Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 12. Dezember 2015 - 11:05-12:00 Uhr Fragile Schönheit – Island und der Massentourismus Mit Reportagen von Jessica Sturmberg Redaktion und Moderation: Katrin Michaelsen Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Die Atmosphäre ist irgendwie seltsam, anders als früher. Und auch auf dem Land – früher war man allein in der Natur. Jetzt kommen Busse über Busse und die halten an jedem einzelnen Wasserfall. An jedem Tag. Es ist keine Frage, dass der Tourismus hat uns eigentlich gerettet, weil wir hatten eine sehr schwierige Zeit in dem finanziellen Kollaps 2008 Es ist ein Kompromiss. Man möchte die Natur so unberührt wie möglich lassen, aber auch dafür sorgen dass die vielen Besucher die Natur hier aus der Nähe selbst erleben können. Fragile Schönheit – Island und der Massentourismus. Gesichter Europas mit Reportagen von Jessica Sturmberg. Am Mikrofon ist Katrin Michaelsen Der Vulkan ist schuld. Der Eyjafjallajökull. Sein Ausbruch vor fünf Jahren brachte Island weltweit in die Schlagzeilen, als seine Aschewolke den Flugverkehr über Europa komplett lahmlegte. Seitdem steigen die Besucherzahlen. Für 2016 erwartet die Insel im Nordwesten des Atlantik 1,5 Millionen Touristen, das Fünffache der Einwohnerzahl. Mit so einem Ansturm hatte das isländische Tourismusministerium nicht gerechnet, als es 2010 die Image-Kampagne „Inspired by Iceland“ aus der Taufe hob. Eigentlich gedacht als Krisen-PR, als Reaktion auf den Vulkanausbruch. Die Kampagne sollte eine andere Geschichte von Island erzählen, eine andere Geschichte als die von Asche und Gefahr, sagt Daði Guðjónsson, der Projektleiter. Er erfand die Geschichte von Island als einem Ort, wo man besonders gut Urlaub machen kann. Das Kalkül ging auf. Und wie. Die Bilder von der unberührten und überwältigenden Natur, von zischenden Geysiren, donnernden Wasserfällen und langen schwarzen Stränden locken Besucher aus der ganzen Welt an. Ein beliebtes Gebiet für Naturlebnisse der besonderen Art ist das Hochland. Das Naturschutzgebiet Landmannalaugar im Südwesten Islands. Berühmt wegen seiner farbenprächtigen Berge und Felsen. Doch das Gelände ist zum Teil unwegsam und wird oft unterschätzt. Das Wetter kann schnell umschlagen und unvorbereitete Touristen können sich schnell in Lebensgefahr bringen. Dann ist es an der Björgunarsveit, der isländischen Rettungswacht, den Menschen zu helfen. Die ehrenamtlichen Rettungshelfer haben inzwischen so viel zu tun wie noch nie. REPORTAGE 1 Atmo Rubbelpiste Die Wege im isländischen Hochland sind steinig und holprig. Es rumpelt im Auto und Anna Lyck Filbert wird ordentlich durchgeschüttelt. Sie hätte lieber einen Super Jeep, einen dieser übergroßen Geländewagen. Aber es geht auch so. Sie hat ein bisschen Luft aus den Reifen gelassen, damit sie mit ihrem Kastenmannschaftswagen besser durch das Gelände kommt. Anna Lyck Filbert ist seit 14 Jahren bei der Björgunarsveit. Sie ist stolz auf die Arbeit, freut sich über die hohe Wertschätzung und Anerkennung der Isländer und ist ohnehin gerne im Hochland: Alles ist so zeitlos, stressfrei, nur die Natur, es tut auch gut einfach rauszukommen aus dem täglichen Trab zu Hause. Bei den Einsätzen treffe ich viele Menschen, führe interessante Unterhaltungen, es sind vielfältige Aufgaben zu erledigen und ich bin mal raus aus dem Alltag zuhause. Anna macht die zweite Wochenschicht hintereinander, ein Kollege hat kurzfristig abgesagt. Es gibt nicht viele, die mal eben einspringen können. Sie kann das. Ihre fünf Kinder sind schon groß, bis auf die jüngste alle aus dem Haus und anders als die meisten Isländerinnen ist die 57-Jährige nicht berufstätig. Während sie auf einer Kontrollfahrt von ihrer Familie, ihrem ersten Enkelkind erzählt, hält sie plötzlich inne. uhh, Christ þetta er eitthvað, Ein silbergrauer Transporter steht abseits der Straße in gefährlicher Schräglage vor dem See „Frostastaðavatn“. Zwei Männer kommen ihr entgegengelaufen. Mann 1: Die Handbremse hat sich gelöst, niemand ist verletzt. Anna: Sie haben bereits mit meinem Kollegen gesprochen? Mann 1: Ja wir gehen jetzt dorthin. Anna: Haben Sie das schon der Polizei gemeldet? Mann 1: Noch nicht. Anna: Wollen Sie, dass ich das mache? Mann 1: Der Polizei melden? Anna: Ja? Mann 1: Ja. Die beiden Männer kommen aus Holland und leiten eine Foto-Reisegruppe. Sie waren gerade auf einer Anhöhe um Bilder zu schießen, als der Wagen plötzlich wegrollte, erzählt einer von ihnen. Zwei Leute stiegen gerade ein, als der Wagen losrollte, die beiden sprangen raus und wir konnten ihn nicht halten. – Sie haben Glück gehabt, dass der Wagen sich nicht überschlagen hat – Ja. Wir hatten sehr viel Glück. Der Schock steht den Männern ins Gesicht geschrieben. Es grenzt an ein Wunder, dass nicht mehr passiert ist. Anna: Ist das Auto stabil? Mann 2: Ja, recht stabil. Anna: Mietwagen? Mann 1 und 2: Ja, ja. Anna: Haben Sie die Mietwagenfirma um Hilfe gebeten? Mann 1 und 2: Noch nicht, noch nicht. Mann 2: Sollen wir das zuerst machen? Anna: Es wäre sinnvoll sie anzurufen. Ich könnte das auch machen. Wie lautet die Telefonnummer? Anna meldet per Funk sofort alles an die Zentrale. Polizei und Mietwagenfirma müssen schnell Bescheid wissen. Das Auto muss dort weg, zu gefährlich. Es darf keiner mehr in die Nähe des Wagens, schließlich könnte er immer noch in den See rollen oder überkippen. Aber den beiden Männern ist die Gefahr immer noch nicht so ganz klar. Mann 2: Vielleicht kann ich ihn wieder auf die Straße fahren. Anna: Nein! Versuchen Sie das nicht! Das Problem ist, das Rettungsteam mit dem passenden Equipment ist etwa drei Stunden von hier entfernt. (Mann 2: Drei Stunden weg.) Anna: Vielleicht haben die ein Auto, das den Wagen herausziehen kann. Vielleicht. Und gehen Sie nicht in das Auto!!! Die nächste Stunde ist die Rettungsfrau damit beschäftigt, die Bergung zu organisieren. Es gibt nur wenige Stellen im Hochland mit Handyempfang. Auch das wird Touristen immer wieder zum Verhängnis. Annas Kollege Arni Elvarsson stößt auch noch dazu und hilft, die Gruppe ins nicht mehr weit entfernte Landmannalaugar zu bringen. Danach wollen die beiden Rettungskräfte erst einmal Pause machen und sich aufwärmen. In einer kleinen Holzhütte der Björgunarsveit am Rand des Zeltplatzes in Landmannalaugar. Die Hütte ist nur mit dem Notwendigsten möbliert, mit eng gestellten Betten, außerdem eine kleine Spüle, ein Tisch. Auch das ganze Material für die Einsätze im Hochland ist zum Teil offen, zum Teil in Schränken verstaut. Pétur Arnarsson kommt rein, ein Kollege, der gerade im Hochland unterwegs ist und auf einen Kaffee vorbeischaut. Anna und die beiden Männer diskutieren darüber, was viele ehrenamtliche Helfer bei der Björgunarsveit bewegt: Soll die Rettungswacht, die sich über Spenden und staatliche Zuschüsse finanziert, für die Einsätze demnächst Geld verlangen? Eigentlich wollen sie es alle nicht. Aus Prinzip. Außerdem befürchten sie, dass Menschen in Not wegen der drohenden Kosten zu lange zögern könnten, sie anzurufen, aber andererseits: Ich verstehe das, wenn Rettungskräfte im Sommer Geld für die Einsätze verlangen wollen, wenn es darum geht Autos zu bergen. Aus Flüssen oder von Abhängen, liegengebliebene Fahrzeuge, solche, die nicht für das Hochland geeignet sind. Das nimmt viel Zeit in Anspruch. Aber ich finde, man darf kein Geld für die Rettung von Menschen kassieren. Dafür fahren wir immer raus, Tag und Nacht, Weihnachten, spielt keine Rolle. Da fragen wir nicht nach Geld, wir sind einfach da. Das ist das Selbstverständnis der Rettungsleute in Island. Es wird einfach zu viel, meint Pétur Arnarsson. Letztes Jahr war der Touristenstrom so groß. Es ist kein Problem, wenn die ehrenamtlichen Rettungsleute ein oder zwei Mal im Monat zu einem Einsatz gerufen werden, aber inzwischen kommt es ein bis zwei Mal die Woche vor, dass sie ihre Arbeit liegenlassen müssen. Das muss aufhören, wir sind kein Abschleppservice. Sie werden unterbrochen von einem Japaner, der Hilfe braucht. Er ist bis Landmannalaugar durch alle Flüsse gefahren. Doch plötzlich hat er Angst und traut sich mit dem geliehenen Jeep nicht mehr zurück. Anna kann nur vorfahren und ihm zeigen wie es geht. Sich selber ans fremde Steuer setzen ist nicht erlaubt. Versicherungssache. Mit der Ruhe im Hochland ist es vorbei. Die steigenden Touristenzahlen fordern die ehrenamtlichen Retter heraus. Auch weil viele Gäste unvorbereitet kommen, sich nicht mehr mit dem Land auseinandersetzen, mit den Herausforderungen und Gefahren, der empfindlichen Vegetation, bedauert Anna. Viele fahren rund um Island in fünf Tagen, oder machen in zwei Tagen ein ambitioniertes Programm mit einem kleinen Leihwagen, wollen alles in der Zeit erleben und fahren auch weiter, wenn das Wetter schlecht ist. Es gibt natürlich auch die, die sich Zeit nehmen, sich nur einen Teil anschauen und noch mal wiederkommen. Für die ist das wesentlich stressfreier. Island ist groß und man muss nicht alles in einer Woche sehen oder in 10 Tagen. Wir wollen ja, dass die Menschen Island entdecken, dass sie sehen wie schön und besonders unser Land ist. Wir wollen das, aber wir wollen das sie sich vorbereiten und kein schlimmes Erlebnis haben, weil sie sich nicht die richtige Kleidung angezogen oder sich unnötig unter Stress gesetzt haben. In dem Buch „Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein“ liefert Hallgrimur Hellgason eine Begegnung der besonderen Art und zugleich auch eine Art Abrechnung mit dem Übervater der isländischen Literatur. Mit Halldor Laxness, dem einzigen isländischen Nobelpreisträger. Erzählt wird aus der Sicht eines gestorbenen isländischen Schriftstellers, der wieder aufwacht und zwar in seinem eigenen literarischen Werk. Er muss mit den selbst geschaffenen Protagonisten zu Rande kommen. Und er muss feststellen, dass sich seine isländische Heimat verändert hat. LITERATUR „Oh dieses gebeutelte Land! Auf Island nennt man es Windstille, wenn zwei Windrichtungen aufeinanderprallen und miteinander ringen, bis eine Überhand gewinnt. Wir nutzen die Gunst der Stunde und lassen einen Wind entweichen. In Italien habe ich nicht ein Mal gehört, dass jemand einen fliegen ließ, und das erschien mir als etwas Besonderes. Möglicherweise liegt es an den Ernährungsgewohnheiten. Dieses ewige Kaffeekochen muss sich ja irgendwo niederschlagen. Sturmnationen sind schwerfällig und tumb, lernen mit dem Sturm zu schweigen. Flautennationen sind dagegen aufsässig, jähzornig. Sturm im Innern. Ja, irgendwo muss er ja sein. Deshalb verstehen es die jüngeren Generationen hier in Island auch nicht mehr zu schweigen: Sie sind im Glashaus aufgewachsen wie Pflanzen. Pflanzen, die Platten hören. Und wenn sie niemanden zum Reden haben, quatschen sie im Radio. Ein unablässiger Strom von leerem Gewäsch. Es werden schon Telefongespräche übertragen. Und niemand hört zu. All diese plappernden, quäkenden Geräte in jedem Winkel des Landes. Dieses unablässige Rauschen von Wörtern. Dieser Durchzug von geistigem Dünnschiß! In meiner Jugend war es üblich, still zu sein, während man Radio hörte. Die meisten Touristen kommen mit dem Flugzeug nach Island. Gute drei Stunden dauert die Reise, etwa von Frankfurt, Paris oder von London bis nach Keflavík, dem Flughafen der Insel, der ca. 80 Kilometer von der Hauptstadt Reykjavík entfernt liegt. Über Jahrzehnte war der Flugverkehr überschaubar, doch in den letzten Jahren hat er spürbar zugenommen. Denn auch viele Billig-Flieger steuern inzwischen Island an und bringen ein ganz neues Touristen-Klientel auf die Insel: die spontaner reisen, die Kurzweil suchen und Naturerlebnisse. Der Tourismus ist mittlerweile der wichtigste Wirtschaftszweig in Island, neben der Aluminium und der Fischindustrie. Der Boom lässt die Erinnerungen an die Bankenkrise im Jahr 2008 allmählich verblassen. Und so wird alles getan, um den Ansturm der Touristen zu bewältigen. REPORTAGE 2 Atmo Bauarbeiten am Flughafen, Hämmern, Bohren, Baustellengeräusche erst draußen, Der Flughafen in Keflavík ist ein dreistöckiges Gebäude mit vielen Schrägen, einem roten Giebeldach und einer großen überhängenden Glaskonstruktion. Rundherum Parkplätze, ein künstlicher angelegter Teich und eine große Skulptur vor dem Eingang – auf den ersten Blick wirkt das Gebäude in Keflavík noch immer gemütlich, auch der Tower sticht nicht heraus. Er ist gar nicht erkennbar. Nur das ständige Dröhnen der Baufahrzeuge verrät, dass hier eine Dauerbaustelle ist. Sowohl außen … Atmo reingehen, Baustellengeräusche auch innen, weiter Gang zum Aufzug, hochfahren … als auch innen wird umgebaut, erneuert, erweitert. Von Jahr zu Jahr steigen die Passagierzahlen. Mehr Fluglinien, mehr Flüge, mehr Fluggäste. Die Wachstumsraten übertreffen sich. Im letzten Jahr war es ein Zuwachs von 25 Prozent. Nur während der Krise 2008 und 9 gab es einen Rücklauf. Seither steigen die Zahlen sogar noch schneller an. Herr der Zahlen und Pläne ist Hlynur Sigurðsson, Chef des Flughafenterminals. Sein Büro ist im oberen Stock des Flughafengebäudes. Von dort hat er das Rollfeld im Blick und die Außenbaustellen am Terminal. Hier oben ist es ruhig, von dem regen Treiben unten bekommt Hlynur nichts mit. Um zu zeigen, wie die Betreiber auf die große Nachfrage reagieren, wo der Flughafen angepasst wird und wie umfassend diese Veränderungen sind, nimmt der Terminaldirektor schwungvoll sein Jackett, steckt sein Smartphone ein und geht mit schnellen Schritten voran zum Sicherheitscheck am Personaleingang. Atmo Sicherheitscheck Personal Hlynur spricht mit Mitarbeitern In der Abflughalle erklärt Hlynur dann, wo momentan ausgebaut wird: In den nächsten 5 bis 10 Jahren müssen wir hier am Terminal östlich und westlich ausbauen, um die Zahl der Flugsteige zu erhöhen. Wir haben mit der Westerweiterung begonnen. Wir bauen hier 6 neue Flugsteige, die mit Bussen angefahren werden. Die Shuttle-Busse sind neu. Bis zu diesem Sommer konnten alle Flugzeuge direkt am Terminal parken und die Passagiere dort einsteigen. Der hohen Nachfrage der Fluggesellschaften nach mehr Slots, also weiteren Start- und Landezeiten kann Hlynur auf diese Weise besser gerecht werden. Dadurch können wir mehr Slots anbieten. Sonst könnten wir nur zwei weitere Flugsteige in Betrieb nehmen statt sechs. Zwei haben wir schon dieses Jahr in Gebrauch genommen, die nächsten vier dann im Sommer 2016. Hlynur Sigurðsson ist Wirtschaftsingenieur, ausgebildet in Dänemark. Ein dynamischer Mensch, der jetzt das Wachstum in die richtigen Bahnen lenken will. Alles muss gut durchdacht und koordiniert sein. Weitere Start- und Landezeiten bedeuten schließlich auch mehr Passagiere am Check-in-Schalter, mehr Sicherheitskontrollen, mehr Gepäckbänder. Wie stark der Flughafen momentan aus allen Nähten platzt, zeigt er in der Gepäckabfertigung: Gerade erst wurden hier die Kapazitäten erhöht, aber die nächste Erweiterung ist schon in Planung. Wir mussten die Gepäcksortierung beschleunigen. Das geht nun schneller, wir haben jetzt drei Gepäckbänder, so dass wir statt 43 Koffern 86 Koffer pro Minute durchchecken und sortieren können. Mit der Erweiterung im Westteil müssen wir noch mehr Sortiermaschinen hinzufügen, so dass wir mehr Flüge zur selben Zeit abwickeln können. Nach und nach wird alles erweitert, nach einem Masterplan. Der reicht bis ins Jahr 2040 und kalkuliert dann mit einem jährlichen Aufkommen von 14 Millionen Passagieren, vorausgesetzt es geht so weiter. Atmo Sicherheitstür mit Code, Piepston Nicht alle Fluggäste machen Urlaub in Island, auch viele Transitreisende sind darunter. Auch dieser Bereichwird gerade vergrößert. Mit einer weiteren Wartehalle, die jetzt noch leer ist. Aber schon im kommenden Jahr einsatzbereit. Atmo Arbeiten am noch leeren Bereich, Fahrgerät fährt vorbei Der prozentuale Anteil der isländischen Passagiere wird hingegen immer geringer, schon jetzt kommt nur noch jeder vierte Fluggast aus dem Inland. Aber glaubt der Terminaldirektor tatsächlich, dass die Steigerungszahlen so weitergehen werden? Wir sind der Meinung, dass es durchaus realistisch ist, mit 14 Millionen Passagieren bis 2040 zu rechnen. Die nächsten zwei, drei Jahre werden wir noch sehr hohe Steigerungszahlen haben. Die Pläne der Fluggesellschaften sind auf 10 bis 20 Prozent Wachstum ausgerichtet. Dann wären wir 2018 bei 7 Millionen Passagieren. Bei 2, 3, 4 oder 5 Prozent Wachstum pro Jahr ist es gar nicht so abwegig, dass wir bei 14 Millionen Passagieren im Jahr 2040 sind. Falls nicht, könne die Flughafengesellschaft Isavia jederzeit den Ausbau auch stoppen. Allerdings: ohne den Masterplan würde es nicht mehr funktionieren: Der Masterplan ist daher enorm wichtig, dass wir schnell genug ausbauen, die Abfertigung anpassen und so mehr Passagiere nach Island kommen können. So dass der Tourismus in Island noch wachsen kann. Bedenken, dass es zu viel werden, dass eine Blase entstehen könnte – hat der Terminaldirektor nicht. Gegenwärtig zählt für ihn vor allem, dass er die Nachfrage der Fluggesellschaften bedienen kann. Die könnten nämlich noch mehr Tickets verkaufen. Die Blüte in diesem Wirtschaftszweig ist für die Menschen in der Tourismusbranche wie Hlynur Sigurðsson ein Segen. Das neue ist, dass die Tourismusindustrie die Fischindustrie mit 26 Prozent aller Exporteinnahmen überholt hat. Wir beschäftigen uns hier am Flughafen in Keflavík damit, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir den Touristenstrom bewältigen können. Und dazu gehört auch, trotz der Baustellen eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Die Reisenden sollen sich auf dem Flughafen wohl fühlen. Im Wartebereich gibt es in der Mitte eine große Bar mit einem wohldurchdachten Design. Anspielungen an die raue, schöne Natur. Ein großer Buchladen mit den Porträts weltbekannter isländischer Autoren, ein populärer Outdoorladen, isländische Kunst, warme, moderne Strick- und Wollwaren, und auch das isländische Fußballtrikot ist prominent ausgestellt. Wir sind bemüht darum, dass alle Reisende am Flughafen gute Dienstleistung bekommen, auch wenn es durch die Menge an Menschen ein bisschen enger wird. Wir sehen den Flughafen so, dass er der erste und der letzte Eindruck ist, den die Gäste vom Land haben. Und wir wollen, dass die Menschen gerne wiederkommen. Island ist wohl das am dünnsten besiedelte Land Europas. Im Durchschnitt kommen drei Einwohner auf einen Quadratkilometer. Fast vier Fünftel des Landes sind unbewohnt. Die Bevölkerung lebt verteilt auf einem schmalen Küstenstreifen, in Tälern und den Flachlandebenen im Süden und Südwesten. Vieles spielt sich in der Hauptstadt Reykjavik ab und viele Touristen kommen genau deswegen hier her, um das Nachtleben, die vielen Cafés und die lebendige Kulturszene zu erleben. Das hat die Stadt verändert. Galten die kleinen Holzhäuser mit den Wellblechdächern früher als Arme-Leute-Unterkünfte, kosten sie heute ein Vermögen. Die Preise für Immobilien und Bauplätze sind dermaßen in die Höhe geschossen, dass sich Einheimische eine Wohnung in Reykjavik kaum mehr leisten können. REPORTAGE 3 Sie sind mitten in der Stadt. Die Helden der isländischen Sagas, Njál, Grettir, Egil. Straßen wurden nach ihnen benannt, und wer dort wohnt, hat einen der schönsten Flecken von Reykjavík abbekommen. Nahe an der Hallgrímskirkja, auf dem Hügel der Stadt, wo es viele verwinkelte Seitengassen gibt, gepflegte Vorgärten, wo man auf die Bucht blicken, ruhig wohnen kann und zugleich mitten im Leben ist. Auch Hjálmar Sveinsson lebt hier mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Er ist Stadtpolitiker, sitzt für die Sozialdemokraten im Rat von Reykjavík und mag es, im Zentrum zu wohnen. Nicht weit weg von der Laugavegur. Das ist eine alte, lange Straße und auch typisch für die alte Stadt Reykjavík – Was macht es so typisch? – die niedrigen Häuser, einer eher schmale Straße, sehr viele Leute unterwegs. Die Hälfte der Straße ist jetzt eine Fußgängerzone im Sommer seit fünf Jahren, das ist ein großer Erfolg, weil der Teil der Straße ist immer voll mit Leuten. Manche sagen es sind hauptsächlich Ausländer. Aber für mich spielt es keine große Rolle, ob die Leute, die hier lang laufen ob die englisch, deutsch oder isländisch sprechen. Hjálmar Sveinsson geht gerne zu Fuß, große Autos sind nicht seine Sache. Der 56-Jährige hat wie seine Frau, eine bildende Künstlerin, viele Jahre in Berlin studiert. Philosophie und Germanistik. Naturschutz und Ressourcenerhalt waren jahrelang sein Thema als er noch als Rundfunkjournalist tätig war. Inzwischen ist Stadtplanung zu seinem Hauptanliegen geworden. Als Vorsitzender des Ausschusses für Stadtentwicklung muss er nun den Spagat zwischen den Wirtschaftsinteressen der blühenden Tourismusbranche und den Belangen der Bürger hinbekommen. Die fühlen sich zunehmend fremd in ihrer eigenen Stadt, die sich mehr und mehr auf den Tourismus einstellt. Souvenirläden, Outdoor-Bekleidungs-Häuser, Touristeninformation, Restaurants, Reise- und Eventagenturen. Hjálmar versteht die Bedenken der Bürger, findet aber: Der Tourismus hat sehr zugenommen, und ein Vorteil ist, dass hier in Reykjavík hat es hauptsächlich so im Winter zugenommen. Reykjavík ist einbeliebtes Reiseziel geworden, besonders für jüngere Leute aus England, über Winter, so langes Wochenende, mag sein, dass es Easy-Jet Partyvolk ist, es macht trotzdem die Stadt lebendig. Hjálmar sitzt bereits seit zwei Legislaturperioden im Rat. Der Touristenboom fällt genau in seine Amtszeit. Jetzt ist er gefordert, muss verschiedene Interessen berücksichtigen. Keine leichte Aufgabe. Mit den vielen Touristen ändert sich auch das Stadtbild. Ein Hotel nach dem anderen schießt aus dem Boden. Alteingesessene Geschäfte weichen Restaurants und Souvenirläden. Letztere werden mittlerweile von den Einheimischen etwas spöttisch „Lundibuðin“ genannt, Papageientaucherläden, weil der Vogel als isländisches Markenzeichen überall auftaucht. Auf Tassen, T-Shirts, Kühlschrankmagneten oder als Stofftier. Es ist keine Frage, dass der Tourismus hat uns eigentlich gerettet, weil wir hatten eine sehr schwierige Zeit in dem finanziellen Kollaps 2008 und die Gesellschaft hat sich an für sich wenig verändert, aber was sich verändert hat, ist, dass diese 1 Mio Touristen, die jetzt nach Island kommen, die bringen sehr, sehr viel Geld in das Land rein und das Geld fließt überall auf der einen oder anderen Weise und deshalb haben die Leute, die hier wohnen etwas mehr Geld als vor 5 oder 6 Jahren und können dann eben die alten, schönen Häuser renovieren. Was sie auch tun. Überall wird gehämmert, gebohrt, renoviert, frisch gestrichen. Auch die Stadt selbst hat investiert und auf der ehemals heruntergekommenen Straßen Hverfisgata parallel zur Laugavegur neu asphaltiert, Straßenlaternen aufgestellt, Radwege gebaut. Die Stadt wäre ohne die Touristen nicht so herausgeputzt. Viele Hauseigentümer investieren das Geld um anzubauen, neuen Wohnraum für Feriengäste zu schaffen oder einfach ihr Haus so herzurichten, dass sie es für ein paar Tage oder Wochen an Fremde vermieten können. Um es auf der Internetplattform Airbnb anbieten zu können. Zurzeit haben wir in Rvk 1.800 Airbnb-Wohnungen und das ist sehr viel. Hauptsächlich geht es um die Wohnungen, die vermietet werden für Touristen, d.h. für diejenigen, die hier leben und arbeiten wird es teurer, der Mietpreis steigt und es gibt ein paar Straßen im alten Zentrum, wenn es so weiter geht, werden dort bald keine Kinder mehr wohnen. Und kaum Läden, weil da sind dann hauptsächlich nur Ferienwohnungen. D.h. diese Straßen sind dann eintönig. Langweilig und ungerecht, wenn Leute, die hier arbeiten und leben, Probleme haben, Wohnungen zu finden oder wenn die dann in Straßen leben müssen, wo es dann kein normales Stadtleben mehr gibt oder Kiezleben mehr Um das zu erhalten, will der Stadtpolitiker Hjálmar Sveinsson nun ein Projekt vorantreiben, bei dem alte Industriegrundstücke in der Nähe des Hafens für ein ausgewähltes Wohnungskonzept genutzt werden. Eine nicht gewinnorientierte Immobiliengesellschaft soll dort in bester Lage Wohnungen bauen, die nicht dem freien Markt zur Verfügung stehen. Familien aus allen gesellschaftlichen Schichten sollen die Möglichkeit bekommen dort zu leben. d.h. wir müssen nicht nur 700, sondern 800 Wohnungen pro Jahr bauen Es ist fast wieder wie vor der Krise. Atmo Straßenrundgang mit Baulärm weiter entfernt Hjálmar ist inzwischen schon ein gutes Stück durch 101 gelaufen. Das Zentrum wird auch gerne mal nach seiner Postleitzahl genannt. Mit ihr assoziieren die Bürger ihre schmucken kleinen Holzhäuser mit den Wellblechdächern. Viele waren in die Jahre gekommen, einige nicht mehr zu retten. Manch ein Investor nutzte die Gunst der Stunde und baute stattdessen ein Hotel an die Stelle. Das ist nun nicht mehr so einfach möglich. Um das Stadtbild zu erhalten, dürfen die alten Häuser inzwischen nicht mehr einfach so abgerissen werden. Die Auftragsbücher der Handwerker sind dadurch voll. In der Njálsgata verputzen gerade zwei Maler ein Haus. Atmo Anstreicher („gótt og slæmt“ – Fluch und Segen) Sie freuen sich über die Aufträge, aber irgendwie ist ihnen wiederum auch nicht wohl, Es ist gut und schlimm zugleich, sagen sie Fluch und Segen. Touristen und Bewohner werden zu Nachbarn in Islands Hauptstadt Reykjavik. Denn mittlerweile bieten viele isländische Familien ihre Privatwohnungen und Häuser als Unterkünfte an. Für manch einen ein lukrativer Nebenverdienst, für andere ein existentielles Einkommen, um das Wohneigentum weiter halten zu können. Manch einen drückt noch immer die Schuldenlast aus den Krisenjahren. Und so ist es üblich, für zwei oder drei Wochen auszuziehen, bei Freunden und Familie unterzukommen, um den Wohnraum fremden Touristen zu überlassen. REPORTAGE 4 Atmo Schlüssel umdrehen, Kinder laufen ins Haus, gehen die Treppe hoch, sie ruft Krakkar? (Kinder?) Sie können endlich wieder nach Hause. Nach zwei Wochen. Johanna Pétursdóttir und ihre drei Kinder ziehen wieder zurück in ihre Dachgeschosswohnung in einem Wohngebiet nahe Laugardalur. Ein Tal östlich vom Reykjavíker Zentrum gelegen. Bis in die Innenstadt sind es etwa 20 Minuten zu Fuß. Atmo Wohnungstür auf, Kinder springen umher, sie sprechen miteinander Die Familie wohnt in einem lichtdurchfluteten Appartement mit drei kleinen, liebevoll eingerichteten Schlafzimmern, einem großzügigen Wohnzimmer, gemütlicher Wohnküche. Von dort können sie in der Ferne das Meer sehen. Attraktiv zum Vermieten. Jóhanna und ihr Mann sind beide Künstler, er Schauspieler, sie Malerin, Fotografin, Grafikerin, gerade aber in Elternzeit mit ihrem jüngsten Sohn, 4 Monate alt. Die beiden älteren Kinder, 4 und 6 Jahre, laufen sofort durch die Wohnung, um zu schauen, ob die Gäste etwas dagelassen haben. Zum Beispiel im Kühlschrank. Atmo... kikja ísskápuna? ... hann er tómur Aber er ist leer. Kolbrún, die Älteste, ist ein bisschen enttäuscht. Jóhanna schaut dagegen zufrieden. Auf den ersten Blick ist alles sauber, und es scheint auch nichts kaputt gegangen zu sein. Ich sehe, sie waren kaum hier. Sie haben die Küche genutzt und da alles sauber gemacht. Ein Ehepaar aus England und das hat gut geklappt, ich finde sowieso, dass bisher alle Gäste sehr sauber waren. Jóhanna und ihr Mann vermieten ihre Wohnung erst seit diesem Jahr an Touristen. Eine Freundin brachte sie darauf. Ich bin erst gar nicht auf die Idee gekommen, dass man seine eigene Wohnung mal für eine Woche anbieten kann. Ich dachte lange Zeit, die Wohnungen bei Airbnb wären freie Wohnungen. Man kann damit gut Geld verdienen, es machen inzwischen sehr viele. Nicht nur hier bei uns im Viertel. Es ist überhaupt kein Problem Gäste zu bekommen, das geht so schnell. Und jetzt vermieten wir, um ein bisschen extra Geld zu verdienen. 89 Euro nehmen sie pro Nacht. Das Geld können die beiden Freiberufler gut gebrauchen. Das ist so leicht verdientes Geld, auch wenn es natürlich Überwindung kostet. Man muss den Menschen vertrauen. Es ist ein anderer Geruch im Haus. Schließlich kommen wildfremde Leute in unsere Wohnung, nutzen unsere Teller, unsere Betten. (wird unterbrochen) Atmo Mamma !!! – ah blómin – ... dautt .. – Die Topfpflanzen auf dem Fensterbrett sind eingegangen. Das britische Ehepaar hat sie nicht gegossen. Jóhanna tröstet ihre Tochter. Die Pflanze ist dahin, aber Kólbrún will ihnen trotzdem nochmal frisches Wasser geben. macht Wasserhahn auf ... drepa plantna Es sind nur ein paar Blümchen. Und doch sind alle ein bisschen traurig. So schön das mit dem schnellen Geld ist, das alles hat auch seine Schattenseiten. Die Gäste in ihrer Wohnung waren nett, wie die meisten Touristen. Aber es verändert sich eben so viel. Im Zentrum von Reykjavík beispielweise auf der Einkaufs- und Partymeile Laugavegur. Auf der Laugavegur sind kaum noch Isländer, die gehen woanders hin, weil dort nur noch Touristen sind. Die Atmosphäre ist irgendwie seltsam, anders als früher. Und auch auf dem Land – früher war man allein in der Natur. Jetzt kommen Busse über Busse und die halten an jedem einzelnen Wasserfall. An jedem Tag. Es kommen so viele Touristen. Im Grunde stört es mich nicht, es ist eben anders. Es kommt ja auch viel Geld ins Land, das ist super, ich bin dankbar dafür. Aber es hat Auswirkungen auf die Natur und wir müssen hierfür Regeln finden und wir müssen Zäune aufstellen, um die Natur zu schützen. Atmo Vater spielt mit dem kleinen Jungen klklkl dülülülü mjög gótt ah Während die Familie ihr Zuhause langsam zurückerobert, spricht Jóhanna noch über ihre Hoffnung, dass die Regierung keine Steuern auf die Airbnb-Einnahmen erhebt. Die Hoteliers haben bisher wenig gegen die Privatvermietungen unternommen. Sie sind gerade selbst genug ausgelastet. Dennoch gibt es eine Debatte darüber. Jóhanna Pétursdóttir findet: wenn schon alle Isländer die Konsequenzen des Touristen-Booms tragen, dann sollen auch alle ein bisschen davon profitieren. LITERATUR Alles hat ein Antlitz. Jeder Stein besitzt eine Seele. Und in jeder Blume schläft ein Gewissen, rein. Jedem Tropfen Feuchtigkeit ist es eigens aufgegeben, das hervorzuheben. Von jedem Fleckchen Moss, jedem Halm spannt sich ein Silberdraht in den Himmel. Und manchmal können wir diese Saiten sehen, doch spielen können wir nie auf ihnen, in unseren Händen werden sie zu Tränen. (…) Alles hat ein Gesicht, jeder Stein hat eine Seele, und die kleinste Blume ist mit einem höheren Zweck verbunden. Das glaube ich. Alles hat einen Sinn. Und alles hängt mit allem zusammen. Alles, was Du machst, macht dich. Die Lüge ist ein schwarzer Vogel mit einem bösen Herzen, der nirgends stillsitzt und ständig von einer Gelegenheit zur nächsten flattert. Alles hat Ohren. Und die steinige Hochfläche zählt zehntausend Augen, und das Tal ist mein größter Hörsaal. Mein ganzes Volk schaut auf mich, wie ich am Rand der Hel stehe und über meine Zukunft nachdenke. Auf Island darf jeder fast überall hin. Freier Zutritt zu den Geysiren, den Wasserfällen oder Nationalparks war immer selbstverständlich. Bislang zumindest. Nun aber wird es immer stärker in Frage gestellt. Würden Eintrittsgelder den Touristenstrom stärker regulieren? Ein Bewusstsein schaffen für die Empfindsamkeit der isländischen Natur? Und zugleich auch die Kosten decken, die durch den Müll und die Schäden der Reisenden entstehen? Die Probe aufs Exempel fand an einem der beliebtesten Naturschauplätze statt. Am Geysir Strokkur. Das Eintrittsgeld sorgte jedoch für erhebliche Proteste und löste eine grundsätzliche Debatte aus, über das Verhältnis der Isländer zu ihren Natursehenswürdigkeiten. Nach hartnäckigen Interventionen wurde das Eintrittsgeld wieder abgeschafft. Erledigt hat sich die Diskussion damit aber noch nicht. Zu den regulären Island-Besuchern kommen auch die Kreuzfahrt-Touristen hinzu. Schiffe mit 1 bis 2.000 Gästen an Bord. Zwar machen die Touristen nur wenige Tage Station vor der isländischen Küste, bedeuten aber dafür eine umso größere Herausforderung, wenn sie an Land gehen und alle dasselbe Ziel haben. REPORTAGE 5 Atmo Toilettenhaus Drehkreuz, Geld einwerfen, Piepsgeräusche Toilettenspülung Einar Sæmundsen geht in ein modernes Holzhaus, hinter der Glastür ist ein Kassenautomat, daneben ein Drehkreuz. Er erklärt, dass Besucher hier bar oder mit Karten bezahlen können. Einar ist der Bildungsbeauftragte am Nationalpark Þingvellir und ihm stinkt es. Trotz großer, sauberer Toilettenhäuser beobachtet er immer wieder, dass Besucher direkt neben den Häusern oder im Park ihre Notdurft verrichten. Die Papiertücher am Wegesrand sind für ihn der Ausdruck dieses großen Ärgernisses. Eigentlich ist er es schon leid, darüber zu sprechen, bleibt bei dem Thema aber diplomatisch: Die Leute sind jetzt dabei zu lernen wie das geht. Die Reiseveranstalter besorgen für größere Touristengruppen Prepaid-Tickets für die Toiletten. Aber es gibt immer welche, die mit der Toilettengebühr unzufrieden sind. Was Einar Sæmundsen nicht versteht. Der Nationalpark ist ein Idyll, unberührte Natur so weit das Auge reicht, moosbewachsene Lava, ein malerischer Wasserfall. Von einer großzügigen Plattform haben die Besucher einen Blick auf den See Þingvallavatn, die Gebirgszüge in der Ferne und die naheliegenden Wanderwege. Es kommen jedes Jahr 800.000 Besucher in diesen Nationalpark und niemand braucht auch nur einen Cent zu bezahlen. Die einzigen Einnahmen, die der Nationalpark vom Touristenstrom hat, sind außer den Toilettengebühren, die Erlöse aus dem Souvenirverkauf hier im Shop. Þingvellir soll kein Ort werden, an dem man an den Touristen verdienen will, meint Einar. Es geht ihm vielmehr um Sensibilität für diese Stätte. Þingvellir ist nicht einfach nur ein Park in schöner Landschaft. Es ist das nationale Heiligtum für die Isländer. Am Fuße des Sees Þingvallavatn ist die Republik Island geboren, im Jahr 930 hielten die Wikinger hier ihre erste demokratische Versammlung ab, 1944 wurde an dieser historischen Stätte erneut Geschichte geschrieben, als die Unabhängigkeit von Dänemark gefeiert wurde. Auch geologisch ist Þingvellir von Bedeutung. Die eurasische und amerikanische Platte driften hier auseinander. Der Spalt zieht sich kilometerlang durch den Park und macht die Plattentektonik erkennbar. Das alles können sich die Gäste im Informationshaus multimedial und in zig Sprachen erklären lassen. Wir haben auch eine besondere Situation hier in Þingvellir. Der Nationalpark ist nicht nur ein UNESCO Welterbe, sondern auch Teil des Wasserschutzgebiets des Þingvalla-Sees. Es gibt ein eigenes Gesetz für den Umgang mit diesem Schutzgebiet. Das ist wichtig, denn Abwasser sickert schnell durch die Lava und landet direkt im See. Es gibt kein Kanalsystem, sondern Schmutzwasser wird in Jauchgruben gesammelt und mit LKW wegtransportiert. Das ist sehr aufwendig. Deshalb zahlen die Besucher für den Toilettengang 200 Kronen, umgerechnet etwa 1,50 Euro. Damit das Wasser im See so glasklar bleibt wie es ist. Þingvellir sieht immer noch so aus wie vor gut 1.000 Jahren, zur Geburtstunde der Demokratie. Keine Eingriffe in die Natur, keine Veränderungen, nur ein paar Sommerhäuser verteilen sich rings um den See. Ein paar Landwirte bewirtschaften umliegende Felder und halten Schafe. Atmo Pfiff und Winken Einar pfeift einen Touristen zurück, der gerade vom befestigten Holzpfad auf einen moosbewachsenen Felsen gestiegen ist. Die Vegetation braucht an diesem Fleck der Erde eine Ewigkeit um sich zu erholen. Früher war es nicht nötig kleine Absperrungen mit Warnschildern zu errichten. Damit die Menschen nicht auf dem Moos herumlaufen. Oder gar bewusst die Flora zerstören. So wie im Frühsommer. Als Camper an einem stürmischen Abend auf dem nahe liegenden Zeltplatz Moos zusammen mit einem Ballen Erde aus dem Boden herausgerissen haben, um damit ihr Zelt zusätzlich abzudichten. Die Bestürzung bei den Parkmitarbeitern war groß. Moos braucht Jahrzehnte um zu wachsen. Die Leute hatten einfach kein Bewusstsein dafür, welchen Schaden sie angerichtet haben, erzählt Einar. Es sind Fälle wie diese, die die Debatte um eine mögliche Kostenbeteiligung der Touristen befeuern: Ob man Zugangsgebühren an jedem Ort erhebt oder ob jeder Gast, der ins Land kommt eine Steuer zahlt, oder sonst was. Hier in Þingvellir werden wir im kommenden Jahr damit beginnen Parkgebühren zu kassieren, auch für die Reisebusse. Es ändert sich einiges im Nationalpark. Nicht nur durch Toiletten- oder Parkgebühren. Der Bildungsbeauftragte des Nationalparks Einar Sæmundsen und sein Team müssen inzwischen mehr in die Natur eingreifen als es ihnen eigentlich lieb ist; Um den Besucherstrom zu leiten, müssen wir noch mehr Infrastruktur aufbauen. Gehsteige, Gehbrücken. Wir versuchen natürlich diese so gut wie möglich in die Natur hier einzupassen. Dies ist ein Kompromiss; man möchte die Natur so unberührt wie möglich lassen, aber auch dafür sorgen dass die vielen Besucher die Natur hier aus der Nähe selbst erleben können. Nun soll also am Þingvellir beides voreinander geschützt werden. Der Mensch vor der Natur und die Natur vor dem Menschen. Fragile Schönheit – Island und der Massentourismus. Das waren Gesichter Europas mit Reportagen von Jessica Sturmberg. Die Literaturauszüge stammen aus dem Buch „Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein“ von Hallgrimur Hellgason. Erschienen im Klett-Cotta- Verlag. Gelesen von Tom Jacobs. Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern. Ton und Technik: Hendrik Manook, Max Burbach und Caroline Thon. Am Mikrofon war Katrin Michaelsen 1