COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur - Nachspiel "Wildes Kräftemessen" - Fahrradkuriere zwischen Hochleistung und Rausch 11. November 2007, 17.30 Uhr Von Bettina Ritter Musikangaben: Musik 1: Interpret: Muse, Titel: Citizen Erased, Album: Origin of Symmetry, Label: Universal, ASIN: B00005KBM7 Musik 2: CD: X-Sports, Track 3: "Vegas" (D-Kultur Musik-Archiv) MANUSKRIPT -------------------------------- Musik 1 O-Ton 1 Tom, MD7, 33 Du bist so voll mit Adrenalin. Für mich ist das n Spaß. Wenn ich da zwischen den Autos durchknalle und gegen den Verkehr, jedes Mal, wenn du da wieder durchgekommen bist, ist das so'n Schub, so'n Adrenalin-Kick. Musik weiter O-Ton 2 Brigitte, MD3 80 It's like a drug. When you once start to be a bicycle messenger, you'll be a slave to it... Sprecherin Es ist wie eine Droge. Wenn du einmal anfängst, Fahrradkurier zu sein, bist du dem verfallen. Du wirst es nie wieder aufgeben. Du bist in der Stadt und trotzdem eins mit dem Kosmos. ...you are one with the cosmos in the city. Musik weiter O-Ton 3 Philip, MD 6, 26 Man fährt sich teilweise auch in nen Rausch. Man fährt, und schaltet ab, und ist echt in so nem Rausch. Musik 1 verblenden mit Atmo 1 MD 1, 69, Backwards Cycling, one, two, six, klatschen, Olé-Rufe, unter Autorin Autorin 1 Ein Platz in der Innenstadt von Helsinki. Es ist Juli, 12 Uhr nachts. Bunte Neonreklamen leuchten von den Geschäften. Etwa 150 Leute stehen zusammen. Die Männer in Cargo-Hosen und bunten Schirmmützen, die Frauen in kurzen Radlerhosen und Miniröcken. In ihrer Mitte: Ein Radfahrer, der scheinbar endlos rückwärts im Kreis fährt. Atmo 1 MD1, 69, 2:22 Schluss-Applaus O-Ton 4 James, MD 1, 75, 13 sec. I don't know, I thought about it lots and lots, I don't know... Sprecher Ich weiß nicht, wie ich das mache. Ich glaube, es hat damit zu tun, welche Seite vom Gehirn man benutzt, für Balance und so. Vielleicht sind bei mir irgendwo ein paar Drähte überkreuz und deshalb wird mir nicht schwindelig. ...I don't get dizzy really. Atmo 2 MD 1, 70/71 Atmo: Leute reden verschiedene Sprachen Autorin 2 James aus dem schottischen Glasgow ist Welt- und Europameister im Backwards Cycling, dem rückwärts im Kreis fahren. 59 Runden hat er diesmal gedreht, sein Rekord sind 113. Normale Fahrer schaffen zwei oder drei, bevor sie vom Rad fallen, erklärt Norbert aus Köln. O-Ton 5 Norbert, MD1, 102 Es ist kompliziert, rückwärts zu fahren, weil man die Erfahrung, das Gleichgewicht zu halten, umkehren muss. Jede Korrektur, die man normalerweise erlernt hat, müsste man genau andersherum machen, und das funktioniert überhaupt nicht, weil einem das Unterbewußtsein einen totalen Streich spielt. Autorin 3 Norbert - 32, dunkle Zopf-Frisur - ist einer von etwa 200 Teilnehmern an der Europameisterschaft der Fahrradkuriere in Helsinki. Die European Cycle Messenger Championship, kurz ECMC, gibt es seit zehn Jahren. Die erste fand 1996 in Hamburg statt, danach unter anderem in Amsterdam, Graz, Dublin, London und Warschau. Die Kuriere kommen aus England, den skandinavischen Ländern, viele aus der Schweiz, Deutschland, Polen, aber auch aus Japan und den USA. Sie messen sich hier in so unterschiedlichen Disziplinen wie Backwards Cycling, Skidding, Track Stand und Goldsprint. Dahinter verbergen sich unter anderem das Weitbremsen, wer es am längsten auf dem stehenden Rad aushält, ohne Absteigen zu müssen und der Sprint auf einem Fahrrad, das auf eine Rolle montiert ist. Atmo 3 10 Goldsprint, GO!, Pfiffe, Geschrei O-Ton 6 Norbert, MD 1, Tr. 3 Beim Goldsprint muss man allein gegen einen anderen fahren. Es dauert ungefähr ne halbe Minute, und das reicht aus, um sich zuverlässig die letzten Kraftreserven aus dem Körper zu holen, weil man wirklich schnell fahren muss. (4) Nach 15 bis 20 Sekunden merkt man, dass man die Pedale nicht mehr rund getreten kriegt, und dass man keine Kontrolle mehr hat, was die Beine da unten machen und auch kein Gefühl mehr drin hat, und alle anderen Sachen tun dann weh. Atmo 3 weiter Autorin 4 Wie verrückt treten die Kuriere in die Pedalen, Durchschnittsgeschwindigkeit: 50 km/h. Die Daten - Zeit, Geschwindigkeit, zurückgelegte Distanz - werden per Beamer auf eine Leinwand projiziert. So richtig ernst nimmt aber niemand den Wettkampf. Alle sind hier, um Freunde wiederzusehen und Spaß zu haben, auch Jojo (engl. aussprechen!) aus Stockholm. O-Ton 7 MD 3, 40 I love it. It's just like everyone hangs together. It doesn't matter if you are a ... Sprecherin Ich finde es toll. Jeder hängt mit jedem rum. Es ist egal, ob du ein ehrgeiziger Spandex-Klamotten-Typ aus Deutschland bist oder ein betrunkener, verrückter Kerl aus Irland mit Ist-mir-doch-egal-Einstellung. Jeder ist mit jedem zusammen, alle haben Spaß. Das finde ich super. ... it's very, very nice. I love it. Autorin 5 Jojo - 26, kurze, braune Haare, enges Trägertop und weite, lange Shorts - ist eine der wenigen Frauen in der Radkurier-Szene. In Helsinki sind lediglich etwa 20 mit am Start. Jojo ist die beste unter ihnen. Seit 2002 hat sie jede Welt- und Europameisterschaft gewonnen: Unter anderem in Kopenhagen, Kanada und vergangenes Jahr in New York City. Seit fünf Jahren ist sie als Fahrradkurier auf der Straße. O-Ton 8 Jojo, MD3, 49 I think you have to be quite stubborn and you have to have lots of humour... Sprecherin Du musst ziemlich stur sein und viel Humor haben. Alle machen diese dreckigen Witze, das muss einfach an dir abprallen. Aber du musst auch ziemlich stark sein. Als ich als Kurier anfing, sagte mir mein Boss tatsächlich: Jo, ich weiß, dass du nicht so schnell sein wirst wie die Jungs, aber wir nehmen dich trotzdem, weil die Kunden gerne auch mal ein Mädchen sehen. Und ich dachte nur: Fuck you! Mein Ziel war es damals, so schnell zu werden wie der schnellste Mann in unserer Firma. Und ich hab's geschafft. ... and I did it. Autorin 6 Drei bis vier Tage dauern die nationalen, Europa- und Weltmeisterschaften der Fahrradkuriere. Heimlicher Höhepunkt bei allen ist das Alleycat. Alleycat - so nennt man im Englischen eigentlich Katzen, die durch die Straßen streunen. Diesen Begriff haben sich die Kuriere ausgeborgt und benutzen ihn für ihre nächtlichen Rennen durch die Städte. Die sind unangemeldet und damit illegal. Atmo 4 MD 2, 106 Frau schreit: guys we're trying to start the alleycat now, get the manifest, come on! Autorin 7 11 Uhr abends, ein Platz am Hafen von Helsinki. In der Meute von Kurieren verteilt eine junge Frau Papiere, die so genannten Manifeste. Auf denen stehen Straßennamen und Nummern - die Checkpoints. An jedem Checkpoint bekommen die Fahrer einen Stempel als Beweis, dass sie dort waren, und Informationen darüber, wo es als nächstes hingeht. Nur die letzte Station wird verraten: Eine Bar im Stadtzentrum. Das Alleycat funktioniert wie eine Schnitzeljagd auf Rädern, sagt Organisator Jari. O-Ton 9 Jari, MD2, 109, 110, 111 So the guy who finds the fastest route is the fastest and is the winner of course.. Sprecher Derjenige, der die schnellste Strecke findet, hat natürlich gewonnen. Das besondere am Alleycat ist aber die Atmosphäre. Wir sind gerade mit 200 Leuten durch die Straßen gefahren. Sowas hat Helsinki noch nicht gesehen. Die ganze Stadt hat angehalten. Das ist ein super Gefühl. Man ist sich einander nah, wie eine große Gemeinschaft. ... feel close to each other. Atmo 5 MD 2, 118, 0:27 frau schreit: go, go, go, alle schreien, johlen und fahren los Autorin 8 Auf die Räder und ab über die Kreuzung. Die rote Ampel beachtet niemand. Sieben Checkpoints warten auf die Biker. Der erste: ein altes Gebäude auf einem Hügel. Zehn Minuten nach dem Start kommen die ersten hier außer Atem an, lassen ihre Räder ins Gras fallen, zücken ihre Zettel. Für die Messenger aus ganz Europa ist das Alleycat auch ein Touristen-Trip. Atmo 6 MD 2, 119, Frau: This is an important place, how nice! Stimmen, Blätter O-Ton 10 MD 2, Mann, 120 , 0:26, ca. 15 sec This is an observatorium for stars... Sprecher Das hier ist eine Sternwarte. Mehr weiß ich auch nicht darüber. Der Hauptgrund, warum wir das hier als Checkpoint gewählt haben, ist der Berg. Das grobe Kopfsteinpflaster und die dünnen Reifen - das ist immer eine Freude! ...the cobble-stones with the thin wheels is always a pleasure. Atmo 7 MD 2, 122 Berg-Atmo und Fahrradgeräusche Autorin 9 Schnell das Manifest abstempeln lassen und weiter: Ausgestattet mit einer Karte müssen die Kuriere ihren Weg durch die ihnen unbekannte Stadt zu den Checkpoints finden. Sie kommen an Sehenswürdigkeiten wie der berühmten Felsenkirche, dem Parlamentsgebäude und am Strand vorbei. Hier schieben die Biker ihre Räder in den Sand, lassen sich von den finnischen Kollegen den Weg erklären. Atmo 8 MD 2, 138 You go past that building and take the wider road... Verblenden mit Atmo 9 Strand: Möwen, Stimmen, Musik Autorin 10 Für viele ist der Strand auch die selbst gewählte Endstation. Etwa 20 Kuriere fläzen sich nach einem Bad im See halbnackt im Sand, auch Florian. Der 26 Jahre alte Bonner ist zum dritten Mal bei einer Europameisterschaft dabei. Auch bei der letzten Weltmeisterschaft in New York ist er mitgeradelt. Dort waren 1100 Leute am Start. Er schwärmt schon jetzt vom nächsten Event, einem weltweiten Alleycat, genannt: Global Gutz. Einmal im Sommer starten zur gleichen Zeit in Metropolen überall auf der Welt Kuriere zu einem illegalen Rennen, erzählt er O-Ton 11 Florian, MD 8, 65, ca. 20 sec. Dann wird ein Gesamtsieger für die ganze Welt ermittelt. In New York starten sie um 12 Uhr mittags, in Bonn ist es dann 11 Uhr nachts. Und dieses Gefühl, auf der Straße zu sein und zu wissen, in Sydney und in New York und weiß ich nicht wo, sind sie jetzt alle auf der Straße und machen genau dasselbe, was du jetzt auch machst, eigentlich ist das einer der schönsten Termine des Jahres. Auch wenn man sich nicht sieht. Atmo 10 Stimmen, Musik, Bierflaschen Autorin 11 Endstation Alleycat: Eine Kneipe in der Innenstadt von Helsinki. Es ist inzwischen halb zwei nachts, die Biker sitzen mit Bierflaschen draußen auf der Erde und auf Blumenkübeln. Ihre Räder haben sie übereinander gestapelt, mannshoch, einige hängen sogar in den Bäumen. Die Kuriere sind ein buntes Volk. Die meisten tragen abgeschnittene, weite Hosen mit jeder Menge Taschen. Von einigen Köpfen hängen lange, verfilzte Dreadlocks, viele sind tätowiert: Eine Teufelsfratze über dem nackten Rücken, ein Zahnkranz auf der Wade. Fahrradkurier sein ist für die meisten mehr als nur ein Job - es ist eine Lebenseinstellung. O-Ton 12 a Collage Brigitte, MD 3, 79, 0:30 Do your thing and feel free... Sprecherin Du machst einfach dein Ding und fühlst dich frei. Du bist eins mit dir, deinem Geist, deinem Körper, den Leuten, die um dich rum sind und der Welt. Du hast so ein Gleichgewicht. Wie die ZEN-Mönche. ...like the ZEN are trying to do. Philip, MD 6, 25, ab 0:24, ca. 25 sec Du bist den ganzen Tag draußen, Man fühlt sich irgendwie am Puls der Zeit. Man kriegt jede Veränderung in der Stadt mit, man sieht die Leute. Und man fährt Rad. Man kommt abends nach hause und ist vielleicht 100 Kilometer gefahren und fühlt sich einfach gut. Man ist erschöpft, man fühlt sich einfach angenehm. Und dieses Gefühl hat man eben jeden Tag. Anders, CPH, MD2, 51 It's the whole being free and do what you want... Sprecher Es ist dieses ganze frei sein und tun können, was du willst. Du bist nicht hinter einer Theke in irgendeinem Laden eingesperrt und musst Sachen verkaufen, die dich eigentlich gar nicht interessieren. Wenn du gern Rad fährst, ist das der perfekte Job. Es ist der beste Job, den man machen kann, ohne Erfahrung zu haben. ...that does not require experience. Autorin 12 a Wer denkt, dass nur junge Leute als Fahrradkuriere arbeiten, der irrt. Philipp aus Berlin kennt die Szene genau: O-Ton 12 b Philip, MD6, 36, ca. 45 sec Die jüngsten sind Leute, die gleich nach dem Abitur Geld verdienen wollen und Fahrradkurier werden, die sind Anfang 20. Und die ältesten sind schon Mitte 50. Das Bild der Fahrradkurier-Szene hat sich in den letzten Jahren geändert. Auch aufgrund des angespannten Arbeitsmarktes. Es ist für immer mehr Leute eine Berufsperspektive geworden. Früher waren es nur junge Freaks, und Studenten. Das Durchschnittsalter ist einfach hochgegangen. Die meisten sind Mitte 20 bis 30, dann haben wir viele, die älter sind, für die es der normale Job ist, den die so lange machen, bis das Knie nicht mehr mitspielt. Autorin 12 b Der Job geht auf die Knochen. Egal ob 30 Grad im Schatten wie im Berliner Sommer oder minus 25 Grad wie im finnischen Winter - der Kurier ist draußen. Im Durchschnitt 10 Stunden pro Tag. 10 bis 20 Touren fährt er, das sind mindestens 100 Kilometer. O-Ton 13 Carsten, MD 5, 41, 0:47 Bei jedem Wetter, ne. Bei jedem Wetter. Und da trennt sich dann die Spreu vom Weizen, das ist einfach so. Manche müssen die Zähne zusammen beißen, und manche schütteln das aus dem Ärmel. Und wenn man das nicht aus dem Ärmel schütteln kann, hat man's sehr schwer. Man ist auch nicht länger als drei, vier, fünf Jahre Fahrradkurier, muss man ganz klar sehen. Danach ist irgendwann das Risiko da, dass man sich damit seinen Körper kaputt macht. Autorin 13 Carsten Leuschel war selbst jahrelang Fahrradkurier, jetzt arbeitet er als Marketing-Leiter bei inline, der größten Kurier-Agentur in Berlin. 50 Biker hat die Zentrale, etwa 200 sind insgesamt auf den Straßen der Hauptstadt unterwegs. Die Parole: Nachdem ein Kunde angerufen hat, muss der Kurier innerhalb von 10 Minuten die Sendung abholen. Eine Tour kostet durchschnittlich knapp 10 Euro. Die wandern aber nicht direkt in die Tasche des Kuriers. O-Ton 14 Carsten, MD5, 45, 0:06 Ein Fahrer, der bei uns anfangen soll, möchte bitte auch 900 Euro an Kapitaleinlage überweisen, für nen Biker sind das 550 Pauschale. Dann kommen noch Miete für's Funkgerät dazu etc, Ausbildung, der wird halt eingefahren von nem erfahrenen Kurier über drei Tage, Ausbildungsmaterial, und so weiter. So ein Kurier, der muss 2000 Euro in der Tasche haben, um erst mal Inliner zu werden, um an dieser Vermittlung und an dieser Struktur teil haben zu dürfen. Autorin 14 Bleiben etwa 700 bis 1100 Euro netto im Monat. Weil die Kuriere selbständig sind, müssen sie sich selbst um ihre Renten- und Krankenversicherung kümmern. Und die haben sie bitter nötig. Unfälle sind zwar nicht an der Tagesordnung - dafür fahren sie zu vorausschauend, versichern die Fahrer - aber sie passieren immer wieder. O-Ton 15 Collage Rick, Amsterdam, MD2, 75 I broke collar bone three times... Sprecher Ich habe mir mein Schlüsselbein dreimal gebrochen. Der fieseste Unfall war, als ich zwischen zwei LKW durch musste, die auf dem Fahrradweg geparkt hatten. Auf einmal ging bei einem die Tür auf und schnitt durch mein Schlüsselbein. Das war der gemeinste Unfall. ...that was the nastiest one. Florian, Bonn, MD 8, 69 Der heftigste war, dass mich ein Autofahrer beim Abbiegen über meine Fahrspur, als ich geradeaus über die Kreuzung wollte, einfach seitwärts umgefahren hat. Der ist einfach weitergefahren und hat mich umgeholzt. Autorin 15 Unter unvorsichtigen Autofahrern haben die Biker am meisten zu leiden. Städte in Spanien, Frankreich und Deutschland seien am schlimmsten, sagen sie. Hier gebe es keine oder nur wenig Lobby für Radfahrer. Besonders aggressiv seien die Fahrer in Berlin, berichtet Tom. Einer seiner Angreifer stehe inzwischen vor Gericht, wegen versuchten Totschlags. O-Ton 16 Tom, MD 7, 27 Der Typ wollte mich frontal über den Haufen fahren. Der hat mich so abgedrängt, dass ich fast in die Autos geknallt bin. Er Vollbremsung, quetscht mich da ein. Ich fahr weg, in die Seitenstraße. Er fährt um den Block, kommt frontal auf mich zu, und fährt volles Programm in mich rein. Das Rad hat Totalschaden. Ich hab zum Glück nur ne Prellung und ne Platzwunde am Kopf und ein paar Schürfwunden, aber nichts wirklich schlimmes. Autorin 16 Aber schlimm genug. Ohne Krankenversicherung sei er aufgeschmissen gewesen, erzählt der 40-Jährige. Viele seiner Kollegen sehen das weniger eng. O-Ton 17 Tom, MD 7, 62, ab 0:15 Es gibt schon Leute, die sagen, das Geld spare ich mir lieber. Aber das ist natürlich Quatsch. Wenn einmal was schlimmes passiert, ist's vorbei. Dann haben die Schulden bis zum Hals. Und das sind nicht wenige. Da redet man natürlich nicht drüber, aber das gibt's schon öfter. Autorin 17 Zum Beispiel Andy aus Washington D.C. Seit acht Monaten ist er ohne Krankenversicherung. Zu teuer, sagt er. O-Ton 18 Andy, MD3, 109 It's bloody expensive... Sprecher Ich verdiene vielleicht 2500 im Monat, davon bezahle ich 700 Miete, die Versicherung, die ich an meine Firma zahle, kostet mich 150, die Miete für Funkgerät und Beeper sind noch mal 150, normale Versicherung ist 200, wenn ich Zahnarzt-Vericherung haben will, sind das noch mal 100. Dann habe ich mir noch nichts zu essen gekauft. Mein ganzes Geld geht dafür drauf. ...every money goes to that. Autorin 18 Für Leute wie Andy gibt es einen Solidaritätsfonds für verunfallte Kuriere, den Bicycle Messenger Emergency Fund. Erwischt es einen mal schlimm, springt die Gemeinschaft ein, bezahlt einen Teil der Krankenhausrechnungen und Essen. Ein Sofort-Scheck über 300 Dollar in der ersten Woche soll dem Kranken psychisch und ganz praktisch wieder auf die Beine helfen. Andy wundert sich über das Ansehen und den Respekt, den die Kuriere in Europa bekommen. In den USA kriege jeder mit 16 ein Auto - Radfahren sei etwas für Kids, sagt er. O-Ton 19 Andy, MD3, 100, ab 0:38 und 101 When you're a bike messenger, you're a bum... Sprecher Wenn du ein Fahrradkurier bist, bist du ein Penner. (1:28) In den Staaten sind wir das Ende der Nahrungskette. (101) Sie halten dich für einen dreckigen, stinkenden Penner, du darfst noch nicht mal ihr Telefon oder das Klo benutzen. Da scheiß ich drauf. Ich mache das nicht für ihre Anerkennung. Wir Kuriere sind ein eigener Club. Wir wissen, dass wir besser sind als die, egal, was sie denken. ...that we do better then they. Autorin 19 Andy fährt seit 15 Jahren als Kurier. Heute ist er 33, trägt einen blonden Ziegenbart und eine schmale Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern. Seit zehn Jahren ist er bei jeder Weltmeisterschaft dabei, egal ob in New York, Barcelona, Zürich oder Budapest. Die erste war 1993 in Berlin. Die Community, die Gemeinschaft der Kuriere, sei weltweit einmalig, schwärmt er. O-Ton 20 Andy MD 3, 104 It's not like any community in the world.... Sprecher Zum Beispiel: Ich war noch nie in Helsinki, ein Hotel oder Hostel ist zu teuer. Ich denke, Mann, das kann ich mir nicht leisten. Ein Typ aus D.C., der in Deutschland lebt, kennt jemanden, der jemanden hier kennt. Ich komme also hier hin und ich schlafe im Bett von einem der Haupt-Organisatoren. Der kannte mich noch nicht mal 10 Minuten und hat mir den Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben. Das findest du sonst nirgendwo. Es ist wie eine Familie. Und es hat mich ein paar mal rund um den Globus gebracht, wortwörtlich. Das ist das tolle an den Rennen, dass sich die Leute von überall her hier treffen und die Gemeinschaft auf diese Weise wächst und wächst. ... from all over. Autorin 20 Neben der Gemeinschaft ist es vor allem die Abwechslung, die die Kuriere an ihrer Arbeit lieben. Auch wenn die alltäglichen Lieferungen aus Umschlägen, Briefen oder CDs bestehen - immer wieder gibt es auch Kurioses und Außergewöhnliches. O-Ton 21 a Collage Andy: MD3, 105 I once had to deliver something to Bill Clinton... Sprecher Einmal hatte ich eine Lieferung für Bill Clinton. Natürlich rannte jemand anderes aus dem Weißen Haus und nahm es für ihn entgegen. Aber es war schon ziemlich cool, ein Paket mit seinem Namen drauf zu haben und der Adresse vom Weißen Haus. ... with the address 1600 Pensylvania Avenue. Rafael, MD3, 20 Wir haben eine Augenklinik in Lausanne. (21) Auf dem Thermos stand "human transplant", da habe ich gefragt, was ist das. Ja, das sind Augen. (lacht) Florian, MD8, 77 Das schlimmste, was wir mal ne Zeitlang hatte, war, Methadon von der Apotheke zu nem Junkie zu fahren. Der stand dann, sobald du unten geklingelt hast in der Haustür und hat sein Kleingeld abgezählt und ne Fahrt von 9 Mark 80 mit 10 Pfennig Stücken bezahlt. Musik 2 Autorin 21 a Auch Deutschland richtet seit sechs Jahren eine eigene Fahrradkurier- Meisterschaft aus, die German Cycle Messenger Championship. Dieses Jahr fand sie Anfang Juni auf einem Industriegebiet in Köln statt. 150 Kuriere hatten sich angemeldet, auch Fahrer aus der Schweiz und Österreich. Einer von ihnen ist Philip, 29, aus Berlin. O-Ton 21 b Philip, MD6, 24, ca. 0:29 Fahrradkurier war der Job, den ich immer machen wollte. Als Teenie hab ich nen Fernsehbericht über Fahrradkuriere in New York gesehen. Und dachte so, oh toll. Dann halt erst mal andere Sachen gemacht und irgendwann kam der Punkt, da hab ich gedacht, okay, jetzt kann ich das noch machen, ohne dass es zu spät ist, ich zu alt bin, und danach nichts mehr machen kann. Es war ja auch mein Plan, das nicht für immer zu machen. Ich wollte es nur zwei Jahre machen, sind fast vier daraus geworden. Weil: es macht einfach Spaß. Autorin 21 b Nach vier Jahren auf der Straße hat Philipp den Sattel gegen den Büro-Stuhl getauscht und vermittelt in einer Kurier-Zentrale Fahrten. Das war so geplant, erzählt er. O-Ton 22 Philip, MD 6, 42 Man hat halt keine Perspektive, nach vier Jahren kennt man fast jede Straße beim Namen in Berlin, und es ist irgendwann ausgereizt, man ist irgendwann bei nem Limit, und da geht?s nicht weiter. Du machst deinen Körper jeden Tag mehr kaputt, aber du hast keine Perspektive. Klar, man verdient Geld. Aber für die Gefahr, die der Job mit sich bringt, ist es nicht genug Geld. So lang man alleine lebt und keine Verpflichtungen hat, ist es traumhaft. Aber wenn man sich den Kopf drüber macht, was macht man, wenn man mal ein Kind hat... Man ist halt immer am Limit. Und da hab ich keine Lust drauf. Autorin 22 Seit er nicht mehr aktiv ist, kommt Philip besonders gern zu den Rennen. Der Kontakt zur Szene ist ihm wichtig. Dabei sind Gespräche über Party-Exzesse mindestens genauso wichtig wie die über den Sport. O-Ton 23 MD6, 90 Dialog Philip und Strom * Seid ihr noch ausgegangen? * Jaja, die Kölner Jungs haben uns noch die Stadt gezeigt * Hast du hier gepennt? * Ne, gar nicht, naja, um neun bei nem Kölner in der Wohnung gelandet, zwei Stunden gepennt, und dann um elf Uhr wieder hier, und dann hab ich da ein bisschen auf der Treppe geschlafen. O-Ton 24 Philip, MD7, 41 Es wird auch hart gefeiert. Es ist so ne komische Mischung aus Sport treiben und die ganze Zeit feiern, die eigentlich nicht zusammen passt. (42) Es gibt wirklich welche, die feiern 48 Stunden durch. Autorin 23 Bier trinken und Kiffen gehören bei den Meisterschaften dazu. Kein Wunder, dass die meisten trotz der körperlichen Anstrengung so entspannt wirken. Allerdings gibt es auch Fahrer, die die Sache durchaus sportlich angehen und um Mitternacht im Zelt verschwinden. Die Fahrradkurier-Meisterschaft ist ein Balanceakt zwischen Hochleistung und Rausch. Musik 2 Autorin 24 Neben Party-Machen und wildem Kräftemessen geht es bei den Treffen vor allem um eins: Das Berufswerkzeug. Die meisten Räder sind Unikate und nicht selten mehrere Tausend Euro wert. Die Einzelteile ersteigern die Fahrer oft im Internet und schrauben sie eigenhändig zusammen. O-Ton 25 Philip, MD 6, 12 Das ist wie auf so nem Auto-Treffen, wo jeder sein Gefährt präsentiert. (13) Viele haben besonders alte Räder, alte, klassische Stahlräder aus den 80ern. (14) Viele sind Fahrrad-Fetischisten. Autorin 25 Etwa 80 Prozent der Kuriere sind auf klassischen Bahnrädern unterwegs, auch Fixies genannt, von "fixed gear". Das heißt: Starre Achse, man kann vorwärts und rückwärts fahren, es gibt einen einzigen Gang, aber keine Bremse. Und das bei einem durchschnittlichen Arbeitstempo von 35 km/h. Was dem normalen Radler den Angstschweiß auf die Stirn treibt, lässt die Profis kalt. O-Ton 26 Philip, MD 6, 9 Man kann ja gegen kontern, man kann langsamer werden, man kann auch Vollbremsungen machen. Das ist ne bestimmte Technik. Man muss das Hinterrad kurz anheben, und dann die Pedalen blockieren, und wenn man es aufsetzt, hat man halt die Bremswirkung. (10) Es ist entstanden dadurch, dass man als Kurier einen so hohen Verschleiß hat. Und an diesem Fahrrad hast du eben keine Verschleißteile. Du musst ab und zu den Zahnkranz hinten wechseln, aber das kostet dich halt fünf Euro. Wenn du ein normales Fahrrad hast, dann ist ständig die Schaltung kaputt, die Bremsbeläge musst du ständig wechseln, hinten hast du immer acht Kränze, die kosten auch gleich wieder das siebenfache. Atmo 11 MD4, 01 Stimmengewirr und Radatmo kurz vor dem Start Autorin 26 Der Höhepunkt der Europameisterschaft: Vor dem Olympiastadion in Helsinki warten die letzten 32 Männer und 12 Frauen auf den Start des Finales. Sie haben sich am Tag zuvor beim Vorlauf gegen die anderen gut 100 Teilnehmer durchgesetzt. Bibi aus Holland und Jojo aus Stockholm stecken ihre Köpfe über einem Blatt Papier zusammen, studieren den Parcours. O-Ton 27 Jojo, MD4, 3, ca. 24 sec This is the manifest... Sprecherin Das hier ist das Manifest. Wir wissen jetzt schon, wie wir die Päckchen am besten abliefern, weil es ähnlich ist wie gestern. Wir planen gerade die Route, damit wir keine Extra-Runden drehen müssen. Und wir machen kleine Markierungen auf den Plan, damit wir sofort erkennen, wo wir eine Lieferung bekommen und wo wir etwas abgeben müssen. ...just to pick up. Autorin 27 Ähnlich wie beim Alleycat bekommen die Kuriere ein so genanntes Manifest, den Aufgabenzettel. Hier steht drauf, welche Lieferung sie an welchem Checkpoint abholen und welche sie wo abgeben müssen. Wie im richtigen Kurier-Alltag. Wer die Lieferungen clever kombiniert, als erster durchs Ziel kommt und zudem keine Fehler macht, hat gewonnen. Atmo 12 MD4, 13, 0:50 Rennen wird gestartet: Jari schreit: Are you ready for the hell? Alle antworten: Yeah! Go, go, go!! Alle starten, viel Lärm und Gejohle Autorin 28 Hektisch schwingen sich die 44 Fahrer auf ihre Räder und strampeln los. Der Parcours geht um das Olympiastadion herum, das in einem Waldgebiet liegt. Der erste Weg führt einen steilen Berg hinauf. Atmo 13 MD4, 15 Räder fahren vorbei, bergauf, bremsen Autorin 29 Insgesamt gibt es acht Checkpoints. Beim ersten müssen die Fahrer ihre Räder abschließen und zu einem kleinen Tisch laufen. Hier sitzt Beaver aus Neuseeland, hinter ihm meterhohe Stapel aus Pizzakarton-großen Fed-Ex- Schachteln. Atmo 14 MD4, 25 Leute laufen zum Point: sagen: delivery, pickup, außer Atem, Anfeuerungsrufe: go go go Autorin 30 Bevor Beaver seinen Kollegen eine Schachtel in die Hand drückt, stempelt er ihr Manifest ab, als Quittung für die erhaltene Ware. Manchmal kommen so viele Kuriere auf einmal, dass sich richtige Schlangen bilden. Dann wird es stressig, sagt er. O-Ton 28 Beaver, MD4, 30 They are taking it very seriously... Sprecher Die Leute nehmen das hier schon ziemlich ernst. Die Zeit, die wir brauchen, um ihnen die Pakete zu geben - das sind nur Sekunden, aber das bedeutet viel. Das ist Zeit, die ihnen verloren geht, keine Zeit, die sie selbst vertrödeln. Dann wird's ein bisschen verrückt hier. ... a bit crazy. Atmo 15 MD4, 37 Radatmo Berg runter und 33 Autorin 31 Vom ersten Checkpoint aus geht der Weg steil bergab und führt durch eine scharfe Kurve. Eine Viertelstunde nach dem Start liegt hier die erste Verletzte mit schmerzverzerrtem Gesicht: Die Finnin Nora. Neben ihr knien zwei Sanitäter. O-Ton 29 Typ, MD4, 33 There was a crash, a bad negotiation in a crossroads... Sprecher Hier gab es einen Crash, eine falsche Verständigung an der Kreuzung, und Nora ist durch den Zaun gerast. Sie untersuchen gerade, ob ihr Fuß angeknackst ist, aber es ist wohl nichts ernstes. Hoffentlich. ... nothing serious or evil. Hopefully. Atmo 16 MD4, 50, Zieleinfahrt, Männer johlen (leicht übersteuert) Autorin 32 a Nach einer Stunde, zwei Minuten und sechs Sekunden kommt der erste ins Ziel: Rafael aus Lausanne. Keine Überraschung: Der Schweizer ist zweimaliger Welt- und Europameister. Atmo 16 weiter O-Ton 30 a Rafael, MD3, 18 Man muss stark in den Beinen sein, dann hat man Vertrauen. Wenn man das hat, kann man ein bißchen mehr überlegen und dann macht man keine Fehler mehr. (0:50) Es ist wichtig, wirklich cool zu bleiben und nicht zu schnell zu fahren am Anfang, keine Fehler am Anfang machen, dann kann man voll Gas geben, und dann läuft es einfach so. Autorin 32 b Sein Erfolgsrezept: 60 Prozent in den Beinen, 30 Prozent im Kopf und 10 Prozent Glück. Und natürlich die richtige Vorbereitung in seiner Heimatstadt Lausanne. O-Ton 30 b Rafael, MD3, 12, ca. 31 sec Es ist hart und steil. Die Stadt ist nicht ganz groß, aber die Straßen sind wirklich steil, es gibt Höhenunterschiede von 300 und 400 Metern. Es ist nicht leicht, dort zu arbeiten, es gibt viele unterschiedliche Wege. Man muss gut nachdenken, und deshalb sind die Lausanner auch gut bei den Meisterschaften. Atmo 17 MD4, 54 Jemand ruft: Jojo! Autorin 33 Als schnellste Frau und insgesamt neunte rauscht Jojo über die Linie. Knapp sieben Minuten nach Rafael. Sie ist zufrieden. Atmo 18 MD4, 74, Klatschen, Johlen Autorin 34 Wenige Stunden nach dem Finale: Die Siegerehrung. Mit Bierflaschen in der Hand warten die Kuriere auf die Bekanntgabe der Gewinner. Atmo 18 weiter: Final Winner, first woman to finish, she is fast: Jojo, großer Applaus Autorin 35 Für die Besten des Finales - Jojo und Rafael - gibt es eine riesige Kuriertasche mit Elchfell-Besatz und einen Pokal. Der ist aus einem Sattel und einem geschwungenen Lenker gebastelt und sieht aus, wie ein Tierkopf mit Hörnern. Die Europameisterschaft 2007 wird in Oslo steigen. Das beschließt die Gemeinschaft per Abstimmung. Viele werden sich aber bereits zur Weltmeisterschaft Ende Oktober in Sydney wiedersehen. Dann geht das wilde Kräftemessen von vorne los. Musik 2