Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 4. Juli 2015, 11.05 – 12.00 Uhr „Kakanische Wildnis - Ein Stück Urwald im Herzen Österreichs““ Reportagen: Antonia Kreppel Moderation: Johanna Herzing Musikauswahl und Regie: Babette Michel Ton und Technik: Angelika Brochhaus Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Auch in uns drinnen ist vieles gezähmt und kontrolliert und geordnet und geplant und sehr unterdrückt; das ist die innere Wildnis, die auch zurückgehalten wird. Und das Spiegelbild im Außen wäre dann ein Urwaldgebiet, ein natürliches Waldgebiet, das uns dann vor Augen führt, wie fremd uns das eigentlich geworden ist, dieses Wilde. Eine Biologin als Tiefenpsychologin. Und ein Waldbesitzer als Rebell gegen die Wildnis: I bin net der beste Freund von die Leute, die das betreiben und wie sie das betreiben. Und wenn wieder mal eine Situation ganz unerträglich wird, dann werd’ ich wieder klare Worte finden. „Kakanische Wildnis - Ein Stück Urwald im Herzen Österreichs“. Gesichter Europas mit Reportagen von Antonia Kreppel. Am Mikrofon: Johanna Herzing. Die Dinge haben sich ins Gegenteil verkehrt: Was früher gleichbedeutend war mit Chaos und Unbeherrschbarkeit, gilt heute als erstrebenswerter Zustand. Die Rede ist von: Wildnis. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein war ungezähmte Natur vor allem eines: lebensbedrohlich. Die Industrialisierung aber zwang die Natur in die Knie. Der Mensch verwandelte Flüsse in Kloaken, ganze Gebiete in Mondlandschaften. Parallel dazu wuchsen wiederum die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen und der Wunsch zu bewahren: der Naturschutz war geboren. In den Schoß von Mutter Natur zurückgekehrt, ist die Menschheit seither trotzdem nicht. Der Wald etwa hat Mitteleuropa einst zu fast 70 Prozent bedeckt. Heute sind es in den meisten europäischen Ländern kaum mehr als 30 Prozent. Große Teile davon Wirtschaftswald, in dem Fichte neben Fichte steht. So muss sich nicht mehr der Mensch vor der Wildnis schützen, sondern die „Wildnis“ vor dem Menschen bewahrt werden. Zum Beispiel in so genannten „Wildnisgebieten“. Eines davon liegt in Niederösterreich an der Grenze zur Steiermark. 3.500 Hektar umfasst das „Wildnisgebiet Dürrenstein“. Darin eingebettet der „Rothwald“, der größte verbliebene Urwald in Mitteleuropa: eine Fläche von rund 500 Hektar, die in aller Regel nur Forscher betreten dürfen. Das Waldgebiet rund herum ist zwar ebenfalls streng geschützt, kleine Besuchergruppen dürfen es aber auf geführten Touren erkunden. Reportage 1 Gäste in der Wildnis Am Rothschild-Teich im Steinbachtal sammelt sich eine kleine Gruppe aufgeräumter Wanderer: Festes Schuhwerk, Rucksäcke, Treckingstöcke, Fotoapparat: Man ist gerüstet für den Ausflug in die Wildnis. Keiner kommt in Sandalen. Die Sonne brennt vom Himmel. “Das Wildnisgebiet als Lebensraum für Bär, Wolf, Luchs”: Das Thema der Tour klingt spannend. Exkursionsleiter Georg Rauer begrüßt jeden einzelnen per Handschlag: eine vierköpfige Familie aus Wien, eine ältere Frau mit ihrem Enkel; ein junger Mann und ein Rentner; mehr sind nicht gekommen an diesem extrem heißen Tag. Georg Rauer ist sogenannter Bärenanwalt beim WFF, und Wolfsbeauftragter am Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie Wien. Seine Hündin Mira steht sofort im Mittelpunkt. “Gibt es denn überhaupt wieder Bären hier?“, will der offensichtlich ortskundige ältere Herr sofort wissen. Viele Leute fragen sich, wo sind die vielen gelobten Bären hingekommen? Viele wähnen sie als Bettvorleger oder an der Wand … Ausgestopft oder gar als Bettvorleger? Erstauntes Kichern in der Runde. Georg Rauer zieht die Schirmmütze tiefer in die Stirn. Er kennt sie alle, die aufrüttelnden Bärengeschichten aus dem Ötschergebiet, die vor einigen Jahren sogar die Kriminalpolizei beschäftigt haben. Tatsache ist, dass in dieser Region zwischen 1991 und 2006 einunddreißig Bären geboren wurden; und 2011 nur noch ein Bär da war. Der Verdacht der illegalen Jagd konnte nur in einem Fall bewiesen werden. Das war der Auftakt; jetzt geht es hinein ins Wildnisgelände, immer dem Gebirgsbach entlang. Ausgebleichte Baumstämme und Äste liegen im glasklaren Wasser. Die „Hundsau“ ist ein Taleinschnitt im Westteil des Dürrensteingebiets, das erst 2013 unter Schutz gestellt wurde. Am Wegrand entdeckt Mira als erste Fellreste, Skelettteile und Knochen. Beim nächsten Kadaverfund ist es ganz klar: Gamswild, das im Winter wahrscheinlich mit einer Lawine abgestürzt ist. Jetzt sind Kletterkünste gefragt. Die Brücke hat die Strömung weggerissen, und der Weg zum anvisierten Felsgipfel samt Aussicht führt auf der anderen Bachseite hinauf. Der Aufstieg ist schweißtreibend. Oma und Enkel gehören zu den ersten oben. I bin die Berggams, und net du … Friederike Punz lebt auf einem Bauernhof, nur dreißig Kilometer von hier entfernt. Das krause Haar hat sie zu einem lustigen Knoten aufgesteckt. I hab’s im Fernsehen gehört, der größte Urwald da von Europa, Wildnisgebiet Dürrenstein. Jetzt haben wir gesagt, wir gehen da mal mit. Und da hab’n wir uns im Februar bereits angemeldet. Die Brotzeit wird ausgepackt; hier schmeckt sie besonders gut. Ja, da is schön herinnen, die Berge, die Felsen; des is mein Gebiet. Wo jeder Baum stehen bleiben derf und umfallen derf und liegen bleiben derf wie er fallt und wo er hinfallt; und alles wachsen derf wie es wachst, durcheinand, net geordnet und gesichtet, da muss der Baum stehn, da der. Da darf a jeder stehn; des find i super, ja! Ein Exkursionsteilnehmer hat sich auf eine versteckte Bank zurückgezogen und genießt die Aussicht. Die westlichen Waldhänge des Dürrensteins zeigen tiefe Lawinenschneisen; tote Baumstämme liegen kreuz und quer. Der bleiche junge Mann trägt ein T-Shirt mit einem applizierten Wolf; auf dem Unterarm ist ein Wolfskopf tätowiert. Etwas was in meinem Leben wichtig ist; ein wichtiger Bestandteil des Ökosystems. Es wäre schön wenn er wieder heimisch werden würde, so wie auch Bär und Luchs. 2007 hat ein Wolf das Wildnisgebiet durchstreift. „In den letzten Jahren gab es immerhin fünf Wölfe in Österreich,“ erklärt Georg Rauer. „Und wie steht es nun um den Luchs”, will Familie Schmidt aus Wien wissen. Im Wildnisgebiet ist ein Luchs fotografiert worden. Aber Luchse, Bären, Wölfe brauchen jetzt nicht diese Wildnis; was für sie interessant ist, ist die geringe menschliche Störung. Aber für den Luchs ist auch ein entscheidender Faktor das Beuteangebot. Es gibt hier natürlich Rehe aber es gibt Gebiete, wo das Rehwild viel häufiger und dichter ist und das ist für den Luchs dann interessanter dort. Die Wildnis scheint für den Menschen attraktiver zu sein als für Großbeutejäger. Roland und Annemarie Schmidt lehnen sich entspannt an den Felsen. Nach mehreren Anläufen haben sie es mit ihren zwei Kindern endlich geschafft, freie Exkursionsplätze zu ergattern. Die siebzehnjährige Sandra und ihr jüngerer Bruder Michael erkunden inzwischen das Waldstück mit den hohen Fichten und Buchen rund um den Aussichtsfelsen. Michael: Es ist eine Familienaktion und außerdem find ich das eigentlich ziemlich schön hier. Sandra: Einfach ein unberührter Fleck Natur, wo Menschen nicht die Dominanten sind. Michael: Ich finde, eine richtig unberührte Wildnis gibt’s nicht mehr, weil alles schon mal angefasst wurde von den Menschen. Aber es ist so weit wie möglich ein Rückschritt in die Zeit vor dem Menschen. Georg Rauer hört aufmerksam zu und schultert seinen Rucksack. Wenn man an Amerika denkt, dort, wo indigene Völker in dem Gebiet leben, ist das dann Wildnis? Wildnis ist mehr ein idealisiertes Konzept, wo wir uns mehr zurücksehnen an die unberührte gütige Mutter Natur. So gesehen gibt es nur Wildnis für uns. Es ist der Amerikaner Henry David Thoreau, der zu den berühmtesten Aussteigern der Neueren Geschichte gehört. Auch wenn er sich nur etwas mehr als zwei Jahre aus der Gesellschaft zurückzog. In seinem Werk „Walden. Oder Leben in den Wäldern“ reflektiert er über die menschliche Existenz, die Zivilisation und die Natur: Literatur 1 Wir brauchen die stärkende Kraft der Wildnis. Wir müssen manchmal in Sümpfen waten, wo die Rohrdommel und das Sumpfhuhn hausen, müssen den dumpfen Brustton der Schnepfe hören, das flüsternde Schilf riechen, wo nur ein scheuerer, einsamerer Vogel sein Nest baut und die Sumpfotter dicht am Boden bäuchlings kriecht. Sobald wir es uns ernstlich angedeihen lassen, alles zu erforschen und zu lernen, verlangen wir zu gleicher Zeit, dass alles geheimnisvoll und unerforschbar sei, dass Land und Meer unendlich wild und von uns unergründet bleiben, weil sie unergründlich seien. Wir können von der Natur nie genug bekommen. Wir müssen von dem Anblick einer unerschöpflichen Kraft, großer, titanenhafter Züge erfrischt werden: Durch die Meeresküste mit ihren Wracks, die Wildnis mit ihren lebenden und verfaulenden Bäumen, die Gewitterwolke, den Regen, der drei Wochen lang andauert und Überschwemmungen mit sich bringt. Seit der letzten Eiszeit haben Menschen den Rothwald Wald sein lassen. Nie wurde er forstwirtschaftlich genutzt. Nur ein einziger Pfad führt durch ihn hindurch. Erst gehörte das recht steile und unwegsame Waldgebiet zu den Ländereien eines Klosters, der Kartause Gaming. Später dann, im 19. Jahrhundert, erwarb Albert von Rothschild, ein Sprössling der berühmten jüdischen Bankiersfamilie, den Rothwald. Der adlige Besitzer war begeisterter Jäger und er entschied, dass der Wald sich selbst überlassen bleiben sollte. So ist der Rothwald bis heute Urwald, eben eine „kakanische Wildnis“. Für Forscher ein einzigartiges Studienobjekt – auch wenn der Wald für den Laien eher unspektakulär daher kommt. Schleimpilze, seltene Käfer, Totholz, das vor sich hin rotten darf – das sind die Exoten aus dem österreichischen Urwald - ein Kosmos unberührt von Menschenhand: Reportage 2 – Mitten im Urwald: Der Rothwald Es gibt keinen Weg, keinen Pfad, kein Orientierungszeichen. Der Waldboden ist feucht, bedeckt mit altem Laub; dazwischen bilden vermoderte Baumstämme kleine Hügel und Wegschneisen. In tausend Metern Höhe ist es auch im Sommer frisch. Wir sind jetzt im Herzstück drinnen, im großen Urwald. Sabine Fischer streift leichten Fußes durch die Wildnis, klettert über alte Baumstämme, Wurzelteller und abgefallene Äste; findet sicher den richtigen Tritt auf den Moos bewachsenen Steinen. Ihre Augen sind überall: “Vorsicht, Alpensalamander”, ruft sie lachend. Die kleinen schwarz glänzenden Schwanzlurche sitzen ein wenig versteckt in den Felsenritzen. Es ist ein mitteleuropäischer Urwald, ein montaner Bergurwald. Sabine Fischer gehört zum Kernteam der Schutzverwaltung. Die zierliche Biologin koordiniert u.a. die Forschungsaktivitäten des Wildnisgebietes. Immer wieder durchstreift sie selbst das Gelände; und trotzdem gibt es Stellen im Urwald, an denen sie noch nie gewesen ist. Also das ist ein Waldgebiet, das seit der Eiszeit nicht berührt wurde durch den Menschen; das wirklich ohne menschlichen Einfluss gewachsen ist in einer natürlichen Dynamik. Und das kann man heutzutage sehen, einerseits am Alter der Bäume, am Umfang der Bäume; andererseits am Boden, am ungestörten Bodenleben, an der Biodiversität vor allem von Totholz bewohnenden Tieren, Pflanzen und Pilzen; an verschiedenen Altersklassen, einer natürlichen Waldzusammensetzung. Die Nadelbäume können bis sechzig Meter hoch wachsen; Buchen und Bergahorn bleiben zehn bis zwanzig Meter darunter. Sie stehen kerzengerade oder lehnen sich stützend aneinander. Die Rinde an den dicken Stämmen ist ein Kosmos für sich: rissige Schuppen, silbern bis altrosa schimmernd. Sabine Fischer bleibt vor einer gewaltigen Buche stehen und streicht über ihre aufgesprungene Rinde. Wenn man denkt, dass die Buchen zum Beispiel, die Laubbäume, 400 Jahre alt werden, also ihr Höchstalter erreichen, umfallen und dann noch einmal zwei- bis dreihundert Jahre lang liegen bis sie zersetzt werden, die Nadelbäume noch länger: 1000 Jahre praktisch besteht der Baum im Ökosystem bis er zersetzt wird. Das setzt unsere Lebensspanne von maximal 100 Jahren schon ins rechte Licht , wo ich mir denke, man kriegt auch eine bestimmte Demut, wenn man da im Wald unterwegs ist und sich vorstellt, wie lang eigentlich eine Generation im Wald ist. Eine Tanne im Rothwald ist sogar tausend Jahre alt. Die junge Forscherin lehnt den Kopf weit zurück. Ganz weit oben zeigt sich ein graues Stück Himmel: Licht für die Naturverjüngung. Kleine Fichten wachsen auf einem quer liegenden Baumstamm. Sein Holz ist morsch und feucht. Darin leben viele Würmer, Springschwänze, Spinnen und Käfer: Kurzum ein idealer Nährboden. Sabine Fischer fasziniert das gewaltige Wurzelwerk einer umgestürzten Fichte; Steinbrocken klemmen zwischen den geborstenen Holzsplittern. Für sie ist der Rothwald ein richtiger Märchenwald. Mein Großvater war sehr im Wald, in der Natur unterwegs und hat mir als Kind schon erzählt von dem geheimnisvollen Urwaldgebiet Rothwald an der Südweite vom Dürrenstein. Dort ist er, der Wald, der alte. Die Wissenschaftlerin entdeckt über dem Wurzelteller winzige bronzefarbige Pilze. 800 Arten sind im Rothwald bereits bestimmt; nur ein Bruchteil des gesamten Artenreichtums hier, der längst noch nicht erforscht ist. ”Ein wenig Geheimnis muss bleiben”, lacht sie verschmitzt und beugt sich tief über den Wurzelgarten. Wenn man sich’s genau anschaut, was man da alles findet, das ist unglaublich. Und auch wie schön das alles ist, die unterschiedlichen Moose, Flechten, Algen, Pilze, kleine Schnecken: eine Welt im Kleinen. Es beginnt leicht zu regnen. Der Urwald wirkt wie ein Schwamm; das viele Totholz saugt das Wasser auf und speichert es. Es gibt nur wenige Bäche. Der Rothwald ist eine Art ”temperierter Regenwald”. Jetzt kramt Sabine Fischer doch einmal ihr GPS heraus, um sich zu orientieren. Dabei hätte sie gegen eine Nacht im Urwald grundsätzlich nichts einzuwenden. Das blaue Dreieck, das sind wir. Das ist leider ein bisschen zu ungenau, weil da wenige Anhaltspunkte sind in der Gegend… Nur wenige Meter entfernt fließt der Moderbach; er hat Trinkwasserqualität. Sie kehrt ihm den Rücken zu und schlägt die entgegengesetzte Richtung ein. Apropos Moderbach: “Leichengebiet, Kadaverhölle”! Die Metaphern von Krankheit, Tod und Fäulnis wurden und werden gerne von Forstwissenschaftlern und Waldbauern für die Beschreibung des Urwalds benutzt. Jetzt regt sich die sonst so entspannt wirkende Wissenschaftlerin ein wenig auf. 'Bei euch, das ist ja eine Brutzelle für Krankheiten und Schädlinge. Wenn man reinschaut bei euch, da liegt ja alles kreuz und quer, da wird ja nicht aufgeräumt, da kann sich alles Mögliche entwickeln.' Da sieht man die Naturentfremdung der Menschen. Da ist immer sofort eine Angst da vor dem Verfall, mit dem wir uns anscheinend nicht mehr auseinandersetzen wollen. Man hat auch Angst vor der inneren Wildnis. Auch in uns drinnen ist vieles gezähmt und kontrolliert und geordnet und geplant und sehr unterdrückt; das ist die innere Wildnis, die auch zurückgehalten wird. Und das Spiegelbild im Außen wäre dann ein Urwaldgebiet, ein natürliches Waldgebiet, das uns dann vor Augen führt, wie fremd uns das eigentlich geworden ist, dieses Wilde. Umgekehrt braucht der Urwald wiederum den Menschen, um ein Stück Wildnis zu bleiben. Es ist eigentlich leider heutzutage so, dass ohne die Käseglocke, die ganz bewusst vom Menschen über das Gebiet gesetzt wird, der Urwald nicht mehr da wäre. Die Nutzungswut des Menschen ist heutzutage so groß, dass sogar ein winziger Rest von Wildnis, von unberührtem Land, von unberührter Natur, nicht mehr da wäre, wenn wir nicht unsere schützende Hand drüber halten würden. Literatur 2: Jede kleine Tannennadel dehnte sich aus und schwoll von Sympathie, wurde mir zum Freunde. Ich gewahrte so deutlich das Vorhandensein von etwas mir Verwandtem, selbst in einer Szenerie, die wir gewöhnlich wild und traurig nennen, und es wurde mir so klar, dass das mir am nächsten Blutsverwandte und Menschliche nicht eine Person sei, dass ich dachte, kein Ort könne mir je wieder fremd erscheinen. […] Warum sollte ich mich einsam fühlen? Ist unser Planet nicht in der Milchstraße? […] Es zieht uns zu dem ewigen Quell, aus dem unser Leben entsprungen ist, wovon wir bei jeder Erfahrung aufs Neue überzeugt werden. So steht die Weide bei dem Wasser und dorthin sendet sie ihre Wurzeln. […] Soll ich nicht im Einvernehmen mit der Erde stehen? Bin ich nicht selbst zum Teil Blätter und Pflanzenerde? Er ist klein, nicht einmal fingernagelgroß. Die Farbe unauffällig: Schwarz ins Bräunliche gehend. Der Borkenkäfer ist kein schillernder Waldbewohner und doch ist ihm alle Aufmerksamkeit sicher. Die meisten Förster und Waldbesitzer fürchten ihn wie den Leibhaftigen. Die Larven-Gänge, die er in Baumrinde und Holz frisst, lassen Bäume langsam absterben – jedenfalls solche, die nicht wehrhaft genug sind. Gefährdet sind vor allem die Monokulturen in den großen Wirtschaftswäldern. Die Idee, den Borkenkäfer einfach gewähren zu lassen, ihm seinen Platz im Ökosystem zuzugestehen, lässt viele Waldbesitzer deshalb schaudern. Der Borkenkäfer schließlich ruiniert die „Ernte“, macht das Holz wertlos. Und so können sich längst nicht alle Nachbarn für die „geheime Ordnung“ im Wildnisgebiet Dürrenstein begeistern. Reportage 3 – Kritische Nachbarn Tierpräparator steht auf dem Hinweisschild, das den Weg zum stattlichen Anwesen von Franz Pöchhacker in der Gemeinde Lunz am See weist. Dazu gehören eine große Scheune; ein holzverschaltes Wohnhaus und eine Holzhütte im Stil Knusperhäuschen. Drinnen riecht es muffig. Tote ausgestopfte Tierwelt: Sperber, Kolkrabe, Eisvogel, Schleiereule, Eichörnchen und ein Waldkauz posieren auf Zweigen und Mooslandschaft. Ja darf man die denn jagen? Franz Pöchhacker legt den langen Kopf mit den unbeweglichen Augen schief wie ein Raubvogel. Oft passiert es, dass sie verhungern und erfrieren. Die san dann sehr schön zum präparieren, weil die san ganz abgemagert. Man hat dann kein Problem mit dem Fett, und die san eigentlich schön zu machen. Auf dem Tisch liegen Felle von Dachs und Murmeltier samt Schädel - vorgesehen als Wandschmuck. Reststücke. Franz Pöchhacker hat vor kurzem sein Gewerbe aufgegeben und ist nunmehr Waldbauer. Die Jagd und der Wald, das sind die großen Leidenschaften des Franz Pöchhacker. Und das sind die Streitpunkte mit seinem großen Nachbarn, dem Wildnisgebiet Dürrenstein. Er zeigt südwärts auf die Bergsattel hinter seinem steil aufsteigenden Waldgebiet. Da grenzt sein Land an das Wildnisgebiet und von dort droht bei Föhnwinden Gefahr, erregt sich der Waldbauer. Ich hab eigentlich da große Probleme gehabt in den letzten 10, 20 Jahren; speziell Borkenkäfer haben große Schäden angerichtet bei uns. Wälder mit unnatürlich viel Fichten haben sie völlig ohne irgendwelche Maßnahme außer Nutzen gestellt und damit dem Borkenkäfer überlassen. Und ein warmer Wind kann natürlich sehr günstig sein, dass der Käfer sich besonders weit verbreiten kann. Da braucht man wirklich viel Optimismus dass man da nicht verzweifelt. Im Wildnisgebiet ist der Borkenkäfer Partner, in der Forstwirtschaft gilt er als Schädling. Im Naturwald spielt er eine wichtige Rolle im Ökosystem, betont die Schutzverwaltung. Franz Pöchhacker legt den Kopf in den Nacken und lässt den Blick schweifen. “Alles Steilgelände, das man nur mit der Seilwinde bearbeiten kann“, murrt er vor sich hin. Die dunkelgrünen Bergrücken bestehen zu zwei Dritteln aus Fichte. Sie ist der sogenannte “Brotbaum” der österreichischen Forstwirtschaft; und sie ist der “Brotbaum” von Franz Pöchhacker. Sein Wald misst sich in Festmeter, die er jährlich schlägt. Durchschnittlich eintausend Meter sind das. Wenn man ich vorstellt, dass ein Festmeter, wenn des gutes gesundes Holz ist, 100 Euro wert ist, und nach einigen Wochen ist das so entwertet, dass es grad noch die Hälfte davon kostet. Und wenn dann die Käfer so überhand nehmen, dass sie ganze Waldbestände vernichten - das sind ganz gewaltige Schäden. Mit ausladenden Schritten kämpft sich Franz Pöchhacker durch hüfthohe Pestwurzgewächse zu seinem Lieblingsort, der Quelle, die seinen Teich speist. Das Wildnisgebiet ist bereits tätig geworden, um die Ausbreitung des Borkenkäfers in benachbarte Wirtschaftswälder zu verhindern. So wurde beispielsweise eine Pufferzone im Ausmaß von 300 bis 600 m Breite außerhalb des Wildnisgebietes festgelegt, die zweimal jährlich kontrolliert wird. Und das muss ich auf jeden Fall begrüßen, dass nicht mehr so rücksichtslos gearbeitet werden kann; gearbeitet, wenn man das so nennen darf, weil es wird ja nicht gearbeitet in diesen Wäldern. Die Pufferzone wird glaub i vom Käfer weit überflogen. Die Experten vom Wiener Institut für Forstentomologie, Forstpathologie und Forstschutz haben eine Dokumentation über die Ausdehnung des Borkenkäferbefalls der letzten Jahre erstellt. Sie haben - so wörtlich - “ keine Hinweise für einen aus dem Wildnisgebiet stammenden Neubefall in den angrenzenden Wirtschaftswäldern gefunden.” Und auch ein Überfliegen der das Wildnisgebiet umgebenden Bergrücken mit Höhenlagen zwischen 1300 und 1600 Meter wird als äußerst unwahrscheinlich angesehen. Doch der Borkenkäfer bleibt für den hageren Waldbauern der größte Feind. Das Hauptproblem aber ist ringsumher unübersehbar: Die Monokultur der Fichte. Ein schwieriges Erbe. Die Bäume, die ich habe, von denen wir jetzt leben müssen, die sind 100 Jahre alt. Für die bin ich nicht verantwortlich, dass die da stehen, das haben andere Leute verursacht. Und ich hätte gerne mehr Mischwald, andere Baumarten auch neben der Fichte, aber es ist sehr schwierig die durchbringen bei den hohen Wildständen… Die hohen Wildstände: Das Problem scheint hausgemacht. Franz Pöchhacker wird jetzt ein doch wenig unruhig. Er ist leidenschaftlicher Jäger. Sein Revier zieht sich vom Ufer des Ybbs bis zum Dürrensteinmassiv in 1140 Meter Höhe. Ja man muss zugeben, es wird gefüttert, damit man mehr Wild hat, auf das man jagen kann. Sehr viele Jäger bezahlen zugegeben sehr viel Geld, damit sie die Jagd ausüben können, und die wollen dann natürlich auch Erlebnisse haben und Erfolg haben. Und wenn der Wildstand so gering ist, dass wirklich alle Baumarten ohne Problem sich verjüngen und groß wachsen könnten, dann hätten wir wirklich sehr wenig Wild und die Jäger würden im Revier sitzen; die meisten Reviergänge würden sie kein Wild sehen. Wie steht’s jetzt um die Nachbarschaft? Als Mitarbeiter des Wildnisgebiets im Rahmen eines Wiederansiedelungsprojekts in seinem Revier Nistkästen für Habichtskäuze anbringen wollten, verweigerte er die Zustimmung. I hab kein Problem mit dem Habichtskauz. Ich wollt’ net meine Jäger, meine Jagdfreunde, die in meinem Revier auch mit mir zur Jagd gehen, - dass keine Unstimmigkeit entsteht. I bin net der beste Freund von die Leute, die das betreiben und wie sie das betreiben. Aber i hab auch ein Verhältnis, dass man sich trotzdem freundlich grüßt. Und wenn wieder mal eine Situation ganz unerträglich wird, dann werd’ ich wieder klare Worte finden. Die Wildnis, sie wurde vom Menschen in der Vergangenheit nicht nur bekämpft und zerstört, sie wurde immer wieder auch verklärt. Zum Teil mit einem Pathos, das heute komisch, ja lächerlich wirkt. Die Nationalsozialisten zum Beispiel fabulierten von der deutschen „Urlandschaft“. Der Wald galt ihnen als „Heimat der deutschen Seele“, wo „das Volk mit dem heldischen Geist des Dritten Reichs erfüllt wird“. Jüdische Waldbesitzer passten da nun wirklich nicht ins Bild. Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich musste deshalb auch die Familie Rothschild das Land verlassen. Ihr Eigentum, der „Rothwald“, wurde zum „urdeutschen Wald“ erklärt, die Bankiersfamilie von der Nazi-Propaganda als raffgieriger Parasit diffamiert. Dabei waren die Rothschilds bis zu ihrer Flucht aus Österreich als Kunstmäzene tätig und auch sozial engagiert. Ihre Angestellten in Niederösterreich etwa, Förster, Wald,- und Sägewerksarbeiter, hatten zum Teil großzügig bemessene Pensionskassen, sie konnten vergünstigt Lebensmittel einkaufen oder ihre Kinder kostenlos ins „Kinderasyl Göstling“, eine Art Internat, schicken. Diese Wohltaten aber sind heute in der Gegend um Dürrenstein und Ötscher fast vergessen. Reportage 4 – Die Familie Rothschild Es ist zwei Uhr Nachmittag. Die Küchenuhr tickt im Gleichmaß; von draußen dringt kein Geräusch in die gemütliche Wohnstube mit den alten Holzdielen. Gisela Buder sitzt auf der Eckbank unter dem schlichten Kruzifix. 1924 ist sie geboren, mitten im Wald. Also mein Elternhaus wo ich geboren bin, das stand ganz nahe am Ötscher. Ein Einschichthaus hat man das genannt. Es war alles Wald rundherum. Die alte Dame umschreibt mit ihren schlanken Händen einen weiten zittrigen Kreis; eine zarte Person mit kurzem weißem Haar. Mein Vater hat als Holzknecht und Arbeiter beim Rothschild gearbeitet. Rothschild war, für diese Zeit bemessen, ein guter Arbeitgeber. Aber der Holzarbeiter hat zu dieser Zeit ja überhaupt nie etwas Gutes verdient. Wir waren sieben Kinder und ich war in der Mitte; und die ganzen Kinder waren zumindest eine Zeitlang alle im Asyl Göstling. Gisela Buder schiebt die Unterlippe ein wenig vor; sie konzentriert sich. Vier Jahre lang, von 1931-1935, konnte sie sich den mühsamen Schulweg sparen, im Kinderasyl musste sie nicht frieren und keinen Hunger leiden. Sie schlägt ein Buch auf über das Kinderasyl. Ein Foto der 1.KlasseVolksschule zeigt sie mit ganz ernstem Gesicht. Nur jeweils zwei Kinder einer Familie wurden aufgenommen. OT 3 Buder Die Eltern mussten ja dann jeweils einen Betrag von 6 Schilling damals bezahlen. Dafür waren wir voll versorgt mit Essen, mit Kleidern, mit Schuhen, mit Schulsachen war man vollständig versorgt. Ich hatte ja nicht einmal Schuhe bis zum Schulgehen. Die Zeit vergeht langsam; aber langweilig ist Gisela Buder nicht, obwohl sie wegen ihrer Sehschwäche nicht lesen kann. Sie macht eine leichte Kopfbewegung hin zum Raum neben der Stube. Dort verbringt sie viele Stunden in ihrem Sitzliegestuhl. Ich liege drinnen und lebe irgendeinen Abschnitt aus meinem Leben in Gedanken weiter. Asyl ist für uns eine ganz wichtige… Die alte Dame schließt die Augen: 1931, Schulanfang, da gab es viele Tränen. Bis zu ihrem 6.Lebensjahr war sie ja kaum unter Menschen. Und dann kam sie in eine Gemeinschaft von 50 Kindern, in diesem soliden großen Haus mit der Linde im Park. Der Alltag war streng geregelt. ”Aber wir waren sofort eine Familie“, erzählt sie. Und die Frau Verwalter, die das Haus geleitet hat, das war eine so gerechte Frau. Und um die ärmeren Kinder hat sie sich mehr angenommen. Ich habe z.B. immer eine extra Portion Jause bekommen, denn ich war zu dünn, ich habe zu schlecht ausgeschaut. Und das Besondere, ganz Einzigartige war, wir haben mehr Bildung bekommen; und deswegen waren wir ja auch bei den Lehrern in der Schule besser bestellt. Sie wird jetzt nachdenklich und legt bedächtig die Hände an die Tischkante. Die jüdische Bankiersfamilie hat sich gegenüber ihren Angestellten und Arbeitern in der Region stets großherzig gezeigt. Und trotzdem, es waren die Förster, Verwalter und Jäger, die als erste den in Österreich 1934 noch “illegalen Nazis” beitraten. Gisela Buder erinnert sich sehr gut an einen Ausspruch von Alphonse Rotschild: “Also die Mäuse tun mir nichts, aber die Ratten.” Die “Ratten”, das waren für ihn die Angestellten, die fast alle in die NSDAP gingen; “die Mäuse”, die einfachen Arbeiter, waren großteils nicht in der Partei“, erklärt die alte Dame. Ich erachte das als das größte Glück meines Lebens, dass mein Vater kein Nazi war und ich von meinen Eltern her überhaupt nie dazu bewegt wurde, bei den Nazikindern oder bei den jungen Menschen dabei zu sein. Aber der Louis Rotschild, der wurde ja auch eingesperrt von den Nazis. Ist ja noch lebend herausgekommen und hat dieses ganze Gebiet Göstling bis Waidhofen, das hat er doch dem Staat geschenkt. Er wollte nicht mehr zurück. Das Kinderheim Göstling übrigens kam erst in die Hände der deutschen Reichsforste, später in die der Österreichischen Staatsforste. 1950 erwarb die Gemeinde das “Asyler-Haus” und baute es in ein Wohnhaus um. Keine einzige Gedenktafel erinnert an die einstige wohltätige Einrichtung der Rothschilds. Dass das Andenken an sie von offizieller Seite so schlecht gepflegt wird und Österreich die Bankiersfamilie in Restitutionsfragen so schlecht behandelt hat, empört Gisela Buder. Sie schüttelt den Kopf. Ich könnte fast sagen, der Rothschild ist vergessen. Es sei denn wir ganz Alten, die das noch gekannt haben. Ach, ach, ach, zum Weinen war mir, wie das alles jetzt – s‘ist zerstört. Gisela Buder erhebt sich schwer und schleppt sich zu einer gerahmten Fotografie mit ihren vier Enkelkindern über der Anrichte. Jedes hat studiert. Sie selbst hat nach der Hauptschule ihre Mutter gepflegt und nie einen Beruf erlernt. Sie hat einen Holzarbeiter geheiratet, Schafe geschoren, Teppiche gewebt und Flachs gesponnen. Inzwischen stellt sie ihre Weberei-Werke aus. Ich hab mir einfach alles selber angelernt. Mein Vater und meine Schwiegervater waren Analphabeten und meine Enkelkinder haben ein Studium gemacht. Literatur 3: Die Zeit ist nur ein Fluss, in dem ich fischen will. Ich trinke daraus, aber während ich trinke, sehe ich einen sandigen Grund und entdecke, wie seicht er ist. Seine schwache Strömung verläuft, aber die Ewigkeit bleibt. Ich möchte in tieferen Zügen trinken, im Himmel fischen, dessen Grund voll Kieselsterne liegt. Ich kann nicht einen zählen. Ich kenne nicht den ersten Buchstaben des Alphabetes. Das habe ich immer bedauert, dass ich nicht so klug bin wie der Tag, der mich geboren. Der Geist ist ein Spaltkeil; er sucht und bahnt sich seinen Weg in das Geheimnis der Dinge. Ich will mit meinen Händen nicht geschäftiger sein, als notwendig ist. Mein Kopf ist mir Hand und Fuß. Wer sich in den Wald begibt, der tut das meist auf der Suche nach Ruhe und der Schönheit der Natur. Wer Wald besitzt, der sieht in ihm oft vor allem Arbeit und – Kapital. Der Rohstoff Holz wird immer begehrter und so schütteln viele Eigentümer den Kopf, wenn die Politik den Schutz der Wildnis einfordert. In Österreich sind es rund 145.000 Menschen, die nicht nur Wald besitzen, sondern auch von dem leben, was er ihnen einbringt. Mit Naturromantik hat das wenig zu tun. Den Wert einer Wildnis, die sich weitestgehend selbst überlassen bleibt, können viele nur schwer erkennen. Die Mitarbeiter des Wildnisgebiets Dürrenstein setzen deshalb auf eine Art „Botschafter“. Der Habichtskauz, in Österreich eigentlich ausgestorben, soll hier wieder angesiedelt werden. Wildnis, für viele nach wie vor gleichbedeutend mit Verfall und Zersetzung, bedeutet dann eben auch neues Leben: Reportage 5 – Gefiederter Botschafter Bepackt mit einer sieben Meter langen Leiter, Seilen und einem Weidenkorb geht es steil bergauf. Hier hat sich ein Habichtskauzweibchen einen Brutbaum ausgesucht. Die jungen Habichtskäuze sollen beringt werden. Ingrid Kohl kann es kaum erwarten und eilt leichtfüßig die siebzigprozentige Steigung hinauf. Und zwar ein Weibchen, das wir freigelassen haben beim Wildnisgebiet, hatte einen Sender. Und mit diesen Daten, den Aufenthaltsdaten und den Temperaturdaten, die mitgesendet wurden mit den Koordinaten, konnten wir feststellen, dass das Weibchen in einer Bruthöhle brütet. Wir sind mit dem GPS und den eingespeicherten Koordinaten hierhergekommen und haben sehr schnell die Bruthöhle gefunden. Die junge Biologin betreut für das Wildnisgebiet das Projekt. Ständig ist sie im Gelände unterwegs. 80Nistkästen hat sie bis jetzt montiert. Normalerweise haben wir bis jetzt die Bruten immer in Nistkästen gefunden. Jetzt haben wir die erste Brut in einer Naturhöhle in einer Buche entdeckt. Das ist für uns eben die Besonderheit, dass wir schon nach wenigen Jahren Bruten in Naturhöhlen finden konnten. Durch die intensive Forstwirtschaft sind die mächtigen Brutbäume mit der Zeit verlorengegangen. Und wir vom Wildnisgebiet bemühen uns darum, dass wir das Bewusstsein schaffen, dass es auch im Wirtschaftswald immer mehr Brutmöglichkeiten gibt. Der Brutbaum ist erreicht; eine zweihundertjährige Buche; halb abgestorben. Sie steht in einem privaten Fichten-Tannen-Buchenwald; ein Schutzwald, der nachhaltig bewirtschaftet wird. Der Betreuer des gräflichen Forstbetriebs ist selbst mit dabei und hat sogar die lange Leiter ausgeborgt. Christoph Leditznig, Chef des Wildnisgebiets, lässt es sich nicht nehmen, selbst den Brutbaum hochzuklettern. Vorsichtig lehnt er die Leiter an den Baumstamm und stülpt sich einen roten Helm mit Visier über. Jetzt ist Vorsicht geboten. Das Weibchen fliegt auf und beobachtet die Forschergruppe von einem hohen Baum aus, ganz in der Nähe: Ein majestätischer Vogel, mit seinem hell -dunkel gestreiften Gefieder und der imposanten Flügelspannweite von eineinhalb Metern. Christoph, Vorsicht, die sitzt jetzt direkt drüber, hinter dir, a Spur vom Flügel, vom kleinen schaut noch raus… Christoph Leditznig steht jetzt in sieben Metern Höhe auf der Leiter; und wundert sich. Eins, zwei, drei, vier junge Habichtskäuze hebt er sorgsam aus der Höhle und setzt sie in den Weidenkorb. Sie klappern aufgeregt mit ihren Schnäbeln. Das Forscherteam unten ist über den Bruterfolg begeistert. Vorsichtig wird der Korb an einem Seil hinuntergelassen. Die vier grauweißen Federbälge purzeln übereinander. Ingrid Kohl setzt sich ruhig einen Jungvogel auf den Schoss und streicht über sein Gefieder; sie strahlt. Er schaut sie aus stahlblauen Augen unbewegt an. Dreieinhalb Wochen ist er alt; und verschluckt schon ganze Mäuse. Er wird fotografiert und erhält eine Nummer. Zwei Ringe zwickt Ingrid Kohl an seine Füßchen: einen lilafarbenen Chipring, der seine Identität speichert und einen schwarzen Aluring als Zeichen, dass er in Freiheit geboren wurde. Die Krallen der jungen Waldeule sind schon ziemlich spitz. Ohne Kratzer geht da nichts. Richard Zink, Wildbiologe an der Universität für Veterinärmedizin in Wien, assistiert. Er rupft dem kleinen Kauz forsch eine Feder aus. Jetzt geht’s um die Federprobe sozusagen, dass man da eine DNA gewinnen kann. So, fertig… Er steckt die Feder wie ein Beweisstück in eine Plastikhülle. Die Habichtskauz-Mama sitzt immer noch auf dem Baum hinter der Gruppe und stößt Warnrufe aus. Doch Gefahr droht diesem wehrhaften Vogel vor allem auf der Straße. Wenn die Nahrung knapp wird im Wald, dann müssen die Eulen raus ins offene Land und sitzen dann mitunter entlang von stark frequentierten Straßen und dort kommt’s dann vor, dass es zu Verkehrsunfällen kommt. Die Eulen sind ja eigentlich lautlose Flieger, aber sie sind jetzt keine rasanten schnellen Flieger, und sie haben die Eigenheit, dass sie sehr niedrig über den Boden eben fliegen, und bei Straßenquerungen passiert das dann. Die Habichtkäuze jagen nicht nur Mäuse, Ratten und Siebenschläfer, sondern auch Maulwurfsgrillen und Insekten. Ingrid Kohl bemüht sich, die kleinen Ringe zusammenzuzwicken; auf keinen Fall darf sie mit der Zange abrutschen.. C. Leditznig: Seids schon fertig? Zink: Eine noch... Die Beringung ist erfolgreich abgeschlossen. Jetzt wird noch ein braunes Handtuch auf den Korb gelegt, und die jungen aufgeregten Waldeulen schweben ihrer schützenden Baumhöhle entgegen. Christop Leditznig klappt zufrieden die Leier zusammen. Letztendlich tragen solche gemeinschaftlichen Projekte zwischen Wildnisgebiet, Universität, Forstverwaltung und privaten Waldbesitzern dazu bei, Wildnis be-greifbar zu machen; davon ist der kommunikationsfreudige Wildbiologe überzeugt. Mit der Kommunikation nach außen und der positiven Darstellung nicht nur durch uns, sondern auch durch die Region - es stehen z.B. alle Bürgermeister hinter dem Projekt - gelingt es, das an den Menschen heranzubringen und auch die Akzeptanz zu schaffen. Das Zulassen von Wildnis ist eine Kulturleistung. Weil Wildnis als solches, der Begriff existiert eigentlich gar nicht. Der Begriff ist erst durch uns Menschen geschaffen worden, und daher ist es gerade in unserer Gesellschaft eine sehr positive Entwicklung, dass man Wildnis wieder zulässt. „Kakanische Wildnis - Ein Stück Urwald im Herzen Österreichs“. Das waren Gesichter Europas mit Reportagen von Antonia Kreppel. Die Literaturauszüge stammten aus dem Buch „Walden. Oder Leben in den Wäldern“ von Henry David Thoreau, erschienen im Diogenes Verlag. Gelesen hat die Passagen Daniel Wiemer. Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Angelika Brochhaus. Am Mikrofon war: Johanna Herzing. 22 22