COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Nachspiel vom 19.9.2010 Laufen nach dem Karriereknick Das zweite Leben des Olympiasiegers Dieter Baumann Autor: Günter Herkel Autor: Eine Mehrzweckhalle in Hameln, einer Kreisstadt im südlichen Weserbergland. Die Bühne im kleinen Theatersaal ist fast kahl, nur ein Tisch und ein Stuhl sind zu sehen. Ein drahtiger, gut durchtrainiert wirkender Mann betritt mit federndem Schritt die Bühne und begrüßt das erwartungsvolle Publikum. Take 1 (0:10) Baumann: Herzlich willkommen zunächst mal zu meinem locker-leichten Abend über Laufen, Leben, Last und Luscht. Autor: Dieter Baumann ist Schwabe, das hört man schon beim ersten Satz, aber Verständigungsprobleme wird er heute nicht haben. Er trägt graues Sacko, gelbes Hemd, dazu farbige Trainingsschuhe. Baumann präsentiert sein Kleinkunstprogramm "Körner, Currywurst, Kenia". Take 2 (0:15) Baumann: Es gibt so ein Bild von mir in Deutschland, und alle schaun mich dann immer an, Mensch, der sieht ja noch aus wie früher, rank und schlank, der hat ja bestimmt immer Luscht zum Laufen - und des stimmt auch... Autor: Ein anderes Bild, das sich ins Bewusstsein von Leichtathletik-Fans aus aller Welt eingegraben hat, stammt von den Olympischen Sommerspielen in Barcelona 1992. Damals schrieb Baumann im Finale über 5.000 Meter im Endspurt Sportgeschichte. In der Reportage von ARD-Reporter Dieter Adler klang das so Take 3 (0:33) Adler - Reportage Autor: Der Höhepunkt in einem an spektakulären Erfolgen reichen Leichtathleten-Leben. Schon vier Jahre zuvor, bei den Spielen in Seoul 1988, hatte Baumann auf seiner Spezialstrecke Silber gewonnen. Allein auf nationaler Ebene sammelte er 40 Meistertitel auf Strecken von 1.500 bis 10.000 Meter sowie im Crosslauf. Noch 1997 lief er Europarekord über 5000 Meter. Mit einer Zeit, die in den Annalen des Sports bis heute als die "schnellste Zeit eines Läufers nichtafrikanischer Abstammung" über diese Strecke gilt. Dann der Schock: Bei einer Dopingkontrolle im Herbst 1999 wird Baumann positiv auf den unzulässigen Wirkstoff Nandrolon gestestet. Auch die B-Probe wenige Wochen später fällt positiv aus. Baumann damals auf einer Pressekonferenz: Take 4 (0:14) Baumann Ich habe nichts genommen. Aber ich habe eine positive Probe. Ich weiß, das spricht gegen mich. Und ich muss jetzt in irgendeiner Form etwas tun, damit dieser Beweis entkräftet wird. Das ist meine einzigste Chance. Autor: Die Öffentlichkeit ist schockiert. Ausgerechnet Dieter Baumann! Ausgerechnet jener Musterathlet, der sich seit Jahren gegen Doping engagiert hatte. Und sich mit diesem Engagement im Deutschen Leichtathletikverband nicht nur Freunde gemacht hatte. Vielen titel- und medaillenfixierten Funktionären missfiel die Strenge, mit der Baumann Methoden und Vergangenheit ehemaliger DDR-Trainer und Sportler angeprangert hatte. Unter den Sportjournalisten sind die Meinungen gespalten. Take 5 (0:15) Dieter Adler Als das mit seiner Doping-Meldung hochkam, habe ich gesagt: Das kann's nicht sein, das gibt's nicht. Ich habe immer gesagt: Wenn Baumann oder Heike Henkel gedopt sind, hör ich auf, Leichtathletik zu kommentieren. Das hab ich nicht getan. Autor: So Dieter Adler vor wenigen Jahren in einer Sendung des Norddeutschen Rundfunks. Unter dem Titel "Die größten Sportskandale" erscheint Baumann da in einer Reihe mit überführten Dopingsündern wie Jan Ullrich und Christoph Daum. ZDF-Reporter Wolf-Dieter Poschmann in derselben Sendung. Take 6 (0:07) Poschmann Die Tatsache, dass sich jemand sehr engagiert einsetzt für den Kampf gegen das Doping, muss nicht bedeuten, dass er selbst nicht dopt. Autor: Der Fall nimmt mysteriöse Züge an. Ausgerechnet in Baumanns Zahnpasta finden Ermittler Spurenelemente von Norandrostendion, einem Vorläufer des anabolen Steroids Nandrolon. Wie das Mittel dahin gelangte, blieb bis heute ungeklärt. Für Baumann aber ist damit klar: Er wurde Opfer eines Anschlags von Leuten, die ihn und seine Anti-Doping-Aktivitäten dis- kreditieren wollen. Vielen Sportjournalisten erscheint Baumanns Darstellung plausibel. Doping-Experte und ARD-Reporter Hajo Seppelt. Take 7 (0:07) Hajo Seppelt Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen, dass Dieter Baumann damals möglicherweise auch Opfer eines Anschlags geworden ist. Autor: Rückblickend meinen auch Journalisten wie Dieter Adler und Wolf-Dieter Poschmann Take 8 (0:13) Adler Er hatte einen harten Antidoping-Kampf - verbal zumindest - immer geführt, vor allem nach der Wiedervereinigung gegen die ehemaligen DDR-Trainer. Vielleicht ist ihm das später einmal zum Verhängnis geworden, indem man's ihm heimgezahlt hat. Take 9 (0:10) Wolf-Dieter Poschmann Ich kann mir so etwas schon vorstellen, gerade auch bei der Konstellation damals. Ost und West, Verband und ein rebellischer Typ. Autor: Zurück in der Rattenfängerhalle zu Hameln. Baumann erzählt Geschichten aus seiner Sportlerkarriere. Zum Beispiel die von einem Tankwart im kenianischen Niahuru, der ihn bei seinen Trainingsläufen unaufgefordert regelmäßig ein Stück begleitete. Take 10 (0:30) Baumann: Und dann so nach sechs, sieben Km sagt der: You see the village over there? This is my home. I have to go left. Und kurz bevor der links abbog, ich schon schweißüberströmt, Puls mittlerweise 170, da hat der den Reißverschluss seines Overalls ganz zugemacht. Dem is e bissel kalt geworden (Gelächter) ... Ich war in meiner Olympiavorbereitung, er auf dem Heimweg... Autor: Aus der neuerlichen Olympiateilnahme 2000 im australischen Sydney wird nichts. Zwar war Baumann vom Sportgericht des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) in der so genannten Zahnpasta-Affäre vom Dopingvorwurf freigesprochen worden. Aber das Internationale Sportgericht KAS erkannte diesen Freispruch nicht an und sperrte den Deutschen kurz vor Beginn der Spiele für anderthalb Jahre. Take 11 (0:15) Baumann: Das war ne ganz schwierige Phase in meinem Leben, bis weit auch nach meiner Sperre muss ich sagen, war n absoluter Einschnitt, hat mich auch sicherlich verändert, geprägt - ich muss wirklich sagen, das war sehr, sehr schwierig. Autor: Schwierigkeiten bekam auch Baumanns Frau Isabelle, die nach seinem Olympiasieg DLV- Trainerin für die männlichen 10.000-Meter-Läufer geworden war. Von diesem Amt trat sie im Jahr 2000 in der Folge des mysteriösen Dopingfalls zurück. Wichtige Funktionäre, so ihr damaliger Eindruck, hätten ihr die Rückendeckung entzogen. 2005 stellte sie ihre Trainertätigkeit ganz ein. Take 12 (0:24) Baumann: Es war ja nicht nur für mich n harter Einschnitt, sondern auch für meine Frau. Beruflich ganz klarer harter Schnitt, kein Trainerjob mehr, und dann in die Schule. Sie ist ja heute Fachleiterin Sport in einem sportbetonten Gymnasium in Tübingen, macht bilingualer Englisch-Zug, ist ein Tausendsassa in der Schule und ich glaube, alle sind sehr sehr froh, dass sie son Wirbelwind da drin haben. Autor: Seine Familie - beide haben zwei Kinder im Alter von 11 und 15 Jahren - sei durch die Ereignisse eher zusammengeschweißt worden, erinnert er sich. Baumann bestreitet bis heute die wissentliche Einnahme verbotener Substanzen. Wurmt es ihn, dass es nicht möglich war, eindeutige Nachweise für den "Zahnpasta-Anschlag" beizubringen? Take 13 (0:17) Baumann: Die Erfolgsaussichten, je länger das zurück liegt, umso geringer werden die, einen Täter zu ermitteln. Und nur des wäre ja der Nachweis. Was ja ohnehin grotesk ist eigentlich, dass man einen Nachweis liefern müsste. Aber das beschäftigt mich eigentlich heute nur noch am Rande. Autor: Viel lieber beschäftigt sich Baumann heute mit "Körner, Currywurst, Kenia". Längst hat er das Publikum in der Rattenfängerhalle im Griff. Gekommen sind an die 80 Menschen, darunter auch die Teilnehmer eines örtlichen Lauftreffs. Heimspiel also für Baumann. Und irgendwie sportaffin sollte man schon sein, wenn man sein Programm besucht. Er kommuniziert mit dem Publikum, macht Werbung für seinen Sport. Und verteilt Trainingsprogramme an Menschen, die er zu Spielzwecken aus dem Publikum auf die Bühne holt. Take 14 (0:16) Baumann Horschd. Wir machen ein Spiel. Wenn ich schon so einen tollen Athleten hier hab. Ich muss ja sagen, da ist ja nix mehr dran. Der ist ja austrainiert, nur Knochen - sag mal, hast du a Frau zu Hause? - Ja,ja! Und die mag des, wenn du so klapprig bist? (Gelächter) Autor: "Horschd", Anfang 30, Lauffreak, Marathon-Bestzeit immerhin bei guten 3:45, bekommt einen Trainingsplan mit der ehrgeizigen Zielsetzung, demnächst einmal die Drei-Stunden- Marke zu knacken. Baumanns Programm ist eine Mischung aus Geschichten und Schnurren, Parodien und Klamauk. Alles kreist ums Laufen, um gesundheitsbewusstes Leben, um Begebenheiten aus seiner Sportlerkarriere. Einer Karriere, in der nicht alles von Anfang an rund lief. Als er zu Beginn seiner Laufbahn erstmals in einem Wettkampf gegen die kenianische Läuferlegende Said Aouita antreten musste, fing er sich hämische bis mitleidige Reporterkommentare ein. Während Aouita eine neue Weltbestmarke erzielt, ergeht es Baumann schlecht. In der Erinnerung schont er sich nicht. Take 15 (0:22) Baumann: 7:26, 7:27, 7:28 - Weltrekord! - Au ja, jetzt kommt er ins Ziel, er sieht müde aus, der junge Deutsche, jetzt ist er im Ziel. Und wieder einmal hat es sich bewahrheitet: Hinten ist die Ente fett. Autor: Nach Ablauf seiner Sperre nimmt er erneut an Wettkämpfen teil, mit durchaus beachtlichen Ergebnissen. 2002 wird er Vizeeuropameister über 10.000 Meter. 2003 gewinnt er die nationalen Titel über 5.000 und 10.000 Meter. Doch die biologische Uhr tickt. Der Umstieg auf die Marathon-Strecke misslingt. Beim Hamburg-Marathon 2002 bricht er nach 30 Kilometern ein und gibt auf. Take 16 (0:11) Baumann: 5000 hab ich beherrscht, 10.000 nicht ganz, und so war es völlig klar, dass Marathon eine ganz andere Disziplin ist. Also es ist so, als wenn n Kugelstoßer sagt, so, jetzt mach du mal Diskus. Ja, es ist schon was anderes. Autor: Im Herbst 2003 nimmt Baumann nach 22 Jahren Abschied vom Leistungssport. Eine Marathonzeit von 2:30 h genügte den Ansprüchen eines ehemaligen Weltklasseläufers nicht mehr. Take 17 (0:13) Baumann: 2:30, das ist okay. Ich glaube, da trenn ich auch und da kann ich sehr gut trennen zwischen Leistungsathlet und Freizeitläufer. Ich bin heute aus Überzeugung gerne Freizeitläufer und ich bin froh drum. Atmo 1 Volksfest Autor: Am Nachmittag hat Baumann noch im Auftrag einer großen Krankenversicherung Werbung betrieben, Werbung für das, was ihm nach wie ein wichtiger Teil seiner Welt ist: das Laufen. Schauplatz: ein Volksfest mit Drachenbootrennen auf der Weser. Von der Ladefläche eines LKW aus stellt er gemeinsam mit einem Moderator Quizfragen an die Schaulustigen, die sich über den prominenten Besucher freuen. Take 18 (0:15) Baumann: Eine Leichtathletikfrage, so zwischendurch: Welche Distanz misst der Marathon exakt? Autor: Ganz firm sind die Festplatzbesucher nicht in den Feinheiten der langen Strecke. Man nähert sich an, aber knapp vorbei ist auch daneben. Nach ein paar Sekunden wird die richtige Lösung gefunden: Take 19 (0:20) 42,085 ist schon fast richtig, aber falsch. 42 stimmt. - (Zwischenruf) Jawoll, hier ist sie, wunderbar...42,195. Herrlich, toll, gratuliere. Zwei Karten für heute Abend, Körner, Currywurst, Kenia. Autor: Seit 2004 berät Baumann die Krankenkasse zu Fragen der Gesundheitsprävention durch Sport. Er ist sportlicher Schirmherr der so genannten HerzKreisLÄUFE. Take 20 (0:22) Baumann: Unsere Volksläufe-Läufer, die haben ja Angebote en masse, die können überall, jeden Sonntag, jeden Samstag irgendeinen Lauf machen, von 10 km bis Halbmarathon bis Marathon. Und es gibt ja eine Vielzahl von Menschen, die gern sich sportlich betätigen würden, aber die sich ja net trauen. Die gehen da nicht hin, weil die sagen: Des kann ich ja gar net. Aber laufen kann jeder. Autor: Für die Kinder unter den Teilnehmern gibt es eine eigens von ihm entwickelte Kinderolympiade, mit Bewegungsspielen, bei denen Ausdauer, Koordination und Schnelligkeit geübt werden. Für die Großen gibt er Trainingstipps per SMS. Je nach Kondition können sich Laufeinsteiger und Fortgeschrittene spezielle Übungsprogramme aufs Handy holen. Seine eigene Rolle sieht der Olympiasieger von Barcelona bescheiden. Starallüren sind ihm fremd. Er macht mit, weil er von der Sache überzeugt ist. Take 21 (0:11) Baumann: Ich lebe davon, dass ich vorlaufe, dass ich mitmache, dass die Leute mit mir reden können, dass die erleben, Mensch, der Baumann, der ist ja eigentlich ganz normal und is ja cool, der läuft mit uns mit. Meine Aufgabe ist einfach, zu laufen. Autor: Das Quiz ist zu Ende, die Preisträger freuen sich über ihren Gewinn, Freikarten für Baumanns Kabarettprogramm. Take 22 (0:12) Moderator: Vielen Dank, Dieter Baumann, der Schirmherr unserer Veranstaltung - ja, ganz spontan, da machen wir noch ein Abschlussfoto mit unseren Paddlern - Drachenbootpaddler, alle mal hier hoch auf die Bühne, da machen wir noch schnell ein Bild zusammen... Atmo 2 (0:12) La Ola Autor: In der Rattenfängerhalle ist mittlerweile Gymnastik angesagt. Baumann animiert das Publikum zu einfachen sportlichen Übungen. Alle machen bereitwillig mit. Vom Springen geht es fast übergangslos zur leichten Kniebeuge über. Baumann gibt Kommandos. Take 23 (0:12) Baumann: Und los! Auf geht's, Freunde! Alle will ich sehen, alle will ich sehn, auf geht's Freunde. Und noch zehn! Und schneller, schneller, Tempo! Okay, Übungswechsel! Autor: Die Musik, die das improvisierte Aerobic-Programm normalerweise begleitet, fällt wegen technischer Probleme diesmal aus. Egal. Alle machen mit. Was anfangs so leicht und locker aussieht, entwickelt sich nach wenigen Minuten zum Schweiß treibenden Galopp. Die ersten Teilnehmer fangen an zu schnaufen. Baumann ist unerbittlich. Take 24 (0:17) Baumann: Und Übung Nummer 2, Übung Nummer 2, los! - Pause! - Super! Pause hemmer keine, machen wer später, weiter geht's, auf geht's! Jawohl, super so - und noch 10! Und schneller, schneller! Autor: Nach fünf Minuten erlöst der strenge Trainer sein Publikum von weiteren Anstrengungen und ruft zur Pulskontrolle. Alle prüfen brav am Handgelenk oder am der Halsschlagader, in welchem Rhythmus die Pumpe schlägt. Der höchste Puls wird prämiert. Take 25 (0:19) Baumann: 168 Puls, der höchste Puls des Abends, würde ich sagen. Ich hab n ganz tolles Geschenk mitgebracht für den höchsten Puls des Abends. Wie kann des anders sein aus meiner Hand - eine Tube Zahnpaschta! (Gelächter) Herzlichen Glückwünsch, mein Lieber! Autor: Das Publikum geht vergnügt in die Pause. Jeder im Saal versteht die Anspielung auf die Affäre, die vor gut zehn Jahren Baumanns Karriere zum Verhängnis wurde. Take 26 Baumann (0:24) Ja gut, wenn ich auf die Bühne geh und wenn ich öffentlich einen Teil meiner Karriere als Geschichte erzähle, dann darf dieser Teil natürlich nicht fehlen, das war uns klar. Die Regisseurin Carola Schwelien und ich haben uns dann überlegt, wie setzen wir's um, und ich glaube, es ist uns ganz gut gelungen, einfach das zum Thema zu machen, ne kleine Geschichte draus zu machen. Mehr erwarten die Leute auch gar nicht. Aber es ist dann doch immer so'n Aha-Effekt: Jetzt kommtse - die Zahnpasta. MUSIK Autor: Nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn als Leistungssportler wechselt Baumann in den Trainerjob. Seit 2004 ist er Vorsitzender des LAV Tübingen, ein Jahr später macht er seinen A-Schein als Trainer im Bereich Leichtathletik, Spezialdisziplin Lauf. Er sichtet Talente und betreibt - gesponsert von einem bekannten Sportartikelhersteller - eine ganzjährige Trainingsbetreuung der Athleten. Natürlich beobachtet er nach wie vor die aktuelle Leichtathletik-Szene. Zu Dopingfragen äußert er sich dabei eher zurückhaltend. Take 27 (0:26) Baumann: Wir haben Bereiche im Sport, die ganz gezielt über Grauzonen hinaus auch verbotene Dinge versuchen, machen, praktizieren. Aber ich glaube immer noch, dass wir natürlich auch viele haben, die eben nichts machen. Und ich glaube, nur anhand dieser Zahl ist es erstrebenswert, nach wie vor einen sauberen Sport zu versuchen und für einen sauberen Sport die Rahmenbedingungen zu schaffen. Autor: Das klingt sehr ausgewogen und diplomatisch. Aber was empfindet er, wenn er den Jamaikaner Usain Bolt mit offenen Schnürsenkeln und gedrosseltem Tempo zum Olympiasieg über 100 Meter sprinten sieht? Baumann war selbst Zeuge, als Bolt vor gut einem Jahr bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft im Berliner Olympiastadion seinen eigenen Weltrekord abermals um eine Zehntelsekunde verbesserte. Er gerät ins Schwärmen. Take 28 (0:35) Baumann: ...der hat überhaupt keinen Kraft-Laufstil, der läuft ohne Kraft. Der Mann ist auch nicht bullig, der Mann ist ein Ästhet, der hat nen Laufstil, der trifft sich, der ist biomechanisch perfekt. Er kommt aus dem Startblock raus, bei den Probestarts konnt man das wunderbar beobachten, wie eine Sprungfeder, das ist also nicht mehr zu erklären. Er ist einfach ein Talent, und zwar vom Körper, also der hat diesen Körper, um schnell zu laufen. Und da muss ich zunächst mal sagen, oh Freunde, jetzt müssen wir aufpassen. Weil wir glauben, dass das nicht geht, heißt das net, dass es nicht geht. Autor: In der Rattenfängerhalle ist Baumann inzwischen bei Körnern und Currywürsten angelangt. Klar, es geht um gesunde Sportlernahrung, um gesundes Leben schlechthin. Weg mit dem fettigen Leberkäse, nieder mit der nicht minder problematischen Currywurst - Körner müssen in die Schüssel, Getreidebrei, möglichst aus selbst gemahlenem Buchweizenkorn. Auch er selbst, versichert Baumann mit emsig-missionarischer Geste, bereite sich allabendlich vor dem Schlafengehen eine solche Köstlichkeit zu. Take 29 (0:23) Baumann: Meiner Frau sag ich immer: Schatz, mach dich schon mal bettfertig, ich mahl noch e bissle! Das hat auch was Erotisches, ja, so eine Mühle! Autor: Die Parodie auf Öko-Freaks und Gesundheitsapostel sorgt für reichlich Amüsement im Publikum. Dabei ist das Programm im Grunde eine szenische Umsetzung von Inhalten, die Baumann früher eher auf konventionelle Weise unter die Leute gebracht hat: mit Vorträgen, Artikeln, auf Lesereisen. Seine eigene Geschichte über Dopingbefund, Sperre und Freispruch zwang er schon vor acht Jahren unter dem Titel "Lebenslauf" zwischen zwei Buchdeckel. Erst kürzlich erschien der Band "Laufende Gedanken", eine Sammlung von Artikeln und Kolumnen, die er in der "Runners World" und der "taz" in den vergangen Jahren publiziert hat. Irgendwann hatte er die Nase voll von Powerpoint-Vorträgen und besann sich auf seinen Hang zum Geschichtenerzählen. Take 30 (0:19) Baumann: N guter Freund hat angerufen, hat gesagt, du, ich will dich für nen Vortrag haben, und dann hab ich gesagt, du, Vorträge mach ich gar nicht mehr, ich mach nur noch Kabarett. Und ich hab damit gerechnet, dass er sagt: Nee, das will ich eigentlich nicht, sondern er hat sofort gesagt: Na, dann nehm ich dich als Kabarettist. Und dann war ich unter Druck. In dem Moment hab ich eine Spirale in Gang gesetzt, die unaufhaltsam war. Autor: Seit gut einem Jahr tingelt er mit "Körner, Currywurst, Kenia" durch die Lande, vorzugsweise die baden-württembergische Provinz. Nach stotterndem Start hat die Zusammenarbeit mit einer professionellen Regisseurin dem Programm den nötigen kabarettistischen Schliff gegeben. Als Schauspieler sieht er sich nicht. Eher als Geschichtenerzähler mit Hang zur Selbstironie. Gelegentlich blitzt sogar sein Talent als Stimmenimitator auf. Etwa dann, wenn er sein Publikum auf eine akustische Reise in den afrikanischen Urwald entführt. Take 31 (0:25) Baumann: Hören Sie mal! Stimmen aus dem Urwald: Lachende Affen, Hyänen Autor: Eigentlich ist der Auftritt in Hameln improvisiert. Neben seiner Mission im Auftrag einer Krankenkasse war Baumann tags zuvor in der örtlichen Jugendstrafanstalt aufgetreten. Und zwar im Rahmen der Aktion "Jugend bewegt sich über Grenzen". Dahinter steckte ursprünglich ein Lauftraining für jugendliche Knackis, bei dem die Teilnehmer erreichen sollen, innerhalb von acht Wochen vier Kilometer am Stück zu laufen. Was als lokales Projekt begann, hat sich inzwischen zu einem bundesweiten Halbmarathonwettbewerb entwickelt. Im ersten Jahr machten 12 Anstalten mit, im zweiten 16, im dritten Jahr wurden erstmals Halbfinals fällig Take 32 (0:22) Baumann: Logistisch ein ganz schwieriges Projekt für alle Beteiligten: für die Bediensteten, für die Justizvollzugsanstalten, für die Anstaltsleiter, für die Ministerien, und ich danke wirklich allen, dass die da mitmachen, und dass die des tragen. Weil, sonst würde es des nicht geben. Und ich bin eben nur Vorläufer, ich bin nur da, klopfe allen auf die Schulter und sage: Hey Freunde, ist alles ganz Klasse, und ich lauf mit. Autor: Und zwar ehrenamtlich, wie Baumann betont. "Jugend bewegt sich über Grenzen" ist eine echte Erfolgsgeschichte, die ihn mit großer Befriedigung erfüllt. Take 33 (0:19) Baumann: Ich hatte jetzt ein wunderschönes Halbfinale in Hahnöversand, das ist eine Jugendstrafvollzugsanstalt in Hamburg. Und man muss sich das vorstellen, da kommen dann die Jugendlichen, das sind ja alles keine Läufer, das sind alles Schwerathleten, das sind alles Boxer, das sind alles Kraftathleten. Und die laufen jetzt plötzlich 4 Kilometer am Stück, und ich lauf immer alles mit. Autor: Die ersten Runden, so seine Erfahrung, laufen die sportentwöhnten Jugendlichen häufig viel zu schnell an. Bald sei dann das konditionelle Pulver verschossen, und sie müssten die Geschwindigkeit drosseln. Bei jedem Staffelwechsel werde das Tempo wieder unruhig. So auch im Halbfinale Nord von Hahnöversand. T 34 (0:31) Baumann: Irgendwann da rief einer rein: Jalla, jalla. Sozusagen, dann hab ich des identifiziert: Als ich früher lief, da waren ja viele Araber, viele Marrokaner, viele Algerier mit im Rennen, und die haben sich auch öfter im Rennen - jalla, jalla - plötzlich da neben ihm, der andere, angefeuert. Los, jetzt geht's los, zwei Runden noch. Und plötzlich war ich für eine Sekunde wieder in so einem Rennen, mitten im Knast, in Hahnöversand, war ich in einem Stadion in Nizza, und neben mir lief Hallezka (?), jalla, jalla. Autor: Eine Illusion, die freilich nicht lange anhielt. T 35 (0:09) Baumann: Zwei Sekunden später wusste ich wieder, ich bin immer noch im Knast, da sitzt immer noch der Bedienstete, und die Musik dröhnt immer noch mit AC DC, von der Musik AG aufgelegt... Musik: AC DC - Highway to Hell - Archiv-Nummer 92-33503/a (O:20) Autor: Baumann hat viele tolle Geschichten über das Laufen im Knast auf Lager. Vom übergewichtigen Knacki, der beim Training 60 Kilo abnimmt. Von der Freude der Jugendlichen, den Leerlauf des Knastalltags mit Körperarbeit und einem Wettkampf zu durchbrechen. Das Projekt findet naturgemäß weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Teilweise ist das so gewollt, schließlich gilt es, die Persönlichkeitsrechte der Anstaltsinsassen zu schützen. Aber ein Interesse der Medien sei in diesem Fall ohnehin nur begrenzt vorhanden. T 36 (0:18) Baumann: Die JVA's sind für solche erfolgreichen Geschichten bei den Medien nicht auf der Agenda. Die JVA's stehen für Geschichten wie Selbstmord, Prügeleien und Fehler. Und diesen Kreislauf medientechnisch zu durchbrechen ist immer sehr schwierig. Im April dieses Jahres erhielt Baumann für sein Projekt die Theodor- und Friederike- Ehrennadel. Eine Auszeichnung, mit der Personen geehrt werden, die sich besonders für die Fortentwicklung und Humanisierung des Strafvollzugs eingesetzt haben. Zitator: Der Lebensläufer richtet seinen Blick nicht nach hinten in die Vergangenheit. Vielmehr lebt er im Jetzt und Heute. Er setzt sich Ziele, die ihn in Bewegung halten, die am Ende die Wichtigkeit der Realisierung verlieren, weil ihm bewusst ist, dass nur der Weg dahin - tägliches Laufen - für ihn von Bedeutung ist. Lebensläufer zu sein wird damit zum Entwurf einer bestimmten Haltung. Der Haltung nämlich, das Laufen als Alltag zu begreifen und die körperliche Bewegung in diesen Alltag so zu integrieren, dass wir es - wenn überhaupt - als kleine Randerscheinung des Tages wahrnehmen. Autor: Dieser Text steht unter dem Titel "Der Traum, ein Lebensläufer zu sein" auf der gut gepflegten Homepage von Dieter Baumann. Er selbst hat sein Leben längst nach dieser Maxime ausgerichtet. Laufen, sechsmal die Woche, ist für ihn selbstverständlich. Es sind kurze Läufe, zwischen 30 und 60 Minuten. Dem "Normalo", der nur gelegentlich die Laufschuhe schnürt, dürfte diese Definition des "Lebensläufers" ein wenig fundamentalistisch erscheinen. Was ist mit all den Schwachen, den Bequemen, die bei schlechter Witterung lieber zu Hause bleiben, die in bestimmten Phasen ihres Lebens Schwierigkeiten haben, sich für körperliche Bewegung zu motivieren? Baumann baut all jenen, die das schlechte Gewissen umtreibt, eine Brücke. Take 37 (0:11) Baumann: Zu einem Lebensläufer gehört auch, dass er ne Zeitlang nicht läuft, aber dann merkt, dass ihm etwas fehlt. Und dann wieder mit Laufen beginnt. Auch des ist Lebensläufer. Autor: In der Hamelner Rattenfängerhalle wird jetzt das turbulente Finale eingeläutet. Baumann macht mit seinem Publikum einen virtuellen Spaziergang über die Frankfurter Marathonmesse. Und nimmt dabei die zweifelhaften Segnungen der Freizeit- und Sportartikelindustrie aufs Korn. Take 38 (0:12) Baumann: Was wir Freizeitläufer alles brauchen, dass wir überhaupt einen Laufschritt machen können, des is Wahnsinn. Ich mein, da ist meine Zahnpasta n Scheiß dagegen. Autor: Das fange schon mit dem Atmen an. Wer meine, einfach so atmen zu können beim Laufen, sei mächtig auf dem Holzweg. Mit einem Nasenpflaster sei man dem Laufglück ganz nahe. Er habe es ausprobiert. Sei daheim das Weinbergsträßle losgelaufen, Nase atmend. Take 39 (0:2) Baumann: (Schnaufendes Inhalieren) - das Glück kam nahe. Hinten bei nem steilen Stück war's e bissle schwieriger - (Stakkato-Schnaufen)... Autor: Zur Gaudi des Publikums verpasst er einem auf die Bühne geholten Zuschauer eine Massage mit einem Kopfmassagestab. Dann folgt ein kurzer Strip, bei dem er in aufreizender Pose die ganze Schönheit von Stützstrümpfen an behaarten männlichen Läuferbeinen demonstriert. Als letzte Errungenschaft präsentiert er die Wirkung eines so genannten "High Energy Speed Gel". Take 40 (0:21) Baumann: ...und jetzt kann die Energy speedmäßig in die Blutbahn gelangen, da geht die Energy dann speedmäßig nach unten zur Muskulatur. Unten angekommen, wird sie von den Stützstrümpfen wieder nach oben...Gelächter. Autor: Dieter Baumann ist, so scheint es, mit seiner Vergangenheit im Reinen. Elf Jahre nach den schwärzesten Ereignissen in seinem Leben kann er inzwischen spielerisch damit umgehen. Keine schlechte Selbsttherapie gegen die Folgen der immer noch mit seinem Namen verbundenen Zahnpastaaffäre. Take 43 (0:18) Baumann: Ich hab mich irgendwann entschieden: Es ist, wie es ist. Und ich hab irgendwann für mich festgestellt: Nein, ich will meine Energie in meine Zukunft, in mein Leben investieren. Autor: Ein Leben, dessen Rhythmus nicht zuletzt von einer täglichen Laufeinheit bestimmt wird. Noch immer hält Dieter Baumann die aktuellen deutschen Rekorde über 3000, 5000 und 10.000 Meter. Aber Rekorde interessieren ihn heute nicht mehr so sehr. Allerdings liebt er es nach wie vor, sich gelegentlich körperlich zu verausgaben. Take 44 (0:26) Baumann: Wenn ich immer nur locker lauf, dann fehlt mir was, nämlich, dass ich irgendwann mal richtig platt bin. Und ich finde, es ist n angenehmes Gefühl, wenn man mal so richtig schnell läuft und dann so richtig müde ist. So seine Beine spürt, körperlich spürt. Ich find ja, Sport, des ist ja körperlich spürbar, und wenn ich immer locker lauf, dann spür ich des ja net (...).Insofern: Für mich ist Laufen eher Erholung, Kraft tanken, sich sammeln - also des ist für mich Laufen. Autor: Gibt es für einen 45jährigen ehemaligen Olympiasieger noch einen Läufertraum, den er sich unbedingt erfüllen möchte? Baumann zögert keine Sekunde. Beim berühmten Einhundert- kilometerlauf in der nahen Schweiz, da will er irgendwann mal starten. Take 45 (0:14) Baumann: Ja klar. Also Biel, absolut auf der Agenda. Einmal musst du nach Biel, Läufer - einmal musst du nach Biel. Es ist so. Biel auf jeden Fall. Ich hoffe, es gibt's dann noch. Musikabspann "Make love" von der CD "Dart punk -Human after all" (EMI) 17