Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 25. Februar 2017 - 11.05 - 12.00 Uhr KW 08 Italiens zweite Haut - Das Geschäft rund ums Leder mit Reportagen von Kirstin Hausen Redaktion und Moderation: Johanna Herzing Musikauswahl und Regie: Babette Michel (DLF 2016) Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - "Es ist mein Mittel gegen Stress, ich trage es immer bei mir. Hier drinnen bin ich umgeben von Leder, aber wenn ich unterwegs bin, dann beruhigt es mich, dieses weiche, sinnliche Material zu berühren." Ein Handschuhmacher in Neapel über seinen Werkstoff. Und eine junge Frau, die dafür rein gar nichts übrig hat: "Die Tierhaut ist ein Abfallprodukt der Fleischindustrie. Aber auch hier geht es um Angebot und Nachfrage. Wenn niemand mehr Leder nachfragt, wird es auch nicht mehr angeboten." "Italiens zweite Haut - Das Geschäft rund ums Leder." Gesichter Europas mit Reportagen von Kirstin Hausen. Am Mikrofon: Johanna Herzing. - - - - - Die Südtiroler Gletschermumie Ötzi - und ein Model auf dem Mailänder Laufsteg - auf den ersten Blick haben sie nichts miteinander gemein. Und doch verbindet sie etwas: Schon zu Lebzeiten von Ötzi, also rund 3000 Jahre vor Christus, vertraute man ebenso wie viele Designer heute auf einen Werkstoff: nämlich auf Leder. Ötzis Schuhe: eine wirklich anspruchsvolle Arbeit aus vermutlich Rindsleder, Bärenfell und Gräsern. Dazu Felljacke, Fell-Leggins und ein Kalbsledergürtel. Die Kreationen, die die Mailänder Models heute vorführen, sind da vielleicht figurbetonter und weniger rustikal. Aber wegdenken lässt sich Leder aus der italienischen Mode nicht. Die Vorzüge des Materials überzeugen scheinbar damals wie heute: Leder atmet, ist elastisch, robust, aber zugleich auch geschmeidig. Seine Herstellung und Verarbeitung hat besonders in Italien Tradition: zum Beispiel in Neapel, der Hauptstadt des Handschuhs. Dort gab es im 19. Jahrhundert Hunderte von "Guantifici", also kleinen Handschuhmanufakturen. Ein Arbeitsplatz, an dem sieben Tage die Woche, vom Morgengrauen bis Sonnenuntergang, genäht wurde, denn elektrisches Licht gab es in den Werkstätten nicht. Nur wenige der historischen "Guantifici" haben bis heute überlebt. Eine davon, nun die größte ihrer Art, findet sich noch immer dort, wo sie vor drei Generationen gegründet wurde: im Viertel "Sanita". Genäht wird hier wie eh und je bei Tageslicht. Reportage 1 Patrizia Sarnataro sitzt direkt am Fenster. Die Aussicht geht auf die Gasse und den Häuserblock gegenüber, wo bunte Wäsche an den Balkongeländern flattert. Die Sonne lässt die bröckelnden Häuserfassaden in Neapels Altstadt heute glänzen. Doch Patrizia hat dafür keinen Blick. Konzentriert wählt sie zwischen verschiedenen Blautönen das richtige Garn aus, für den Lederhandschuh auf ihrem Arbeitstisch. "Heutzutage muss man genau auf die Farbe achten, das kostet Zeit, aber hier herrscht kein Stress oder Druck. Ich weiss nicht einmal, wie viele Handschuhe ich am Tag nähe, das kommt ganz drauf an. Oft kommt eine Kollegin und fragt, ob ich etwas ausbessern kann, dann muss ich meine Arbeit unterbrechen." Patrizia arbeitet seit fast 20 Jahren in der Handschuhwerkstatt "Omega", sie liebt das Nähen an der alten Singer-Nähmaschine. Eigentlich ein Museumsstück, die bronzefarbene Nähmaschine aus dem 19. Jahrhundert, aber für Leder-Handschuhe nach wie vor die beste. Hier, im dritten Stock eines denkmalgeschützten Wohnhauses im Herzen von Neapel, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Keine lauten Fabrikmaschinen, keine automatisierten Arbeitsgänge, keine festen Pausenzeiten. Wer Lust auf einen Espresso hat, kocht ihn sich in der kleinen Küche nebenan. Wer sich die Beine vertreten will, geht kurz runter in den Hof. Zehn Frauen und zwei Männer arbeiten hier, rigoros an alten Nähmaschinen. "Wir sind wie eine Familie. Der Besitzer arbeitet hier ja auch mit." Der Besitzer heisst Mauro Squillace, ein stämmiger Mann von Mitte 50 mit hellen Augen, rundem Gesicht und einer dröhnenden Bassstimme. Er sitzt im hinteren Teil der Wohnung, die zugleich Produktionsstätte und Verkaufsbüro ist. Hinter einem grossen Schreibtisch, auf dem sich Bücher, Lederproben, leere Zigarettenpackungen und handgeschriebene Zettel häufen. Vor ihm ein Computerbildschirm der neusten Generation. Schon sein Großvater hat Lederhandschuhe genäht. "Und zwar hier im Stadtviertel Sanità. Historisch gesehen ist die neapolitanische Kunst des Handschuhnähens hier entstanden, vor dreieinhalb Jahrhunderten. Im 19. Jahrhundert waren die Handschuhfabriken der wichtigste Wirtschaftszweig für die Menschen hier. Mein Großvater gehörte schon zur zweiten Generation und hat viele kleine Handschuhmacher für sich arbeiten lassen. Damals ging es mehr um Quantität als um Qualität. Mein Großvater hatte nicht mehr als zehn verschiedene Modelle im Sortiment und nur zwei Farben: schwarz und dunkelbraun. Heute haben wir allein 30 Farben ständig verfügbar." Ein stolzer Blick Richtung Sohn. Alberto Squillace, ein schlacksiger Mann Ende 20, sortiert die angelieferten Tierhäute, die gegerbt und gefärbt auf ihre Verarbeitung warten. Er hat das Handwerk von der Pike auf gelernt. So wie schon der Vater. 25 Arbeitsschritte sind es bis zum fertigen Handschuh. Mauro Squillace nimmt eine Schere, zieht ein Stück butterweiches Ziegenleder in Rubinrot aus dem Stapel und breitet es auf dem Tapeziertisch des Zuschneiders aus. "Ich streiche darüber und sehe das Tier vor mir, dieses Zicklein war nicht älter als sechs Monate." Er beugt sich über das Leder als wolle er es küssen. Dann setzt er die Schere an. "Jedes Stück dieser Tierhaut ist zu etwas nütze. Wir sind Meister des Recycelns, wir werfen nichts weg. Aus einem kleinen Leder-Quadrat machen wir beispielsweise die Innenseite eines Handschuhfingers. Zuerst werden also die Einzelteile ausgeschnitten, dann müssen wir das Leder vorsichtig in die Länge ziehen. Ein Handschuh darf sich nämlich nur in der Breite weiten, nicht in der Länge. Aus dem Ausland importierte Handschuhe sind nicht so von Hand gezogen, das sehe ich sofort. Sie werden maschinell gepresst, aber das bedeutet einen Verlust der Qualität." Alberto nickt. Er ist entschlossen, die Tradition weiterzuführen. Und er hat keine Angst vor Konkurrenz aus China oder Bangladesch. "Die Chinesen schicken uns dieses Leder zurück. Es ist zu weich, sie können damit nicht arbeiten. Das heißt: wir sind konkurrenzlos!" Ein Augenzwinkern, dann schaut Mauro plötzlich auf. Im Türrahmen stehen zwei Damen in eleganten Kostümen, Chanel-Handtaschen am Arm. In fließendem Französisch begrüßt der Handschuhmacher die Stammkundinnen aus Paris. Sie besuchen Verwandte in Rom und haben einen Abstecher nach Neapel gemacht: um schöne Handschuhe zu kaufen. Das einfachste Modell gibt es heute schon für 60 Euro - Mauro Squillace ist guter Laune und eine Quittung stellt er natürlich nicht aus. Seine Handschuhe sind auch in den Luxusauslagen in Paris vertreten, dann aber mit dem Etikett Dior versehen. Er ist seit Jahren Zulieferer für das noble Modehaus. "Am Anfang wollten mich Konzerne wie "Galerie Lafayette", Louis Vitton", "Dior" und so weiter nicht einmal empfangen. Warum? Weil ich Neapolitaner bin und Neapolitaner vor allem für verspätete Lieferung, schadhafte Qualität und den Versuch, dich übers Ohr zu hauen, stehen. Im Kleinen, nicht im Großen. Die großen Betrugsfälle leistet sich ja meistens der Norden, die Neapolitaner sind einfach ein bisschen verrückt, tolpatschig und wie Kinder. Anfangs wollten sie also nichts mit mir zu tun haben, heute rufen sie mich an und fragen, wann ich nach Paris komme. 'Zeig uns deine neuen Muster und Modelle', bitten sie mich, das ist wirklich schön." Mauro lässt Kaffee kochen für seine Gäste. Und schickt seinen Sohn in die Konditorei nebenan, um "babà" zu kaufen, typisch neapolitanisches Naschwerk mit Rum. Er liebt es, Besuch zu bekommen und ihn zu bewirten. Einmal im Jahr lädt er die Kinder des Viertels in die Werkstatt ein. Das stärkt seinen guten Ruf in Neapel- Mauro weiß sich zu vermarkten. "Die Kinder, die hier aufwachsen, haben oft genug einen Elternteil, der im Gefängnis sitzt. Mir macht es Freude , ihnen zu zeigen, dass es auch anders geht, dass man mit ehrlicher Arbeit weit kommt. Wenn diese Kinder aus den Gassen Neapels die Etiketten in den Handschuhen lesen, dann fragen sie sofort, ob die nun echt sind oder gefälscht. Das ist Neapel!" Mauro Squillace würde nirgendwo anders seine Handschuhe nähen lassen wollen. Es ginge auch gar nicht. Denn manche Stichmuster bekommen nur noch wenige ältere Damen in den Dörfern rund um Neapel hin. Sie nähen zuhause, die Handschuhe werden ihnen gebracht und wieder abgeholt. Ein Mitarbeiter ist den ganzen Tag damit beschäftigt, Handschuhe hin und her zu fahren. Er wartet unten im Hof auf die nächste Ladung. Ein Plastikeimer an einer Kordel - der Ersatz für einen Lastenaufzug. Mittels einer Kurbel wird er vom Balkon im dritten Stock in den Hof abgeseilt. Zu Großvaters Zeiten wurden die Handschuhe treppauf treppab getragen, erzählt Mauro, aber das habe er seinen Mitarbeitern nicht mehr zumuten wollen. Einen Aufzug einbauen durfte er nicht, weil das Gebäude unter Denkmalschutz steht. Also hat er sich diese einfache Alternative einfallen lassen. Die Finger seiner rechten Hand fahren über ein handtellergrosses Stück Leder, das er aus seiner Hosentasche geholt hat. Butterweich ist es, etwas abgewetzt. "Es ist mein Mittel gegen Stress, ich trage es immer bei mir. Hier drinnen bin ich umgeben von Leder, aber wenn ich unterwegs bin, dann beruhigt es mich, dieses weiche, sinnliche Material zu berühren." Draußen zieht die Dämmerung herauf. Die Frauen an den Nähmaschinen machen Schluss und legen die fertigen Handschuhe auf einen Stapel. Mauro Squillace nickt ihnen zu und greift nach seinen Zigaretten. Er hat es nicht eilig. Die Werkstatt ist sein zweites Zuhause. Der Roman "Amerikanisches Idyll" von Philip Roth erzählt die Geschichte eines Mannes, der den American Dream lebt, aber schließlich gnadenlos scheitert. Zugleich ist es aber auch die Geschichte eines Handschuhmacher-Imperiums an der amerikanischen Ostküste, aufgebaut und geprägt von europäischen Einwanderern. Literatur 1: Ein sehr geschickter Geschäftsmann. Konnte Handschuhe machen, konnte Geschäfte machen. Hatte gute Beziehungen zu den Modeleuten auf der Seventh Avenue. Die Designer dort haben ihm alles Mögliche verraten. Auf diese Weise war er der Meute immer einen Schritt voraus. In New York ist er dauernd in die Kaufhäuser gegangen, hat sich bei der Konkurrenz umgesehen, ob dort irgendwas Originelles angeboten wurde, hat sich in den Geschäften die Ledersachen angesehen, hat an den Handschuhen gezupft und auch sonst alles getan, was mein alter Herr ihm beigebracht hatte. Den Verkauf hat er praktisch im Alleingang gemacht. Die Großaufträge hat er alle selbst abgewickelt. Die Einkäuferinnen waren völlig verrückt nach Seymour. Du kannst es dir ja vorstellen. Statt dass er sich bei ihnen einzuschmeicheln versuchte, war es am Ende des Abends so, dass sie sich bei ihm einzuschmeicheln versuchten. Und er wusste einfach alles: die Modefarben der nächsten Saison, ob die Röcke kürzer oder länger werden würden. Ein attraktiver, pflichtbewusster, fleißiger Mann. Handwerkskunst statt Einheitsware, Qualität, bestes Design und Kreativität: Dafür soll das Label "Made in Italy" stehen - auch beim Leder. Europaweit ist Italien bedeutendster Hersteller und zugleich Abnehmer für das Material. Zwar macht sich auch hier die Abwanderung der Lederindustrie nach Lateinamerika und Asien bemerkbar. Umso größer ist allerdings das Interesse daran, die eigenen Produkte vor Nachahmern zu schützen. Das aber ist gar nicht so leicht. Die Nachfrage nach italienischen Lederwaren ist groß, vor allem nach Marken-Ware. Die aber ist wiederum mitunter sehr teuer. Wer dennoch nicht auf das Prada- oder Gucci-Label auf der Handtasche verzichten will, der geht auf den Straßenmarkt: Hier werden sie italienweit zu Discountpreisen angeboten, natürlich gefälscht. Die Ware stammt aus China, Vietnam und Bangladesch und landet unter anderem mit Containerschiffen im Hafen von Genua an. Stoßen Finanzpolizei und Carabinieri hier bei ihren Stichproben auf vermeintliche Leder-Luxusware aus Italien, dann schicken sie einen Teil davon nach Mailand. Dort hat der Verband der italienischen Lederindustrie sein Labor. Reportage 2 "Wir analysieren die beschlagnahmte Ware dann auf ihre Echtheit und auf giftige Substanzen. Oft genug enthält diese Ware tatsächlich Giftstoffe oder das Material, das auf dem Etikett als "Echtes Leder" deklariert ist, erweist sich als Plastik." Auf dem Seziertisch der Chemikerin Barbara Vialetto liegt heute ein eleganter Damenschuh aus schwarzem Veloursleder, den ein Mitarbeiter für 49 Euro auf dem Markt gekauft hat. Eine Stichprobe. Auf der Sohle steht "Made in Italy". Die zierliche, blonde Frau trägt keinen Laborkittel, sondern ein wollweißes Twin-Set und Hose mit Bügelfalte. Ihre Füße stecken in Lederpumps, die denen auf dem Tisch vor ihr ähneln. "Dieser Schuh trägt ein Zertifikat, das ihn als Lederschuh ausweist. Nur ein Teil der Sohle ist aus Plastik, alles andere soll echtes Leder sein. Ich werde jetzt die Qualität des Materials prüfen, vor allem auf seinen Schadstoffgehalt." Barbara Vialetto betastet die Naht und rümpft die Nase. "Schlecht verarbeitet! An der Ferse ist der Schuh mit einem Faden aus Plastik genäht und das kann der Trägerin die feinen Perlonstrümpfe aufreißen." Mit nur einem Handgriff löst die Chemikerin die innere Sohle und die Fersenpolsterung, ihre Augenbrauen wandern in die Höhe. "Mir scheint das keine hochwertige Ware zu sein, jedenfalls nicht Made in Italy. Möglicherweise hat der Hersteller die Sohle in Italien gekauft, aber das ist trotzdem Betrug, weil der Käufer natürlich glaubt, der gesamte Schuhe sei in Italien produziert." Barbara Vialetto schneidet kleine Quadrate aus dem Leder und geht mit ihnen zu einer Maschine, die aussieht wie ein Kühlschrank. Hier wird das Leder auf gesundheitsgefährdende Rückstände von Formaldehyd und Chrom untersucht. "Diese Analysen mache ich mit einem Extrakt meiner Lederprobe, die ich mit Lösungen behandle. Durch Vermischen und Erhitzen erhalte ich eine Substanz, die dann gefiltert und von all dem befreit ist, was mich nicht interessiert. Am Ende füge ich einen Hilfsstoff hinzu, um eine chemische Reaktion zu erzeugen. Das Ganze funktioniert so ähnlich wie eine Säule die mit Sand gefüllt ist. Die Flüssigkeit, die ich hindurchlaufen lasse, trennt sich in ihre Bestandteile. Die kleinsten Moleküle kommen als Erstes durch und es bilden sich Gruppen." Die Welt der Moleküle fasziniert Barbara Vialetto. Als Kind zerlegte sie ihr Spielzeug in seine Einzelteile. Ihr erster Berufswunsch war Chirurgin. Sie geht den Dingen gerne auf den Grund. "Ja, und genau das ist heute ein wesentlicher Teil meiner Arbeit. Ich nehme fertige Produkte auseinander und untersuche sie. Ich will herausfinden, ob gute Arbeit geleistet wurde oder nicht." Nun stanzt die Chemikerin ein 5-cent-großes Stück aus dem Leder im Innern des Schuhs. Für den "Abfärbe-Test". "Ich habe hier Filzplättchen, die mit unterschiedlichem Druck eine bestimmte Zeit lang immer wieder über das Leder streifen." Eines dieser Filzplättchen wird angefeuchtet, dann stellt Vialetto die Maschine an. "Bei unserem Schuh handelt es sich um schwarzes Veloursleder und das färbt immer etwas ab. Allerdings gibt es auch hier Grenzen, wie stark der Farbverlust sein darf. Ich will schließlich keinen schwarzen, braunen oder blauen Fuß haben, wenn ich meine Schuhe ausziehe. Simuliert wird mit dieser Maschine auch die Wirkung von Regen und Fußschweiß auf den Schuh. Mich interessiert, wie stark das Leder abfärbt und wie das Leder überhaupt aussieht danach. Wichtig ist, das es nicht vollkommen ruiniert ist." Das ist es nicht. Die Filzplättchen sind allerdings schwarz. Punktabzug. Auch der Abriebtest der Sohle stellt Barbara Vialetto nicht zufrieden. Nach 30 Sekunden unter einer Schmirgelpapierwalze ist das Leder fast zerbröselt. Die chemischen Analysen haben zwar keine giftigen Rückstände zutage gefördert, aber ein Prädikat bekommt dieser Schuh nicht. "Die Qualität ist mittelmäßig. Die innere Sohle lässt sich zu leicht ablösen, die Nähte sind nicht besonders gut. Und an einigen Stellen hat der Klebstoff, mit dem die äußere Sohle befestigt ist, das Leder beschmiert. Auf dem Etikett steht zwar Made in Italy, aber dieser Schuh stammt nicht aus italienischer Produktion." Barbara Vialettos Urteil ist eindeutig. Einen Schuh wie diesen würde sie selbst niemals kaufen. Zu stolz ist sie auf die italienische Schuhmacherkunst. Weich, geschmeidig aber auch resistent muss das Leder sein, es soll den Fuss umarmen und stützen. Nicht drücken, nicht scheuern, nicht rutschen - Vialettos Ansprüche sind hoch. Sie kauft lieber ein Paar Schuhe weniger als an der Qualität zu sparen. Den auf der inneren Sohle aufgedruckten Markennamen wird sie nun an Kollegen weitergeben. Die sollen versuchen, den Produzenten des Schuhs ausfindig zu machen. Das "Made in Italy"-Etikett soll italienische Ware schließlich vor unlauterer Konkurrenz schützen. Literatur 2: Affen, Gorillas, die haben ein Gehirn und wir haben ein Gehirn, aber eines haben sie nicht: den Daumen. Sie können ihn nicht so gegenüberstellen wie wir. Der innere Finger der menschlichen Hand, das ist es wohl, was uns physisch von den anderen Tieren unterscheidet. Und der Handschuh schützt diesen inneren Finger. Der Damenhandschuh, der Schweißerhandschuh, der Gummihandschuh, der Baseballhandschuh, und so weiter. Das ist die Wurzel des Menschseins, dieser gegenüberstellbare Daumen. Er befähigt uns Werkzeuge zu machen, Städte zu bauen und alles andere. Mehr noch als das Gehirn. Vielleicht gibt es Tiere, die im Verhältnis zu ihrem Körper größere Gehirne haben als wir. Ich weiß es nicht. Aber die Hand selbst ist ein höchst kompliziertes Werkzeug. Sie bewegt sich. Es gibt keinen anderen bekeideten Teil des menschlichen Körpers, dessen Bewegungen derart komplex sind..." In diesem Augenblick platzte Vicky mit den fertigen Handschuhen herein. "Hier sind Ihre Handschuhe", sagte Vicky und gab sie dem Chef, der einen flüchtigen Blick darauf warf und sich dann über den Schreibtisch beugte, um sie dem Mädchen zu zeigen. Weichen, Äschern, Entfleischen und Spalten, Beizen, Pickeln, Gerben und Zurichten - Das sind nur ein paar der rund 40 Arbeitsschritte, die es braucht, um aus einem Stück Tierhaut, das zu machen, was wir gemeinhin als Leder bezeichnen. Im Wesentlichen geht es dabei um die Haltbarmachung der Haut, die würde nämlich andernfalls verderben. Mit Pflanzen, Mineralsalzen oder anderen Gerbstoffen behandelt hält sich das fertige Produkt hingegen äußerst lang. Eine Kulturtechnik, auf die unter anderem auch die Römer in der Antike setzten. Sie trockneten die Tierhäute über offenem Feuer und gaben sie in Laugen mit Tannin und Urin. Die antike Gerberei, die man 1873 in Pompei ausgegraben hat, war insofern günstig gelegen: direkt neben einer öffentlichen Toilette. Ein angesehener Beruf war das Gerbereihandwerk dementsprechend über Jahrhunderte hinweg nicht: Dreckig, stinkend, faulig, eine Art Vorhölle. Heute ist es um den Ruf insgesamt zwar besser bestellt, dafür gelten Gerbereien als umweltschädigend. Hoher Wasserverbrauch und der Einsatz von Chemikalien - die Branche hat ein Imageproblem, nicht nur in den Schwellenländern, sondern auch in Europa. Reportage 3 Die Gerberei Bonaudo in der Nähe von Mailand ist eine der modernsten Italiens. Blankgeputzter Boden aus PVC, blaue Fässer mit Chemikalien, in Reih und Glied geordnet, Walzen und Holz-Fässer die sich langsam um die eigene Achse drehen wie Betonmischer. "Diese Maschinen sind Reaktoren, in ihnen laufen chemische Reaktionen ab. Sie sind mit Holz ummantelt, weil das Tradition ist, aber innen sind sie voller Technologie." Vito Marino, 63 Jahre alt, gebürtiger Süditaliener, tätschelt eines der Fässer, in dem ein Kubikmeter Flüssigkeit gerade dabei ist, Tierhaut in Leder zu verwandeln. Die Häute von europäischen Kälbern, amerikanischen Hirschen und australischen Kängurus werden bereits vor-präpariert angeliefert. Mit Salz bearbeitet, sind sie eine ganz Zeit lang haltbar. Vito Marino hat die Fabrik vor zehn Jahren mit aufgebaut und ist für die chemischen Prozesse verantwortlich. "Was die Prozesse des Gerbens und Färbens angeht, so hat es in den 30 Jahren, in denen ich in der Lederproduktion arbeite, keine großen Veränderungen gegeben. Aber einige Chemikalien sind als krebserregend und gesundheitsgefährdend eingestuft worden und auf die müssen wir heute verzichten. Das ist beispielsweise Formaldehyd und neuerdings steht auch eine Sorte von Chrom auf der schwarzen Liste. Das darf nur in sehr geringen Mengen im Leder nachweisbar sein. Selbst bei Kinderspielzeug sind die Auflagen da weniger streng." Vito Marino ist nicht so gut zu sprechen auf die "Gegner der Chemie", wie er sie nennt. Die ganze Bio-Bewegung ist ihm ein Greul. "Bis heute gibt es doch kaum wissenschaftliche Belege für Gesundheitsschäden durch das Tragen von Lederwaren. Das Ganze ist eine Frage der Mentalität." Doch der Markt will mehr Nachhaltigkeit und Umweltschutz, auch in der Lederproduktion. Der Ingenieur verdreht die Augen. "Wir experimentieren auch mit natürlichen Gerbstoffen, die vor dem Einsatz von Chrom benutzt wurden und die das Leder biologisch abbaubar machen, aber die Kunden wollen auch eine gewisse Haltbarkeitsgarantie und die können wir in dem Bereich noch nicht geben." Mit einem Schritt ist Vito Marino bei einem der kleinen Bildschirme, die an den sogenannten Reaktoren hängen. Darauf ablesbar: Die aktuelle Temperatur im Innern, die Prozessdauer und die genaue Zusammensetzung der Lauge. "Jedem Arbeitsgang liegt ein Rezept zugrunde. Damit sind die Chemikalien gemeint, ihre exakte Dosierung, die Temperatur und die Zeit der Bearbeitung. Je nachdem ob das Leder weich sein soll oder Struktur haben muss, ob es glatt oder aufgeraut sein soll. Ist das Leder gegerbt, wird es anschließend gefärbt. Hier ist die richtige Mischung der Farbstoffe wichtig. Danach wird die Farbe im Säurebad fixiert und dann das Ganze getrocknet." Die Lederproduktion ist ein komplexer Vorgang und eine uralte Kunst. Niemand kann das so gut wie die Italiener, ist Vito Marino überzeugt. Neben dem technischen Know-How brauche es auch Kreativität und Fingerspitzengefühl beim Abstimmen der "Rezepte". "Die Rezepte haben einerseits Tradition, andererseits werden sie von den Ausbildungsstätten für Gerber laufend verbessert. Und dann hat jede Gerberei natürlich auch ihre eigenen Rezepte, die wie ein Schatz gehütet werden - natürlich alles im Rahmen der Gesetze." Dieser Nachsatz musste sein. Vito Marino kennt die Bedenken der Umweltschützer wegen der Abwässer aus den Gerbereien. "Wir können unser Schmutzwasser nicht ableiten ohne es vorher selbst gereinigt zu haben, weil wir äußerst strenge Auflagen einhalten müssen. Im Grunde ist das Wasser, das aus dieser Fabrik ins städtische Kanalsystem geleitet wird, sauberer als das, was aus der Küche eines Privathaushaltes abfließt." Vito Marino zuckt die Schultern. Sein Chef, der Besitzer der Gerberei hat sich mit den strengen Auflagen abgefunden. Gleich trifft er ihn zu einer Besprechung. Bis dahin will sich der Ingenieur noch vergewissern, dass alle Maschinen einwandfrei laufen und ausgelastet sind. Er nickt zwei Arbeitern zu, die das feuchte Leder nach dem Gerben und Färben in Form ziehen. "Das handwerkliche Geschick ist nach wie vor wichtig. Unser Leder wird von Hand geglättet und gebügelt. Normalerweise verlieben sich die Arbeiter schon nach kurzer Zeit in dieses Material - so wie es mir vor 30 Jahren passiert ist. Leder ist ein Naturprodukt, es ist sinnlich und faszinierend und es gehört seit Urzeiten zum Menschen. Die Liebe zum Leder ist in unserer DNA angelegt." Zärtlich streicht Vito Marino über ein Stück samtweiches Nubukleder in kräftigem Pink, riecht daran, und reibt es zwischen Daumen und Zeigefinger. "Das ist gerade aus der Trocknungsanlage herausgekommen. Wunderschönes Kalbsleder, das auf der Narbenseite angeschliffen wurde, um es so samtartig zu machen. Wenn ich darüber streiche, verändert es ganz leicht seine Farbe." Leder für Luxusprodukte. Hier in dieser Fabrik beginnt das Leben der Prada-Taschen und Ferragamo-Schuhe. Und darauf ist der 63-Jährige stolz. Eine Viertelstunde später betritt er das Büro seines Chefs. Alessandro Iliprandi trägt modisch geschnittene Schuhe aus feinem Leder, sein Hemdkragen ist offen, die rechte Augenbraue ziert ein Piercing. Eher unkonventionell auch das Büro: Glasschreibtisch, Designerlampe, Hi-End-Musikanlage und ein großflächiges Gemälde: Der Kopf eines schlafenden Mannes. Alles in dem Raum ist aufgeräumt und makellos sauber. So liebt es der Chef. "Wir leiden heute noch unter dem Vorurteil, dass die Lederindustrie die Umwelt verschmutzt und eine Gerberei dreckig ist und stinkt. Das entspricht aber überhaupt nicht mehr der Realität. Wer heute Leder produziert, muss sich an strenge Umwelt-Auflagen halten und das ist auch richtig so." Alessandro Iliprandi betrachtet den ausgestopften Alligator, der zu seinen Füßen das Maul aufreißt. Ein Erbstück von seinem Vater. Iliprandi mag die Kraft und Unerschrockenheit, die das Tier ausstrahlt. Sein Lieblingsleder: schwarz und glatt. "Leder vermittelt mir ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit, von Schönheit und Sinnlichkeit." Mitarbeiter Vito Marino nickt. Leder ist Haut, fügt er hinzu. "Und das, was ein Kind als erstes berührt, ist die Haut seiner Mutter." Literatur 3 Fachsimpeleien waren in Handschuhmacherfamilien seit Jahrhunderten Tradition - in den besten übertrug der Vater die Geheimnisse zusammen mit der ganzen Geschichte und allem Wissen auf den Sohn. Das galt in den Gerbereien, wo die Gerberei ähnlich wie die Kochkunst betrieben wird und die Rezepte vom Vater auf den Sohn übergehen, das galt in den Handschuhgeschäften und in den Zuschneidesälen. Die alten italienischen Zuschneider bildeten ausschließlich ihre Söhne aus, und diese Söhne akzeptierten den Unterricht ihrer Väter, wie er den Unterricht seines Vaters akzeptiert hatte. Seit seinem fünften Lebensjahr und dann bis ins Erwachsenenalter hinein nahm er die Autorität des Vaters widerspruchslos hin: Seine Autorität zu akzeptieren war der einzige Weg, von ihm das Wissen zu erlangen, das Newark Maid zum besten Damenhandschuhfabrikanten des Landes gemacht hatte. "Für den Gentleman: nur wildlederne graue oder braune, im Sommer eventuell gelbe Handschuhe. Für den Dandy: weiße, hellgraue oder cremefarbene. Und schwarze Handschuhe: bei den Herren allenfalls passend für den Trauerfall, ansonsten nur geeignet für etwas extravagante, aparte blonde Frauen." Diese Empfehlungen gab der Schriftsteller und Journalist Franz Wolfgang Koebner 1913 den Lesern seines Benimm-Buchs "Der Gentleman. Ein Herren-Brevier". Da sind Mann und Frau von Welt heute in der Farbwahl ihres Leder-Handschuhs wohl freier. Dem Diktat von Mode und Zeitgeist aber ist das Accessoire nach wie vor unterworfen. Das Gleiche gilt, wenn nicht sogar mehr, für die Handtasche. Die Erfindung der sogenannten It-Bag, also einer Handtasche, die ziemlich genau für eine Saison angesagt ist, soll übrigens auf ein italienisches Unternehmen zurückgehen, das vor allem für seine Lederwaren bekannt ist. Eigentlich sonderbar, denn gerade der Rohstoff Leder glänzt ja durch Langlebigkeit. Die Mailänder Modejournalistin Andrea Affaticati versucht sich entsprechend im Spagat zwischen Trendbewusstsein und zeitloser Schönheit. Reportage 4 Das Smartphone, ein Schreibblock und ein kleiner Espresso mit Milch teilen sich den knappen Platz auf dem Cafehaustisch mitten in Mailands Modekarrée. Andrea Affaticati, Tochter eines Italieners und einer Österreicherin, hat sich eine Checkliste mit den Boutiquen gemacht, die sie heute Vormittag abklappern will. "In letzter Zeit sind Naturmaterialien und auch Leder wieder sehr in. Und das ist etwas, auf das dieses Land sehr viel setzen müsste. Man hört es immer wieder, dass das Handwerkliche in der italienischen Mode wieder zum Vorschein kommen soll, man will das, weil das ist das Made in Italy." Und damit verdienen Edelmarken wie Prada, Gucci oder Giorgio Armani ihr Geld. Andrea Affaticati trägt keines der großen Labels. Nur die brandneue Brille stammt von einem renommierten Hersteller. Ansonsten mag sie es ein bisschen alternativ und ausgefallen. Pludrige Hose zum Herrenjackett, ein ausgefallenes Tuch locker um den Hals geschlungen, die Handtasche aus Rindsleder hat ein paar Kratzer, ist auf natürliche Weise nachgedunkelt und mindestens 20 Jahre alt. Eine modische Nachlässigkeit? "Im Gegenteil, je älter sie wird, desto exklusiver wird sie, weil am Ende vielleicht nur noch du sie hast." Ein amüsiertes Lächeln - die Journalistin macht sich nichts aus kritischen Blicken. Die Modebranche ist ein unbarmherziges Geschäft. Und der aktuelle Trend oft schon wieder vorbei, bevor Andrea Affaticatis italienische Leserinnen Zeit hatten, shoppen zu gehen. Deshalb sucht die Mittfünfzigerin heute nach Schuhen, die länger als eine Saison tragbar sind. Außerdem nach einer Handtasche, die modisch, aber nicht zu modisch ist, um sie in ihrer Rubrik zu empfehlen. "Sie muss klassisch in der Farbe irgendwie sein. Das richtig Modische, ich kann nicht sagen, wie man es erkennt, aber man erkennt es." Zumindest wenn man in Italien lebt, meint Andrea Affaticati. Noch dazu in Mailand, dem Modemekka. Die Journalistin hat zwar den Wiener Akzent ihrer Mutter, wenn sie deutsch spricht. Aber Italienisch und die italienische Kultur liegen ihr näher, sie ist in Mailand aufgewachsen. Kleidung und Trends haben hier eine enorme Bedeutung. Bereits Gymnasiastinnen richten sich nach den Empfehlungen von Modezeitschriften. "Persönlich find ich es immer sehr schwer, wirklich einen Trend rauszufinden. Irgendwie sagt irgendjemand: 'Das sind die 70er Jahre!' Und dann wird's 70er Jahre, weil es leichter zum Berichten ist." Doch die Mode-Gesetze sind dabei, sich aufzulösen. Bis vor kurzem gehörte es noch zum guten Stil, Schuhe und Handtasche zueinander passend auszuwählen: gleiche Farbe, gleiches Muster - das geht nun aber gar nicht mehr. "Früher verwendete man Leder immer sehr in Naturfarben. Wenn man sich jetzt in den Mailänder Geschäften hier im Zentrum umsieht, es ist, als wäre eine Farbenmanie explodiert. Das wichtige ist aber, dass man die Farbe kombinieren muss. Eigentlich war es früher leichter, Tasche und Schuhe haben meist dieselbe Farbe gehabt, waren auch aus demselben Leder." Andrea Affaticati lässt das Geld für ihren Espresso auf dem Tisch liegen und steuert die Via Montenapoleone an, eine der exklusivsten Einkaufsstraßen Mailands. Peinlich sauber das Pflaster, alle 50 Meter prangt ein Blumenkübel. Die Straßen des Modekarrées sind verkehrsberuhigt, trotzdem fährt hin und wieder ein Porsche oder Ferrari im Schritttempo vorbei. Niemand guckt neugierig hinterher. Jeder tut, als hätte er selbst einen in der Garage stehen. Die Mailänder werden auf der Via Montenapoleone zu Snobs, auch Andrea Affaticati scannt betont lässig die Schaufensterauslagen. Ihr Blick bleibt an einem schmuckbesetzten Schuh hängen, dessen Leder matt schimmert. "Das ist ein wunderschöner Schuh. Obwohl er hunderttausend Sachen drauf hat wo man eigentlich denken würde, das ist jetzt Kitsch. Es ist nicht Kitsch. Das ist ein wunderschöner Schuh und fast schon ein Kunststück von einem Schuh." Nachdenklich kaut Andrea Affaticati auf ihrer Unterlippe. Schuhe sind ihre Leidenschaft. Manchmal kauft sie ein Paar, von dem sie weiß, dass sie es niemals tragen wird - einfach weil ihr die Farben so gut gefallen. Durch eine gläserne Schwingtür geht es in eine andere Welt. Dezentes Musikgeplätscher, ein riesiger Strauß weißer Rosen verbreitet einen pudrigen Duft, Verkäuferinnen mit eingefrorenem Lächeln tun geschäftig. Als sich eine von ihnen Andrea Affaticati zuwenden will, ist die bereits im hinteren Teil der Boutique angekommen. Verzückt beugt sie sich über eine schokobraune Ledertasche im klassischen Shopperformat. "Die ist ganz geflochten, Nähte sind nur hier, von einer einzigen Person gemacht, braucht mehr oder weniger zwei Tage. Das ist die Tasche, la Ferrari unter den Taschen." Die Verkäuferin nickt eifrig. Doch kaufen wird Andrea Affaticati diese Tasche nicht. Empfehlen will sie sie in ihrer Rubrik auch nicht: Mit einem Preis von mehr als 1000 Euro wäre das kaum ein echter Geheimtipp. Die Suche nach der Tasche, nach dem einem, dem perfekten Stück Leder, geht also weiter. Literatur 4: Jerry bastelte ihr als Valentinsgeschenk eine Jacke aus Hamsterhäuten, aus einhundertfünfundsiebzig Hamsterhäuten, die er in der Sonne getrocknet und dann mit einer gebogenen Nadel zusammengenäht hatte, die er aus der Fabrik seines Vaters geklaut hatte, wo ihm auch die Idee dazu gekommen war. Der Biologieabteilung der High School waren dreihundert Hamster zum Sezieren gespendet worden, und Jerry, fleißig und trickreich, luchste den Bioschülern die Häute ab; sein ebenso schräger wie findiger Geist ersann eine glaubhafte Geschichte von einem "wissenschaftlichen Experiment", das er zu Hause durchführe. Als Nächstes spionierte er die Größe des Mädchens aus; dann entwarf er ein Schnittmuster, trieb den Häuten, indem er sie auf dem Garagendach in die Sonne legte, einen großen Teil des Gestanks aus - oder jedenfalls bildete er sich das ein - und nähte sie sorgfältig zusammen. Aber als die Jacke fertig war, war sie so steif - wegen der idiotischen Methode, mit der er die Häute getrocknet hatte, wie später sein Vater erklärte -, dass er sie nicht falten und in die Schachtel legen konnte. Das Rohmaterial für die Lederherstellung, das betont die Branche immer wieder, stammt fast ausschließlich aus der Fleischindustrie. Ist also ein Abfallprodukt, das sinvoll weiterverwertet wird, so der Grundgedanke. Das allerdings kann derzeit eine international wachsende Gruppe von Menschen offenbar nicht mehr überzeugen. Vegan zu leben, also auf tierische Nahrungsmittel oder auch generell auf tierische Produkte zu verzichten, das findet in jüngster Zeit immer mehr Anhänger. Und viele Veganer argumentieren, dass die Nachfrage nach Leder die Fleischindustrie überhaupt erst profitabel macht. Ein weiterer Grund für viele Veganer, selbst auf den Lederschuh zu verzichten: Die Umweltbelastung durch Chemikalien, die in den Gerbereien verwendet werden. Zwar gibt es mittlerweile Firmen, die gänzlich auf pflanzliche und natürliche Gerbverfahren umgestellt haben. Doch selbst im lederverliebten Italien reicht das manchem Tierfreund nicht aus. Reportage 5 Ein Tierheim in der Nähe von Como. Alessandra Russo parkt ihren Wagen vor dem Eisentor. Hektor wartet bereits. Hektor spielt sich gerne auf. Der kleine Mischling ist 12 Jahre alt und begleitet die junge Frau in Jeans und Gummistiefeln bis zum Büro, wo Mitglieder des Tierschutzvereins "Hundeseelen" auf ihre Präsidentin warten. Alessandra Russo ist Anfang 30, dunkle Augen, dunkler Pagenkopf, sie trägt einen silbernen Kettenanhänger mit stilisierter Hundepfote um den Hals. An ihrer Jacke prangt ein Sticker gegen Tierversuche. Seit sie denken kann hat sie Haustiere. Hamster, Kaninchen, Katzen, inzwischen auch drei Hunde. "Vor 10 Jahren hab ich eine schmerzhafte Trennung durchgemacht und war fix und fertig. Damals wurde mir klar, wieviel meine Tiere für mich tun. Da habe ich angefangen, mich im Tierschutz zu engagieren. Ich habe gegen die Hundefarm "Greenhill" bei Brescia im Nordosten demonstriert. Das war eine Farm, die Hunde für die Pharmaindustrie züchtete, unter schrecklichen Bedingungen. Als die Tiere beschlagnahmt wurden, habe ich einen Beagle aufgenommen." Der bunte Stoffbeutel mit gebrauchten Leinen und Halsbändern - Spenden für die Tierheimhunde - landet auf einem Stuhl. Neben der Ledertasche von Beatrice, die erst seit kurzem dabei ist. Alessandra lächelt betrübt. "Ich kann nicht sagen, dass ich mich vor dieser Tasche ekel, aber ich würde niemals etwas aus Leder kaufen. Hinter jedem Stück Leder steht ein Tier. Öko-Leder kommt für mich nicht in Frage, das ist zwar umweltschonend gegerbt, aber es ist immer noch eine Tierhaut. Heutzutage ist es wirklich nicht mehr nötig, Lederprodukte zu kaufen, es gibt genug Ersatzmaterialien." Ihre Position ist klar. Trotzdem kommt sie nicht auf die Idee, Beatrice oder jemand anders belehren zu wollen. Stattdessen lädt sie die Frauen vom Tierschutzverein gerne zu sich ein und bekocht sie - vegan, ohne jedes tierische Produkt. "Vegane Lasagne sind meine Spezialität. Statt Hackfleisch nehme ich Seitan. Die Bechamelsauce mache ich mit Sojacreme, und statt Käse kommt ein Ersatzprodukt auf der Basis von Reis zum Einsatz." Chiara, die Leiterin des Tierheims, schaut skeptisch, sagt aber nichts. Sie holt Orso aus seinem Zwinger. Der große Rüde hat den Schwanz zwischen den Beinen eingeklemmt und lässt die Ohren hängen. Dann sieht er Alessandra und wedelt zaghaft. "Am Anfang war er so ängstlich, dass er keinen einzigen Schritt an der Leine machen wollte. Inzwischen geht er mit den Menschen, die er kennt, gerne mit." Wenig später spazieren die Frauen mit drei Hunden Richtung Wald. Orso zieht nach rechts und links, Alessandra bleibt trotzdem geduldig. Wenn sie sich aufregt, dann nicht über Tiere, sondern über Menschen. "Über meine Mutter zum Beispiel. Die hat natürlich einen Pelzmantel. Wenn wir uns treffen, dann sag ich ihr, dass sie den Tierkadaver zuhause lassen soll, oder sie kann gleich wieder gehen. Mittlerweile weiß sie, dass sie sich entsprechend anziehen muss, wenn sie mit mir unterwegs ist. Nervig sind auch manche älteren Onkel und Tanten, die ich im Grunde nur an Weihnachten sehe. Jedes Jahr fragen sie aufs Neue, wie, du isst kein Fleisch?" Alessandra Russos Traum ist eine Welt ohne Massentierhaltung und Schlachthäuser. Auch ohne Tierheime. Orso zieht jetzt weniger. Es geht zurück. Als der große Rüde wieder in seinem Zwinger sitzt, winkt die Tierschützerin ihm zum Abschied zu, dann schnappt sie sich ihren Stoffbeutel. Ihr Blick streift die Ledertasche auf dem Stuhl. "Die Tierhaut ist ein Abfallprodukt der Fleischindustrie. Aber auch hier geht es um Angebot und Nachfrage. Wenn niemand mehr Leder nachfragt, wird es auch nicht mehr angeboten." Italiens zweite Haut - Das Geschäft rund ums Leder. Das waren Gesichter Europas mit Reportagen von Kirstin Hausen. Eine Sendung aus dem Jahr 2016. Die Literaturauszüge stammten aus "Amerikanisches Idyll" von Philip Roth, erschienen im Rowohlt Verlag. Gelesen hat sie Thomas Balou Martin. Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Jens Müller. Am Mikrofon war: Johanna Herzing. 1