Der Internet-Sender Doschd ...auch die Macher des ehemaligen TV und heutigen Internet-Senders "Doschd" sind daran interessiert, Antworten zu finden - auch wenn ihre Antworten häufig anders ausfallen als die offiziellen Antworten und nur wenig Gehör finden. Zwar dient in Russland immer noch das Fernsehen als Hauptinformationsquelle. Hier informieren sich rund 90 Prozent der Bevölkerung. Allerdings am liebsten bei den Nachrichtenkanälen des Staatsfernsehens. Die Reichweiten unabhängiger Medien sind oft verschwindend gering - wenn sie überhaupt noch senden. Aufgeben aber wollen die Macher von "Doschd" nicht. Schließlich heißt ihr Kanal "Der optimistische Sender". Eine alte Industrie-Halle mit meterhohen Decken, Doschd hat sich im ersten Stockwerk einer alten Fabrik eingemietet. Zig Reihen von Schreibtischen, an denen Redakteure und Reporter schreiben, Cutter Filme schneiden, Designer die Website gestalten, manche einfach nur zu Mittag essen oder bei einem Espresso Macchiato plaudern. Überall flirren Fernseher, die Wände werden mit rosa Neonlicht angestrahlt. Am hinteren Ende der Halle liegt das futuristisch daher kommende High-Tech-Sendestudio, nur abgetrennt durch eine Glasscheibe. Hinter der Scheibe moderiert eine junge, blonde Frau in einem weißen Kleid mit schwarzen Pünktchen, roten Schuhen, und mit großer Hornbrille. Schräg gegenüber sitzt, wieder nur durch eine Glasscheibe getrennt, die Regie. Andrej arbeitet bei Doschd als Regisseur und das ist ein ziemlich knackiger Job: Doschd ist beinahe ein reiner Informationssender, mit Nachrichten alle halbe Stunde, vielen aktuellen Berichten und Reportagen. 25 Jahre ist Andrej alt, aber schon seit vier Jahren dabei. Sein Bruder hat ihn sozusagen eingeschleust: Erst als Cutter, dann als Regieassistent, inzwischen ist er Chef-Regisseur. Er arbeite mehr oder weniger aus reiner Überzeugung für Doschd, den Sender, der vielen als letzte regime-kritische TV-Stimme Russlands gilt. Finanziell gebe es hier nicht viel zu holen. "Warum ich trotzdem bleibe? Das ist einfach ein guter, ein interessanter Sender. Viele gehen dann doch zu den großen Sendern, zum Staatsfernsehen, aber ich will das nicht. Mir gefällt's hier besser. Der Laden hier erzählt die Wahrheit!" Das liebe Geld aber, das lässt Tikhon Dzyadko keine Ruhe. Mit gerade einmal 32 Jahren ist er ein international bekannter Journalist und stellvertretender Chef-Redakteur von Doschd. Der Hüne trägt ein gut geschnittenes weißes Hemd, in den Bund seiner schwarzen Anzughose gesteckt und wirkt in der ganzen Hektik wie ein Fels in der Brandung. "In Europa herrscht glaube ich der Eindruck, dass unabhängige Journalisten in Russland vor allem unter der Aggression des Staates leiden. Dass manche von ihnen umgebracht werden. Das stimmt natürlich, aber das Hauptproblem für unabhängigen Journalismus ist ein wirtschaftliches. Deshalb werden viele unabhängige Medien bald sterben." Dzyadko ist seit 2013 bei Doschd und muss schon kurz nach seiner Ankunft genau das beobachten, was er eben beschrieben hat: Es geht dem Sender an die wirtschaftliche Existenz. Anfang 2014 sendet Doschd einen Beitrag zum 70. Jahrestag des Endes der Belagerung von Leningrad. Im Beitrag wird die Frage aufgeworfen, ob die Stadt nicht früher hätte aufgegeben werden müssen, damit nicht noch mehr Menschen bei der Belagerung ums Leben kommen. Doschd hatte schon vorher immer wieder Ärger mit den Behörden, aber dieser Beitrag bringt das Fass zum Überlaufen. "Das heilige Gedenken an den Krieg" sei beleidigt worden, meint eine Abgeordnete. Das sei eine "Verherrlichung des Nationalsozialismus." Wer solche Fragen stelle, sei "kein Mensch", twittert der Kulturminister. Die Kampagne zündet, der wichtigste Kabelbetreiber Russlands nimmt Doschd aus dem Programm. Und auch die Werbekunden springen ab, unter ihnen deutsche Firmen. "Das ist ziemlich clever, denn Journalisten töten? Das ist immer noch ein Verbrechen. Aber Bedingungen schaffen, die es unmöglich machen, sich zu finanzieren? Das ist der Markt! Sie sagen dann: Eure Zeitung, euer Sender, die sind so langweilig, niemand will da Anzeigen oder Werbung schalten. Aber das ist natürlich totaler Mist." Doch auch ohne Werbekunden konnte sich der Sender retten, beziehungsweise er wurde gerettet, von seinen treuen Zuschauern. Mit deren Hilfe finanziert sich Doschd jetzt und sendet, da nicht mehr im Kabel vertreten, ausschließlich via Internet. Allerdings musste etwa der Hälfte aller Journalisten gekündigt werden. Und auch die Finanzierung reicht aktuell eigentlich nur, um einige Wochen im Voraus zu planen. Trotzdem, der Laden laufe, dank einer Kerntruppe, auf die Tikhon Dzyadko ziemlich stolz ist. "Ich glaub', die Gesichter der Leute hier, die Gesichter unserer Zuschauer, die Art und Weise, wie sie leben, wie sie denken - das sind die Gesichter eines modernen Russland, des zukünftigen Russland! Das sind Leute, die was mit sich anfangen wollen, auch für dieses Land. Ja. Das ist das Gesicht von Russland." Unter diesen Gesichtern suchen Dzyadko und Co gerade nach einem, der es richten soll: Nach dem russischen Präsidenten für das Jahr 2042, zumindest aus Spaß. Bei der Casting-Show können sich junge Russen bewerben, um dann in Trainingscamps von Polit-Experten zu Politikern ausgebildet zu werden. Und das Publikum soll dabei lernen, wie Politik eigentlich gemacht wird, wie sie funktioniert. Und das Publikum stimmt am Ende auch darüber ab, wer von den Kandidaten Russlands Präsident 2042 werden soll. 2042, ganz schön weit in die Zukunft geschaut für einen Sender, der sich finanziell von Tag zu Tag rettet. "Deshalb nennen wir unseren Sender ja auch den optimistischen Sender. Wir sind uns vollkommen sicher, dass wir überleben werden und dass dieser Sender hier der russische Mainstream werden wird." Man weiß bei Tikhon Dzyadko manchmal nicht, wo Optimismus, Ironie und Galgenhumor ineinander übergehen. Passt. Er arbeitet immerhin für den Optimisten-Sender Doschd. Und Doschd, das heißt Regen. "Zukunft gesucht - Junge Russen und ihre Sehnsucht nach einem anderen Staat" Das waren "Gesichter Europas" mit Reportagen von Markus Dichmann. Die Literaturauszüge stammten aus dem Buch "Russische Reise" von John Steinbeck und Robert Capa, erschienen im Unionsverlag Zürich, gelesen von Volker Risch. Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Ton und Technik: Gunther Rose und Angelika Brochhaus Am Mikrofon war Anne Raith (Recherchen für diesen Beitrag wurden unter anderem durch eine Reisekostenbeteiligung der Bundeszentrale für Politische Bildung ermöglicht.) 2