DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Feature Lin und Eberhard - die Geschichte einer großen Liebe Von Ed Stuhler Regie: Anna Panknin Ton und Technik: Redaktion: Ulrike Bajohr Sprecherin Lin Sprecher Eberhard Sprecher An- und Absage und S. 26 Wiederholung vom 8. Februar 2013 Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - korrigierte Sendefassung - Sendung: Freitag, 19. September 2014, 20.10 - 21.00 Uhr O-Ton Eberhard Rebling Das größte Glück ..., das ich hatte, das war, ... dass ich die Lin kennen lernte! Ich habe ihr Herz dann gewonnen durch meine Musik. ... Da hab ich also ... E-Dur-Etüde (singt!) hat ich extra für sie studiert. Musik 1: Frederick Chopin: E-Dur-Etüde Nr. 10 (über den ganzen Prolog) O-Ton Lin Jaldati Damals hab ich mir vorgestellt, ... ein langes rotes Kleid, das sehr weit war, ... und das Theater war voll, und die sind extra gekommen, mir anzusehen, und dann hab ich auf de Bühne eine Flamme getanzt. ... (lacht) ... war ein Riesenerfolg ... und dann hat mich ein Herr abgeholt am Ausgang, das war ein wunderschöner Mann, dunkel und schwarz, nicht so blond, was ich jetzt habe (lacht). O-Ton Lin und Eberhard Bei mir hat es ... sofort geknallt. Ich war also, wie Tamino, auf den ersten Blick verliebt, dies Bildnis ist bezaubernd schön. Und aber ich fühlte genau, dass sie ... Lin: Nicht wollte ... Eberhard: ... du nicht wolltest, ja. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass du doch irgendwie einsam und unglücklich warst, obwohl du darüber nie gesprochen hast. Ich war auch sehr einsam, ... aber ich hatte irgendwie das Gefühl, ich musste Geduld haben. Und dann ... kam der Silvesterabend ... na ja, und da gabs also den ersten Kuss nachts um 12 ... Lin: ... ein Neujahrskuss ... Eberhard: Na ja, aber von mir aus, und von dir aus, wars doch schon ein bisschen mehr als ein normaler Freundschaftskuss ... Lin: Bei dir! Aber mir nicht (Lachen) O-Ton Lin Weil ich immer gut sein wollte ... bin ich bei eine russische Lehrerin in Paris in Studio und da hab ich dann noch Unterricht genommen. Und da kam ich zurück davon und da war mein Zimmer, ... da schlief ein andern drin. Und ... die Haushälterin hat zusammen gespannen, sagt, schlaf doch bei dem armen Eberhard, der ist so einsam. ... Und der ist so verliebt in dich. ... Und da bin ich bei ihm gegangen. Und dann bin ich schlafen geblieben und dann bin ich geblieben (lacht) und dann bin ich schon fast 50 Jahre geblieben. Ansage: Lin und Eberhard - die Geschichte einer großen Liebe Ein Feature von Ed Stuhler O-Ton Eberhard1 Mein Vater sagte immer vor 33, du hast zu viel jüdische Freunde! Wenn du mir nur nicht mit einer jüdischen Frau ins Haus kommst! Wir waren nicht drei Brüder im brüderlichen Sinne, sondern gingen jeder unseren Weg. Mein ältester Bruder, der war, ich nannte ihn dann der Untertan, der hat immer alles gemacht, was sein Vater sagte. Mein zweiter ist SA-Mann geworden und 1944 im November, als der Krieg schon beinahe zu Ende war, hat er sich freiwillig für die Waffen-SS gemeldet und dann hier auf den Seelower Höhen gefallen. O-Ton Lin Die prägenden Erlebnisse sind eigentlich meine Eltern gewesen und überhaupt das Elternhaus, das ein sehr glückliches Elternhaus war, wo es sehr oft nicht viel gab - ich meine, wir haben es wirklich nicht breit gehabt - aber wo eine sehr große Wärme und Liebe füreinander gewesen ist. Ich glaube, dass das Prägnante ... in meiner Jugend gewesen ist, dass die Menschen in meiner Umgebung auch, auch die Nachbarn und die Tanten und die Onkel, die ganze Familie, alles sehr zusammenhing, und sich aneinander freute auch, miteinander Krach hatte, denn das gehörte zusammen, ... Krach zu haben, um sich wieder versöhnen zu können. (lacht). O-Ton Eberhard Meine Klavierlehrerin sagte zu mir 1933: Ja, der Arthur Schnabel und der Leonid Kreutzer und der Erwin Bodky ... die Juden, die haben jetzt abgedankt, jetzt kommt deine Chance! Ich habe da Einfluss, du kannst in 1937, in ein paar Jahren, kannst du Professor werden. Ich sagte, nee, nicht ich. ... Wenn ich Nazi geworden wäre, hätte ich große Karriere machen können, wär ich ein berühmter Nazipianist geworden. Aber, nee! Das war nix für mich! O-Ton Lin Mein Urgroßvater war ein musikalischer Clown und seine größte Nummer war, dass er mit seine Toches auf Stühle hin- und hergesprungen ist (lacht) und dann Melodien gespielt hat, das war ein Sensationsnummer. Und mein Vater ist mit sein Großvater immer mit auf Reisen gewesen mit dem Zirkus. Musik: Fröhliche alte Klezmer-Musik O-Ton Lin Das ist eine Welt, die wirklich nicht mehr besteht. Freitag Nachmittag standen die Stallen auf der Straße mit Gemüse, mit Obst, mit Blumen ... Und es roch, es war immer ein bestimmter, wie wird ich sagen, Geruch in der Luft und zwar ein Geruch von süße Datteln und Feigen, auch von saure Gurken, saure Eier und diese Dinge auch. Erzählerin Lin Das war eine ganz spezielle Atmosphäre. An den jüdischen Feiertage lebte das ganze Stadtviertel auf, da wurde auf der Straße getanzt und gefeiert. Mein Großvater bestand darauf, dass an Feiertagen alle Kinder und Enkel zu ihm kamen, und da wurde viel gesungen. So hab ich viele Lieder kennen gelernt. Erzähler Eberhard Im Frühjahr 1932 - ich war 21 - lernte ich auf einer Konzertreise den holländischen Kunsthistoriker Leo Balet kennen. Wir verstanden uns auf Anhieb, und ich klagte über mein Studium. Ich studierte damals noch Musikwissenschaften in Berlin. Vor allem die Vorlesungen fand ich unsinnig: wir lernten nur Daten und Fakten, die man auch hätte lesen können, mir fehlten die Zusammenhänge, mir fehlte das Gespräch. O-Ton Eberhard Und daraufhin hat er erst sehr drüber gelacht ... Und plötzlich wurde er ernst und sagte: Haben sie etwas von Karl Marx gehört? Sag ich, nee, wer ist denn das? Da sagt er: So sind unsere Universitäten. Studiert Philosophie ... im vierten Semester und hat noch nicht mal den Namen Karl Marx gehört. Und dann hat er mir also von Berlin bis nach Breslau einen Vortrag gehalten ... über Historischen und Dialektischen Materialismus, über Sozialismus und Kommunismus, und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. O-Ton Lin Ich wollte tanzen. Meine erste Ausbildung, die hab ich bezahlt von meinem Taschengeld. ...Und dann später bin ich bei einer, das war eine Tänzerin, die hat ein Tanzschule in Amsterdam, Florrie Rodrigo, ... die hat auch Laien unterrichtet. ... Und ich muss begabt gewesen sein, denn sie hat mich gern Unterricht gegeben. Und dann hat mein Vater entdeckt, dass ich ... in ne Tanzschule ging. Und dann ist er zu ihr gegangen, hat ihr das verboten mich weiter Unterricht zu geben Erzählerin Lin Er wollte eine anständige, gut jüdische Tochter. Und das bin ich nie gewesen. O-Ton Lin So, und dann hat eine andere Frau mich Unterricht gegeben, das ist Lili Green, die hat eine große Tanzschule in Amsterdam gehabt, und die hat mein Vater getrotzt. Die hat gesagt, ich geb sie Unterricht und damit aus. Und wenn sie hier wiederkommen, dann haben sie Hausfriedensbruch gemacht und dann lasse ich sie durch die Polizei rausschmeißen. Und da hatte ich nicht viel Geld und da hat sie mir Gratisunterricht gegeben. Sehr lange Jahre. O-Ton Lin Ich durfte nicht tanzen, ich hab das für meine Freude gemacht und hab mein Geld verdient erst in der Konfektionsfabrik, da hab ich nähen gelernt, einfach am Band. Ich war tagsüber in der Fabrik, abends hab ich Unterricht gehabt, mittags zwischen de Pause hab ich Unterricht gehabt. ... Wenn ich was will, dann beiß ich auch die Zähne zusammen. Und ich bin, glaub ich, ein sehr anständige Tänzerin geworden, Spitze, ja, ich mein, richtig klassische Schulung gehabt. Und Tanzen hab ich dann für meinen Beruf später gemacht, als ich etwas älter war und hab damit auch versucht, mein Geld zu verdienen als Tänzerin. Musik: TanzRevue "When You're Smiling" O-Ton Eberhard Und dann kam ... der 27. Februar. ... Ich bin am Abend in der Staatsbibliothek gewesen, hab dort bis um 9 Uhr gearbeitet, der Musiksaal wurde zugemacht, und da bin ich nach Hause gelaufen. ... Und Untern Linden, bin ich entlanggegangen, und da waren schon so viele Polizeiautos und Feuerwehren fuhren hin und her. Ich sag, was ist denn los? Und da kam ich zum Brandenburger Tor. Hab den Reichstag brennen sehen! ... Am nächsten Tag stand also in der Zeitung, dass der van der Lubbe das gemacht hat. Ich sag, das ist unmöglich! Dieses riesige Gebäude brannte an allen vier Ecken und Enden. Erzähler Eberhard 1936 hatte ich begriffen, dass ich in Deutschland nicht mehr leben konnte. Ich habe meine Promotion zu Ende gebracht und bin dann mit Koffer und Schreibmaschine nach Den Haag gefahren. An Bahnhof hab ich in einem Zigarrenladen nach einer billigen Pension gefragt. O-Ton Eberhard Und da sagte er, ... gehen sie hier die Straße runter und dann links rum am Fluwelen Burgwal Nummer 8. Und da ging ich hin, und da kam mir schon so komisch vor, so dunkle Stimmung und sehr stark geschminkte Dame. Und sie bot mir also an Übernachtung, ja, eine Woche ist billiger, Übernachtung mit einem Frühstück. Und als ich das dann bezahlt hatte die ganze Woche, ... da merkte ich erst, dass das ein Puff...ich hab eine Woche im Puff gelebt und die Damen haben wirklich gestaunt, dass ich nicht von ihren Diensten Gebrauch gemacht habe. Erzähler Eberhard Nach einer Woche bin ich dann in einem Gemeinschaftshaus untergekommen. Erzählerin Lin Ich habe damals auch in einem Gemeinschaftshaus gewohnt, in Amsterdam. Wir waren gegen alle bürgerlichen Konventionen, das fanden wir lächerlich. O-Ton Lin Warum muss man verheiratet sein, wenn man selbständig ist und selber sein eigen Geld verdient? Dann braucht man doch nicht zu heiraten, ist doch ein Unsinn. Und in Den Haag war ein Gemeinschaftshaus, genau wie in Amsterdam. ... Und in diesem Haus wohnte der Eberhard Rebling. O-Ton Eberhard Das waren ... lauter fortschrittliche Leute, ... sie waren also auch sehr freizügig, was freie Liebe betrifft usw. ... Das war für mich etwas ganz Neues, diese Art der Freizügigkeit. Ich bin doch also so streng preußisch erzogen worden. ... Ich fand das phantastisch! ... Die meisten waren Studenten an der Hochschule für Bildende Kunst in Den Haag. Und als sie hörten, dass ich Pianist bin, ach, du musst bei mir einen Klavierabend geben. Und da hab ich einen Klavierabend gegeben und sie haben also alle möglichen Leute eingeladen. Musik: E-Dur-Etüde O-Ton Eberhard Und so habe ich mir also schon im ersten Jahr eine eigene Existenz aufbauen können. Erzählerin Lin 1938 war das, als ich mich bei Eberhard in Den Haag eingenistet hab. Erzähler Eberhard Das war das größte Glück für mich, Lin kennenzulernen! O-Ton Eberhard Ich hab sie also kennen gelernt und sie sang so ab und zu Lieder, und da hab ich sie gefragt, was ist denn das? ... Und da sagte sie jiddische Lieder. ... Ich hatte zwar Musikwissenschaft studiert , aber ich wusste nicht, was jiddische Lieder sind. Und da holte sie ausm Schrank ein paar Bücher raus,.. hier lies das mal durch. Das ist die jiddische Kultur. Und ich las das und sie sang mir etliche von den Liedern vor. O-Ton Lin "Rejsele" ist natürlich mein besonderer Liebling, ... das ist ein mir besonders, ja wirklich besonders am Herzen gewachsen, weil, durch Rejsele haben wir uns kennen gelernt (lacht). Ja, das hab ich gesungen, als er das erste jiddische Lied hörte, so für mich hin: (singt) "Schtejt sich dort in Gessele schtil fartracht a Hajsele, Drinen ojfn Bojdenschtibl wojnt majn tajer Rejsele ..." das ist es (lacht) Musik: Lin, Rejsele O-Ton Eberhard und Lin Die Liebe zu meiner Frau hat sich verbunden mit der Liebe zur jiddischen Kultur. Lin: (lacht) Er musste ... Das war kein Müssen, das war ein inneres Müssen, weil für mich das wirklich eine ganz neue Entdeckung war! Erzählerin Lin Ich bin 1912 in der Nähe des Rembrandt-Hauses geboren, buchstäblich im Herzen des Amsterdamer Judenviertels. O-Ton Lin Bei uns ... in de Nieuwe Kerkstraat wurde noch auf de Straßen durch de Ostjidden getanzt ... Das war genauso Schtetl wies im Osten war. Meine Großmutter ...sang immer jiddische Lieder und so Schlaflieder. Und als kleines Kind bin ich mit mein Vater mitgewesen nach eine Tante von ihm. Das war eine uralte Frau und die hatte eine kleine Geige versteckt in ihrem Schrank. ... Und sie holte diese Geige runter und spielte auf die Geige eine jiddische Melodie, zittrig und allem. Und diese Melodie, die hat mich begleitet ... mein ganzes Leben ungefähr. ... Komisch, dass ich mir das plötzlich erinnere. ... (singt): Hinter dem kinds wigele shtejt a golden zigele, dos zigele is geforn handlen, rosinkes ... Musik: "Rozhinkes mit Mandlen" (hist. Aufnahme v. 1937) O-Ton Lin und Eberhard Eberhard: Wir liebten uns sehr und wir wollten heiraten, aber das ging nicht, weil ich als Reichsdeutscher den ... Gesetzen unterworfen war. Lin: Du hast nicht erzählt, ... dass du die Bourgeoisie verraten hast. Eberhard: ... mein Vater war bis 1918 Berufsoffizier und meine ganze Familie ... Lin: ... hat sein Klasse verraten ... (lacht) Eber: ... ist natürlich mit dem ... Faschismus mitgegangen und ich bin ... als schwarzes Schaf in der Familie gewesen, dass ich also ins Ausland ging und mich ganz offen als Antifaschist betätigt habe. Nun gut, wir konnten nicht heiraten und dann sind wir eben ohne Heirat beieinander geblieben. Eberhard: Wir haben uns dann also darauf spezialisiert, dass wir ... jiddische Programme aufgebaut haben. Jiddische Lieder, ich hab Klaviersoli gespielt und sie hat also Tänze gemacht auf jüdische Themen. Erzählerin Lin Meinen Vornamen, Rebekka, hat nie jemand benutzt, ich war immer Lientje. Oder als Tänzerin: Lin. Dazu passte mein Familiennamen überhaupt nicht: Brillenslijper! Ein Freund hat mich immer "Jaldati" genannt. Das ist aus einem alten hebräischen Lied, es heißt: "die Schöne". Erzähler Eberhard Lin Jaldati. Lin, die Schöne! Unsere Programme kamen gut an, dazu verdiente ich dann noch ein bisschen Geld als Musikkritiker. Bis zum September 1939 war alles wunderbar. O-Ton Lin In dem Ersten Weltkrieg ist Holland neutral geblieben, und im Allgemeinen ... waren wir überzeugt, die trauen sich das nicht. Und es waren sehr viele sehr lang überzeugt. ... In 39 kam eine junge Emigrantin aus Deutschland, die nach England ging. Und die sagte, in Berlin wird gesagt, im Frühling holen wir die holländische Butter, da wussten wir es. Musik : Lin "`s brent" Es brennt, Brüder, es brennt! Ach, unser armes Schtetl brennt! Böse Winde mit ihrem Brausen Zerren, brechen und zerzausen, stärken noch die wilden Flammen, alles ringsum brennt. Und ihr steht und schaut herum mit verschränkten Armen, und ihr steht und schaut herum wie unser Schtetle brennt! Erzählerin Lin Es war der ....24. April 1940. Da sang ich -begleitet von Eberhard - in Den Haag. Das Konzert war ausverkauft, das Publikum tobte. Nach dem Konzert sprach uns ein begeisterter Konzertmanager an, er wolle für das nächste Jahr Konzerte in der Schweiz und England organisieren. Erzähler Eberhard "Bomben auf Den Haag, am 10. Mai 1940 früh um halb sechs. Ich war sofort wach, hörte einige dumpfe Einschläge, das Gedröhn von Flugzeugen, ab und zu war wieder Ruhe, dann neue Detonationen. Jetzt war es soweit, der braune Morast wälzte sich über das friedliche Holland."2 O-Ton Lin Und wir sind nach Amsterdam zu Besuch zu gute Freund gegangen, und der hat ein Baby gekriegt, ein ganz süßes Baby. Und wir sahen das Baby ... und waren so verliebt drin, dass wir sagten, ja, eigentlich, warum sollten wir kein Kind kriegen, irgendwo kommt's schon durch. Und wir hatten immer das Gefühl, die Nazis können nicht gewinnen. ... Das war einfach da. Wir wussten irgendwo ganz tief, ... die können nicht gewinnen! Erzählerin Lin Und dann kam Kathinka. Erzähler Eberhard Im August 1941 wurde unsere Tochter geboren. O-Ton Eberhard und Lin Also offiziell durfte ich gar nicht als Vater irgendwie in Erscheinung treten. Aber es hatte eben in Holland sicher große Vorteile, dass man doch, auch damals noch, verhältnismäßig normal leben konnte, weil, ... der wirklich ganz große überwiegende Teil der holländischen Bevölkerung gegen den Faschismus war. Und wenn also auch nicht dieser ganz große Prozentsatz aktiv sich beteiligt hat an Aktionen, so waren sie doch auf alle Fälle in einer Art ... Lin: Passive Resistenz ... Eberhard: ... so dass irgendwelche Denunziationen oder so etwas gab es sehr wenig. Erzählerin Lin Ich habe bis 1941 unter meinem eigenen Namen normal in Den Haag gelebt, und habe dort Unterricht gegeben. O-Ton Eberhard und Lin Zweiundvierzig erging der Befehl, ... an alle Künstler in den Niederlanden, Mitglied der Kulturkammer, die dort auch gegründet wurde, zu werden. Und wer nicht Mitglied der Kulturkammer war, durfte nicht öffentlich auftreten. Und nun gab es sehr viele Künstler, besonders Einzelkünstler, also Maler und Bildhauer und Sänger und Pianisten, die geweigert haben, Mitglied zu werden und es entstand eine große Bewegung illegaler Konzerte, die in Privathäusern gegeben wurden, illegale Hauskonzerte ... Lin: ... und Ausstellungen ... Eberhard: ... tausende von diesen Konzerten gegeben worden. Und wir haben zusammen Abende mit jiddischen Liedern gegeben. Musik: Schwarze Karschelech O-Ton Eberhard und Lin Das war natürlich immer, ... eine gefährliche Sache. ... Aber es war für die Menschen, die es gehört haben, für die war es in dieser entsetzlichen Zeit ein ... Lin: ... ein Auftanken ... Eber: ... richtig, ein Auftanken durch die Kunst, auch grade der jiddischen Lieder, ihre Menschlichkeit in dieser inhumanen Umgebung zu bewahren. Erzählerin Lin Ich habe vor allem heitere Lieder gesungen, um den Menschen Mut zu machen. Keines dieser Konzerte ist jemals geplatzt oder verraten worden. Erzähler Eberhard Und dann, 1942, gab es einen Generalstreik - als die ersten Juden abtransportiert werden sollten. O-Ton Lin Die ganze Provinz Nordholland und ein Teil auch von Südholland hat Generalstreik gemacht. Das haben die Nazis nie erwartet, in so ein kleines Volk. Und die haben sie viel zu schaffen gegeben. Dadurch ist auch geschehen, dass die Judentransporten verschoben wurden. O-Ton Eberhard Das sind ... diese merkwürdigen Gegensätze: Wie wir uns gefreut haben, als das Kind da war, das ist unbeschreiblich, in einer Zeit, die so drohend war, wo man nicht wusste, wie es im nächsten Jahr weitergehen sollte. Zur gleichen Zeit bekomm ich also den Aufruf zur faschistischen Wehrmacht, musste zur Musterung und bekam ... den Befehl, mich im Januar Zweiundvierzig dann in Wolfenbüttel zu melden bei der und der Einheit. Und wir berieten uns also mit vielen Freunden ... und konnten alles darauf vorbereiten, dass ich an diesem Tage also nicht nach Deutschland ging, nicht dem Befehl folgte, sondern in die Illegalität ging. Erzähler Eberhard Ich musste untertauchen. Freunde aus dem Widerstand gaben mir einen Ausweis auf den Namen Jean-Jacques Bos. "Ich ließ mir einen Schnurrbart wachsen und hatte mir schon in Den Haag eine ganz andere Brille und einen Hut gekauft; niemand auf der Straße durfte mich gleich wiedererkennen. Ab und zu erhielt ich Briefe von Lin. Ich las sie wohl hundertmal, immer und immer wieder. Sie schrieb über Kathinka und allerhand Tratsch in der Bankastraat. Ich schrieb ihr auch. Liebeserklärungen, sonst nichts."3 O-Ton Lin Zweiundvierzig hab ich mich ... noch normal bewegt, ich konnte Papieren wegbringen, Zeitungen wegbringen, das konnte ich normal machen. Ich bin auch ohne Stern gelaufen und hab mich an nichts was gestört. Und das konnte auch, ja, weil ... ich hab mein Haar hochgemacht und hatte einen falschen Ausweis, darin stand, ...dass ich in Indonesien geboren war, und zwar in Surabaya. ... Eines Tages kamen sie nach ihm fragen im Haus und jeder wusste im Haus, dass wir zusammengelebt haben. ... Ich bin gewarnt worden, dass ich nicht nach de Bankastraße kommen soll. ... Und dann sind sie später auch für mich da in dem Haus gewesen. ... Man hat zwar Angst gehabt, aber nicht so wahnsinnig Angst, weil man sich normal bewog noch, weil man überall hinging. Ich hab Lebensmittel eingekauft für Menschen, die nicht raus konnten. Ich fühlte mich sehr sicher mit dem falschen Ausweis. Erzählerin Lin Ende Juni 1942 hörten wir zum ersten Mal, dass in Amsterdam registrierte Juden einen Befehl erhalten hatten, sich innerhalb weniger Tage an einer bestimmten Stelle einzufinden, um zum "Arbeitseinsatz" nach Deutschland verschickt zu werden. ... Die Gutgläubigen folgten dem Aufruf, viele andere aber tauchten unter.4 Erzähler Eberhard Ich schaffte es, im Januar 1943 unter meinem falschen Namen in Küstennähe ein abgelegenes Haus zu mieten - das "Hohe Nest". Hier tauchte Lins ganze Familie unter - ihre Eltern, ihr Bruder Jakob und ihre Schwester Jannie mit Familie. Und mittendrin, Kathinka: O-Ton Kathinka Da war Heide und irgendwelche Hügels und im Garten waren da Sträucher, da hing so Klapbese dran, so Beeren, so weiße Beeren, wenn man drauftrat, dann gabs son Klap. Und an das Haus selber kann ich mich weitestgehend nicht erinnern, nur dass beispielsweile in der Küche eine sehr hohe Anrichte war. An meinen Opa ... kann ich mich gut erinnern. Der war eigentlich immer fröhlich, ... er steckte voller Geschichten. ... Wir Kinder krochen da furchtbar gerne zu ihm hin, weil, der ... konnte ganze Familien unterhalten. Besonders liebte er die biblische Geschichte und er hat dann Geschichten von Adam und Eva erzählt. Wir waren ... drei Kinder, das war mein Cousin Rob, meine Cousine Lilo, die war etwas jünger ... als ich. Wir hatten auch viel Untertaucher, die so sporadisch immer mal vorbeigekommen sind, Juden und Nichtjuden, also die von der Kommunistischen Partei oder irgendwelchen Dingen ins Hohe Nest gelotst wurden, die dann auch irgendwann mal wieder verschwanden. Das waren wir gewohnt. Musik: Eberhard Klavier "Nigum - Lied des Widerstandes" Erzähler Eberhard "Im "Hohen Nest" haben wir viel musiziert. Vor dem Krieg hatten wir aus Vilna mehrere wunderschöne Nigunim, jiddische Lieder ohne Text, geschickt bekommen. Ich arrangierte sie zu Klavierstücken. Das letzte dieser Stücke nannte ich ‚Lied des Widerstands'."5 O-Ton Lin und Eberhard Eberhard: Wir hatten ein Klavier im Hause ... Lin: ... der übte jeden Tag, ich sang jeden Tag meine Lieder und versuchte das ... Eberhard: ... wir haben neue Tänze erarbeitet ... Lin: ... neue Tänze haben wir erarbeitet ... Eberhard: ... obwohl nur ein kleiner Raum war ... Lin: Wir haben auch ganze Oper durchgenommen, ich hab Bass gesungen, er Sopran und solche Sachen. Erzählerin Lin "Um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein, baute mein Bruder Jacob in allen Zimmern der beiden oberen Etagen Verstecke. Zur holländischen Wohnkultur gehören eingebaute Schränke, die gab es auch in unserem "Hohen Nest". Unter und über diesen Schränken und in den Bodenzimmern zwischen den Zimmerwänden und dem Dach befanden sich Hohlräume, Jaap hat nun diese Hohlräume in Verstecke für ein oder zwei Personen verzaubert. Die Eingänge, aufklappbare Deckel, tarnte er so geschickt, dass sie nicht erkennbar waren."6 Erzähler Eberhard Manchmal versteckten sich bei uns 20 Menschen gleichzeitig. Das ging anderthalb Jahre lang gut. Am 10. Juli 1944 wurde unser Nest von der holländischen Polizei und dem deutschem Sicherheitsdienst umstellt. Die haben alle Erwachsenen verhaftet und nach Amsterdam geschafft. O-Ton Kathinka Soweit ich mich entsinnen kann, es gab keine Panik bei den Kindern, wir haben nicht geschrien oder geweint oder geheult oder - nix, ... als ob man erstarrt wäre in dem Moment. ... Und es wurden die einzelnen Gruppen voneinander getrennt und meine Mutter kriegte sozusagen einen hysterischen Anfall und sagte, ja, um Gottes Willen, die Kinder, die Kinder, die Kinder! Und da geschah etwas, was uns ...das Leben gerettet hat: Ein holländischer Polizist erklärte sich bereit, uns drei Kinder zu den Hausärzten zu schaffen. ... Ich kam zu Dr. van den Berg, das war unser Hausarzt. Und dieser Dr. van den Berg, ... der sollte mich dann ... der Gestapo abliefern. Musik: Eberhard Klavier, Lied des Widerstands Erzählerin Lin "Zu unserem Erstaunen brachten sie Eberhard und mich in dieselbe Zelle. Wir verbrachten die letzte Nach zusammen. Eberhard hatte immer noch ein Fünkchen Hoffnung. Ich heulte. Er tröstete mich wie immer. So nahmen wir Abschied voneinander."7 Erzähler Eberhard Ich sah... wie Lin abgeführt wurde. Ihren letzten Blick werde ich nie vergessen. Wir hatten mit dem Leben abgerechnet. Ich wunderte mich über mich selbst, ich war gefasst. Angst vor dem Tod hatte ich nicht, auch später nie. Aber dieses merkwürdige Gefühl, lebend nicht mehr zu leben, habe ich nur damals gehabt."8 O-Ton Eberhard Am 13. Juli 44, im Haus ... des Sicherheitsdienstes, der SD, von dem Chef, wurde mir mitgeteilt, morgen übergeben wir Sie dem Militärgericht und die machen kurzen Prozess. Sie werden zum Tode verurteilt wegen Fahnenflucht, Sabotage, Landesverrat und Rassenschande - das genügt. Musik: Eberhard Klavier: Lied des Widerstandes weiter Erzähler Eberhard Am nächsten Morgen wurde ich zusammen mit Lins Schwester Jannie in die "Grüne Minna" geschubst. Es war heiß, die hinteren Fenster des Polizeiautos standen offen. "Plötzlich hielt das Auto. Auf der gegenüberliegenden Bank saß der eine Polizist, rechts von mir saß Jannie und neben ihr der andere Beamte. Er öffnete die Tür, stieg aus und sagt: ‚Ich komme gleich wieder.' Jetzt wurden wir nur von einem Mann bewacht. Ich blickte Jannie kurz an - in freundlichstem Ton begann sie ein Gespräch mit dem Polizisten. Blitzschnell zwänge mich hinter Jannies Rücken durch das Fenster und springe hinunter. Im gleichen Augenblick fällt Jannie dem Polizisten in den Arm. Es dauert vielleicht zwei oder drei Sekunden, ehe er sie zur Seite stoßen kann. Er erwischt aber nur einen Zipfel meines dünnen Regenmantels. Ich stehe schon auf der Straße und zerre, der Mantel zerreißt. Ich renne weg, so schnell ich kann. Gleich wird er schießen, denke ich. Aber nein, kein Schuss fällt. Ich renne an Menschen vorbei, die sich nach mir umdrehen. Da plötzlich sehe ich einen Polizisten vor mir. Da ist ein Polizeirevier. Zurück kann ich nicht. Weiterrennen, denke ich, an dem Polizisten vorbei. Er tut, als ob er mich nicht sieht. Viel später hörte ich, dass ich in dieses Polizeibüro hätte gehen können. Sie hätten mich versteckt. Im September sind sie alle untergetaucht."9 O-Ton Kathinka Der holländische Widerstand, ... das waren ... nicht nur Kommunisten, ... da haben die Kommunisten mit den Königstreuen zusammengearbeitet und mit den Heeres, also mit den Armeeleuten, als das war ein einheitlicher Widerstand. Und die Frau war ... in Richtung königstreu. ...die hat mich geschnappt, hat mich hinten aufs Fahrrad gesetzt ... und hat mich zu Freunden gefahren, wo ich untergekommen bin. ... Ich war wie erstarrt ... ich kannte die ja überhaupt nicht. Ich weiß nur, dass ich aufgewacht bin, als ich an der Adresse gelandet bin, wo ich wahrscheinlich, wenn meine Eltern nicht wieder gekommen wären, geblieben wäre mein ganzes Leben. Und das war die Familie de la Court. Und Vater hat mich dort immer besucht. Der ist also mit dem Fahrrad gekommen und ... wir haben einen Schneemann zusammen gebaut, das weiß ich ... noch, ... das war ein sehr schneereicher Winter. O-Ton Lin Und ich hörte es schon am nächsten Tag im Gefängnis, da war eine Frau bei uns, da haben so Röhre geklimpert, und da fragte sie, Frau Bos? Ja. Ihr Mann und Kind sind in Sicherheit. Da konnte mich nichts mehr passieren (halb lachen halb weinen) Musik: Lin Jaldati "Jüdisches Partisanenlied - Sag nischt kejnmol" Erzählerin Lin Wir wurden in das Sammellager Westerbork deportiert. Mit einem der nächsten Transporte kam eine deutsch-jüdische Familie, die sich in Holland versteckt hatte: Edith und Otto Frank mit ihren Töchtern Margot und Anne. Und auch meine Schwester Jannie kam. Erzählerin Lin "Mutter hat mehrmals sehr ernst mit uns geredet: ‚Ihr müsst unbedingt immer zusammen bleiben, was auch kommen mag. Ihr müsst einander immer festhalten.10 "An einem Sonnabend, es war der 2. September, mussten wir im Straflager plötzlich Appell stehen. Lange Listen von Namen wurden aufgerufen. Wir sollten am nächsten Morgen auf Transport gehen. Nach Auschwitz, wurde gemunkelt. Aber das konnte einfach nicht wahr sein, die Rote Armee war ja bereits in Polen." 11 O-Ton Lin Wir wurden nach eine Baracke geführt. Geführt? Getrieben. Geschlagen. Ein Teil der Menschen ging auf den Wagen. Da wurden wir kahlgeschoren, ... und unsre Nummer wurde eintätowiert und mussten nackt wieder raus. Wir kauerten zusammen, kriegten alle mögliche Kleidung durcheinander und untereinander zugeschmissen, zwei verschieden Schuhe und dauern gingen die wieder mit Peitschen rum und haben geschlagen, direkt. Wir haben wahnsinnig Angst gehabt, denn plötzlich in absolute ja, ... Albträume zu kommen -man kanns sich nicht vorstellen. Und morgens früh sahen wir aus großen, riesigen Schornsteinen Rauch kommen. Und da kam ein Kapo vorbei und wir fragten, was ist denn das für eine Fabrik? Und da sagte er, das ist euer Transport, ... das durch den Kamin ging. O-Ton Kathinka Meine Großeltern und Jacob, der ... so ein bissel ein Hänfling war ... die wurden natürlich gleich ins Gas geschickt. Erzähler Eberhard Im Winter 44/45, in Holland verhungerten Tausende, war ich bei meinem Freund, dem Oboisten Haakon Stotijn untergekommen. O-Ton Eberhard Und der ... suchte weiter nach Adressen und ist dann in Oegstgeest gelandet, das ist nördlich von Leiden. Da hatte er einen ehemaligen Schüler und der sagte, komm zu mir mit deinen Kindern. Ich bin Vertreter von Butangas, ich habe im Keller noch 30 Flaschen übrig, wir können Licht machen, wir können wenigstens ein oder zwei Zimmer heizen und ich hab viel Schallplatten, wir können Konzerte geben. Und da sagte mein Freund..., ja, aber das ist ein bisschen schwierig, ich hab noch einen Untertaucher bei mir. Ich will gar nicht wissen, was er ist, bring ihn mit. So war die Solidarität. Und da kam ich also ... nach Oegstgeest und haben da Konzerte gegeben. Jede Woche zwei. Musik: Beethoven-Sonate "Les Adieux" Erzähler Eberhard "Im ersten Konzert, am 10. Januar 1945, spielte ich Beethovens Sonate ‚Les Adieux' in Gedanken an Lin. Im ersten Satz, dem ‚Abschied', dachte ich an unsere letzte gemeinsame Nacht im Gefängnis, der zweite, ‚Abwesenheit' war für mich der gegenwärtige Zustand der Ungewissheit, des Zweifels, der Angst, im dritten aber, dem ‚Wiedersehen', träumte ich von unserer Wiederbegegnung. Ich habe dieses wunderbare Stück wohl selten mit solcher Hingabe gespielt wie an jenem Abend!" 13 O-Ton Lin Einer Tages wurden wir auch aus dem Block geprügelt und mussten draußen uns ganz nackig ausziehen.... Es war November. Und wir standen und standen, ... und das ist das Irrsinnigste vielleicht, das es gibt überhaupt. Die nackten Frauen haben einen großen Kreis gemacht und einige Frauen haben sich in de Mitte gestellt und haben gesungen. Da war ein französisches Mädchen, die hat Spottlieder ... auf Hitler gesungen. Da hab ich auch zum ersten Mal das französische Partisanenlied gehört. Ich hab jiddische Lieder gesungen. Da war eine deutsche ... Altistin, die hat "Frühlingsglaube" gesungen von Schubert. Und als sie sang "Nun muss sich alles, alles wenden", haben wir das Gefühl gehabt, es muss sich wenden. Erzählerin Lin Als die Rote Armee näher rückte, hat man uns mit einem der letzten Transporte nach Bergen Belsen geschickt. "Jemand sagt uns, oben auf einer Anhöhe könne man sich waschen. Wir gingen hinauf. Da kamen uns zwei magere, kahlgeschorene Gestalten entgegen, sie sahen aus wie kleine frierende Vögelchen. Wir lagen uns in den Armen und weinten. Es waren Margot und Anne Frank."12 O-Ton Lin Es wurde kälter, das Essen wurde je lange, je weniger. ... Der Flecktyphus breitete sich aus. Anne und Margot Frank waren eine von die ersten, die Flecktyphus kriegten und daran gestorben sind. ... Wir haben sie so gut möglich in ein Decke weggebracht und in ne große Grube geworfen, da konnte sie nicht geschändet werden. Wir fieberten alle, es war wahnsinnig kalt. Keiner wusste mehr, wo er den anderen irgendwo trösten konnte. Es wurde nur gestorben und leise gestorben. Ganz leise gestorben. Erzählerin Lin Im April 1945 wurden wir von den Engländern befreit. Ich wog damals 28 Kilo und war bewusstlos. Die Engländer haben mich aufgepäppelt. Ich habe dann im Mai einen Brief schreiben können: O-Ton Eberhard "Freitag, 10. Mai 1945: ...Ich sehne mich schrecklich nach Dir und dem Kind. Jannie und ich haben Flecktyphus gehabt, dass wir leben, ist ein Wunder ..." Erzähler Eberhard Wir haben am 27. Mai in Oegstgeest ein Abschiedskonzert gegeben, wir wollten zurück nach Amsterdam. Es war ein Bachabend. Musik: J.S. Bach: Hochzeitskantate Lin und Eberhard Und dann zum Abschluss dieses Konzertes brachten wir die Hochzeitskantate von Bach "Weichet nur, betrübte Schatten". Da war eine Sängerin und die sang gerade dieses wunderschöne Rezitativ: (singt halb) Und dieses ist das Glücke, dass durch ein hohes Gunstgeschicke zwei Seelen einen Schmuck erlanget, an dem viel Heil, viel Heil und Segen, an den viel Heil und Segen pranget. In dem Moment hält ein Auto vor der Tür, ich sehe nur zwei Hände, die an das Fenster klopfen, der Flügel stand direkt an diesem Fenster. Wie wir das Fenster aufgemacht haben ... und wir uns in den Armen lagen, ich weiß es nicht mehr, ob übern Flügel oder untern Flügel. Wir lagen uns in den Armen ... Lin: Und alles flennte im Saal, alles weinte ... Eberhard: und die 40 Leute, die da saßen, eng gepresst, die wussten auch schon unsere Geschichte, die wussten, dass sie zurückkommen würde..aber ausgerechnet in diesem Moment! Erzählerin Lin "Eberhard brachte mich zu einem Internisten. Er untersuchte mich von Kopf bis Fuß, klopfte mich ab und machte ein besorgtes Gesicht. Etliche Jahre später zeigte er mir seine Diagnose bei meinem ersten Besuch: ‚Zurückgekommen, um zu sterben'"13 O-Ton Kathinka Mutter hat, nachdem sie ungefähr anderthalb Jahre ... fast nur gelegen und kuriert worden ist, ... ist sie dann allmählich wieder in alte Arbeit reingekommen. ...Wir hatten so ein Haus auf der Prinsengracht, das hatte so ein richtiges großes Atelier vorne, ... da hat sie also wieder angefangen zu trainieren. Musik 15: Lin "Dos lid fun scholem" Erzählerin Lin "Wir drei liebten uns inniger denn je. Wie herrlich, in Katinkas blaue Augen zu schauen, sie zu knuffeln, ihr Gutenachtküsse zu geben. Und dennoch, die Ängste, die unser kleines Mädchen bis zur Befreiung durchgemacht hatte, schienen sie ziemlich mitgenommen zu haben. Sie sprach nie darüber, aber sie wich auch keinen Augenblick von meiner Seite. Selbst wenn ich zum Klo gehen musste, wartete sie geduldig vor der Tür. ‚Du sollst nie wieder nach Deutschland weggeholt werden, sagte sie manchmal. Deutschland - das war für sie der Inbegriff des Schreckens."14 Erzähler Eberhard Ich habe dann die holländische Staatsbürgerschaft beantragt. Man sagte mir, die Chancen stehen nicht schlecht, aber man würde mir dringend raten, meine Lebensgefährtin, mit der ich "in Konkubinat" lebe, zu heiraten. Wir haben am 16. Januar 1946 vor dem Standesbeamten gestanden. O-Ton Kathinka Meine Mutter hatte eine Stinklaune, die hasste das. Eigentlich wollte sie viel lieber so ohne Papierchen und so was zusammenbleiben, die hasste alles, was mit Papierchen und mit Bürokratie zu tun hatte. ... Und ich hatte eigentlich hinten auf Miekes Schoß gesessen und hab so lange gequengelt ... bis ich ... unten zwischen den Eltern Platz nehmen durfte. ... und hab genau verfolgt, was die da vorne machten. ... Der Standesbeamte fragte dann meinen Vater, Willst du, so wie sich das gehört, Lintje Brilleslijper heiraten und der sagt laut Ja. Und dann ... fragte meine Mutter, willst du auch den Eberhard heiraten - da habe ich laut gebrüllt, ja natürlich wollen wir heiraten! Erzähler Eberhard Im November war Lin soweit genesen, dass wir wieder auf Tournee gehen konnten. Erzählerin Lin Unsere ersten Konzerte waren in Skandinavien und dann in Polen. Und auf der Rückreise von Krakau hatte mein Mann die wunderbare Idee, über Thale zu fahren, um seine Familie zu besuchen. O-Ton Kathinka Meine Tante war eine ausgesprochene, jetzt noch nach dem Krieg, Nazianhängerin. Und zwar drückte sich das aus in einer Begebenheit, die ich nie vergessen werde, dass wir zum Mittagessen uns versammelten und ... meine Tante Marie demonstrativ aufstand und sagte, sie würde sich nicht mit Juden an einen Tisch setzen. Woraufhin wir natürlich alle aufgestanden sind, auf Mittagessen verzichtet haben und unsere Koffer gepackt haben und abgefahren sind. Musik: Eberhard und Kathinka: Hebräische Melodie Erzähler Eberhard Die ersten Nachkriegsjahre in der Prinsengracht gehörten zu den glücklichsten in unserem Leben. Doch unsere Situation verschlechterte sich bald dramatisch. Der Kalte Krieg hatte begonnen, auch in den Niederlanden dominierte der Antikommunismus. Erzählerin Lin Eberhard verlor seinen Job als Musikredakteur bei "De Waarheid" und wir hatten kaum noch Möglichkeiten aufzutreten. Erzähler Eberhard "Die Mühen des Alltags ernüchterten uns. Immer häufiger wurde Lin von depressiven Stimmungen geplagt. Ihre Erlebnisse in Auschwitz und Bergen-Belsen - das äußerte sich in einem impulsiven Hass gegen alles Deutsche, den selbst ich manchmal recht unvermittelt zu spüren bekam - besonders seit ihrer Begegnung mit meiner Familie in Thale. Die wichtigste Ursache ihrer häufigen Niedergeschlagenheit aber war das Ausbleiben einer Schwangerschaft."15 Erzählerin Lin Aber dann hat es ja doch noch geklappt. Im Februar 1951 wurde unser Töchterchen Jalda geboren. Erzähler Eberhard Und ein Jahr später sind wir in die DDR übergesiedelt. O-Ton Lin Ich bin nicht gern gegangen, ... weil ich Angst hatte. Ich hatte ein ganz einfache Angst, da sind so viele Nazis gewesen. ... Und zweitens wusste ich, mein Mann ist Berliner, ... und ich wusste, dass sein ganzes Herz daran hing, um hierher zurückzugehen. Und da hatte ich die Wahl zwischen die Ehe auseinanderfallen zu lassen, vier Menschen unglücklich zu machen, oder mitzugehen und versuchen, hier auch zu helfen was aufzubauen - da bin ich mitgegangen. Erzählerin Lin Der Anfang in Berlin-Eichwalde ist mir sehr schwergefallen. Und eine, die mir viel Mut gemacht hat, war Anna Seghers. Ihr war ich 1949 auf dem Weltfriedenskongress in Paris begegnet. Und sie sagte: deine jiddischen Lieder brauchen wir auch hier. O-Ton Kathinka Eichwalde war ein schwarz-brauner Vorort von Berlin, wo die Mittelklasse zu Hause war, das heißt also diejenigen, die ihre Fähnchen immer nach dem Winde gedreht haben, ... Und in der ersten Zeit, Jalda war auch noch ein bissel zu klein, ... hat sich Mutter oft bei mir so ein bissel ausgeweint. ... Mit mir konnte sie Holländisch reden und konnte auch Tacheles reden. ... Und ich hab da ... mitgekriegt ... - bei ihrer ganzen Aktivität und bei dem Ganzen - wie tief sie damals schon in Depressionen gesteckt hat. Musik: Lin "Den Milners Trern" Erzähler Eberhard Ich war zuerst Chefredakteur der Zeitschrift "Musik und Gesellschaft", und ab 1959 Rektor der Hochschule für Musik; die hat auf meine Initiative 1964 den Namen "Hanns Eisler" erhalten. Und dann habe ich ja noch meine Konzerte gegeben Erzählerin Lin ...und wir unsere! Erzähler Eberhard Genau, und musikwissenschaftlich gearbeitet habe ich auch. Erzählerin Lin Er war sogar Mitglied der Volkskammer und was nicht alles. Wir lernten Jan Boeles kennen, der war der niederländische Kulturattaché. Er wurde ein guter Freund. O-Ton Jan Boeles Die waren so miteinander ... ja, verknogt, sagt man auf Niederländisch, das war eigentlich für mich immer sehr harmoniös. Die haben sich natürlich gestritten, Lin war ...nicht so ...parteitreu wie Eberhard. Und sie war auch eine typische Vertreter von dem Amsterdamer Freigeist. Und das war Eberhard natürlich gerade nicht. Wir haben uns herrlich gestritten immer, namentlich Eberhard und ich, Kapitalismus gegen Sozialismus, Freiheit-Unfreiheit, das war immer sehr lebendig und auch dynamisch und aufregend manchmal. Und das hat die Lin natürlich herrlich gefunden, schätz ich mal so. Erzähler Eberhard Als 1967 der Sechstagekrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten ausbrach, konnten wir in der DDR kaum noch mit jiddischen Liedern auftreten. Erzählerin Lin Die DDR stand ja auf der Seite der Araber, die Israelis waren allesamt Zionisten, und Juden in der DDR gehörten automatisch dazu. Erzähler Eberhard Jedenfalls haben wir unser Programm fast nur noch im Ausland gespielt. Erzählerin Lin. In Indien und Indonesien und in China und in Sri Lanka. Erzähler Eberhard Wir haben sogar in Nordkorea unsere jiddischen Lieder gesungen. Erzählerin Lin Aber im April 1975, ich weiß nicht, warum gerade dann, hatten wir unser DDR-Comeback mit einem ganzen jiddischen Abend in der Kleinen Komödie des Deutschen Theaters. Erzähler Eberhard "In dem Städtchen Dahme bewarb sich der Kindergarten um den Namen ‚Anne Frank'. Zur Namensgebung fuhren wir nach Dahme. Lin sprach über ihre Begegnungen mit Anne Frank und sang einige Lieder. Auf der Rückfahrt sagte sie plötzlich: ‚Ich rechne gerade aus, Anne wäre am 12. Juni fünfzig Jahre alt geworden, da müssen wir doch etwas tun.' So entstand die Idee für unser Anne-Frank-Programm. Lin fragte Jalda, ob sie mitmachen wolle. Sie antwortete sofort: ‚Ja, gern.'"16 O-Ton Jalda Rebling Ja, und ... aus diesem "Abend für Anne Frank" ergab sich dann sofort ne Zusammenarbeit. Wir bekamen ... Einladungen in die Welt hinaus, sind ... zu dritt losgezogen. Und dann sagten sie, wolln wir nicht die Kathinka dazuholen mit der Geige? Und so kam es, dass wir sieben glückliche Jahre zu viert zwischen Jerusalem und New York als Familienensemble unterwegs waren. Musik: alle 4: Schabbes, schabbes O-Ton Jan Boeles Das war alles eine unvorstellbare Erfolg und das war herrlich. Und natürlich Yad Vashem, die war die erste Deutschen, die in Deutsch in Yad Vashem aufgetreten haben. ...Haben eine Medaille bekommen, Yad-Vashem-Medaille, das ist alles unvorstellbar gewesen. O-Ton Lin Und ich glaube, unsere Arbeit, unsre Lieder sind ein Botschaft für den Frieden. Musik: Gustav Mahler: Lied von der Erde (Letzter Satz: Abschied) Erzähler Eberhard "Mitte Januar 1987 war eine ‚Generaldurchsicht' von uns beiden im Krankenhaus fällig. Bei der routinemäßigen Röntgenuntersuchung entdeckten die Ärzte in Lins rechter Lunge einen Flecken."17 "Im November dirigierte Yehudi Menuhin im Schauspielhaus Mahlers "Lied von der Erde", das wir besonders liebten. Im letzten Satz, "Abschied", ergriff ich Lins Hand, ich wusste, sie dachte dasselbe wie ich. Als der letzte Ton verklungen war, wagten wir nicht, einander in die Augen zu schauen."18 Lin Es sind viele, die krank sind, die Krebs haben und den Krebs überwunden haben durch das Gefühl, sie wollen leben. ... Ich glaube, es ist der Lebenswillen, der sehr viel Menschen hilft denn auch, ja, es klingt vielleicht komisch, aber ein Mensch hat nicht das Gefühl, dass er selber kaputt gehen kann. Man will leben bleiben, jedenfalls, man hängt sehr am Leben und liebt das Leben auch und ist überzeugt, dass man es schafft. Sprecher Lin Jaldati starb am 31. August 1988 mit 75 Jahren. Der Staat Israel ehrte Eberhard Rebling kurz vor seinem Tod am 2. August 2008 als "Gerechter unter den Völkern". Eberhard Rebling wurde 96 Jahre alt. Lin und Eberhard fanden auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin ihre letzte Ruhe. O-Ton Kathinka Ich habe es nicht anders erlebt, als dass mein Vater meine Mutter immer auf Händen getragen hat und versucht hat, sie auch immer zu verstehen; was nicht immer ging, weil, ... die Depressionen von Mutter ... wurden nicht weniger. ...Und Vater ... war immer derjenige, der sie aufgefangen hat. Ich hab sie nie anders erlebt als zusammen und einander sehr zugewandt, ... ... da ist immer drin geblieben, das Wunder, dass wir alle überlebt haben! Musik weiter Absage: Lin und Eberhard - die Geschichte einer großen Liebe Sie hörten ein Feature von Ed Stuhler Es sprachen: Ursula Illert, Reinhart Firchow und Richard Hucke Ton und Technik: Hans-Martin Renz und Jutta Stein Regie: Anna Panknin Redaktion: Ulrike Bajohr Wir bedanken uns bei dem Historiker Jochen Voit, der uns Kassetten eines Gesprächs mit Eberhard Rebling aus dem Jahre 2006 zur Verfügung stellte. Alle anderen Interviews mit Lin Jaldati und Eberhard Rebling wurden zwischen 1963 und 1988 für den Rundfunk der DDR aufgenommen und stammen aus dem Deutschen Runkfunkarchiv. Eine Produktion des Deutschlandunks 2013 1 Interview 2006 mit dem Historiker Jochen Voit 2 ebd. S. 249, 4 Zeilen 3 S. 249, 4 Zeilen 4 ebd.,S. 290, 5 Zeilen 5 ebd. S. 308, 3 Zeilen 6 S. 304, 8 Zeilen 7 S. 324, 6 Zeilen 8 S. 326, 5 Zeilen 9 ebd., S. 327, 18 Zeilen 10 ebd. S 336, 3 Zeilen 11 ebd. S 338, 5 Zeilen 12 ebd., S. 358, 4 Zeilen 13 ebd., S. 385, 5 Zeilen 14 ebd., S. 386, 9 Zeilen 15 ebd., S. 437, 9 Zeilen 16 ebd., S. 657, 7 Zeilen 17 Lin Jaldati, Eberhard Rebling"Sag nie, du gehst den letzten Weg", BdWi-Verlag Marburg 1995, S. 723, 3 Zeilen 18 ebd ., S. 727, 4 Zeilen --------------- ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 2 2