KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Ko Titel der Sendung : "Archiv eines Vielschreibers " Roberto Bolanos Nachlass spaltet die literarische Welt Autorin : Katharina Teutsch Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 25.06.2013 Besetzung : Sprecherin (Kommentar), Zitator, Zitatorin (Zitat Lopez und VO V. Miles), Sprecher (VO Herralde) Regie : Produktion : O-Töne, Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Autorin: Katharina Teutsch Redaktion: Deutschlandradio Kultur, Literatur Redakteurin: Dorothea Westphal BESETZUNG 1) Sprecherin 2) Zitator 3) Zitatorin (1 Mal für Stimme Carolina Lopéz) und Voice-over (für Valerie Miles) 4) Sprecher Voice over: Jorge Herralde Gestaltungsvorschläge: Es gibt eine Playlist mit Musiktiteln, die Bolaño in seinen Tagebüchern erwähnt, auf der Website des CCCB in Barcelona. Aber da es keinen unmittelbaren Bezug zwischen der Musik und im Feature zitierten Aussagen oder Textausschnitten Bolaños gibt, macht es für den Hörer eigentlich keinen Unterschied, ob man etwas aus der Liste benutzt für die Gestaltung oder nicht. Eine Melodie, die sich ein wenig leitmotivisch durch das Feature zieht, wäre aber wahrscheinlich dennoch sehr schön. Archiv eines Vielschreibers Roberto Bolaño spaltet die literarische Welt Atmo Evtl. atmosphärisch mit dem Thema Grusel-Villa spielen (Wind, Musik etc.) Evtl. auch typische Lesungsgeräusche MUSIK Zitator "Vor einiger Zeit war ich in Berlin zu einer Lesung aus meinem Buch Die Naziliteratur in Amerika. ... Ich war in einem riesigen Herrenhaus am Wannsee untergebracht, dem See in einem Vorort Berlins, wo sich Heinrich von Kleist 1811 das Leben nahm, zusammen mit der bedauernswerten Henriette Vogel, die tatsächlich wie ein Vogel war, aber ein hässlicher, stiller Vogel, einer jener Vögel, die, ohne die Flügel ausbreiten zu müssen, an den Pforten der Finsternis, zum Unbekannten sitzen." Sprecherin Im Sommer 1999 folgt der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño einer Einladung des Literarischen Colloquiums Berlin. Das sogenannte LCB befindet sich vor den Toren der Stadt in einer Villa unmittelbar am See gelegen. Heinrich von Berenberg, Bolaños deutscher Entdecker und sein erster deutscher Übersetzer, erinnert sich. O-Ton_1 Berenberg Also, er ist gekommen, und wir haben zu Abend gegessen bei uns zuhause. Und dann hat er gesagt, ich übernachte nicht bei euch, sondern ich übernachte in einem Haus am See - das ist ganz toll, das LCB, da haben sie mich eingeladen. Das muss irgendwie ein tolles Haus sein, ein Haus mit Schriftstellern und so was und lauter Gespräche abends und so was. Muss irgendwie sehr schön sein. Freut er sich drauf. Zitator "Das Gebäude war von gewaltigen Ausmaßen. In einem Saal hingen Fahnen von der Decke ..., in einem anderen stand ein mächtiger Tisch, im nächsten gar nichts, außer einer riesigen schmiedeeisernen Lampe, die sich aber nicht einschalten ließ, Gänge führten in alle Richtungen, Schatten huschten über die hohen Wände, Treppen verloren sich im Nirgendwo." O-Ton_2 Berenberg Es war stockfinster, es war niemand da, und dann sind wir da durch diese Säle geirrt, und dann sind wir die Treppe hoch. Und dann haben wir das Zimmer gefunden, haben aufgeschlossen und das Licht angemacht, und es war tatsächlich - es waren alle Wände über und über mit Mücken bedeckt. Zitator "Beunruhigt lief ich hinaus, um jemanden um ein Anti-Mücken-Spray zu bitten, und jetzt machte ich die Entdeckung, dass ich mutterseelenallein war in diesem gewaltigen Herrenhaus am See." O-Ton_3 Berenberg Ich habe es gesehen. Das war wie aus einem seiner Bücher. Er hat sich natürlich dann vorgestellt - das hat mir sehr gefallen - dass er dann in der Nacht davon geträumt hat oder, ich glaube, er hat dann aus dem Fenster geguckt und hat diese Vision gehabt, dass da unten am Wannsee Henriette Vogel und Heinrich von Kleist irgendwie in einem Mückenschwarm Tango tanzen. Es war wirklich eine phantastische Begegnung. MUSIK Sprecherin Roberto Bolaño ist vor zehn Jahren im spanischen Exil gestorben. Er wurde nur fünfzig Jahre alt. In seinem Werk hatte er die Epigonen des magischen Realismus verhöhnt und die Strategen des lateinamerikanischen Literaturbetriebs: Bestseller-Autoren wie Isabel Allende oder Paulo Coelho mit ihren kitschigen oder esoterischen Romanen. Er selbst hatte in jungen Jahren alles aus dem weltliterarischen Kanon verschlungen - aber auch alles jenseits des Kanons: Science Fiction, Militärliteratur, Comics. Ein erster internationaler Durchbruch gelang ihm erst 1996 mit dem Roman Die Naziliteratur in Amerika, in dem Bolaño dreißig Biografien auf dem amerikanischen Kontinent lebender fiktiver Nazi-Schriftsteller entwirft und hochkomisch in Szene setzt. Es folgte kurz darauf ein weiterer Roman, der erstmals bei dem renommierten spanischen Verlag Anagrama, in Bolaños späterem Hausverlag also, erschien. Sein Verleger Jorge Herralde: O-Ton_4 Herralde Il m'a dit précisément je suis en train de finir un roman. Il me l'a porté deux semaines après, et c'était una novella, un roman bref, Estrella distante. C'ètait une merveille, c'était un petit texte mais le plus abouti de toute sa production. Sprecher VO Er erzählte mir, dass er gerade dabei sei, einen Roman zu beenden. Er hat ihn mir dann zwei Wochen später vorbeigebracht: eine Novelle, ein Kurzroman, er hieß Stern in der Ferne, und er war ein Wunder! Ein kleiner Text, jedoch das Vollendetste seiner gesamten Produktion. Sprecherin Der Roman Stern in der Ferne erzählte von einem Pinochet-Schergen, der seine Folteropfer fotografiert und, indem er diese Folter-Fotos ausstellt, obszöne Kunstaktionen daraus macht. Es handelte sich um die Weiterentwicklung eines Kapitels aus Die Naziliteratur in Amerika. Bolaño sollte diese Methode, Motive und Charaktere in späteren Büchern fortzuschreiben, bald perfektionieren. Viele Figuren trifft man im Laufe des Werks immer wieder. O-Ton_5 Herralde Nous l'avons baptisé avec Ignacio Echevarría comme "littérature fractale". C'était prendre un des personnages les plus intéressants de La literatura nazi en América et il a fait une "expanded version" avec d'autres personnages, un autre plot etc. Sprecher VO Der Kritiker Ignacio Echevarría und ich, wir haben das "fraktale Literatur" genannt. Man nimmt eine Figur aus Die Naziliteratur in Amerika und macht daraus eine erweiterte Version - fügt Figuren hinzu, ändert den Plot usw. Sprecherin Das Ergebnis: O-Ton_6 Herralde Et Estrella distante a eu un très bon acceuil parmi les happy few. Avec des très bons critiques, des ventes de milles exemplaires seulement, mais il a commencé une réputation lentement. Ça c'est une liste des auteurs avec dix ou plus plus de titres à Anagrama. Et alors une de ces obsession c'était être dans cette liste. Et pour ça il avait décidé de façon programmatique chaque année au moins un livre chez Anagrama. Et il a fait. Sprecher VO Stern in der Ferne ist sehr gut aufgenommen worden von den damaligen "happy few". Der Roman bekam sehr gute Kritiken, aber die Verkäufe lagen nur bei etwa tausend Exemplaren. Doch es begann sich langsam herumzusprechen. Heute gehört Bolaño zu den Autoren, die mehr als zehn Bücher bei Anagrama veröffentlicht haben. Er hatte es sich vorgenommen: Jedes Jahr ein Buch bei uns. Und er hat sich dran gehalten! Sprecherin Gleich zwei wichtige Literaturpreise der spanischsprachigen Welt, den Premio Herralde und den Premio Rómulo Gallegos, gewann Roberto Bolaño im Jahr 1998 für seinen Roman Die wilden Detektive. Er hatte jahrelang als Campingplatzwächter gearbeitet. Und auf einmal galt er als die neue Stimme Lateinamerikas. Besonders lange konnte er von dieser Sonderstellung nicht profitieren. Er starb am 14. Juli 2003 in Barcelona, während er auf eine Lebertransplantation wartete. Roberto Bolaño hinterließ eine Frau, zwei Kinder - und wie kürzlich eine Ausstellung in Barcelona zeigte: unzählige Manuskripte, Zeichnungen und eine beeindruckend heterogene Bibliothek. Alles befindet sich zurzeit noch im Privathaus von Bolaños Witwe, und die bewacht den Nachlass mit Argusaugen. Kaum jemand hatte je Zugang zu den Hinterlassenschaften ihres Mannes. Eine Ausnahme ist Valerie Miles. Sie hatte Teile des Archivs zusammen mit Carolina Lopéz erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht: O-Ton_7 Miles Well, the idea for the exhibition was Carolinas idea. She thought it would be a good idea for the 10th anniversary of Bolaños death to give a little something to the readers that would offer a glimpse into his wriderly world. I had been spending some time with her, helping through reading the archive, looking through some of the materials in the archive and through this kind of first evaluation. And is a very superficial kind of reading process. But at least there was kind of a first idea of the type of materials that where there and classified. Zitatorin VO Also die Idee zur Ausstellung stammte von Carolina. Sie wollte den Lesern zehn Jahre nach Bolaños Tod einen ersten Blick in seinen Schreibkosmos ermöglichen. Ich habe daraufhin viel Zeit mit ihr verbracht, habe ihr geholfen, das vorhandene Material zu sichten und eine erste Einschätzung vorzunehmen. Das war natürlich nur ein oberflächlicher Leseprozess. Aber er hat uns doch eine erste Idee von dem vorhandenen Material gegeben: wo es gefunden wurde nach Bolaños Tod, wie es klassifiziert war. Sprecherin Doch diese erste Sichtung verlief nicht ohne Schwierigkeiten: Denn obwohl Bolaños Bibliothek, sein Computer sowie alle Manuskripte, Tagebücher und Korrespondenzen, die Bolaño mehr oder weniger geordnet hinterlassen hat, von Carolina Lopéz verwahrt werden, fühlen sich noch andere Personen zu Nachlassverwaltern berufen: Weggefährten aus seiner avantgardistischen Phase in Mexiko zum Beispiel, aber auch künstlerische Freunde aus Barcelona, seine Familie, sein spanischer Verleger. Alle hatten mit dem Schriftsteller Bolaño zu Lebzeiten zu tun und stellen posthum auf einmal Ansprüche in Sachen Herausgeberschaft, Nachlassbetreuung und Werkdeutung. Atmo Akustischer Trenner (oder so etwas Ähnliches kurz einführen, dann im Text weiterverwenden) Sprecherin Da wäre an vorderster Front Jorge Herralde zu nennen, Bolaños langjähriger Verleger und Chef des katalanischen Verlagshauses Anagrama. Trenner Dessen Gewährsmann in Sachen Nachlass war in den Jahren nach Bolaños Tod Ignacio Echevarría, ein in Spanien einflussreicher Kritiker und Bolaños zeitweiliger Herausgeber. Bis es zum Bruch mit der Witwe kam: Echevarría hatte sich in einer editorischen Frage auf die Seite einer Nebenfrau Bolaños geschlagen. Trenner In weiteren Rollen: die in Spanien einflussreiche Agentur Carmen Balcells, die literarische Größen wie Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa vertritt. Trenner Carmen Balcells transatlantischer Gegenpart brachte die spanische Verlagswelt auf Trapp, genauer gesagt: ein amerikanischer Agent, der sich wenige Jahre nach Bolaños Tod die Weltrechte an seinem Lieblingsautor sicherte. In der Verlagsbranche nennen sie ihn den Schakal. Sein bürgerlicher Name: Andrew Wylie. Der Skandal aus spanischer Sicht: Dass Carolina Lopéz die Weltrechte am Werk ihres Mannes nach New York verkauft hatte. Verleger Jorge Herralde muss seitdem, wie übrigens alle Bolaño-Verleger weltweit, horrende Summen an Bolaños Agenten zahlen, um die Bücher aus dem Nachlass veröffentlichen zu dürfen. Trenner Zu guter Letzt in dieser Nachlass-Schlacht wäre die aus den USA stammende Verlegerin und Kuratorin Valerie Miles zu nennen. Sie genießt im Moment als eine von Wenigen das Vertrauen von Bolaños Witwe. Trenner O-Ton_8 Herralde Tous les amis d'Ignacio Echevarría et moi nous sommes sur le mauvais côté. Il y a prèsque huit ans que je ne parle pas avec elle. C'est tout à travers de Wylie, qui ne lis pas l'Espagnole ce qui est une chose un peu anormal aussi. Sprecher VO Alle Freunde von Echevarría und ich, wir gehören der bösen Seite an. Seit fast acht Jahren spreche ich nicht mehr mit Carolina. Das läuft jetzt alles über Wylie, der selbst kein Spanisch liest, was an sich schon eine ziemlich merkwürdige Sache ist. Sprecherin Der Streit um Roberto Bolaños Nachlass hat mehr als anekdotischen Charakter. Da die wichtigsten Bücher des gebürtigen Chilenen nach seinem Tod erschienen sind und weiterhin erscheinen, geht es grundsätzlich um die Frage: Was hätte der Autor sich gewünscht? Die Antwort lautet: Ganz genau wissen wir es nicht. In einem Fall haben sich Bolaños Erben sogar einem seiner Wünsche widersetzt. Sein vielleicht wichtigster Roman, 2666, besteht aus fünf Teilen. Sein Autor wusste, dass er die Veröffentlichung nicht mehr erleben würde und wollte, dass diese Teile einzeln erscheinen. Er hoffte, damit seiner Familie die Existenz zu sichern. Doch Bolaño hatte ein Meisterwerk geschaffen, dessen fünf Teile zusammen gehören. Carolina Lopéz, die damals noch mit dem Kritiker Ingnacio Echevarría kooperierte, entschied sich also für eine geschlossene Herausgabe. Die Entscheidung wurde von der Literaturkritik einhellig gefeiert. Weniger einig ist man sich heute beispielsweise über den Wert des zuletzt erschienenen Romans Die Nöte des wahren Polizisten. O-Ton_9 Herralde "Los sinsabores del verdadero policía" ce sont des fragments qu'on a publié a travers Andrew Wylie qui est son agent maintenant et ce sont des textes très bons mais c'est pas un roman. Sprecher VO Die Nöte des wahren Polizisten - das sind Fragmente, die wir Andrew Wylie, Bolaños jetzigem Agenten, abgekauft und gedruckt haben. Es handelt sich um sehr gute Texte, aber es handelt sich nicht um einen geschlossenen Roman. Sprecherin Valerie Miles und Carolina Lopéz sehen das natürlich anders. Im Nachwort zu "Die Nöte des wahren Polizisten" schreibt Carolina Lopéz: Zitatorin "Die Nöte des wahren Polizisten ist ein Roman, dessen Teile in ungleichem Maße abgeschlossen sind, mag die Überarbeitung auch weit vorangeschritten sein, denn sämtliche Kapitel wurden zunächst handschriftlich verfasst, dann mit der elektrischen Schreibmaschine transkribiert, viele von ihnen, nahezu die Hälfte, anschließend in einem Computer überarbeitet, wie aus Roberto Bolaños Archiven hervorgeht. Mehrere ebenfalls in diesem Archiv abgelegte Dokumente belegen, dass es sich um ein Romanprojekt handelt, das Anfang der achtziger Jahre begonnen und kontinuierlich, bis ins Jahr 2003, verfolgt wurde." O-Ton_11 Miles His writing method is that he would write and then he would very meticulously go through this process of rewriting, breaking something apart, writing it into columns, almost like an exercise in style, put it into prose, putting it back in poetry, playing it around until he found the way he wanted to use it. And then he would put it into one narrative, change a name and put it into another narrative and maybe just change the place or change the dates or something. But anytime he would kind of throw it back into the stew. And so Los sinsasbores was the next project he had been working on it for a very long time. And the other, 2666 and the other novels, came out of Los sinsasbores, kind of like a stem. Zitatorin VO Man muss sich seine Schreibmethode so vorstellen: Er schrieb etwas, ging dann erneut drüber, überschrieb Dinge, brach den Text in Teile auf - ein bisschen wie bei einer Stilübung. Er verfasste etwas in Prosa, dann nochmal in Poesie, spielte damit herum, bis er die richtige Form für das, was er ausdrücken wollte, gefunden hatte. Er änderte einen Namen, änderte einen Ort und ein Datum, fing von vorne an. Jedes Mal warf er dabei seine Versatzstücke zurück in den großen Ideen-Eintopf. An den Nöten des wahren Polizisten hatte er viele Jahre gearbeitet. Die ganzen anderen Romane sind quasi daraus erwachsen. Atmo Musikalische Zäsur Sprecherin Wenn das stimmt, dann wären Die Nöte des wahren Polizisten tatsächlich so etwas wie der Ursprung seines gesamten Werks. Bolaño entwirft viele seiner Figuren darin zum ersten Mal, um sie in späteren Texten dann virtuos weiterzuentwickeln. So taucht bereits hier der Schriftsteller Archimboldi aus 2666 auf: diesmal nicht als Wehrmachtsoldat, sondern als französischer Avantgardist. In einem seiner fiktiven Romane geht es um einen Verlagslektor, der nachts träumt, die vielen Manuskripte in seinem Büro würden sein eigenes unveröffentlichtes Manuskript sexuell drangsalieren. Zitator "Sie sodomisieren es, vergewaltigen es oral und genital, kommen in seinem Haar, in seinem Hals, in seinen Ohren, unter seinen Achseln etc., aber als der Morgen anbricht, ist sein Manuskript nicht geschwängert, es ist unfruchtbar." Sprecherin Vielleicht sind solche Bibliophilenalpträume der Schlüssel zu Roberto Bolaños Werk. Wenn man sich den nachgelassenen Texten nämlich mit der Vorstellung nähert, dass Bücher mit anderen Büchern schwanger gehen können, dass sie kleine Ableger ihrer selbst gebären in Form von Metaphern, Motiven und Gattungszitaten, dann kommt man Bolaños Textfamilie schon recht nah. Christian Hansen ist ihr zweiter deutscher Übersetzer. O-Ton_12 Hansen Also seine Kategorie ist die des Leser-Komplizens. Es lässt sich anhand eines großen Romans von Cortázar relativ leicht beschreiben. Rayuela. Ein Roman, der hierzulande schon so ganz langsam in Vergessenheit geriet. Zu meiner Zeit, in den achtziger Jahren, war das Pflichtlektüre für Leute, die so ein bisschen avanciertere Sachen lesen wollten. Das ist ein offener Roman, ein totaler Roman. Schließt sich eigentlich aus. Totalität ist Ganzheit. Offenheit ist eigentlich keine Ganzheit. Die Art von Literatur, die da versucht wird, ist eine, die durch die Totalität zur Offenheit gelangen möchte, das heißt: die Totalität zwischen zwei Buchdeckeln hat keinen Platz. Die gesamte Welt passt in ein Buch nicht hinein. Was mache ich? Ich gestalte die Sache so offen, dass überall Anknüpfungspunkte, überall Öffnungen nach Außen, überall Raum für das Ganze bleibt. Ich schließe sozusagen den narrativen Bogen nicht komplett, sondern lasse überall Wege, Nebenwege, Auswege - und habe so zumindest etwas wie "Anmutung von Totalität". Und das ist etwas, das wir in 2666 ja wunderbar vorgeführt bekommen. Sprecherin In dem Roman 2666 wandelt Bolaño tatsächlich auf vielen Seitenpfaden, verlässt diese wieder, führt Figuren ein und verwirft sie. Doch das Buch hat dennoch ein Zentrum. Sein mit knapp 350 Seiten längstes Kapitel handelt von einer Frauenmordserie an der mexikanisch- amerikanischen Grenze. Diese Foltermorde, meistens an einfachen Fabrikarbeiterinnen begangen, sind in den neunziger Jahren tatsächlich hundertfach geschehen. Roberto Bolaño schildert ganze 108 dieser Sexualdelikte in quälend stereotyper Weise. Zitator "Mitte Februar fanden Müllmänner in einer Seitenstraße der Innenstadt von Santa Teresa erneut eine Tote. Sie war etwa dreißig Jahre alt, trug einen schwarzen Rock und eine weiße, tief ausgeschnittene Bluse. Sie war erstochen worden, obwohl Gesicht und Unterleib auch Spuren zahlreicher Schläge aufwiesen.// "Fünf Tage später, bevor der Januar zu Ende ging, wurde Luisa Celina Vásquez erwürgt."// "Einen Monat später, im Mai, wurde auf einer Müllhalde zwischen der Siedlung Las Flores und dem Industriepark General Sepúlveda eine Tote gefunden." O-Ton_13 Hansen Es gibt nicht wenige Leute die sagen, meine Mutter erinnere ich mich zum Beispiel gerade, okay, nach der Dritten habe ich es jetzt aber verstanden. Sie haben es nicht verstanden, sie haben es nicht verstanden. Denn es geht nicht darum, einfach nur die Tatsache zu konstatieren, da sind Frauen umgebracht worden. Sondern es geht darum, hinzuschauen. Jedes mal neu hinzuschauen. Und dieses Nicht-Urteilen ist ja auch ein Nicht-Abwehren. In dem Moment, wo ich ein Urteil habe zu einer Sache, habe ich dafür einen Namen. Ich hab' eine Adresse auf meiner Festplatte dafür. Es ist irgendwie einsortiert. Ich muss jedes Mal wieder neu hingucken bei Bolaño, und das ist eigentlich unerträglich auf eine gewisse Weise. Zitator "Die Tote lag auf einer kleinen Brache in der Siedlung Las Flores. Sie trug ein weißes, langärmliges Hemd und einen gelben, knielangen Rock höherer Konfektionsgröße."//"Emilia Mena Mena starb im Juni."// "Die letzte Tote vom Juni 1993 hieß Margarita López Santos und war vor mehr als vierzig Tagen verschwunden."// "Der Juli blieb ohne ermordete Frauen. So auch der August." O-Ton_14 Hansen Ich glaube, was Bolaño macht, er macht für uns die Augen auf. Und das Entscheidende für einen Schriftsteller ist, dass er weiß, wann er den Mund zu halten hat. Wann er uns nicht erklärt, warum etwas so ist und was es zu bedeuten hat. Sprecherin Tatsächlich urteilt der Schriftsteller Roberto Bolaño nie in seinen Büchern. Das überlässt er seinen Lesern. Und scheint sich dadurch auf wundersame Weise immer wieder aus dem Sumpf zu ziehen, den er beschreibt. Im Nachlass findet sich eine Zeichnung Bolaños, in der sich eine Figur am eigenen Zopf aus einem Sumpf zieht. Ist das die Schreibhaltung des Autors? Muss Bolaños moralisches Engagement also in seiner literarischen Methode suchen? Roberto Bolaño war ein Fan von Kriegsstrategiespielen. Auch solche wurden in Barcelona aus dem Nachlass gezeigt. Zu seiner Zeit waren das einfache Brettspiele, mit denen historische Schlachten nachgestellt werden konnten. Bolaños früher Roman Das dritte Reich handelt von einem jungen Deutschen, der sich auf diese Weise in die Abgründe des Zweiten Weltkriegs begibt. Wer sich mit Roberto Bolaño beschäftigt, wird feststellen: Er lässt seine Roman-Helden nicht nur spielen. In gewisser Weise benutzt er sie selbst wie Spielfiguren. So als würde der Autor erkunden wollen, wie weit man es mit einer bestimmten Charaktermaske und einem bestimmten sozialen Hintergrund in seiner Romanwelt wohl bringen kann. O-Ton_15 Hansen Weshalb er ja auch mal sagte - ich kann das nicht wörtlich zitieren - Schriftsteller sind im Grunde Kriminelle, die haben 'ne kriminelle Ader. Weil, es hat was extrem Unmoralisches, 'ne Haltung gegenüber dem Leben und der Wirklichkeit zu haben, die eine sehr spielerische ist. Denn, wenn du vernünftig spielen willst, dann kannst du nicht bestimmte Vorbedingungen stellen. Ein Spiel ist offen. Das, was daraus sich entwickelt, ist offen. Du einigst Dich auf ein paar Regeln, und alles andere passiert. Sprecherin Auch der Übersetzer Heinrich von Berenberg bestätigt: Der Autor dieser oft grausigen Geschichten war kein verbitterter Moralist, sondern eine fröhliche Spielernatur. O-Ton_16 Berenberg Ich kann mich erinnern, dass das schon damals - also, das ist so ein Abglanz davon gewesen, eben dieses letzte Mal als er nach Berlin kam - da lief im Fernsehen Big Brother, und er kannte das schon aus Spanien, und er sagte auch, das ist ganz toll, das müssen wir gucken. Mich interessiert hier - Scheißliteratur das interessiert mich sowieso überhaupt nicht. Wir müssen über Fußball reden und über Big Brother. Und wir haben den ganzen Abend irgendwie vor dem Fernseher gesessen und haben Big Brother geguckt, und das hat ihn sehr interessiert. Das fand er auch ganz toll. Und man muss sagen, das ist ja auch so eine Geschichte gewesen: Das ist ja auch eigentlich ein Menschenversuch. Musik Sprecherin Genauso spielerisch und experimentell wie Roberto Bolaño mit seinen Roman-Figuren umgeht, hat er sich in jungen Jahren auch dem literarischen Kanon genähert. Ohne höhere Mission. Ohne erkennbare Systematik. In einem Zeitungsinterview erklärte er seinen Bildungsweg: Zitator "Mit sechzehn ging ich nicht mehr zur Schule. Mit siebzehn war ich im Begriff, verrückt zu werden. Das einzig Beständige in jener Zeit ist, paradox genug, die Literatur gewesen, das Unsicherste überhaupt. Bücher besaßen einen ganz besonderen und dazu geheimen Glanz. Zu lesen war, als sei man unermesslich reich und niemand wüsste davon." O-Ton_19 Hansen Ich glaube, dass Bolaño tatsächlich in gewisser Weise etwas Neues geschaffen hat. 'Ne neue Art, über Wirklichkeit zu schreiben und die Welt sozusagen zu fassen zu kriegen. Das ist ein Autor, mit dem du nur wachsen kannst, weil, wie gesagt eingangs, ich dachte, ich hab irgendeinen Autor, der nicht richtig schreiben kann, der seine Bildung sonst woher bekommen hat, aus dem Trödelladen, und plötzlich merkst du: Der setzt die Welt neu zusammen. Musik Sprecherin Und nicht nur die Welt, sondern auf tollkühne Weise auch die Literaturgeschichte wie wir sie bisher kannten. In "Die wilden Detektive" entwickelt Roberto Bolaño eine Art Sexualtypologie der literarischen Genres, Gattungen und natürlich auch ihrer Vertreter. Zitator "Während ich mit Catalina und ihrem kleinen Sohn Davy frühstückte (...), fiel mir wieder ein, dass Ernesto San Epifanio gestern Abend, als nur noch einige wenige geblieben waren, gesagt hatte, es existierten eine heterosexuelle, eine homosexuelle und eine bisexuelle Literatur. Romane seien gewöhnlich heterosexuell, Poesie dagegen absolut homosexuell; Erzählungen, so schloss ich, sind folglich bisexuell, aber das sagte ich nicht laut. Sprecherin Heinrich von Berenberg hat den Roman damals übersetzt. O-Ton_21 Berenberg Da wird an einer Stelle durchdekliniert eigentlich die Weltliteratur eigentlich unter verschiedenen Gesichtspunkten von Schwulsein. Und da hat er sich im Spanischen phantastische Begriffe ausgedacht. Zitator "Innerhalb des gewaltigen Ozeans der Poesie unterschied er verschiedene Dichtervarianten: echte Schwule, Tunten, Schwuchteln, Verrückte, Tatterschwuchteln, Schmetterlinge, Milchfaune und hellenistische Zwergtunten. (...) Walt Whitman zum Beispiel sei als Dichter ein echter Schwuler, Pablo Neruda hingegen eine Tunte. William Blake sei ohne jeden Zweifel ein echter, Octavio Paz hingegen eine Tunte. Borges gehöre zu den hellenistischen Zwergtunten, er sei also in unberechenbarer Abfolge mal ein echter Schwuler und dann wieder schlicht asexuell. (...) Das dichterische Panorama war also im Wesentlichen das Resultat der Schlacht zwischen echten Schwulen und Tunten-Dichtern um die Herrschaft des Wortes." O-Ton_21 Berenberg Und da musste ich einfach anfangen, da musste ich erfinden, also da muss man einfach sehen, was habe ich jetzt irgendwie für Schimpfworte gelernt in meinem Leben, was gibt es da für ein Repertoire, und da musste ich mir wirklich viel ausdenken und das hat wahnsinnig Spaß gemacht. Also so richtig eine ganze Skala von mehr oder weniger schweinischen Begriffen. Das war ganz toll. Das war richtig schön. Das war ne richtig schöne Stelle! Sprecherin Bolaño war ein furchtloser Fabulierer. Er hat in der lateinamerikanischen Literatur sowohl stilistisch als auch thematisch etwas vollkommen Neues geschaffen - allerdings hatte er große Vorbilder: den Argentinier Cortázar, aber auch Borges oder Kafka. Zudem hat Bolaño in seinen anspielungsreichen Romanen auch seine Liebe für alles Zweit- und Drittklassige zelebriert. Einer seiner frühen Romane heißt Lumpennovelle. Und als literarischer Lumpenproletarier, als einfacher Arbeiter im Bergwerk der Sprache also, hat sich Roberto Bolaño selbst verstanden. Erst in seinen letzten Lebensjahren wurde er, der aus kleinen Verhältnissen stammte, berühmt. Jetzt streitet die Nachwelt, wie es mit dem Nachlass weitergehen soll. Eine der zentralen Fragen lautet: Ist da überhaupt noch etwas literarisch Wertvolles zu holen oder wird der Nachlass aus Geldgier ausgeschlachtet? Jorge Herralde: O-Ton_22 Herralde A l'époque où Ignacio Echevarria était en bon rapport avec Carolina, c'était lui qui avait accès à beaucoup de choses. Il on a fabriqué un livre "le secreto de mal". C'était des short stories inabouti quelquesunes, plus ou moins complètes. Et après il m'a montré il avait un autre projet: c'étaient des morceaux, très brillant, mais des morceaux. Et Ignatio, d'après ce qu'il a pu voir à l'époque passé à l'ordinateur chez Bolano, il n'y avais plus rien. Sprecher VO Damals als Ignacio Echevarría noch einen guten Draht zu Carolina hatte, hatte er den Zugang zu Bolaños Sachen. Wir haben dann ein letztes Buch gemacht: Das Geheimnis des Bösen - Kurzgeschichten, einige darunter unvollendet. Danach gab es noch ein Projekt in Fragmenten. Ignacio zufolge war's das. Sprecherin Valerie Miles, die Teile aus Bolaños Nachlass gerade mit der Witwe López in Barcelona präsentiert hat, widerspricht. Und ihre Gründe klingen durchaus plausibel. O-Ton_23 Miles He started publishing in 1996 and he died in 2003. And in between he has what we all know. So there was all of a sudden so much work and so much production you know. So he didn't have the time. It's not that he didn't like it or didn't want to publish it. He just did not have time. Zitatorin VO Erst im Jahr 1996 begann er, zu veröffentlichen. 2003 ist er dann gestorben. Und dazwischen produzierte er all das, was wir heute kennen. Es gab für ihn also auf einmal so viel Arbeit zu tun, dass er kaum hinterherkam. Es ist nicht so, dass er die älteren Sachen nicht mochte oder nicht veröffentlichen wollte. Er fehlte ihm schlicht die Zeit, sich darum zu kümmern. Sprecher Ein Manuskript aus dem Nachlass harrt derzeit seiner spanischen Erstveröffentlichung. Bolaño-Fans dürfen gespannt sein: O-Ton_24 Miles There is an unpublished novel "El espíritu de la ciencia ficción" that I think is really wonderful as a document. It is in three notebooks and I would say this is a jewel, one of the crown jewels of the exhibit. Sprecherin VO Es gibt einen unveröffentlichten Roman, "El espíritu de la ciencia ficción", Der Geist der Science Fiction. Er liegt in drei Notizbüchern vor, und ich glaube, das ist ein Juwel - eine der Kronjuwelen unserer Ausstellung damals in Barcelona. Sprecher Heinrich von Berenberg ist, was die Qualität des Nachlasses angeht, skeptisch. Doch auch er ist neugierig. Und einen dringenden Publikationswunsch hat er selbst noch: O-Ton_25 Berenberg Ich würde mir wünschen, dass sein Nachlass an einem sicheren schönen Ort landet, dass er wirklich gut aufgehoben ist. Entweder in Mexiko. (...) Oder in Santiago sind sie, glaube ich, auch ganz ordentlich. Aber vielleicht auch einfach in Barcelona. Und was ich mir auch wünschen würde ist natürlich, also sie haben die Tagebücher erwähnt, das würde mich noch sehr neugierig machen. Die Tagebücher, die Korrespondenz, das wird eines Tages erscheinen müssen, und das ist auch schön. Dass jetzt auf seinen diversen Festplatten nach jedem Text gefahndet wird, der sich da in den unendlichen Weiten finden lässt, da bin ich ein bisschen skeptisch. Ich würde mir noch wünschen, dass ein Roman erscheint, den ich kenne und den ich für einen großartigen Roman halte. Das ist Monsieur Pain. Sprecherin Das Buch über einen Peruanischen Dichter, der im Jahr 1938 in einer Pariser Klinik abgeschirmt wird, weil er unter Dauerschluckauf leidet - es wird kommen. Der S. Fischer Verlag hat es bereits übersetzen lassen. Und wie für jeden Bolaño-Fan gilt auch hier, was der Meister seinem Alter Ego Amalfitano einmal in den Mund gelegt hat - und zwar in seinem zuletzt im deutschen Stammverlag Hanser erschienenen Roman Die Nöte des wahren Polizisten. Zitator: "Zum Glück habe ich Tausende Bücher lesen können, dachte Amalfitano. Zum Glück habe ich Dichter kennengelernt und Romane gelesen. (...) Zum Glück habe ich gelesen. Zum Glück kann ich noch lesen, sagte er sich halb skeptisch, halb zuversichtlich." Musik 1