COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. DEUTSCHLANDRADIO KULTUR Zeitreisen 23.10.2013 19.30 Uhr Wahrheit aus Licht Wie die nahöstliche Fotografie den Orientalismus überwand Autor: Werner Bloch Redaktion: Ingo Arend Musik 1 Ägypten, 1849. Vor den Pyramiden von Gizeh stehen zwei junge Männer: der Schriftsteller Gustave Flaubert, der Stoff und Inspiration für seine Romane sucht, und sein Freund, der Fotograf Maxime du Camps. Musik kurz hoch Diese Reise wird das Bild des Orients in Europa nachhaltig verändern. 1852 erscheint in Paris der erste Fotoband der Welt, die frisch entwickelten und gerade erst von der Reise mitgebrachten Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Maxime du Camps. Die Wüste mit ihren scharfen Konturen und bizarren Sandformen, arabische Dörfer, verschleierte Frauen, Männer vor Moscheen, das dekorative Ensemble von Palmen und Kamelen - all das kannte man in Europa bisher nur vom Hörensagen, aus der Literatur und der Malerei. Wirklich vorstellen konnte man es sich nicht. (Musik weg) Jetzt liefert die Fotografie erstmals konkrete Bilder einer fremden, exotischen, fast als traumartig empfundenen Welt. Die Fotos Maxime du Camps' erscheinen als Offenbarung. Der Poet Charles Baudelaire sieht sich zu dem Gedicht "Die Reise" inspiriert: 1. O-Ton (Zitat) Wir sahen Wogenprall und heißen Wüstensand Die Pracht der Sonne auf den violetten Meeren. Die Macht der Städte, wenn die Sonne untersinkt Und Throne, übersät mit Edelsteinbehang. Paläste der Pracht und Märchenprunk, Gewändern sahen wir, ein Farbenrausch, ein Prangen. Und Frauen färbten sich die Zähne und die Hand. Musik 2: Lawrence von Arabien Das alte Europa steht Kopf. So also sieht sie aus, die mysteriöse, bis dahin verschlossene Welt des Morgenlandes. Plötzlich erscheint sie sichtbar, fühlbar. Auch dank einer technischen Revolution: erst wenige Jahre vor Flauberts und Du Maximes Abreise war eine neuartige Art der Fotografie erfunden worden: die Belichtung von Glasplatten, das sogenannte "Albumin-Verfahren". Bilder von bestechender Klarheit und Tiefenschärfe, die fast hyperreal und dreidimensional wirken. Fotos, die mit unglaublicher Räumlichkeit, fast in 3D-Qualität auf den Betrachter einzustürzen scheinen. Beladen mit solchen schweren Glasplatten reisten die ersten europäischen Fotografen auf ihren Kamelen in die Wüste. Die Fotos aus dieser Zeit sind heute viel Geld wert. Einer der bekanntesten und kenntnisreichsten Sammler ist der in Zürich, New York und Berlin lebende Thomas Walther: 2. O-Ton Das Foto zeigt Sheik Sadat, der sich ausgibt als Nachfahre Mohammeds, des Propheten. Und der Abzug hat einfach eine unsäglich gute Qualität. Der ist bitterschokoladendunkel und springt einen förmlich an. So dicht und intensiv ... Musik 1 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verleihen die Fotos dem Orient ein Gesicht. Der Ort, von dem schon die Kreuzritter berichtet hatten und in dem Jesus für die Christenheit und alle Menschen gestorben war! - hier scheint er bleibende Gestalt. Die orientalistische Fotografie schleudert den Betrachter in biblische Zeiten zurück, sie weckt die bildliche Illusion, hier habe sich im Grunde seit zweitausend Jahren nichts verändert. Ein ungeheurer Run auf die Region setzt ein: ab 1860 brechen Zigtausende Pilger, Abenteuer und Sinnsucher Richtung Orient auf - so viele, dass das englische Reisebüro Thomas Cook mit seinen Diensten nicht mehr nachkommt und in Jerusalem eine Zweigestelle eröffnet. Auf den nun entstandenen Reiserouten werden auch Fotostudios eingerichtet. Der Franzose Félix Bonfils lässt sich 1867 in Beirut nieder - mit durchschlagendem Erfolg. Für die Pilger gehören Fotos unbedingt dazu. Das Unternehmen expandiert innerhalb weniger Jahre nach Jerusalem, Baalbek, Kairo und Alexandria. Dank cleverer Marketingstrategien vertreibt Bonfils seine Fotos sogar weltweit - als Postkartenmotive. Die lange Belichtungszeit machte Fotos von bewegten Objekten damals fast unmöglich. Dafür pflegte man das Porträt: zu sehen waren Orientalen, die den Reisenden rätselhaft, weise und fremd erschienen. Es gab auch Fälle, da fotografierten sich Europäer gegenseitig: verkleidet in arabischen Gewändern - so macht Maxim du Camps auch ein Foto seines Freundes Flaubert, rauchend, im arabischen Look, eine bizarren Travestie als Laune der Reisenden. Allerdings: Es waren in der Regel immer europäische Fotografen; Bilder, die Araber selbst gemacht haben, gab es lange Zeit so gut wie nicht. Der erste arabische Fotograf war Mohammed Sadiq Bey, ein Offizier und Kartograph in Diensten der ägyptischen Armee. Er wurde als junger Mann nach Paris geschickt, erlernte dort die Kunst der Fotografie und brachte eine Kamera mit nach Hause. 1861 kommt er nach Mekka, macht die ersten Fotos dieser heiligsten aller islamischen Stätten. Christen hatten hier keinen Zugang, europäische Fotografen waren also so gut wie ausgeschlossen. Sadiq Bey nutzte sein Alleinstellungsmerkmal: Er war der erste Starfotograf der arabischen Welt und wurde hoch geehrt. Er verwaltete eine eigene Provinz, er erhielt den Rang eines Generals in der ägyptischen Armee und später sogar den Titel eines Paschas. 1902 starb er in Kairo. Doch Sadiq Bey blieb die große Ausnahme. Lange Zeit blieb die Fotografie in europäischen Händen. Gezeigt wurde der Blick auf die Araber, die vielen Völker Nordafrikas, des Maghreb und des Mashrek, und immer erschienen diese Menschen nur als Objekt des europäischen Blicks (so wie Edward Said in seinem Buch "Orientalismus" das beschrieben hat.) Es wird noch hunderte Jahre dauern, bis sich die arabische Fotografie davon emanzipiert. Was aber bedeutet die Fotografie für die Menschen im Nahen Osten selbst, die Berber und Araber, die Türken und Ägypter, die Drusen und Schiiten? Die Kuratorin Rose Issa, die in London eine der wichtigsten Galerien zur Kunst des Nahen Ostens betreibt: 3. O-Ton Früher gab es in der arabischen Welt nur eine Art von Fotografie: die von professionellen Fotografen in ihren Studios, die Familien oder einzelne Familienmitglieder ablichteten. Als künstlerisches Medium existierte die Fotografie lange Zeit nicht. Das änderte sich erst zwischen 1970 und 1980. Es gab damals viele Kriege in der arabischen Welt, viele Verluste und Zerstörungen. Kriege mit Israel, Bürgerkrieg im Libanon, Umstürze wie die Revolution im Iran. Damals kam das Gefühl auf: wir müssen unser Leben, unsere Gebäude, unsere Straßen dokumentieren, bevor sie verschwinden und zerstört werden. Plötzlich gab es da diesen Drang, eine Stadt oder ein Gebäude fotografisch festzuhalten, das Bild von Menschen zu bewahren, die einem wichtig waren - bevor jemand getötet wird oder zu Schaden kommt. Daher die Dringlichkeit des Mediums Fotografie, als Dokument und als Ergebnis der historischen Ereignisse. Musik Plötzlich boomt sie, die arabische Fotografie. Ab 1980 erscheinen immer mehr Fotos und Fotoreportagen in arabischen und iranischen Zeitungen und Magazinen. Gleichzeitig wird die Fotografie aber auch erstmals als eigenständige Kunst empfunden, nachdem sie im Orient noch vor allem als Technik gegolten hatte. Und sie emanzipiert sich von der journalistischen Berichterstattung. Dabei fühlte sich kaum einer der neuen Fotokünstler und -künstlerinnen im Nahen Osten schon immer dazu berufen. Manchmal werden Fotografen fast in die Kunst hineingezwungen, wie zum Beispiel die 31-jährige Newsha Tawokolian aus Teheran. Sie begann mit 16 als Fotoreporterin, erst für lokale, dann für internationale Medien. Sie wurde berühmt, erhält Preise. Zunehmend waren ihre kritischen Fotos den Ayatollahs ein Dorn im Auge. Schließlich bekam sie sogar Berufsverbot - und wurde Künstlerin. 4. O-Ton Ich sollte 2006 in Teheran für Time Magazine eine Demonstration fotografieren, eine langweilige Propagandaveranstaltung der Regierung für die Atomkraft. Ich wollte mich da nicht benutzen lassen und sagte meinen Auftrag ab. Stattdessen ging ich auf den nahegelegenen Friedhof von Teheran, einen der größten Friedhöfe der Welt. Dort traf ich auf eine Gruppe alter Frauen, die große Porträts ihrer Söhne in der Hand hielten. Diese jungen Männer waren im Iran-Irak-Krieg gefallen. Und jetzt, dreißig Jahre später, saßen da diese alten Mütter mit ihren Fotos. Ich fotografierte sie mit den Porträts der Söhne und dachte: Was für eine Schande! Meine junge Generation hat diese Männer, die für uns alle gefallen sind, völlig vergessen. Wir überlassen das Gedenken an sie sogar der Islamischen Republik, die es gezielt für Propagandazwecke missbraucht. Ich will mit meinen Fotos eine andere, eine persönliche Geschichte über die Trauer in unserem Land erzählen. Story telling, Geschichten erzählen - das ist ein wesentliches Merkmal der neuen Fotografie aus Nahost. Und diese Geschichten sind voller Überraschungen, wie das Beispiel Saudi-Arabien zeigt. Musik In Saudi-Arabien hat sich in den letzten zehn Jahren eine hoch spannende Gegenwartskunst gebildet. Unter dem Gruppennamen "Edge of Arabia" snd diese Künstler in Rekordzeit auch international bekannt geworden. Die Fotografie spielt dabei eine Schlüsselrolle. Zwar gilt Saudi-Arabien als das abgeschottetste und reaktionärste Land der arabischen Welt. Frauen dürfen ohne Begleitung ihres Vaters, Bruders oder Onkels niemals das Haus verlassen. Jedes Mädchen, jede Ehefrau, jede Großmutter steht 24 Stunden am Tag unter der Obhut und Bewachung eines Mannes. Musik kurz hoch, dann weiter. Doch ausgerechnet in diesem erzkonservativen Staat schlägt die einundvierzigjährige Künstlerin Manal al-Dowayan Funken für eine Revolution. Sie zeigt Fotos von verschleierten saudischen Frauen am Lenkrad - ein Tabu, denn Frauen dürfen hier bekanntermaßen kein Auto fahren. Manal al-Dowayan, eine sehr lebendige, sensible, aber auch kämpferische Frau, präsentiert Fotos, die die verbissen-patriarchalische Gesellschaft ins Wanken bringen - wenn schon nicht in der Politik, so doch (gewissermaßen als Vorgeschmack) schon einmal in der Kunst. Sie zeigt eine Fotoserie von Frauen mit dem programmatischen Titel "I am" - "Ich bin". 5. O-Ton Ich zeige eine Porträtserie von Frauen aus Saudi-Arabien, die beruflich erfolgreich sind. Zwar haben nur 3 Prozent der Frauen in unserem Land überhaupt einen Job. Doch es gibt bei uns Ingenieurinnen, Informatikerinnen und Angestellte aus der Öl- Industrie. Ich habe diese Frauen gebeten, für mich zu posieren. Ein Schwarz-Weiß- Foto zeigt eine Professorin, die eine Tafel halb vor ihr Gesicht hält. Darauf steht immer und immer wieder der Satz: "Wissen ist Licht, Unwissenheit ist Dunkelheit." Eine eindeutige, radikale Kampfansage an die religiösen Hardliner ihres Landes. Manal al-Dowayan ist eine außergewöhnliche Künstlerin. Ihr fotografisches und ihr soziales Engagement gehen Hand in Hand. Sie reist durchs Land, gibt Workshops für Frauen und bringt ihnen das Fotografieren bei - zugleich diskutiert sie mit ihnen über Freiheit und Unterdrückung. Man müsste annehmen, Manal al-Dowayan lebe gefährlich - doch nach eigener Aussage hat sie nie Probleme bekommen. Ein Beweis, so sagt sie, dass selbst in Saudi-Arabien Fortschritt möglich sei. Musik Der außergewöhnlichste Künstler Saudi-Arabiens ist Ahmed Mater - ein Mann, der bis vor kurzem noch als Arzt nahe Dschedda gearbeitet hat und nun Künstler geworden ist. Ahmed Mater ist Poet und Philosoph, Fotograf und politscher Kritiker in einem. Er lichtet die Realität der Stadt Mekka in hyperrealen, überdimensionierten Bildern ab - und was er zeigt, ist erschreckend. Denn Mekka ist längst nicht mehr das, was man sich darunter vorstellt. Aus der heiligsten Stadt des Islams, dem Weltzentrum und Hauptwirkungsort Mohammeds ist die Spiritualität weitgehend vertrieben worden. Die Stadt wirkt heute rücksichtslos verschandelt und kommerzialisiert. Ahmed Mater ist der erste, der dies in seinen Fotos massiv anprangert. 6. O-Ton: Ich habe in meiner Kunst schon öfter die Verhältnisse in Saudi-Arabien kritisiert. Aber diese Zerstörungen ärgern mich maßlos. Sie sind Verrat an der Geschichte und Verrat am Islam. Ich habe mir selbst den Auftrag erteilt, die Veränderungen in Mekka aufzuzeichnen und für alle offenzulegen. Was dabei herauskommt, weiß ich noch nicht. Aber die Geschichtsbeseitigung in Saudi-Arabien muss angeprangert werden - auch mit den Mitteln der Kunst. Ahmed Mater führt diese Zerstörungen durch den Kommerz in riesigen, Gursky- artigen Gemälden vor Augen - und in der Tat lässt er seine Bilder in Düsseldorfer Fotostudios produzieren. Mekka, so sehen wir, ist zur gigantischen Shopping-Mall verkommen, das Geld beherrscht alles. Nur wenige Meter entfernt von der Al Haram- Moschee, dem geistlichen Zentrum Mekkas, bohrt sich das volumenmäßig größte Gebäude der Welt in den Himmel, umgeben von einem Wald von Baukränen, das Fairmont Hotel - eine 5-Sterne-Luxus-Bleibe für den superreichen Pilger, mit direktem Blick auf das Allerheiligste, nur 30 Meter Luftlinie entfernt. 7. O-Ton Schauen Sie nur, dort die neuesten Zerstörungen. Die alten ottomanischen Bögen, die die Haram-Moschee umgeben - sie wurden teilweise abgerissen, man sieht da unten noch die Ruinen. Auf den offiziellen Fotos von Mekka werden die Zerstörungen kaschiert; dort wird die ottomanische Architektur per Fotoshop wieder hinzugefügt, als habe sich nichts geändert. Das ist Betrug. Ahmed Mater deckt all das auf. Medien aus aller Welt interessieren sich inzwischen für ihn, der noch bis vor kurzem Mediziner war und seine Künstlerkarriere mit der Bearbeitung von Röntgenbildern aus seinem Krankenhaus begann. Ahmed Mater kann sein Glück kaum fassen. Er erzielt Höchstpreise zum Beispiel bei der Art Dubai, bei der bedeutendsten Messe der arabischen Welt. Seine Fotos sind alarmierend - unsere Nachrichten berichten ja in der Regel wenig über Mekka und seine Zerstörungen. Maters Bilder erzielen nicht nur bei Moslems Aufmerksamkeit, sondern bei allen Menschen, denen Kulturerbe etwas bedeutet. Musik Was aber ist aus dem Erbe des Orientalismus geworden, der großen orientalistischen Fotografie? Sicher, es gibt Künstler wie Ahmed Mater, die die Fotografie aus ihren orientalistischen Klischees befreit haben, die sie als Instrument der gesellschaftlichen und poetischen Kritik einsetzen. Und es gibt Künstler, die sich über die orientalistischen Klischees lustig machen. In diesem Sinne ist es schon fast ein Protestfoto, wenn sich die palästinensische Künstlerin Raeda Saadeh auf einem Diwan rekelt und sich in dieser Pose selbst fotografiert - nur mit etwas Zeitungspapier bekleidet. Dies ist genau die Haltung, in der orientalistische Fotografen ihre Modelle ablichteten. Häufig waren das Prostituierte, denn normale Dorf- oder Stadtbewohner ließen sich nicht von den Fremden ansprechen. Die Fotokünstlerin Raeda Saadeh zeigt sich nun als eine Art Cindy Sherman der arabischen Welt. Sie bedient einen historischen Voyeurismus, der den Betrachter auf sich selbst zurückwirft. Doch der westliche Blick auf den Orient ist immer noch problematisch. Der Westen sieht den Orient vielfach in zwei Extremen. Entweder als begehrenswertes Abbild einer sinnlichen, exotischen, verführerischen Welt, wie es das orientalistische Klischee nahelegt - oder aber als Feindbild, nach 9/11: als Heimstatt des Terrorismus, als gigantisches Terrorcamp in der Wüste. Musik Im Golfkrieg 1991 versuchten amerikanische Militärs mit Hilfe von CNN der Welt erfolgreich einzureden, es gebe "chirurgische Schläge" gegen den Irak. Voraussetzung dafür ist die genau so alte wie falsche Vorstellung, der Orient sei leer, eine weitgehend unbewohnte Wüste. Das tradierte Bild des Orients, die Fotos von Maxime du Camps, spielen dabei immer noch eine Rolle - ebenso wie die militärischen Fotos, die die US-Armee den Medien zur Verfügung stellt. Wie wir heute wissen, zeigten sie ein völlig falsches, verharmlosendes Bild des ersten Golfkriegs. "Chirurgische Schläge" sind unmöglich, die heutige Kriegsführung ist nicht weniger brutal und grausam als die Kriege der Vergangenheit. Wenn heute darüber debattiert wird, ob etwa Israel den Iran angreifen darf, weil dieser an der nuklearen Bombe arbeitet, dann wird das wieder mit Fotos demonstriert, mit Bildern, die die Geheimdienste zur Verfügung stellen. Dass Israel selbst nicht nur die Atombombe besitzt, sondern davon gleich zweihundert, genug also für ein globales Armageddon, davon werden keine Beweisfotos gezeigt. Die iranische Fotografin Haleh Anvari widmet sich genau diesem Aspekt des Nahostkonflikts - und den Fotos, die darin gezielt eingesetzt werden. 8. O-Ton My name is Haleh. I am Iranien. I am liberal, I am woman, I am citizen. Haleh Anvari stellt sich selbst als iranische Frau, als Tochter, Mutter, Bürgerin, als Muslimin in den Mittelpunkt einer Performance mit dem Titel "The Power of Cliché". Ihr geht es um die Macht der Bilder im sogenannten "Clash of Civilizations", den Samuel Huntington beschrieb - und den er als westliche Gebrauchsanweisung für das 21. Jahrhundert fast sehnsuchtsvoll herbeibeschwor. Stereotypen von Menschen und Kulturen, ideal vermittelt über die Fotografie, können auch zur Vorbereitung eines Genozids dienen, wie der Holocaust eindrucksvoll gezeigt hat. Und sie entscheiden, auf einer unbewussten und kaum reflektierten Ebene, mit über Krieg und Frieden. 9. O-Ton Jedes Land, jede Kultur hat ihre Symbole, Wahrzeichen, Klischees. Der Eiffelturm ist das Symbol Frankreichs. Aber das Wahrzeichen des Iran sind keine Bauwerke, sondern Menschen: die Frauen in ihren schwarzen Tschadoren. Das ist das Lieblingsbild der westlichen Medien - und zugleich der religiösen Herrscher im Iran. Beide Seiten sehen mich als eine anonyme Masse, als einen monolithischen schwarzen Turm. Beide Seiten benutzen mich als Ikone für den Kampf der Kulturen. Die einen wollen angeblich meine Seele schützen, die anderen wollen mich angeblich befreien. Sie zeigen mich, mein Bild, in seiner ganzen Schwärze, im Fernsehen, in Büchern und in Magazinen. In ihrer Kunst entwickelt Haleh Anvari Alternativen zur trostlosen Welt der schwarzen Tschadore. Sie attackiert die religiöse Tristesse der Ayatollahs mit bunten, wilden, hippen Schleiern. Sie schickt ihre Freundinnen in die Wüste, bekleidet mit dem wunderbaren, farbenfrohen Material der persischen Tücher und fotografiert sie - fantastische Bilder von großer Leichtigkeit. Musik Dann aber schickt sie ihre alternativen Tschadore auf Reisen. Am Ende steht sie selbst, bekleidet in einem gelben und blauen Tschador, auf dem Heldenfriedhof von Arlington. Ihr Tschador ist mit Peace-Zeichen übersät, die Frau steht mit dem Rücken zum Objektiv und schaut auf das Gräberfeld der amerikanischen Soldaten. "Do you want peace?" - "Wollt ihr Frieden?" Diese Frage stellt sie stumm und doch mit der ganzen Wucht dieses Bildes. Musik hoch, dann weiter unterlegen Die Fotografie, auch die Kunstfotografie, ist niemals unschuldig. Deshalb ist die Fotografie vielleicht die Kunst mit der größten Verantwortung. Die arabischen Künstler, die unter dem Druck der Ereignisse in ihrer Region neue Wege gehen, zeigen große Kunst - sie geht über die ästhetische Originalität hinaus, und ihr Werk wird Einfluss nehmen auf die Wirklichkeit. Sie helfen uns, den Nahen Osten neu zu sehen - so wie er ist, jenseits des Orientalismus. Die Fotokünstler der Gegenwart weisen diesen Weg. Musik Und doch geschieht etwas Erstaunliches. In dem Maße, wie wir ihn bereits überwunden geglaubt hatten, kehren die Bilder der Orientalismus zurück. Die Fotos, die man noch einigen Jahren achtlos auf Pariser Flohmärkten fand - ihr Wert scheint erst jetzt voll erkannt. Zumindest, wenn man den Kunstmarkt als Maßstab nimmt. Insofern boomt die orientalistische Fotokunst - gerade jetzt. Inzwischen hat sie das Odium der Einseitigkeit verloren, des überheblichen westlichen Blicks, in dem die Orientalen nur Statisten und Objekte sind. Heutzutage empfinden junge Araber wie die saudische Künstlerin Hala Ali die europäischen Fotos des 19. Jahrhunderts als gelungene Bezeugungen der eigenen Geschichte. 10. O-Ton Ich bin fasziniert, wie weit die Fotografie damals schon fortgeschritten war. Ich hätte nicht gedacht, dass es damals schon so künstlerische Fotos gab. Die Komposition, der goldene Schnitt, den man auf vielen Bildern findet. Der Blick der Fotografen auf die porträtierten Araber ist doch keineswegs von oben herab. Im Gegenteil, er erzählt von Neugier und Bewunderung. Nichts daran ist negativ. Auch in den arabischen Ländern verfügt die orientalistische Fotografie inzwischen über ein hohes Prestige. Manche Emirate wie das heutige Sharjah oder Dubai kommen auf diesen Fotos kaum vor - die Reiserouten der orientalistischen Fotografen führten hier nicht vorbei. Und doch wird gerade dort viel orientalistische Kunst gekauft - um sich gleichsam mit diesen Fotos ein historisches Erbe selbst zu schaffen, zu erfinden, das es in diesen Ländern nie gab. 11. O-Ton Das Foto dient zur eigenen und zur nationalen Identitätsstiftung, zur Aneignung von Geschichte. Oder zur individuellen Erfahrung der Welt - wie es der Sammler Thomas Walther sieht. 12. O-Ton Was spiegelt besser die Welt wider als alte Fotos? Man lernt enorm viel über die Vergangenheit, über die Geschichte, über Gebräuche, über Sitten, über Kostüme, die Art und Weise wie die Welt aussah vor 100 Jahren, sogar vor 150 Jahren. Kein anderes Dokument hat sich so authentisch erhalten über die Zeit als Fotografie. 1