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ATMO Verkehr, Stadt ERZÄHLER Anfangs wollte mich niemand ins Norilsker Industriegebiet mitnehmen. Alle sagten, es sei viel zu kalt. Kalt war es wirklich. Was sie aber vermutlich weniger davon abhielt als die Tatsache, dass Norilsk noch immer eine geschlossene Stadt ist. Als ich hier landete, betraten als erstes Polizisten die Maschine und kontrollierten alle Pässe. Wer als Ausländer keine Einreisegenehmigung des russischen Geheimdienstes vorweisen konnte, durfte das Flugzeug nicht verlassen. Ich habe einen russischen Pass und brauche keine Genehmigung für Norilsk, aber die strategisch wichtigen Industrieanlagen sind auch für mich gesperrt. Zum Glück erklärte sich schließlich Viktor bereit, mir das Industriegebiet zu zeigen. In seiner Jugend hatte er dort als Monteur gearbeitet und war auf die 150 Meter hohen Schornsteine geklettert. Die giftigen Wolken, die sie damals ausspuckten, wurden über mehrere tausend Kilometer fortgetragen. Es kam zu Protesten in Skandinavien und Kanada. Daraufhin wurden die Schornsteine einfach abgeschnitten. Die Abgase blieben in Norilsk. Heute arbeitet Viktor als Elektriker bei der Norilsker Stadtverwaltung. Seine ehemaligen Kollegen, die auf dem Industriegelände geblieben sind, erzählt er, haben eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung als sonst in Russland. Viktor selbst sieht wie Mitte Fünfzig aus, ist aber erst 46. Trotzdem scheint er stolz auf "sein" Gas zu sein. O-TON Viktor 1. SPRECHER Leider ist es heute ziemlich windig, sonst hätten wir das Gas auch hier in der Stadt gut riechen können. Sehr gut sogar. Wenn kein Wind weht, sagt man bei uns: "Die Fackel fällt." Das heißt, der Rauch aus dem Schornstein wird nicht davongetragen sondern sinkt herab. Und dann hat man in der Stadt wortwörtlich keine Luft mehr zum Atmen. ERZÄHLER Bis zum Industriegebiet sind es nur ein paar Stationen mit dem Stadtbus. ATMO Im Bus ERZÄHLER Unter der Stadt liegen gewaltige Vorkommen an Nickel, Kupfer, Platin und Gold. Das wusste man schon seit dem 16. Jahrhundert, doch der Weg hierher war viel zu weit: Zuerst viertausend Kilometer von Moskau durch Steppe und Taiga nach Krasnojarsk. Dann weitere zweitausend Kilometer den sibirischen Strom Jenissej hinunter, durch die menschenleere Tundra bis zum Polarkreis, und dann noch weiter nach Norden fast bis zur Eismeerküste. Hier liegt neun Monate im Jahr Schnee, die Temperatur sinkt im Winter auf minus 50 Grad. Während der Polarnacht im Dezember und Januar ist der Wind manchmal so stark, dass er Lastwagen von der Straße wegbläst. Lange schien es undenkbar, in einer Eiswüste, wo der Mensch eigentlich nicht leben kann, Bodenschätze abzubauen. Erst während der Stalinzeit fand man eine Lösung. Der Bau mehrerer Berg- und Hüttenwerke und einer dazugehörigen Stadt wurde einem General des NKWD unterstellt. Die Geheimpolizei ließ von 1935 an über 300 000 Gulag-Häftlinge in fensterlosen unbeheizten Frachträumen der Jenissejfähren hierher verschiffen. ATMO Im Bus ATMO Industriegebiet ERZÄHLER Das Norilsker Nickelwerk ist fast so groß wie die Stadt selbst. Von einer Anhöhe aus kann man hinter Werkhallen, Baukränen und Güterbahnhöfen in der Ferne die unberührte Tundra sehen: Eine baumlose Schneelandschaft mit flachen verschneiten Bergen am Horizont. Das war alles, was die ersten Häftlinge hier vorfanden. O-TON Viktor 1. SPRECHER Hier war gar nichts außer Tundra. Überall nur Tundra, die nächste Siedlung Dudinka am Jenissej war einhundert Kilometer entfernt. Im Winter war es unmöglich, über den vereisten Fluss von hier wegzukommen. Die Menschen hatten keinerlei technische Ausrüstung und arbeiteten sehr schwer. Im Winter wird es sehr kalt, aber noch schlimmer ist der Wind. Frost und Wind, beides zusammen ist schier unerträglich. Wir nennen das "die extreme Härte des Wetters", und es ist tatsächlich sehr hart. Jetzt ist das Wetter ganz normal, es ist zwar nicht Sommer, aber man kann sich sehr wohl auf der Straße aufhalten. Für uns ist das kein Problem. Der Mensch kann sich an alles gewöhnen. Auch an den hohen Norden. Man kann hier leben, und man kann hier arbeiten. Wir leben und arbeiten schließlich hier. ATMO Leiser Wind ERZÄHLER Im Russischen sagt man "normalno" und meint damit, "es könnte noch viel schlimmer sein". Viktor trägt eine Pelzmütze mit Ohrenklappen, die er nicht einmal unter dem Kinn festbindet. Mich betrachtet der kräftig gebaute Mann mit einem milden Lächeln, denn ich habe mich wie ein Raumfahrer eingemummt: Daunenmantel mit dicker Kapuze, eng über dem Gesicht zusammengezogen. Nur Augen und Nase sind Kälte und Wind ausgesetzt. ATMO Starker Wind ERZÄHLER Die Häftlinge im Norilsker Lager trugen wattierte schwarze Jacken, gesteppte schwarze Hosen und Schapkas mit Ohrenklappen. Auf Brust und Mütze, auf den linken Ärmel und das rechte Hosenbein mussten sie ihre Häftlingsnummer aufnähen. Vor das Gesicht banden sie sich ein Stück Stoff gegen die Kälte. Das von ihnen erbaute Nickelkombinat gehörte zu den größten Bergbau- und Metallurgiebetrieben in der Sowjetunion. Seit der Privatisierung im Jahr 1995 ist der Konzern ?Norilsk Nickel? eines der profitabelsten Unternehmen Russlands und Weltmarktführer in der Nickelproduktion. Die Sklavenarbeit im Gulag passt jedoch nicht in die Erfolgsstory. Schon zu Sowjetzeiten durfte man die Häftlinge nicht erwähnen. Heute spricht man im Unternehmen offiziell lediglich von den "ersten Erbauern des Kombinats". ATMO Industriegebiet ERZÄHLER Auch Viktor redet nur ungern über den Gulag. Eine ehemalige Mitarbeiterin des Stadtmuseums deutete an, dass er aus einer Familie von Lageraufsehern stamme. In seiner Freizeit beschäftigt sich Viktor mit der Geschichte von Norilsk, hat sie mir erzählt. Aber wenn ich ihn bitte, mir im Industriegebiet irgendein Überbleibsel des Gulags zu zeigen, wechselt er jedes Mal das Thema und redet wieder von seinem "Gas". O-TON Viktor 1. SPRECHER Was wir genau riechen, ist schwer zu sagen, es gibt so viele unterschiedliche Gase. Sehen Sie, wie viele Schornsteine überall stehen? Dort und dort und dort. Und jeder raucht in einer anderen Farbe. Wenn der Wind aus dieser Richtung weht, trägt er den Rauch vom Nickelwerk direkt in die Stadt. ATMO Starker Wind ERZÄHLER Die Windrichtung erkennt man in Norilsk am Geruch. Wenn es nach Fäulnis stinkt, bringt der Nordwestwind Schwefelwasserstoff vom Kupferwerk. Bei Südostwind tränen die Augen, und im Hals kratzt es vom giftigen Schwefeldioxid aus dem Nickelwerk. Je näher wir an die Produktionsstätten kommen, desto saurer riecht die Luft. ATMO Zug, sehr laut ERZÄHLER Dutzende offener Waggons mit fettschwarzem Erz verschwinden in einer riesigen Werkhalle. ATMO Lastwagen, Viktor ERZÄHLER Lastwagen mit übermannshohen Rädern rasen über verschneite Zufahrtstraßen. Viktor nimmt die Abkürzung über einen Trampelpfad. Unterwegs erzählt er, wie viel besser alles zur Sowjetzeit war: Die Werkhallen und die Ausrüstung waren noch nicht so verkommen wie heute, die Gehälter waren höher, die Arbeitsplätze sicherer. Das Nickelkombinat baute Kindergärten und Wohnhäuser in Norilsk. Jeder Arbeiter konnte seinen Urlaub im kombinatseigenen Ferienheim am Schwarzen Meer verbringen. In der Sowjetunion gab es eben nicht nur den Gulag, sagt Victor. Alles habe sich seitdem verändert. Außer dem einen: Gas. O-TON Viktor 1. SPRECHER In diesem Gas sind alle Elemente aus Mendelejews Periodensystem enthalten. Deswegen ist es so bunt. Jede Werkhalle hat ihre eigene Emission. Für diesen orangefarbenen Rauch hier wurde kein Schornstein gebaut. Ich weiß nicht, warum. Wahrscheinlich dachten sie, dass es auch ohne den teuren Schornstein geht. ATMO Viktor, hustet stark ERZÄHLER "Normalno", sagt Viktor, als wir endlich wieder aus der Gaswolke herauskommen. "Ich wünschte mir, dass es immer so wäre wie jetzt. Aber im Sommer spürt man das Gas wesentlich stärker." Viktor scheint das nichts auszumachen, im Gegenteil. Er ist stolz darauf. MUSIK Trad./ B. Alexandrow ?Freundschaftslied? aus CD Boris Alexandrow Ensemble und Russischer Staatschor ERZÄHLER Trotz Ferne und Polarnacht, trotz Frost und Wind, trotz Schwefeldioxid, trotz Gulag, trotz alledem haben die Menschen hier überlebt und eine Großstadt gebaut. Wenn ich aber unbedingt irgendwelche Zeugnisse der Vergangenheit sehen möchte, sagt Viktor, solle ich doch einfach ins Stadtmuseum gehen. ATMO Diskothek "Back in the USSR" ERZÄHLER Anwar hat heute einen schlechten Tag. Seine Freundin hat ihn gerade verlassen. Der 21-jährige Baustudent lässt den Abend im "Europa", einem großen Club mit Billardhalle, verstreichen. ATMO Bar ERZÄHLER Wir stoßen auf "Znakomstvo" ? unsere Bekanntschaft an. Ich mit Bier, Anwar mit Orangensaft. Trotz des Trennungsschmerzes trinkt er heute keinen Alkohol. ATMO Billard, leise, mit Musik ERZÄHLER In der Billardhalle im Obergeschoss spielen Männer in sportlichen Jacketts und Frauen in bunten Blusen konzentriert und ebenfalls nüchtern. Anwar trinkt kein Bier, weil er heute mit dem Auto unterwegs ist. Und alles, was mit seinem Auto zu tun hat, nimmt Anwar sehr ernst. Seine Freundin lebt "auf dem Kontinent", so nennt man in Norilsk die Welt jenseits des menschenleeren Ozeans der Tundra. Anwar muss hier bleiben, bis er mit seinem Studium fertig ist. Noch mindestens drei, wahrscheinlich aber fünf Jahre. O-TON Anwar 2. SPRECHER Die Frauen sind ein sonderbares Völkchen! Ich verstehe sie nicht. Besonders die russischen Frauen. Meine Freundin auf dem Kontinent hat mir versprochen, fünf Jahre auf mich zu warten. Als ich ihr aber sagte, dass ich sie im kommenden Sommer nicht besuchen könne, schrieb sie mir einen Brief. Ich habe ihn heute bekommen. Darin steht: "Es ist aus mit uns". Ich kann aber wirklich nicht fahren. Mein kleiner Bruder wird im Sommer in Petersburg mit dem Studium beginnen, und das Geld reicht nur für einen Flug. Nun, es ist vielleicht sogar besser so. Ich muss mich im Sommer sowieso um meinen Wagen kümmern, der geht immer wieder kaputt. Und ohne Auto kann man hier nicht überleben. ATMO Billard, laut ERZÄHLER Den ?Kontinent? erreicht man nur mit dem Flugzeug. Während des kurzen Sommers fährt zwar eine Fähre über den Jenissej, doch die Schiffsreise nach Krasnojarsk dauert mehrere Tage, dann muss man unter Umständen noch tagelang mit dem Zug weiterfahren. Dabei kostet der Landweg fast so viel wie ein Flug. Für das Flugticket müssen die meisten Norilsker monatelang sparen ? oder sie bleiben zu Hause und schaffen sich ein Auto an. O-TON Anwar 2. SPRECHER Es zieht einen zwar immer wieder auf den Kontinent, man verbringt dort ein, zwei Wochen ? und will wieder nach Hause. Dort vermisse ich so vieles, mir fehlt sogar unser Gas. Oft denke ich bei mir, ich hätte es in einer Plastiktüte mitnehmen sollen. ERZÄHLER In Norilsk geht man nicht gern zu Fuß. Man fährt Auto oder Bus. Wenn ich an meine Kindheit in Moskau zurückdenke, erinnere ich mich, dass ich oft länger als eine halbe Stunde auf einen verspäteten Bus warten musste. Im frostigen Norilsk darf so etwas nicht geschehen. Hier kommen die Busse "pünktlich wie in Deutschland", sagt Anwar. Er selbst fährt lieber Auto. Sein kleiner japanischer Geländewagen parkt draußen vor dem Club. Sogar in Moskau wäre so ein Wagen viel zu teuer für einen Studenten. O-TON Anwar 2. SPRECHER Seit zwei Jahren bekomme ich fast kein Geld mehr von meinen Eltern. Ich wohne zwar mit ihnen zusammen, aber mein Geld verdiene ich selbst. Bis zur Mittagspause gehe ich zur Hochschule, anschließend arbeite ich an unserem Lehrstuhl. Warum glauben Sie, dass man nicht genug für einen Wagen verdienen kann? Es gibt da viele Möglichkeiten... ERZÄHLER Was er damit meinte, erzählte Anwar mir später. Als Vermittler zwischen Lehrstuhl und Studenten übernimmt er hin und wieder kleine Aufträge: Ein Dozent braucht dringend Hilfe beim Umzug. Ein Kommilitone braucht eine bessere Note, und Anwar soll sich bei seinem Professor dafür einsetzen. Der Professor selbst braucht dringend zwei Flaschen flüssigen Sauerstoff für ein Experiment, und die müssen im Industriegebiet schwarz gekauft werden. "Verbindungen sind alles", sagt Anwar. Nach dem Studium würde er gern in die Lokalpolitik gehen. Dafür scheint der junge Mann bereits jetzt bestens geeignet. Nach der Gulag- Vergangenheit seiner Stadt gefragt, antwortet Anwar wie ein gestandener Politiker: O-TON Anwar 2. SPRECHER Es ist ein so trauriges Thema, diese schlimme Zeit! Es ist besser, darüber ganz zu schweigen. Nur in der Schule hört man ab und zu noch davon, sonst nirgends. Da sagt der Lehrer vielleicht, schreibt einen Aufsatz darüber - eine reine Pflichtübung, schließlich würde niemand freiwillig so etwas tun. Es ist doch ganz normal, nicht einzugestehen, dass man schlecht war. Das darf niemand erfahren. Wenn man gut war, kann man es allen sagen. Deswegen will man über diese dunkle Seite unserer Geschichte einfach nicht reden. MUSIK D. Shostakovich, String Quartett Nr. 8 op. 110, c-Moll, Quartet III Allegretto, CD Shostakovich String Quartets 1-13, Borodin- Quartet 3 ERZÄHLER Die Norilsker Laureatenstraße ist von Plattenbauten gesäumt, deren einst weiße Fassaden mit hässlichen Rußflecken bedeckt sind und mit grauem Zement ausgebessert wurden. Hier wohnt Olga. Sie gehört zu den wenigen noch lebenden ehemaligen Gulag-Häftlingen. Leere Bierflaschen liegen vor ihrer Haustür im Schnee. Im Treppenhaus riecht es nach faulem Abfall. Die Knöpfe der Gegensprechanlage hat jemand mit einem Feuerzeug angesengt. ATMO Straße, Gegensprechanlage Tür, Olga ERZÄHLER Olgas Wohnung ist blitzsauber, mit grünen Teppichen auf dem Boden und bunt gemusterten an den Wänden. Wir sitzen auf einem braunen Sofa, das vor mindestens dreißig Jahren aus der DDR oder der Tschechoslowakei importiert wurde. Während Olga erzählt, zupft sie immer wieder an den Fransen ihrer Couchtischdecke aus polnischem Leinen. O-TON Olga ERZÄHLER Die 70-Jährige kam als kleines Mädchen mit ihrer polnischen Familie in die Sowjetunion. Bei der Einreise zerstachen die Zöllner alle ihre Kleidersäcke mit spitzen Lanzen. Aber es gab keinen Weg zurück. Olgas Familie wurde nach Westsibirien zwangsumgesiedelt. Dort stand sie unter ständiger Beobachtung des NKWD. Die Geheimpolizisten nennt Olga bis heute nur "sie": O-TON Olga SPRECHERIN Es war der 18. März 51. Sie kamen morgens kurz nach vier. Sie sagten: 1. SPRECHER "Wir müssen Sie abholen." SPRECHERIN "Wieso? Was habe ich getan?" 1. SPRECHER "Wir wollen bloß Ihre Papiere kontrollieren." SPRECHERIN Ich sagte: "Hier, bitte schön. Sie können alles gleich hier überprüfen." Aber sie antworteten: 1. SPRECHER "Wir fahren lieber zu uns und schauen uns dort alles an." SPRECHERIN Dann brachten sie mich in ein politisches Gefängnis: 1. SPRECHER "Sie werden des Antisowjetismus beschuldigt." SPRECHERIN Das sollte heißen, dass ich angeblich gegen ihre Herrschaft war. Aber in Wirklichkeit wollten sie mich zwingen, unschuldige Leute zu denunzieren. Ich sollte anonym Anzeigen schreiben, ich sollte Menschen verleumden und ins Gefängnis schicken. Ich weigerte mich. Da schickten sie mich ins Gefängnis. O-TON Frage, Olga atmet und schnalzt kaum hörbar ERZÄHLER Wie alt sie damals gewesen sei, frage ich Olga. Abrupt verstummt sie und bewegt lautlos ihre nur halb geöffneten Lippen. Soll ich von ihren Lippen lesen? Oder ringt sie nach Atem? Soll ich einen Notarzt rufen? Nein! Olga winkt mit weit aufgerissenen Augen ab. Ich soll mein Aufnahmegerät ausschalten. 14 sei sie gewesen, sagt Olga. Sogar für den Geheimdienst zu jung. Sie musste unterschreiben, dass sie 21 sei. Darüber hinaus unterschrieb Olga eine unbefristete Schweigepflichterklärung. Das alles ist ein halbes Jahrhundert her. Trotzdem zögert Olga, bevor sie mir erklärt, warum sie damals nicht ihr wahres Alter angegeben hat. O-TON Olga redet laut, dann flüstert sie ERZÄHLER Während eines Verhörs brachten die NKWD-Leute ihren Vater herein. Olga sah sofort, wie brutal man ihn verprügelt hatte. Olgas Stimme ist wieder kaum hörbar, als sie erzählt, dass ihrem Vater die Vorderzähne fehlten. "Hier!" Olga berührt die eigenen Lippen. Ihr Vater unterschrieb, dass seine Tochter volljährig ist, und man ließ ihn frei. O-TON Olga SPRECHERIN Sie brachten mich nach Norilsk. Es war der 30. September 51. Noch war es nicht kalt, bloß leichter Frost, wie bei euch im Winter. Bereits auf dem Weg dorthin hatten sie zu mir gesagt: 1. SPRECHER "In Norilsk wirst du sofort sterben." SPRECHERIN Sie führten mich durch das Lager, und ich fragte mich, warum ich nicht sterbe. Diese Worte prägten sich so stark in meine Seele ein, dass ich mich auch später immer wieder fragte: "Warum bist du noch nicht gestorben? Es ist schon ein Jahr vergangen, warum lebst du noch?" Man brachte mich in einen Raum, der nicht größer war als dieses Zimmer. An den Wänden standen zweistöckige Pritschen. Ich schlief oben. Oben war es nicht ganz so kalt wie unten. Ich war klein und mager, ich fror immerzu. Außerdem konnte ich das Lageressen nicht hinunter bekommen. Jeden Morgen Suppe mit Pferdefleisch. Es war unmöglich, die Fleischstücke zu kauen, und überdies stanken sie, Entschuldigung, wie die Pest. Sonst gab's nur groben Gerstenbrei. Dazu ein kleines Stück Brot. Das war dann auch alles für den ganzen Tag, erst abends gab es wieder Essen. Kohlsuppe oder Kohlstrünke. Wieder mit Pferdefleisch. Ich war dabei zu verrecken. Andere Frauen, die älter und kräftiger waren als ich, stützten mich. "Olja", sagten sie, "du musst die Augen schließen und nur deine Beine bewegen. Wir werden dich zur Arbeit führen und abends wieder zurück." Auf dem Weg zur Arbeit gingen uns immer Soldaten mit Maschinengewehren voran, andere Soldaten liefen links und rechts neben uns, und auch hinter uns gingen Soldaten. Sie hatten Schäferhunde bei sich. Wir durften keinen Schritt aus der Reihe treten. Eine der Frauen war so alt und gebrechlich, dass sie mit uns nicht mithalten konnte. Ein Wachsoldat, ein Klotz von einem Mann, brüllte uns immer wieder an: 1. SPRECHER "Vorwärts! Nicht zurückbleiben! Vorwärts!" SPRECHERIN Die alte Frau war ihm nicht schnell genug. Und schon befahl der Soldat uns allen: 1. SPRECHER "Hinlegen!" SPRECHERIN Es war Mai, der Schnee taute bereits. Wir fielen in die Pfützen. Der Soldat brüllte: 1. SPRECHER "Aufstehen! Hinlegen! Aufstehen! Hinlegen! Aufstehen! Hinlegen!" SPRECHERIN Dann ließ er uns weitergehen. Auf der Arbeitstelle händigte man uns Spitzhacken aus. Wissen Sie, was eine Hacke ist? Wir sollten damit Gruben ausheben. Die gefrorene Erde war hart wie Stein. Die Erdklumpen mussten wir dann mit Karren wegbringen. Wissen Sie überhaupt, was eine Schubkarre ist? Wir arbeiteten täglich zwölf Stunden lang. Nur zehn, höchstens 15 Minuten durften wir uns alle zwei Stunden ausruhen, und auch das nur, wenn es sehr kalt war. Ich hatte bald keine Kraft mehr. Ich ging zum Arzt. Es war eine Ärztin, ebenfalls eine Gefangene. Sie sagte zu mir: "Wieso bist du nicht früher gekommen?" Sie verschrieb mir sofort eine Diät: Weißbrot, Grießbrei und sogar Kartoffeln. "Zu den Erdarbeiten", sagte die Ärztin, "lasse ich dich nicht mehr zu." Sie fand für mich eine Stelle bei der Post. Der Chef war ein großer Mann, ein Kosak, ein schwarzhaariger Riese. Eines Tages sagte er zu mir: 1. SPRECHER "Lass uns zusammen leben." SPRECHERIN Ich antwortete, dass wir doch zusammen arbeiten. Er aber antwortete: 1. SPRECHER "Nein, ich werde mit dir zusammen leben, als dein Mann." SPRECHERIN Ich wiederholte, dass dies unmöglich sei, völlig ausgeschlossen. Nein! 1. SPRECHER "Du sagst Nein zu mir!?" SPRECHERIN Noch am selben Tag schwärzte er mich bei der Lagerleitung an. Ich wurde zurück zu den Erdarbeiten geschickt. Unsere Brigade marschierte immer in einer Kolonne, 32 Frauen, Fünferreihe hinter Fünferreihe. Ich ging meist am Ende, und einmal erkannte ich einen der Wachsoldaten. Es war der Neffe einer Bekannten und früher einmal in mich verliebt gewesen. Natürlich schaute ich zur Seite. Am Abend kam er in unsere Baracke und fragte die Brigadeleiterin, ob "die da" vielleicht Olja heißt. "Und wenn schon?" sagte sie. Er antwortete: 1. SPRECHER "Ich will mit ihr reden." SPRECHERIN "Sie wird aber nicht mit Ihnen reden!" Ich wollte tatsächlich nicht. Er war schließlich Wachsoldat, später sogar Leiter der Begleittruppe. Bald darauf hinterließ er für mich drei Laibe Weißbrot bei der Brigadeleiterin. Ich sagte zu ihr: "Nein, Anja, Du hast es von ihm angenommen, dann iss es auch selbst. Ich werde es nicht anrühren." Schließlich schnitten wir das Brot in dünne Scheiben und verteilten sie in der Brigade. MUSIK D. Shostakovich, String Quartett Nr. 8 op. 110, c-Moll, Quartet IV Largo, CD Shostakovich String Quartets 1-13, Borodin- Quartet 3 O-TON Viktor ERZÄHLER "Viele im Gulag hätten es verdient, zehnmal erschossen zu werden", sagt Viktor zu mir, als wir uns im Stadtmuseum treffen. Das habe ihm einer der politischen Häftlinge selbst gesagt. O-TON Viktor 1. SPRECHER Es waren viele, sehr viele Leute hier, die auch wirklich hier sein mussten. Wenn man heute das Wort Häftling ausspricht, dann klingt es fast so, als sei jeder Häftling ein Märtyrer, eine unschuldige Seele, ja ein Engel gewesen. Nichts dergleichen! Hier waren zum Beispiel viele, die mit den Nazis zusammengearbeitet hatten. Sie waren sogar brutaler als die Hitlerleute selbst. Furchtbare Menschen! Man darf nicht vergessen, dass man sie hier nicht etwa umerziehen wollte. Es war ihre Strafe. ATMO Museum ERZÄHLER Im Stadtmuseum kennt Viktor jedes Exponat. Ein großer Saal im Erdgeschoß zeigt farbige Dioramen mit Szenen aus der Tierwelt oder aus dem Alltag der Nordvölker. ATMO Museumstreppe ERZÄHLER In einem anderen Saal sind Exponate geologischer Forschungen aus dem frühen 20. Jahrhundert ausgestellt. Sehr aufwändig ist das einzige städtebauliche Projekt, das der jetzige Besitzer des Nickelkombinats präsentiert, eine Wintersporthalle. Über die Lagerzeit gibt es hier keine Ausstellung. Endlich stelle ich Viktor die Frage, die ich seit unserem ersten Treffen auf der Zunge habe: War er mit Gulag-Mitarbeitern persönlich bekannt, hatte er vielleicht sogar einen in seiner Familie? Viktor zögert. O-TON Viktor 1. SPRECHER Ich bin in einer Bergbausiedlung westlich von Norilsk geboren. Dort war früher ein Lager, aber man hatte es noch vor meiner Geburt geschlossen. Viele der Häftlinge blieben. Uns besuchten oft Politische. Meine Meinung über den Gulag geht auf ihre Geschichten zurück. Und auf die Geschichten der Leute, die im Lager gearbeitet hatten. Ich hörte mir beide Seiten an, auch die ehemaligen Mitarbeiter des NKWD. Oder hießen sie damals schon MGB? Unsere leidgeprüften Sicherheitsorgane, immer wieder wurden sie umbenannt! OGPU, NKWD, MGB... Man muss Mitleid mit den Leuten haben, die immer wieder durch diesen Fleischwolf gedreht wurden. Viele von ihnen blieben in Norilsk, sie arbeiteten im Kombinat und in der Stadt. Ich kannte sie. Es waren ganz normale Leute, keine bestialischen Sadisten! ERZÄHLER Nicht weit von seinem Geburtsort hatte Viktor vor zwei Jahrzehnten die Ruine eines kleinen Lagers gefunden. Seitdem beschäftigt ihn das Geheimnis dieses Ortes, der als "Lagerpunkt Norilsk-2" in den Büchern des Gulags verzeichnet ist. Viktor sprach mit Zeitzeugen, recherchierte in Archiven und führte jeden Sommer Ausgrabungen durch. Akribisch dokumentierte der Elektriker Überreste von Baracken, umgefallene Pfeiler mit Stacheldraht und eine Stelle im Dauerfrostboden, wo er hunderte von Knöpfen, Brillen, Metallkämmen fand. Hier hatte man die Kleidung Erschossener verbrannt. Mag jemand aus Viktors Familie nun Gefangenenaufseher gewesen sein oder auch nicht. Viktor interessierten nur die Fakten über den Gulag. Berichte über seine Funde an der Erschießungsstelle Norilsk-2 veröffentlichte er im Stadtmagazin und im Internet. Viktor rechtfertigt weder Stalin noch den NKWD. Auch die heutigen Machthaber sieht er kritisch. Er kann sich nicht damit abfinden, dass "sein" Nickelkombinat für einen Bruchteil des tatsächlichen Marktwertes privatisiert wurde. Noch schlimmer findet Viktor jedoch das Wirtschaftkonzept der neuen Konzernchefs. Seine Heimatstadt sei für sie nur eine Art Abstellplatz für jene Arbeitskräfte, die gerade keine Schicht haben. Für Kultur und Infrastruktur hätten sie kein Geld übrig: O-TON Viktor 1. SPRECHER Man macht seine Arbeit, geht nach Hause, steht auf und arbeitet weiter. Arbeit, Wohnung, Arbeit, Wohnung, als wäre das alles, was wir brauchen. Wenn es so weitergeht, wird die Stadt bald wieder wie ein Lager aussehen. Wie ein Lager, nur ohne Wachtürme. Oder vielleicht stellen sie dann auch noch Wachtürme auf. ERZÄHLER Bevor wir uns verabschieden, bitte ich Viktor nochmals, mir die Überbleibsel des Lagers zu zeigen. Vielleicht kann er mich nach Norilsk-2 mitnehmen. Aber Viktor meint, im Schnee komme man bis dahin nicht durch. "Vielleicht fällt mir etwas anderes ein", fügt Viktor aus Höflichkeit hinzu, "lassen Sie uns mal telefonieren." MUSIK D. Shostakovich, String Quartett Nr. 7 op. 108, fis-Moll, Quartet I Allegretto, CD Shostakovich String Quartets 1-13, Borodin-Quartet 3 ERZÄHLER Aus Olgas Wohnzimmerfenster sieht man in der Sonne makellose Schneefelder bis zu den kristallenen vulkanischen Bergen am Horizont. So sah es hier überall aus, bevor die riesigen Plattenbauten der Laureatenstraße entstanden. Und bevor man durch die Tundra Stacheldraht gezogen hat. MUSIK John Lurie, Bella Barlight, CD Kronos Quartet ?Winter Was Hard O-TON Olga SPRECHERIN Meine Wohnung ist schön, ich habe nicht zu klagen. Aber jede Nacht bitten mich die verlorenen Seelen, dass ich für sie bete. ERZÄHLER Ich habe Anwar gebeten, mit Olga und mir zum so genannten Norilsker Golgatha zu fahren. Es ist eine Gedenkstätte im Industriegebiet, benannt nach dem Ort der Kreuzigung Jesu. In Anwars Hosentasche vibriert immer wieder sein schickes Mobiltelefon: O-TON Anwar 2. SPRECHER Ja... Ich grüße Sie auch... Einen Projektor? Gut, ich kann einen für Sie beim Lehrstuhlchef besorgen, kein Problem!" Mein Telefon verstummt erst um zwei Uhr nachts. Ich drehe mich wie ein Kreisel, rund um die Uhr. ERZÄHLER Dennoch hilft Anwar mir und Olga gern - und unentgeltlich. ATMO Ankunft, Schritte im Schnee ERZÄHLER Am Fuße zweier gewaltiger Hochspannungsmasten ist ein Gelände in der Größe eines Kinderspielplatzes eingezäunt. An der Holzpforte hängt lose ein Seil, das hoch über unseren Köpfen am Klöppel einer großen Glocke befestigt ist. Olga lässt sie einmal kräftig läuten und geht durch die Pforte hindurch. ATMO Golgatha, Glocke ERZÄHLER Im tiefen Schnee sind ein paar Gedenksäulen, Kreuze und Grabsteine auszumachen, jeweils den Opfern eines Volkes gewidmet: Esten, Juden, Polen. "Lasst uns zu den Russen gehen", sagt Olga. O-TON Anwar und Olga ERZÄHLER Olga führt uns zu einer Holzkapelle. Die Tür steht weit offen. Olga schaut hinein. "Man hat hier alles fortgeschafft", sagt sie verwundert. Nur Schnee liegt in der kleinen Kirche. "Auf Polnisch heißt sie Kapli?ka. Wisst Ihr vielleicht, wie man sie auf Russisch nennt?" Anwar fällt das Wort für Kapelle nicht ein. Ist er denn nicht religiös? O-TON Anwar 2. SPRECHER Wie soll ich Ihnen das erklären? Ich bin Muslim. Ich bin Tatare, wissen Sie, und wir Tataren sind Muslime. Bei uns gibt es keine Kapellen, nur Moscheen. ERZÄHLER Für die ermordeten Tataren gibt es hier kein Denkmal. Olga sagt: O-TON Olga SPRECHERIN An diesem Berghang hat man die Leute erschossen. Man hat sie hier erschossen und in aller Eile begraben. Und was geschieht heute? Jeden Frühling, wenn der Schnee schmilzt, schwemmt das Wasser viele Knöchelchen fort. Das sind die Gebeine der Erschossenen. Unsere Museumsleiterin bezahlt dafür, wenn jemand sie aufsammelt und ordentlich begräbt. So war es im letzten Jahr, und auch in diesem Jahr wird es wieder so sein. ATMO Olga, Glocke ERZÄHLER Bevor wir gehen, lässt Olga die Glocke am Tor noch einmal läuten. Das mögen die Seelen der Ermordeten, erklärt sie. ATMO Autofahrt, Olga ERZÄHLER Auf der Rückfahrt wiederholt Olga immer wieder: "Da drüben war unser Lager. Dort, sehen Sie? Und hier war auch ein Lager." Olga zeigt uns die Poststation, in der sie einst arbeitete, und in der Leninstraße die Gebäude, die sie gemeinsam mit anderen Häftlingen errichtete. Die prächtige Kombinatszentrale, heute Konzernsitz von Norilsk Nickel, Wohnhäuser und ein Gästehaus für Spitzenfunktionäre, heute für die Konzernmanager. Zum Glück wohne ich nicht in diesem Hotel, für dessen Bau die vierzehnjährige Olga den Dauerfrostboden aufhacken musste. Die Konzernchefs planen zusammen mit der Stadtverwaltung ein Museum auf dem Golgatha-Gelände. Die Bauherren verlangen: 2. SPRECHER "Das Museum soll beide Seiten im Leben des Sowjetstaates dokumentieren: Das glückliche und zielbewusste Leben der Erbauer des Kommunismus und der Eroberer des Nordens einerseits und die Tragödie von Millionen Verfolgten andererseits." ATMO Autofahrt mit Anwar und Olga ERZÄHLER Die ganze Stadt scheint heute mit dem Auto unterwegs zu sein. Anwar greift sein Lieblingsthema auf. "Den da kenne ich!" Anwar zeigt auf den Fahrer vor uns "Er fährt einen Diesel, dieser Knauser!" Graue Abgaswolken ziehen an unserer Windschutzscheibe vorbei. Auch parkende Autos dampfen wie alte Lokomotiven. Während man einkauft oder Bekannte besucht, stellt man in Norilsk den Motor nicht ab. Denn sonst friert er garantiert ein und lässt sich nicht wieder starten. Immer wieder begegnen uns Autofahrer, die Anwar kennt. "Der da", sagt er, "hat in seinen alten Sowjetwagen einen Mercedesmotor eingebaut." Olga, die lange schweigend mit uns im Auto saß, hat sich inzwischen wieder gefangen und scheint sogar Verständnis für Anwars Begeisterung zu haben. "Was für ein schlauer Junge! Wie gut er sich auskennt", sagt sie. Wir bringen Olga in die Laureatenstraße zurück. Ich fahre weiter mit. Anwar will mir noch etwas Wichtiges zeigen. Unterwegs sagt er, Olga sei schon in Ordnung, "normal", ein Großmütterchen eben. ATMO Autofahrt O-TON Anwar 2. SPRECHER Sie ist genauso wie alle anderen Großmütter in Russland. Sie sind alle gleich. Sie erzählen über die alte Zeit, über den Krieg und so. Sie erzählen alle absolut gleiche Geschichten: Wie schlecht es ihnen damals ging. Dabei sehen sie auch alle gleich aus, ihre Gesichter sind voller Falten, einfach furchtbar. Weil ihr Leben so furchtbar war. Zumindest im Vergleich mit unserem. Auch mein Großvater und meine beiden Großmütter arbeiteten während des Krieges. Sie wurden dafür sogar mit der Medaille "Veteran der Arbeit" ausgezeichnet. MUSIK D. Shostakovich, String Quartett Nr. 8 op. 110, c-Moll, Quartet III Allegretto, CD Shostakovich String Quartets 1-13, Borodin- Quartet 3 ERZÄHLER Solche Medaillen haben meine Eltern auch. Als Veteran der Arbeit galt in der Sowjetunion jeder, der länger als 30 Jahre berufstätig war. Insgesamt sind das heute über 40 Millionen Menschen. Olga gehört nicht zu ihnen. Die Zeit im Lager wurde ihr nicht angerechnet. Ein Privileg will Olga aber auf jeden Fall beanspruchen, hatte sie mir erzählt: Einen Zuschuss für den Kauf einer Wohnung in Südrussland. Die Stadt Norilsk übernimmt die Wohnungen von Rentnern und kauft ihnen Wohnungen auf dem "Kontinent", wo sie viel teurer sind. Tausende betagter Ausreisewilliger warten bereits seit Jahren, und manche von ihnen sterben, noch bevor sie ihr neues Zuhause beziehen können. Als ich mich von ihr in der düsteren Laureatenstraße verabschiede, sagt Olga: SPRECHERIN "Sie brachten mich hierher, also sollen sie mich wieder zurück bringen. Meine Seele ist rein, ich habe niemanden an sie verraten, und ich bin bereit zu sterben. Aber nicht an diesem Ort!" ATMO Industriegebiet, leise ERZÄHLER Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, aber Viktor rief mich tatsächlich an. "Kommen Sie mit, ich führe Sie noch einmal ein bisschen herum", sagte er. ATMO Autos, Schritte, Viktor ERZÄHLER Wir fahren noch einmal ins Industriegebiet. Viktor zeigt mir die von den Häftlingen erbauten Verwaltungsgebäude. Eine Sporthalle mit Säulengang. Einen Kulturklub mit hübschen Balkonen. Im arktischen Klima kann man nur ein paar Wochen im Jahr auf den Balkon. Viktor ist stolz auf die Norilsker Architektur, es sei hier fast so schön wie in St. Petersburg. O-TON Viktor 1. SPRECHER Und in diesem Haus war die Hauptverwaltung aller Norilsker Lager. Es gibt Dokumente, die es mit ziemlicher Sicherheit belegen. Später wurde dieses Gebäude jedoch umgebaut. Schlichter gestaltet... ERZÄHLER Ist das alles, was er mir zeigen will? Plötzlich fasst mich Viktor leicht am Ärmel und sagt leise: "Schalten Sie bitte Ihr Mikrophon aus." O-TON Viktor ERZÄHLER Viktor führt mich auf einem Trampelpfad an der ehemaligen Lagerverwaltung vorbei, zwischen vernagelten Schuppen, eingeschneiten Autowracks und rostigen Zisternen. "Wenn sie das hören", sagt Viktor über die Obrigkeit, "könnte ich meine Arbeit verlieren. Und Arbeit bedeutet bei uns Überleben." MUSIK D. Shostakovich, String Quartett Nr. 8 op. 110, c-Moll, Quartet V Largo, CD Shostakovich String Quartets 1-13, Borodin- Quartet 3 ERZÄHLER Wir sind am Ende des Pfades angelangt. Das Gelände fällt ab, vor uns stehen im Schnee riesige Hangars. Viktor macht einen Schritt nach vorn, tastet mit dem Fuß den Schnee ab, ob er sein Gewicht hält, beugt sich herab und greift nach einem Holzpfeiler, der aus dem Schnee ragt. "Hier", sagt Viktor und gibt mir ein Stückchen verrostetes Metall. Es ist ein Stück Stacheldraht. "Das ist alles, was hier in der Stadt vom Gulag übrig geblieben ist", flüstert Viktor. Hatte er nicht neulich noch offen in mein Mikrophon gesagt, dass in Norilsk bald wieder die Wachtürme des Gulags stehen würden? Es kann noch nicht ganz soweit sein. Noch ist das Leben in Norilsk, wie Viktor sagen würde, "normal". Das heißt: Es geht noch viel schlimmer. 1