COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 29.11.2011, 19.30 Uhr "Romane sind ein großes Geheimnis" Die Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy von Margarete Blümel Atmo 1 Straßenverkehr / Delhi Länge: ca. 6 - 7 Sek., dann bitte unter d. Text legen Sprecher: New Delhi, Ring Road, gegen zehn Uhr morgens. Um die fünfzig Kleinwagen stehen Stoßstange an Stoßstange vor der Ampelanlage. Rechts von ihnen warten Fahrradfahrer, ein paar Männer auf Motorrollern und ein Elefant mit seinem Hüter obenauf ebenfalls auf das "Grün" - Signal, um sich endlich wieder in Bewegung setzen zu können. Atmo 1 Straßenverkehr / Delhi bitte kurz hochziehen, dann wieder unterlegen Sprecher: Auf jeden neu ankommenden Wagen schießt sofort eines der am Straßenrand wartenden Kinder zu, um unverzüglich mit einem schmutzigen Lappen die Windschutzscheiben zu bearbeiten. Die meisten schauen angesichts der ungebetenen Dienstleistung stur nach vorn. Wer es vergessen hat, wird spätestens jetzt die Fensterscheiben schließen. Zum einen, um nicht in die Hände der Fensterputzer und der Bettler zu fallen. Zum anderen, damit der Zeitungsjunge nicht schon wieder ungefragt ein Exemplar der "Times of India " ins Innere wirft - und dafür Geld verlangt. Atmo1 Straßenverkehr hoch, dann bitte unter d. Text blenden Sprecher: Nur wenige Straßenzüge weiter nimmt die Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy im Konferenzsaal des "India Habitat Centre" an einer Podiumsdiskussion über das Thema Armut teil. Atmo 2 Podiumsdiskussion / Sprecherin: Arundhati Roy bitte einige Sek. hoch, dann unterlegen Sprecher: Arundhati Roy gestikuliert sparsam. Ihre Stimme ist voll und warm, selbst wenn sie empört ist. Sie ist klein, sehr präsent und umwerfend attraktiv. Wüsste man nicht, dass sie vor kurzem zweiundfünfzig Jahre geworden ist, würde man sie für Anfang Vierzig halten. Atmo 2 Podiumsdiskussion / Sprecherin: Arundhati Roy bitte wieder hochziehen, dann unter d. nächsten Textstück blenden Sprecher: In der Diskussion geht es immer wieder um die ungerechte Verteilung von Ressourcen. Was das bedeutet, hat Arundhati Roy am eigenen Leib erfahren. Vor sechsunddreißig Jahren zog sie aus dem südindischen Kerala nach New Delhi, wo sie zunächst in einer Blechhütte wohnte. Die Architekturstudentin sammelte damals Flaschen, die sie reinigte und verkaufte. Sie wohnte Tür an Tür mit selbsternannten Fensterputzern und mit Bettlern, die Autofahrern an der Ampel ihre ausgemergelten Kinder auf die Motorhaube setzten. Heute wird Arundati Roy von Verlegern aus aller Welt hofiert. Und, wo sie geht und steht, von Journalisten belagert und mit Fragen bombardiert. So auch hier, als die Podiumsdiskussion für eine kurze Pause unterbrochen wird. Arundhati Roy wird regelrecht eingekesselt von Radio - und TV - Reportern, die wissen wollen, was sie zur Situation der Linken, zum Hungerstreik eines bekannten Aktivisten oder zum Zustand der Demokratie in Indien zu sagen hat. O - Ton 1 Potpourri v. Journalisten ( bitte schon unter dem Vortext anklingen lassen ) O - Ton 2 Arundhati Roy " I like to ask the powers in this government ...can hope to get justice, there will be a stampede to that door! " Sprecherin 1: Ich frage unsere Politiker: Wohin kann sich ein Armer hierzulande wenden, wenn er Hilfe braucht? Gäbe es auch nur eine Adresse.... Ich bin sicher - den Betreibern dieser Einrichtung würde man die Türen einrennen! Musik 1 Ind. Musikstück bitte einige Sek. stehen lassen, dann leise unter d. Zitat legen Sprecherin 1: Wer ein Tier aufhalten will, bricht ihm die Glieder. Wer ein Land aufhalten will, bricht seinem Volk das Rückgrat. Du raubst ihm den Willen. Du zeigst, dass du absoluter Herr über sein Schicksal bist. Du machst klar, dass du selbst letztlich über Leben und Tod entscheidest, über Gedeih und Verderb. Übersetzer: Wolfram Ströle Musik 1 Ind. Musikstück bitte kurz hoch, dann blenden Sprecher: 1997 erschien in New Delhi die englische Fassung des halb - autobiographischen Romans "Der Gott der kleinen Dinge". Das Buch ist ein facettenreicher Blick in die indische Seele. Sehr poetisch, dann wieder schonungslos und ungestüm, erzählt es unter anderem die Geschichten eines Zwillingspaares, das ein Herz und eine Seele ist, einer Frau, die jemanden liebt, der sie eigentlich nicht berühren dürfte und einer ehemaligen Nonne, deren Gefühlsskala auf Bitterkeit und Missgunst reduziert ist. "Der Gott der kleinen Dinge" wurde in viele Sprachen übersetzt und brachte seiner Autorin den Booker - Preis ein. Vierzehn Jahre sind seitdem vergangen. Staudammprojekte wurden angekündigt, bekämpft - und am Ende doch umgesetzt. Musik Ind. Musikstück bitte einige Sek. stehen lassen, dann leise unter d. Zitat legen Sprecherin 1: Als Beweis demonstrierst du, was du alles kannst und wie mühelos. Dass du jederzeit Krieg anfangen oder Frieden schließen kannst. Dass du dem einen den Fluß wegnehmen und ihn einem anderen geben kannst. Mit willkürlichen Launen zerrüttest du den Glauben eines Volkes an uralte Dinge - an Erde, Wald, Wasser, Luft. Übersetzer: Wolfram Ströle Musik Ind. Musikstück bitte kurz hoch ziehen, dann blenden Sprecher: In der Zwischenzeit ist auch Indiens Wirtschaftswachstum deutlich gestiegen. Doch: Davon profitieren nur wenige, ohnehin schon wohlhabende Inder - Indiens Arme sind arm geblieben. Musik Ind. Musikstück bitte einige Sek. hoch, dann unter d. Zitat legen Sprecherin 1: Wenn du das getan hast, was bleibt ihnen dann noch? Sie werden sich an dich wenden, denn du bist alles, was sie haben. Sie werden dich wählen, während du den letzten Atemzug aus ihnen herauspresst. Übersetzer: Wolfram Ströle Musik Ind. Musikstück bitte kurz hoch ziehen, dann blenden Sprecher: Auch die Konflikte zwischen Hindus und Muslimen entladen sich bis heute immer wieder. Sie entzünden sich an der Streitfrage, wie es im mehrheitlich muslimischen Kashmir weiter gehen soll oder daran, wem eine von beiden Religionsgruppen für sich beanspruchte heilige Stätte zugeteilt wird. Arundhati Roy verfolgt all das sehr aufmerksam. "Der Gott der kleinen Dinge" hat ihr zu Weltruhm verholfen. Die Schriftstellerin und Aktivistin nutzt diesen Vorteil sehr bewusst, um auf Workshops, Diskussionsveranstaltungen und in ihren Essays die westliche Militär- und Wirtschaftspolitik zu kritisieren und auf die Missstände in ihrer Heimat aufmerksam zu machen. Die Kehrseite ihres Ruhms- auf Buchmessen vorgeführt, von Journalisten umgarnt und von Fans belagert zu werden - scheint Arundhati Roy allerdings ganz und gar nicht zu behagen. O - Ton 3 Arundhati Roy " You learn to be casual about it.. you learn to be impolite. " Sprecherin 1: Man muss lernen, all das nicht ganz so ernst zu nehmen. Es hilft, sich eine gewisse Unberechenbarkeit zuzulegen. Außerdem kann hier und da auch eine Portion Unhöflichkeit ihre Wirkung tun. Sprecherin: Zwei Tage nach der Podiumsdiskussion sitze ich Arundhati Roy in ihrem Apartment in Süd-Delhi gegenüber. Die Wohnung wird gerade renoviert. Sofa, Sessel und Schränke sind mit alten Ausgaben des "Indian Express" und der "Hindustan Times" abgedeckt. O - Ton 4 Arundhati Roy " You learn to also realize it's not always a bad thing... as long as you don't take it too seriously. " Sprecherin 1: Popularität ist durchaus ein wertvolles Gut, weil sie Ihnen eine Stimme verleiht. Das kann sehr nützlich sein, solange man sich selbst nicht zu wichtig nimmt. Musik 2 Raga bitte einige Sek. hoch, dann unter d. Zitat legen Sprecherin 1: Larry wusste nicht, dass an manchen Orten, zum Beispiel in dem Land, aus dem Rahel kam, unterschiedliche Arten von Verzweiflung um den Vorrang kämpften. Dass etwas passierte, wenn persönlicher Aufruhr am Wegesrand stehen blieb und dem Schrein des unermesslichen, gewalttätigen, ungestümen, lächerlichen, unfassbaren, öffentlichen Aufruhrs einer Nation einen Besuch abstattete. Dass der große Gott heulte wie ein heißer Sturm und Vergöttlichung forderte. Der kleine Gott - lieb und gebändigt, privat und begrenzt - kam mit Brandwunden davon und lachte benommen über seine eigene Tollkühnheit. Abgehärtet von der Bestätigung seiner eigenen Belanglosigkeit wurde er unverwüstlich und wahrhaft gleichgültig. Nichts war sehr wichtig. Weil schlimmere Dinge geschehen waren. In dem Land, aus dem sie kam, einem Land, das für alle Zeiten zwischen dem Terror des Krieges und dem Horror des Friedens balancierte, passierten ständig schlimmere Dinge. Übersetzerin: Anette Gruber Musik 2 Raga bitte kurz hoch, dann blenden Sprecher: Die "schlimmeren Dinge" sind Dreh - und Angelpunkt in den politischen Sachbüchern und den gesellschaftskritischen Essays, die Arundhati Roy seit der Veröffentlichung ihres bisher einzigen Romans geschrieben hat. Immer wieder nimmt sie in diesen Veröffentlichungen korrupte Politiker, Nutznießer kontroverser Staudammprojekte, Hindunationalisten oder Befürworter der indischen Atompolitik ins Visier. Mal läuft sie deshalb Gefahr, des Landes verwiesen zu werden. Mal droht ihr das Gefängnis. Oder Hindunationalisten lauern Arundhati Roy vor ihrem Haus auf, um sie zu attackieren. O - Ton 5 Arundhati Roy " When you know as I do... So how can I sit here complaining about these things because it's part of the fight. " Sprecherin 1: Ich fühle mich trotzdem nicht als Märtyrerin, weil ich nur zu gut weiß, was anderen Aktivisten widerfahren ist. Hunderte von ihnen sitzen im Gefängnis. Sie sind unbequem geworden und werden dort misshandelt, nur, weil sie ihren Missmut über Staudammprojekte, Korruption und Ungerechtigkeit geäußert haben. Unsere angeblich so milde, gütige Demokratie unterhält Gefängnisse, die denen von Guantanamo und Abu Ghraib in nichts nachstehen. Wie könnte ich also hier sitzen und mich beschweren? Was mir widerfährt, ist Teil unseres Widerstandskampfs. Musik 3 Ind. Musikstück bitte einige Sek., dann leise unterlegen Sprecherin 1: Schriftstellerin zu sein - angeblich eine " berühmte " Schriftstellerin - in einem Land, in dem Millionen Menschen nicht lesen und schreiben können, ist eine zweifelhafte Ehre. Schriftstellerin zu sein in einem Land, das der Welt Mahatma Gandhi geschenkt hat, das die Vorstellung des gewaltlosen Widerstands hervorgebracht hat und dann, ein halbes Jahrhundert später, Atomtests durchführt, ist eine schreckliche Bürde. Es kann Ihnen passieren, wie es mir passiert ist, dass Sie mitten im vermeintlichen Frieden auf einen stummen Krieg stoßen. Und wenn Sie es gesehen haben und dann schweigen, ist das genauso ein politischer Akt wie wenn Sie darüber sprechen. Es gibt keine Unschuld. So oder so haben Sie Verantwortung, Übersetzerin: Ursel Schäfer Musik 3 Ind. Musikstück bitte kurz hoch, dann blenden O - Ton 6 Arundhati Roy " At the same time I think it's very important to be tactical ...But I try not to be stupid. " Sprecherin 1: Dennoch ist es natürlich wichtig, eine gewisse Taktik zu entwickeln. Manchmal muss man sich zum Beispiel zurücknehmen können - schon um des Überlebens willen. Ich tue, was ich irgend kann, um die Dinge im Sinne der Betroffenen zu beeinflussen. Und ich versuche, mich bei all dem nicht allzu töricht zu verhalten. Sprecher: Die feministische Autorin und Historikerin Urvashi Butalia aus New Delhi kennt Arundhati Roy seit mittlerweile mehr als zwanzig Jahren. O - Ton 7 Urvashi Butalia " I find it very interesting and very brave in a lot of ways ..who has the courage to do that deserves the admiration. " Sprecherin 2: Ich finde sie ungemein couragiert. Und auch wenn ich nicht in allem mit Arundhati übereinstimme - was ich wirklich bewundernswert finde, ist, dass sie unbeirrt ihren Weg geht. Musik 4 Ind. Musikstück bitte ein paar Sek., dann leise unterlegen Sprecherin 1: Statt eines Arguments, einer Erklärung oder einer Diskussion von Fakten wird man mit Beschimpfungen, Beleidigungen, juristischen Drohungen überzogen und hört immer nur die Hymne der Experten: ' Sie verstehen das nicht und es ist zu kompliziert, um es zu erklären. ' Zwischen den Zeilen heisst das: ' Zerbrich' dir nicht deinen kleinen Kopf. Geh' und spiele mit deinen Spielsachen. Und überlasse uns die wirkliche Welt. ' Es ist der alte Reflex der Brahmanen. Das Wissen besetzen, vier Wände darum errichten und es zum eigenen Vorteil nutzen. Die Gesetzbücher des Manu aus der vedischen Literatur sagen, wenn ein Dalit, ein ' Unberührbarer ', zufällig irgendeinen Teil eines heiligen Textes gehört hat, soll geschmolzenes Blei in sein Ohr gegossen werden. Es ist kein Zufall, dass Indien einerseits bestrebt ist, seinen Platz an der Spitze der Informationsrevolution einzunehmen und andererseits Millionen indische Staatsbürger Analphabeten sind. Übersetzerin: Ursel Schäfer Musik 4 Ind. Musikstück bitte in Kreuzblende verbinden mit Atmo - Gesang 3 brahmanische Priester bitte einige Sek. stehen lassen, dann unter d. Text legen Sprecher: Ein großer Hindutempel im Süden Delhis. Atmo - Gesang 3 brahmanische Priester bitte kurz hoch, dann in Kreuzblende verbinden mit Atmo 4 Tempel Sprecher: Wie in den meisten hinduistischen Tempeln der Metropole herrscht auch hier bis in den späten Abend hinein ein ständiges Kommen und Gehen. Atmo 4 Tempel bitte kurz hoch, dann wieder unterlegen Sprecher: Im Zugangsbereich zur Tempelhalle tragen lesekundige Männer den Gläubigen gegen ein kleines Entgelt Passagen aus den Hinduepen vor. Gleich daneben haben sich Dutzende von Bettlern positioniert. Einige sind in einer Geste der Demut erstarrt: Die Hände vor der Brust gefaltet, schauen sie stumm vor sich hin. Andere wieder fassen die Gläubigen, die sich vorbei stehlen wollen, bei der Schulter und weisen mit gespreizten Fingern zum Mund, um ihren Hunger kundzutun. Atmo 4 Tempel bitte kurz hoch, dann in Kreuzblende verbinden mit Atmo 5 Tempelgesang bitte unterlegen Sprecher: Im Tempelinneren baden die Priester die Statue der Gottheit, kleiden sie in prächtige, goldflirrende Gewänder und schmücken sie mit Blumengirlanden. Vor den Götterbildern werden Butterlampen geschwenkt. Dann tragen die Brahmanenpriester die geweihten Lampen zu den Gläubigen, damit diese ihre Hände darüber halten und so die schützende Gnade der Gottheit in Empfang nehmen können. Atmo 5 Tempelgesang bitte hoch ziehen, dann blenden Sprecher: Etwa achtzig Prozent der Inder sind Hindus, mehr als dreizehn Prozent der Landesbewohner bekennen sich zum Islam. Bei aller Weltoffenheit sind die meisten Inder bis heute von einer selbstverständlichen Verbundenheit zu Religion und Spiritualität durchdrungen. Diese Lebenshaltung prägt ihren Alltag und bindet sie in eine Vielzahl von Pflichten und Konventionen ein. Ammu, wie Arundhati Roys Mutter im "Gott der kleinen Dinge" heißt, kommt vom Weg ab. Die Christin beginnt ein Verhältnis mit einem sogenannten "Unberührbaren". Als sie einige Zeit später stirbt, muss ihre Tochter mit ansehen, wie die Mutter von den Mitgliedern der Gemeinde und vom Großteil der Familie im Stich gelassen wird. Musik 5 Raga bitte einige Sek. stehen lassen, dann leise unterlegen Sprecherin 1: Die Kirche weigerte sich, Ammu zu beerdigen. Deshalb mietete Chacko einen Lieferwagen, um den Leichnam zum elektrischen Krematorium zu bringen. Im Krematorium herrschte die gleiche elende, heruntergekommene Atmosphäre wie in einem Bahnhof, nur, dass es menschenleer war. Niemand außer Bettlern, Obdachlosen und den Toten aus dem Polizeigewahrsam wurde hier verbrannt. Die Stahltür des Verbrennungsofens ging auf und das gedämpfte Prasseln des ewigen Feuers wurde zu einem roten Tosen. Die Hitze stürzte sich auf sie wie ein ausgehungertes, wildes Tier. Dann wurde das Feuer mit Ammu gefüttert. Mit ihrem Haar, ihrer Haut, ihrem Lächeln. Ihrer Stimme. Mit ihrem Gutenachtkuss. Der Art, wie sie Rahel die Unterhose hinhielt, damit sie hineinsteigen konnte. Linkes Bein, rechtes Bein. All das wurde dem wilden Tier zum Fraß vorgeworfen, und es war zufrieden. Übersetzerin: Anette Gruber Musik 5 Raga bitte kurz hoch, dann blenden O - Ton 8 Urvashi Butalia " If you look at that story.... two different forms of writing but not different concerns. " Sprecherin 2 Die Geschichte berührt das Kastenwesen. Außerdem erzählt "Der Gott der kleinen Dinge" vom Los der Minderheiten - in diesem Falle von den syrischen Christen. Das Ganze ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in Kerala. Und es geht darum, inwieweit Gefühle vom Staat kontrolliert und beeinflusst werden können. Wer also darf wen lieben - oder eben nicht? Damit beschäftigt sich Arundhati in ihrem Roman. In meinen Augen ist das ein hochpolitisches Buch. Und dieselben Inhalte treten auch in ihren Essays zu Tage. Es handelt sich um verschiedene Darstellungsformen, aber nicht um unterschiedliche Belange. O - Ton 9 Arundhati Roy " It's not so much been seen as writing about political... And I don't have any such desire. " Sprecherin 1 Wenn man sich aber schon sozialen und politischen Inhalten verschrieben hat, dann wird erwartet, dass man zumindest 'neutral ' sein müsse. Das funktioniert natürlich nicht - auch wenn viele Autoren großen Wert darauf legen, diesen Eindruck zu erwecken. Ich dagegen habe nicht den leisesten Wunsch, als neutral angesehen zu werden. Musik 6 Raga bitte ein paar Sek. stehen lassen, dann leise unterlegen Sprecherin 1: An manchen Tagen ging Estha an den Ufern des Flusses entlang, wo es nach Scheiße stank und nach Pestiziden, die mit Hilfe der Weltbank angeschafft worden waren. Der Großteil der Fische war tot. Die, die überlebt hatten, litten unter Flossenfäule und Furunkeln. An anderen Tagen ging er die Straße entlang, vorbei an neuen Häusern aus frisch gebrannten und glasierten Ziegeln, gebaut von Krankenschwestern, Steinmetzen, Stahlarbeitern und Bankangestellten, die an fernen Orten hart arbeiteten und ein unzufriedenes Leben führten. Vorbei an aufgebrachten alten Häusern, die, vor Neid grün verfärbt, an eigenen Einfahrten, unter eigenen Kautschukbäumen kauerten. Übersetzerin: Anette Grube Musik 6 Raga bitte hoch ziehen, dann blenden Sprecher: Was Arundhati Roy vom Gros der indischen Politiker und von den meisten Medienvertretern ihres Landes hält, hat sie wiederholt zum Ausdruck gebracht. Und sich damit ein paar Feinde mehr gemacht. Ihre Kollegin Urvashi Butalia muss eine Weile darüber nachdenken, wie es in dieser Hinsicht um die Mehrheit der indischen Autoren steht. In welchem Licht also sehen sie ihre berühmte Kollegin? O - Ton 10 Urvashi Butalia " I think with a lot of admiration and some envy ... to express their views as strongly as she does. But many people don't. " Sprecherin 2 Mit erheblicher Bewunderung und einigem Neid! Viele würden gern so schreiben können wie Arundhati und dann ähnliche Erfolge verbuchen. Ich denke, die Kollegen haben da zwei Herzen in ihrer Brust - das eine ist von aufrichtiger Anerkennung erfüllt, das andere ist von einer gehörigen Portion Missgunst beseelt. Man hätte wohl auch gern die nötige Charakterstärke, um die Dinge so deutlich beim Namen zu nennen wie Arundhati. Aber vielen Leuten ist das nun einmal einfach nicht gegeben. Sprecher: Die Kritik, die an der prominenten Autorin geübt wird, macht auch vor ihrem Privatleben nicht halt. Als Arundhati Roy damals in Delhi ihr Architekturstudium begann, lernte sie ihren ersten Ehemann kennen. Einige Jahre später trennte sie sich wieder von ihm - weder bezüglich ihrer Hochzeit noch der Scheidung konsultierte sie ihre Verwandtschaft. Dieses Vorgehen würde sogar heute, im sogenannt "modernen" Indien, einen großen Affront darstellen. Arundhati Roy wirft den Kopf zurück. Aus ihrer Hochsteckfrisur lösen sich ein paar Strähnen, die sie mithilfe einer Haarklemme wieder festzustecken versucht. O - Ton 11 Arundhati Roy " Those are sort of standard insults ... and then they say that you are hysterical. " Sprecherin 1 So etwas geht mit den üblichen Beleidigungen einher, über deren Inhalt sich trefflich streiten ließe. Einige Reaktionen sind allerdings völlig indiskutabel. Wegen meines Lebensentwurfs und meiner politischen Ansichten mit Steinen beworfen zu werden und lesen zu müssen, dass man mich am liebsten im Gefängnis sähe, finde ich doch sehr daneben. Und wenn ich das laut sage, stempelt man mich als Hysterikerin ab. Atmo 6 Hochzeitszug bitte einige Sek. hoch, dann leise unter d. Text legen Sprecher: Manchmal, wenn sie auf der Terrasse ihres Apartments sitze, erzählt Arundhati Roy, könne sie einen der hier durchkommenden Hochzeitszüge beobachten. Atmo 6 Hochzeitszug bitte wieder kurz hoch, dann erneut leise unter d. Text legen Sprecher: Stundenlang blockiert ein solcher Aufzug die Straßen, über die er sich unindisch langsam, aber unbeirrbar, zum Festzelt bewegt. Der Bräutigam, der unter seinem kompliziert gewundenen, weißen Turban heftig schwitzt, sitzt nach Art der Maharajas zu Pferd und müht sich um Haltung. Zu ebener Erde und völlig entfesselt hopsen die männlichen Verwandten zu den Klängen der Kapelle über das Trottoir. Im Schlepptau folgt die ganz in Rot gekleidete Braut mit ihren Freundinnen. Atmo 6 Hochzeitszug hoch, dann bitte blenden Sprecher: Arundhati Roy hat wenige Jahre nach ihrer Scheidung nochmals geheiratet. 1984 lernte sie ihren zweiten Ehemann, Pradip Krishen, kennen. Das Paar ist bis heute verheiratet. Die beiden wohnen an verschiedenen Orten. Ein weiterer Stein des Anstoßes für etliche ihrer Landsleute. Denn wer hätte schon einmal davon gehört, dass ein Ehepaar ohne Not getrennt voneinander lebt? Sei's drum. Für Arundhati Roy ist Pradip Krishen " meine Liebe ". Musik 7 Raga bitte kurz hoch, dann leise unter d. Zitat legen Sprecherin 1: In der Dunkelheit lächelte Ammu und dachte, wie sehr sie seine Arme liebte, ihre Form und ihre Kraft, und wie sicher sie sich in ihnen fühlte, obwohl sie tatsächlich der gefährlichste Ort waren, an dem sie sich aufhalten konnte. Er faltete seine Angst in eine vollkommene Rose. Er hielt sie ihr auf der Handfläche hin. Sie nahm sie und steckte sie sich ins Haar. Übersetzerin: Anette Gruber Musik 7 Raga bitte hoch, dann wieder unterlegen Sprecherin 1: Sie hatten nichts. Keine Zukunft. Deshalb hielten sie sich an die kleinen Dinge. Sie lachten über Ameisenbisse auf dem Po des Anderen. Über eine besonders fromm betende Gottesanbeterin. Über den winzigen Spinnenmann, der in einem Mauerriss auf der rückwärtigen Veranda des Hauses lebte und sich tarnte, indem er seinen Körper mit Unrat bedeckte. Jedes Mal wenn sie sich trennten, gaben sie sich ein einziges kleines Versprechen: " Morgen? " - " Morgen! " Übersetzerin: Anette Gruber Musik 7 Raga bitte hoch, dann in Kreuzblende verbinden mit Atmo 7 Lodhi Road bitte einige Sek. stehen lassen, dann unter Text Sprecher: Die Lodhi Road, eine der großen Verbindungsstraßen Delhis, wird von frühmorgens bis Mitternacht von Autos, Lastwagen und windschiefen, bis zum Bersten gefüllten Bussen befahren. Und sie ist gesäumt von den mageren Besitztümern derer, die hier leben. Pflasterschläfer haben ihr Eckchen auf dem Gehsteig mit einem Stein und ihrem Plastikbehälter für die morgendliche Körperwäsche markiert. Zwischen einem Strommast und dem abgestorbenen Ast eines alten Baums ist eine Wäscheleine aufgespannt, von der eine Frau gerade eine mehrfach geflickte Herrenhose, einen zerschlissenen Sari und die Shorts ihrer Söhne abnimmt. Zwischen ihren Füßen tapst ein nacktes kleines Mädchen umher. Unter einer Plastikplane, dem Domizil der zumindest sechsköpfigen Familie, wimmert ein Baby. Seine Mutter kann nicht sehr viel älter sein als vierzig Jahre. Sie sieht aus wie sechzig. Ein kleines Stück weiter, unter dem Brückenpfeiler, liegt eine alte Frau. Sie atmet stoßweise. Ihr fehlt das rechte Auge. Das linke starrt blicklos ins Nichts. Sie ist blind. Die Alte trägt den weißen, schmucklosen Sari der Witwen. Atmo 7 Lodhi Road bitte kurz hoch, dann blenden Sprecher: Alte Frauen, deren Mann verstorben ist, werden oft von ihrer Familie ausgestoßen. Junge Frauen in Indien studieren an den besten Universitäten. Inderinnen, die sich als unfruchtbar erweisen, werden nicht selten von ihren Ehemännern verstoßen. Andere wieder werden umgebracht, weil sie nicht genug Mitgift in die Verbindung eingebracht haben. Oder sie schreiben einen großen Roman, gewinnen den Booker Preis und steigen zu Weltruhm auf. Hat Arundhati Roy je daran gedacht, sich besonders der Situation von Frauen in Indien zu widmen? O - Ton 12 Arundhati Roy "This is a very important question that you ask me .. And they have decided that they are the feminists and the others are not. " Sprecherin 1 Das ist eine wichtige Frage! Die Feministinnen haben sich hier bei uns von den Nichtregierungsorganisationen abhängig gemacht. Und ausgerechnet mir wirft man dann vor, dass ich mich nicht für Frauen engagieren würde... Hunderte von ihnen mussten dem Narmada - Staudamm - Projekt weichen und wissen bis heute nicht, wo und wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Ist das kein frauenrelevantes Thema? Was ist mit den Stammesvölkern in Zentralindien, deren Schicksal ich beleuchtet habe? Sie setzen sich gegen Ausbeutung zur Wehr und unterhalten eine Guerilla - Armee, die fast zur Hälfte aus Frauen besteht. Unsere Feministinnen werden von den NGOs nur dann unterstützt, wenn sie solche Themen aussparen. Die NGOs befinden also darüber, wer sich als Feministin betrachten darf - und wer nicht. Sprecher: Arundhati Roy, die nach außen hin auch Emotionen wie Wut und Enttäuschung gut unter Kontrolle hat, kann an dieser Stelle ihren Ärger nicht verhehlen. Es mache sie wütend, sagt sie, dass viele indische Feministinnen sich von den NGOs für deren Projekte einspannen ließen. Um dann zu anderen frauenspezifischen Themen, die auf der Hand lägen, konsequent zu schweigen. O - Ton 13 Arundhati Roy " You will never see them at any protest......And I find that actually very dishonest. " Sprecherin 1 Diese sogenannten 'Feministinnen' werden Sie zum Beispiel bei Demonstrationen gegen Staudämme nicht antreffen. Dabei sind gerade in diesem Falle in erster Linie Frauen die Leidtragenden. Sie werden vertrieben, finden dann bestenfalls Jobs als Bauarbeiterinnen - oder sie enden als Prostituierte. Die 'Vorzeige - Feministinnen' befassen sich aber lieber mit der Theorie, mit Themen wie Gleichstellung und Geschlechtsidentität etwa. Ich halte das für völlig verlogen! Sprecher: Die Feministin Urvashi Butalia dagegen hat nie den Schulterschluss mit irgendwelchen Institutionen gesucht. Ähnlich wie Arundhati Roy schert sie sich wenig um das, was man - oder Frau - denken und schreiben sollte. Doch nicht nur dieser einen Parallele wegen ist Urvashi Butalia ihrer Kollegin Arundhati Roy sehr zugetan. O - Ton 14 Urvashi Butalia " You see, I like many things... And she doesn't make a big fuss about it but she does do it. " Sprecherin 2 Ich mag vieles an Arundhati! Zum Beispiel? - Wie intensiv sie an ihren Publikationen arbeitet. Sie recherchiert sehr gründlich. Und obwohl sie immer dicht dran ist an ihren Themen, schafft sie es, ihre Gefühle hintan zu stellen. Dann ihre Großzügigkeit. Sie lebt überraschend bescheiden. Arundhati hat einen Großteil ihrer Einnahmen an Gruppen und Organisationen weitergegeben, mit deren Anliegen sie sympathisiert. Sie muss inzwischen mehr gespendet haben als die meisten großen Firmen. Und sie macht kein Aufhebens darum - sie tut es einfach. Sprecher: Arundhati Roy tut auch ganz andere Dinge. Wie sagte sie eingangs, als wir bei ihr zusammen saßen? O - Ton 15 Arundhati Roy " You learn to be unpredictable. You learn to be impolite.... " Sprecher: Gelegentlich können sich eine gewisse Unberechenbarkeit und eine Portion Unhöflichkeit als sehr nützlich erweisen. Das war auf den Kollegen gemünzt gewesen, der ihr nach der Podiumsdiskussion im "India Habitat Centre" mit der Frage nach ihrem nächsten Roman zu nahe getreten war. Er fiel der Royschen Abwehrstrategie zum Opfer: Die Schriftstellerin würdigte ihn keines Blickes. Ich versuche es über einen Schleichweg. Gewisse Dinge könne man nur in einer fiktiven Geschichte ausdrücken, erinnere ich Arundhati Roy an ein Gespräch mit einem anderen Kollegen. Ihre Essays entstünden aus Diskussionen mit vielen Menschen, sie seien gewissermaßen ein Gemeinschaftsprodukt, hatte die Schriftstellerin damals betont. Und hinzugefügt, dass Romane dagegen nun einmal " ein großes Geheimnis " seien. Bleibt es dabei?! Arundhati Roys Blick verdüstert sich ein wenig. Wieder fallen ihr ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. Dieses Mal macht sie sich nicht die Mühe, sie zu befestigen. Sie holt tief Luft, wirft den Kopf zurück - und lächelt. Es ist ein sparsames, eher kühles Lächeln. Sie wirkt jetzt völlig unnahbar. Und atemberaubend schön. O - Ton 16 Arundhati Roy " Just in the same way as.... I think it would be silly for me to talk about it. " Sprecherin 1 Über politische Texte, die mir vorschweben, zu reden ist eine Sache. Eine ganz andere, wenn es um erzählende Literatur geht. In einem Roman geht es im Grunde genommen um alles. Ich glaube, es wäre ziemlich dumm von mir, wenn ich mich dazu äußern würde. Musik 8 Ph. Glass / R. Shankar zum Ausklang 1