COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Deutschlandrundfahrt - 30.6.2007 Wir im Revier - Der Strukturwandel im Ruhrgebiet Von Susanne Arlt Jingle und Kennmusik Musik hoch O-Ton 1 Das Ruhrgebiet war eine Industrieregion, es wurde auch durch die Industrie geprägt, aber die Industrie ist heute nicht mehr strukturbildend für das Ruhrgebiet, das Ruhrgebiet ist eine postindustrielle Region, die hauptsächlich von Dienstleistung geprägt wird. Musik hoch O-Ton 2 Ich weiß noch wie der Oberstadtdirektor gefragt hat, wann sprengen wir denn die Schornsteine? Und heute ist das alles Weltkulturerbe, das ganze Areal. Musik hoch O-Ton 3 Kohle brauchen sie immer. Wenn se Koks herstellen wollen müssen sie Kohle haben. Australien, da können sie nichts mit anfangen, vernünftigen Stahl herstellen können sie damit nicht. Ich glaub da noch nicht dran, die ändern da noch einmal etwas dran. Musik hoch O-Ton 4 Klar, man hofft natürlich immer über 2018 hinaus. Diese ganze Geschichte ist so lange von so vielen Leuten vorbereitet worden und die ganze Nation glaubt mittlerweile, dass wir die Bettler der Nation sind und ich denke mal, da gibt es kaum noch was dran zu rütteln. SpvD: Wir im Revier ? Der Strukturwandel im Ruhrgebiet Eine Deutschlandrundfahrt mit Susanne Arlt. Musik hoch Atmo 1 Vögelzwitschern, in der Ferne Autobahnrauschen Autorin: Tief im Westen, wo die Sonne untergeht. Pausenlos rauschen Autos aus dem Norden über die A1, aus dem Osten über die A2, treffen sich am Kamener Kreuz. Einer der wichtigsten Verkehrsknoten in Deutschland. Nicht weit davon liegt Lerche, ein Vorort von Hamm. Die Gegend eher bäuerlich. Grüne Wiesen, Äcker mit Weizen, Roggen und Raps. Hinter einer kleinen Baumgruppe lugt ein lindgrünes Gerüst hervor. Aus der Ferne sieht es aus wie der Kopf eines riesigen Golfschlägers. 40 Meter hoch. Acht faustdicke Stahlseile laufen über zwei riesige rote Seilscheiben in die Tiefe. Das markante Stahlgerüst ist der Förderturm der Zeche mit dem Namen Lerche. In 1.300 Meter Tiefe liegt noch das Grubengold. Die Steinkohle machte das Ruhrgebiet fast ein Jahrhundert lang zu dem, was es heute nicht mehr ist: eine bedeutende Industrieregion in Deutschland. Einst gab es hier über 3.000 einzelne Zechen, heute sind es nur noch ein paar Handvoll. Still gelegte Fördertürme, Hochöfen und Schornsteine prägen jetzt die Silhouette des Reviers. Atmo 2 Kälteanlage, Laufen, vorbei an Kühltürmen Autorin: Schacht Lerche ist dagegen noch in Betrieb, ein Modell des Bergbaus im 21. Jahrhundert, erst fünf Jahre alt. Die vollautomatische Fördermaschine ist das Modernste, was der Montanbau derzeit zu bieten hat und die oberirdisch installierte Kühlanlage die größte in Europa. Sie ist Tag und Nacht in Betrieb. Umgerechnet stehen hier 25.000 Kühlschränke. Die Anlage produziert mit 20 Megawatt 2 Grad kaltes Wasser und schickt es über Rohrleitungen runter in die Grube. So kommt immer frisches Wetter an die Kohle, sagt der Bergmann. Übersetzt heißt das, dass die Luft in den Schächten auf immerhin 28 Grad Celsius herunter gekühlt wird. In 1.300 Meter Tiefe, nein Teufe, herrschen Temperaturen von bis zu 54 Grad. Dementsprechend heiß ist die Steinkohle. In diesem Baufeld hat das Grubengold eine Temperatur von bis zu 63 Grad. Na ja, sagt Bergmann Jörg Hollender schulterzuckend, wir müssen es ja da unten nicht mehr mit den bloßen Händen rausholen. Atmo 3 Gabelstapler fährt durch die Halle O-Ton 5 Jörg Hollender: Früher vor 50 Jahren da waren die Arbeitsbedingungen ja ganz anders. Heutzutage ist der Bergbau ein Higtech-Gebiet geworden. Wir haben überall nur noch Fachleute. Und vor 50 Jahren sprach man da noch von Einzelörtern, das heißt im Streb hat der Mann allein sein Gedinge gemacht, der musste da dann selber seine Kohle da losbrechen mit nem Abhauhammer. Autorin: Jörg Hollender ist Bergmann. Seit fast 30 Jahren arbeitet er unter Tage, zuerst auf der Zeche Victoria in Lünen. Als die geschlossen wird, macht er weiter im Schacht Robert in Hamm und jetzt auf der Zeche Lerche. Bergleute müssen flexibel sein. Hollender ist ein gemütlicher Typ. Er hat eine stämmige Statur, einen gepflegten Bierbauch, trägt kurze dunkle Haare und einen gestutzten Vollbart im Gesicht. Unter Tage kümmert er sich um den Brandschutz. Um fünf in der Früh beginnt normalerweise seine Schicht. Im Moment hat er Freizeit, darum ist er leger in Jeans und braun-weiß kariertem Hemd gekleidet. Nur auf dem Kopf trägt er einen gelben Sicherheitshelm. Atmo 4 Gabelstapler fährt durch die Halle ... mischen mit Atmo 5 in der Halle ... Glück auf .. Glück auf ... Autorin: Wer hier einen guten Tag wünscht, wird befremdlich angeschaut. Der alte Bergmannsgruß beschreibt die Hoffnung, es mögen sich unter Tage Erzgänge auftun. Beim Abbau ließ sich früher nämlich noch nicht vorhersagen, ob die Arbeit der Bergleute überhaupt zu einem Lohn führte. Das ist heute zum Glück anders, doch der Gruß aus dem 16. Jahrhundert ist geblieben. Überhaupt steckt viel Tradition in diesem Beruf. Und darum wir man als Frau am Fuße des Förderturms auch ein bisschen bestaunt. Atmo 5 Türen gehen zu, Klingel, Korb fährt runter Autorin: Pressesprecher Dirk Rehermann verzieht das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. Nein, die Beschäftigung von Frauen sei nicht grundsätzlich im Steinkohlebergbau verboten. Unter Tage aber schon. O-Ton 6 Dirk Rehermann Der klassische Bergmannsberuf vor Ort Kohlen schippen ist nicht erlaubt. Das hat auch schon was damit zu tun: die Arbeitsbedingungen, die Wärme. Wenn unsere Jungs dann unter Tage im Streb sind, die ziehen dann auch schon mal sich bis auf das Unterhemd aus. Es ist halt ne mechanisierte Arbeit, aber wenn dann man wieder eine Maschine ausfällt ist das ein Knochenjob. Atmo 6 Bergleute kommen rein Autorin: Es ist kurz vor 15 Uhr. Schichtbeginn für das Gewinnungsdrittel. Die Bergleute schuften im Kohlen-Streb und fördern die Steinkohle auf Bändern zu Tage. Männer mit geschwärzten Gesichtern und in beigefarbenen Jacken und Hosen betreten die Halle. Auf den Köpfen tragen sie gelbe Helme, auf Stirnhöhe sind Lampen angebracht. Um die Beine haben sie Schienbeinschoner aus Plastik geschnallt. Die Bezeichnung Gewinnungsdrittel stammt aus dem Dreischichtbetrieb, erklärt Jörg Hollender. O-Ton 7 Jörg Hollender: Der Kumpel ist schon ne eingefleischte Gemeinschaft. Man hat auch einen ganz anderen Wortjargon, den man hier im untertägigen Gebrauch hat als später bei der Familie. Dieser ganze Umgangston ist schon ein bisschen rauer aber man dreht sich um und dann ist das schon wieder vergessen. O-Ton 8 Dirk Rehermann: Das Mannschaftsgedinge trägt weiter dazu bei. Hier wird nicht jeder für seine eigene Leistung bezahlt, hier wird das Team bezahlt. In anderen Berufszweigen ist das so´n Einzelleistungslohn bei uns ist das die ganze Mannschaft. Und wenn einer da mal einen schlechten Tag hat, dann wird der mit durchgezogen und das war´s. Da spricht auch keiner drüber, dann kann der auch mal drei, vier schlechte Tage hintereinander haben, da sagt immer noch keiner was. Auch das schweißt zusammen. Atmo 7 Türen gehen zu, Klingel, Korb fährt runter Autorin: Die Kabine ist knapp 20 Quadratmeter groß. Schulter an Schulter stehen die Männer, warten auf den Dreischlag ? das Signal zur Fahrt in den Berg. Schummriges Licht, es riecht nach Kohlenstaub. Probleme mit dem Druckausgleich haben Bergmänner selten. Atmo 8 Bandfahrung Autorin: Mit 43 Kilometern pro Stunde fährt der Korb runter in den 1.300 Meter tiefen Schacht. Vor über 100 Jahren kletterte der Bergmann noch mit der Kiepe rauf und runter, sagt Jörg Hollender. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts die Dampfmaschine den Bergbau revolutionierte. Atmo 9 Untertage Autorin: Eine halbe Stunde später stehe die Männer vom Gewinnungsdrittel im Kohlen-Streb. Die Bergleute arbeiten in stählernen Tunneln, riesige Stahlplatten stützen das Gebirge. Nur die Seite zum Kohlenflöz ist offen. Die Arbeit ist voll automatisiert. O-Ton 9 Jörg Hollender: Ja High-tech, alles High-tech. Wir sind hoch technisiert, es wird alles permanent überwacht und das brauchen wir auch. Weil man hat nicht mehr so viele Mitarbeiter, dass man an jeder Ecke dann einen hat, sondern das wird Großteil elektronisch überwacht über die Grubenwarte und die ruft dann die dementsprechenden Mitarbeiter dann da auch dahin. Atmo 10 Walzenschrämlader Autorin: Mit gewaltiger Kraft nähert sich eine 20 Tonnen schwere Maschine: der Walzenschrämlader. Aus der Seite ragen riesige rotierende Walzen, bestückt mit zahlreichen Stahlmeißeln. Sie schneiden aus dem matt glänzenden Flöz 80 Zentimeter breite Streifen. Die Kohle fällt auf ein Förderband, wird kilometerlang durch alte Schächte bugsiert und schließlich am Schacht Robert zutage gefördert. Atmo 11 Fördermaschine Autorin: Nach sieben Stunden sind auch die Männer wieder über Tage. Ein Bus bringt sie von der Zeche Lerche zurück zum fünf Kilometer entfernten Bergwerk Ost. Dort befindet sich die Schwarzkaue ? der Umkleideraum. In der fußballfeldgroßen Halle baumeln schwere Stahlketten von der Decke. Sicherer Aufbewahrungsort für die Grubenkluft der 2.000 Bergleute. Die Kleidung trocknet in der Luft und wird gleichzeitig ordentlich durchgelüftet, erklärt Jörg Hollender. Sonst könnten wir uns ja schon nach zwei Tagen nicht mehr riechen, sagt er grinsend. Atmo 12 Hintergrund Haken runterlassen Atmo 13 Lichthalle Autorin: Nebenan die Lichthalle. Ein gelb angestrichenes 20 Meter hohes Gebäude mit gläsernen Decke und Galerie. Das Haus ist so alt wie das Bergwerk. Errichtet vor über einhundert Jahren. An der Längsseite des Gebäudes sind sechs Ausbuchtungen zu sehen. Das waren früher die Kassen, erklärt Jörg Hollender. Bis in die 70er Jahre hielt man hier an der Tradition fest, zahlte im zwei Wochen Rhythmus dem Bergmann den Lohn in bar aus. O-Ton 10 Jörg Hollender und Dirk Rehermann: Seitdem gibt es keinen Lohnball mehr. Immer wenn ausgezahlt wurde dann waren die Kneipen voll, da war Lohnball. (lachen) Dann standen aber die Ehefrauen draußen vor der Tür und haben die Lohntüte gleich einkassiert und nur das schicker Moos, das Hartgeld was in der Lohntüte war, das durfte der Kumpel dann behalten und durfte sich davon sein Bierchen trinken gehen. Und wer sich ganz besonders gut verstanden hat mit der Lohnbuchhaltung, der konnte dann schon mal sagen, komm, mach mir den Zehner klein. (lachen) Autorin: Diese Zeiten sind längst vorbei. Auch die Zeiten als in Deutschland noch über eine halbe Million Männer unter Tage fuhren und 150 Millionen Tonnen Steinkohle zu Tage förderten. Verkehrte Welt, sagt Jörg Hollender leise. Vor 50 Jahren schaffte ein Bergmann am Tag 1.600 Kilo. Heute sind es fast 7.000. Doch von den 600.000 Bergleuten sind nur noch 34.000 übrig geblieben. Trotz Rationalisierung sind die Förderkosten immens. Zweieinhalb Milliarden Euro steuern Land und Bund jährlich bei. Sonst könnte die deutsche Steinkohle auf dem Weltmarkt nicht mithalten. O-Ton 11 Dirk Rehermann und Jörg Hollender: Hmm, na ja, gut, wir sind leider keine echten Konkurrenten. Wenn wir jetzt mal unsere amerikanischen Kollegen nehmen oder unsere südafrikanischen Kollegen nehmen oder unsere chinesischen Kollegen, sind wir leider keine echte Konkurrenz. Das muss man leider halt mal so sagen. ... Was die Zukunft bringt wird werden wir eh abwarten müssen. Aber Energiesicherheit betrifft uns natürlich gerade in unserem Land als Industrieland ganz besonders und ich denke mal, irgendwann muss man auch mal vernünftig werden und auf eigene Energiesicherheiten zurückreifen. Ich lege eigentlich Wert darauf, dass wir ein festes Standbein mit der Steinkohle behalten. Autorin: Es sind keine rosige Zeiten, die auf die Bergmänner zukommen. Laut Masterplan soll die letzte Zeche in elf Jahren geschlossen werden. Die Steinkohlenförderung früher als geplant auf zwölf Millionen Jahrestonnen zurückgefahren werden. Das bedeutet: In den nächsten sechs Jahren steht eine Halbierung der aktuellen Produktion und der Beschäftigten an. MUSIK 1 Interpret: Depeche Mode Titel: People are People CD: dm the singles 81 85 Track: 10 Komponist: Depeche Mode Text: M L Gore LC/Best.-Nr.: 5834 DLR-Archiv#: 91-24639 Atmo 14 Klingeln ... Guten Tag, mein Mann ist im Garten plus Schritte, Vogelgezwitscher Autorin: Lünen-Süd. Eine Seitenstraße im Ruhrgebiet. Rechts und links kleine Einfamilienhäuser. Ein Stockwerk hoch, spitze Dächer, angrenzende Gärten. Unter vielen Giebeln sind die gekreuzten Bergmanns- Werkzeuge eingemeißelt: Schlägel und Spitzeisen. Lünen-Süd - eine typische Bergwerkssiedlung im Ruhrgebiet. Jörg Hollender sitzt mit seinen Eltern im Garten. Es ist Freitagnachmittag. Im selbst gemauerten Grill knackt das warme Brikett. Die Tochter hat Geburtstag, das will die Familie abends feiern. Vater und Sohn sind jahrelang in denselben Schacht eingefahren. Bergmann ? für Vater Horst war das vor fast 60 Jahre kein Traumberuf. Atmo 15 Garten O-Ton 12 Horst Hollender: Damals zu der Zeit war beruflich nicht zuviel zu kriegen. Eigentlich wollte ich Fliesenleger werden. Und da musste ich aber da ich Lünen und Umgebung keine Lehrstelle kriegte, musste ich auswärts du das wollten meine Eltern nicht. Meine Geschwister waren auf der Zeche, und dann sagt der Vater, na gut, dann fang auch auf der Zeche an. Autorin: Horst Hollender findet sich mit seinem Schicksal ab. Was blieb mir auch anderes übrig, sagt er, zuckt mit den Schultern. Die Entscheidung bereut er nie, lernt den Beruf von der Pike auf. Absolviert drei Lehrjahre, zwei davon über, das dritte unter Tage. Sein Opa bricht noch mit der Keilhaue die Kohle aus dem Flöz. Ein Knochenjob. Die Gelenke, die Lungen, der Körper leidet weiter bis zum Tod. Horst Hollender stemmt zum ersten Mal mit 17 Jahren den pressluftgetriebenen Abbauhammer in die schwarzen Schichten. Auch eine Plackerei. Bei der Frage nach der Gesundheit winkt Horst Hollender schnell an. Dem Sohn will er das alles lieber ersparen. Aber die Hollenders bleiben, was sie sind - eine eingefleischte Bergmannsfamilie. Opa, Onkel, Vater und Sohn ? vier Generationen ergreifen denselben Beruf. Das Arbeiten unter Tage schweißt zusammen. O-Ton 13 Horst Hollender: Im Revier, das war eine einmalige Kameradschaft, da war der eine für den anderen da. Das war schon richtig topp, das hat mir immer gut gefallen. Bin ich auch gerne hingegangen. ... Da gab´s auch kein Sie, ne das war schon ne feine Sache. ... Da gab es ein Kameradschaftsgedinge, da musste einer für den anderen da sein. Da gab´s keine Faulenzer, der kam in so ne Kolonne nicht rein. Das gab es nicht. Und wenn man einer nicht gut in Schuss war, da haben ihn die anderen mit durchgezogen. Dat war eben so. Autorin: Horst Hollender arbeitet sich hoch: beginnt als einfacher Knappe, überwacht dann als Hauer die Arbeit der jüngeren Kollegen. 20 Jahre lang schlägt er die Steinkohle aus dem Gestein. Verlässt schließlich die Kumpel in den Abbau-Streben, wechselt zu den Maschinenschlossern. Das war schon eine Erleichterung, sagt er rückblickend. Angst hatte er nie im Revier. Macht wieder diese wegwerfende Handbewegung. Der Sohn pflichtet dem Vater bei: O-Ton 13a Jörg Hollender: Angst unter Tage gehabt? Für uns als Bergleute ist das nichts anderes als wenn wir in Keller gehen, Kartoffeln holen. ... Gewöhnt man sich einfach dran. Autorin: Die Mutter und Ehefrau hört erst still zu, mischt sich schließlich ein. O-Ton 14 Frau Hollender: Er hätte länger machen können, aber ich habe gesagt hör auf, es ist besser. Ich habe mich gefreut, dass er zuhause bleiben konnte, das war für mich eine Erleichterung. Ich hatte immer Angst. Wenn er mal länger machen musste, da habe ich schon immer am Fenster gestanden und geguckt ob er auch kommt. Deshalb habe ich auch gesagt hör auf und Schluss. Autorin: 34 Jahre lang fährt Horst Hollender unter Tage, an das Licht über Tage muss er sich erst wieder gewöhnen. Mit 50 geht er auf Rente. Er hilft seinem Sohn mit dem Garten, sucht sich ein Hobby: schnitzt lebensgroße Figuren aus Holz. Auf seinen Sohn wartet jetzt ein ähnliches Schicksal. Auch er wird mit 50 in Rente gehen müssen, sagt Jörg Hollender und betont das letzte Wort. In der freien Wirtschaft beginnt eine Karriere mit 50, für den Bergmann ist sie dann zu Ende. O-Ton 15 Jörg Hollender: Klar, man hofft natürlich immer über 2018 hinaus. Diese ganze Geschichte ist so lange von so vielen Leuten vorbereitet worden und die ganze Nation glaubt mittlerweile, dass wir die Bettler der Nation sind und ich denke mal, da gibt es kaum noch was dran zu rütteln. Autorin: Enttäuscht lässt sich der Vater ins Polster sinken. Bettler der Nation. Das Grubengold hat nicht nur den Westen wieder hoch geholt. Ganz Deutschland profitierte jahrzehntelang davon. Mit dem Koks kam der Stahl und mit dem Stahl die Industrie. Er rührt stoisch in der leeren Kaffeetasse. Als könne er im Bodensatz lesen, was die Zukunft bringt. Dann richtet er sich auf, reckt trotzig das Kinn nach vorn, schaut dem Sohn in die Augen: O-Ton 16 Horst Hollender: Die ändern das noch mal. Kohle brauchen sie immer. Wenn se Koks herstellen wollen müssen sie Kohle haben. Und dann können sie also quasi nur unsere Kohle nehmen zum verkoksen. Australien, da können sie nichts mit anfangen, vernünftigen Stahl herstellen können sie damit nicht. Ich glaub da noch nicht dran, die ändern da noch einmal etwas dran. Autorin: Jörg Hollender schüttelt den Kopf. Das Zechenschließen hält niemand mehr auf. Da musst du realistisch bleiben, sagt der Sohn nüchtern. Großindustrie gibt es in Lünen keine mehr. Die Kleinstadt mausert sich zu einer Recyclingstadt. Das Unternehmen Remondis produziert keinen Müll, sondern wieder verwertbare Stoffe. Die Ehefrau und Mutter sieht es wie ihr Sohn. O-Ton 17 Mutter: Das liegt schon fertig in die Schublade alle sag ich immer, das wird nicht mehr dran gerüttelt. O-Ton 18 Horst Hollender: Ich bleib immer noch dabei, ich hab immer Hoffnung. Ich meine immer, dass sich da irgendwie noch was ändert. Interpret: Bergkapelle Titel: Steigermarsch CD: Glück auf ist unser Bergmannsgruß Track: 7 Komponist: H.G. Klesen Text: H.G. Klesen LC/Best.-Nr.: 7701 DLR-Archiv#: 91-11307 Atmo 16 Raum mit Computer Autorin: Eine halbe Autostunde vom Haus der Hollenders entfernt sitzt Hans Blotevogel in seinem luftig-modernen Büro. Die Sonne knallt unerbittlich auf den modernen Bau aus Stahl und Glas. Silberfarbene Lamellen sollen die Hitze aus dem Gebäude halten. Vergeblich. Hans Blotevogel sitzt mit hochgekrempelten Ärmeln am Tisch, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er ist Professor und lehrt an der Universität Dortmund Raumplanung. Er weiß, wie schwierig es ist, aus einer Montanregion eine Dienstleistungsgesellschaft zu kreieren. Solch ein Wandel dauert mindestens eine Generation lang. Das Ruhrgebiet hat über 30 Jahre lang dafür gebraucht. Für die Wünsche des alten Bergmannes Hollender hat Blotevogel wenig Verständnis. Subventionen für die Steinkohle über das Jahr 2018 hinaus lassen ihn trotz der Hitze erschauern. Die Schmerzen der Krise seien ohnehin viel zu lange damit betäubt worden. Bislang bekam die deutsche Steinkohle 135 Milliarden Euro öffentliche Hilfen. Was man mit dem Geld an den Unis hätte forschen können, darüber will Hans Blotevogel lieber nicht nachdenken. O-Ton 19 Hans Blotevogel: Auf der einen Seite macht ja die soziale Abfederung Sinn, man hat ja auf diese Weise erreicht, dass imminente soziale Brüche, wie sie in England, wie sie in Frankreich und Amerika stattgefunden haben, im Ruhrgebiet vermieden wurden. Auf der anderen Seite wirken Subventionen natürlich auch so ein bisschen wie eine Droge. Das heißt man gewöhnt sich an die Abfederung und bemüht sich dementsprechend weniger alternative Erwerbsmöglichkeiten zu finden. Autorin: So etwas hören die Kumpel bis heute nicht gern. Sie hatten ja auch jahrelang starke Partner im Rücken. Konzerne und Parteien pochten darauf, dass Kohle und Stahl Arbeitgeber bleiben. Auch wenn im Ruhrgebiet längst die Zechen schlossen und Stahlwerke in den Osten abwanderten. Der Strukturwandel, er kroch wie eine Schnecke. Vertane Zeit, sagt Hans Blotevogel. O-Ton 20 Hans Blotevogel: Was mich dabei ärgert ist die Scheinheiligkeit. Es wurde immer argumentiert, wie brauche die Subventionen wegen der Energiesicherheit. Man hat immer die Illusion erzeugt, es müsse und solle und könne auch langfristig eine Kohlesubventionierung geben. Da sind auch die Politiker unehrlich gewesen. Die meisten wussten von vorne herein, dass sich das auf die Dauer nicht durchhalten lässt. Aber man hat eben nach außen hin immer etwas anderes gesagt: Ja wir subventionieren die Kohle, weil sie Energiesicherheit liefert. Autorin: Dabei hätten sich die Politiker einfach nur auf dem Weltmarkt umschauen müssen. In Kanada, Australien und Südafrika wird Steinkohle im Tagebau gefördert. Die Kosten im Ruhrgebiet sind im Vergleich exorbitant. Eine Tonne Importkohle kostet im Hafen Duisburg 80 bis 100 Euro. Die Förderkosten im Ruhrgebiet liegen derzeit bei 300 Euro. Nur häppchenweise versuchten die Politiker, den Stellenabbau zu kompensieren. O-Ton 21 Horst Blotevogel Die Vorstellung war, wir können einen nahtlosen Übergang von alten zu neuen Industriezweigen herstellen. Diese Strategie ging auf, als der Industriesektor noch expandierte. Aber das war spätestens Mitte der 70er Jahre vorbei. Die nächste Phase die dann folgte, die setzte auf kleinteilige Unternehmensgründungen. Man kann aber nicht erwarten, dass innerhalb von zehn, zwanzig Jahren diese vielen Technologiezentren gefüllt werden. Autorin: Städte wie Dortmund, Essen und Bochum haben den Wandel unbeschadet überstanden. Gelsenkirchen, Castrop-Rauxel oder Herten im nördlichen Ruhrgebiet dagegen nicht. Das erkennt man nicht an den Arbeitslosenzahlen, man sieht es den Städten förmlich an. Straßen werden nicht ausgebessert, moderne Gebäude nicht geplant, Investoren lassen diese Städte links liegen. Neue Kompetenz musste darum her. Ein Lieblingswort des damaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement. Der SPD-Politiker wollte im Gegensatz zu seinen Vorgängern den Strukturwandel nicht länger ignorieren. Cluster sollten jetzt das Ruhrgebiet bedecken. Damit ist die Bündelung von Unternehmen gemeint: Logistik, Wasserwirtschaft, Gesundheits- oder die Chemieindustrie sollten sich auf Abraumhalden und ehemaligen Zechen ansiedeln. Zum Teil hat das auch in Städten wie Duisburg, Dortmund oder Bochum geklappt, sagt Hans Blotevogel. O-Ton 22 Hans Blotevogel: Kritik daran: Meines Erachtens sind viel zu viele Kompetenzfelder ausgewiesen worden. Weil jede Stadt auch ein Kompetenzfeld haben wollte. Und wenn Sie jetzt mal in irgendeine Stadt gehen, ich nenne jetzt keine Namen, wo nun wirklich kaum Kompetenz erkennbar ist, was wollen sie dann machen mit diesem Konzept? Da mussten eben Kompetenzfelder erfunden werden. MUSIK 2 Interpret: Herbert Grönemeyer Titel: Bochum CD: 4630 Bochum Track: 1 Komponist: Herbert Grönemeyer Text: Herbert Grönemeyer LC/Best.-Nr.: 0542 DLR-Archiv#: 91-04437 Atmo 17 draußen mit Vogelgezwitscher mischen mit Atmo 18 Rolltreppe Autorin: Essen im Herzen des Ruhrgebiets, Zeche Zollverein. Auch Kultur kann Motor des Wandels sein. Früher förderten hier Arbeiter täglich 12.000 Tonnen Steinkohle und veredelten sie zu Koks. Heute beherbergen die riesigen Hallen im Bauhaus-Stil aus rotbraunem Backstein und rostrot lackiertem Stahlfachwerk Modernes: ein Designzentrum, einen Konzertsaal, Ateliers für Künstler. Für den Kulturdezernenten der Stadt geht es seit einem Jahr stetig nach oben. Die Jury der Europäischen Union hat Essen nämlich zur Kulturhauptstadt 2010 bestimmt. Oliver Scheytt schaut auf die Uhr, viel Zeit hat er nicht. Trotzdem lässt er es sich nicht nehmen, der Besucherin von seinen Visionen für das Ruhrgebiet zu erzählen. O-Ton 23 Oliver Scheytt: Wir fahren jetzt die längste Rolltreppe in Europa rauf, Und zwar auch deshalb, weil die Kohle von oben in dieses Gebäude eingefüllt worden ist, und so bringen wir jetzt auch die Menschen nach oben ohne sie auszusortieren. (Lachen) Autorin: In der alten Kohlenwäsche trennten die Bergleute die Spreu vom Weizen, sprich das Gestein von der Kohle. Die Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer schufen in den 30er Jahren die wohl schönste Zeche der Welt. Bis 2003 konnten die Besucher die ehemaligen Arbeitsbedingungen spüren. Überall lag noch der schwarze Staub. Jetzt soll die Kohlenwäsche das neue Besucherzentrum für Touristen werden. O-Ton 23 Oliver Scheytt: Es kann sich dann jeder oben entscheiden, ob er ins Ruhrmuseum geht, das wird erst nächstes Jahr eröffnet, oder ob er ein Stockwerk weiter rauf geht. Dort kriegt er alle Informationen über das Ruhrgebiet, das wird das Portal Ruhrgebiet sein. Atmo 19 reingehen ins Gebäude Autorin: Die Stadt Essen sei so beliebig und geschichtslos wie jede andere Metropole im Ruhrgebiet, bemängeln Kritiker. Grau, trist, im Charme der 60er und 70er-Jahre. Das, was übrig geblieben ist an Altem, die Zechen und die Hochöfen, wurde zu kulturellen Zentren ernannt. Industriekultur heißt das Schlagwort. Immerhin, hält Oliver Scheytt dagegen, seien hier in den vergangenen fünfzehn Jahren 1.000 neue Arbeitsplätze entstanden. Vorher schufteten im Durchschnitt 4000 Bergmänner und Stahlarbeiter auf und unter dem Gelände. Wäre es nach dem Willen der Stadt gegangen, wären Zeche und Kokerei gleich nach der Stillegung in die Luft geflogen. O-Ton 24 Oliver Scheytt: Ich weiß noch wie der Oberstadtdirektor, der Chef der Verwaltung, gefragt hat, wann sprengen wir denn die Schornsteine? Die Erkenntnis war noch nicht gereift, dass man mit diesen Objekten auch neue Chancen hat und nicht schnell weg damit, damit man eine Gewerbefläche ansiedelt. Heute wissen wir, dass diese Architektur ja tatsächlich inspirierend ist. Wir haben hier ein Lichtstudio, wir haben Tonstudios, wir haben Designbüros, wir haben Werbeagenturen. Diese Idee funktioniert und sie hätte nicht funktioniert, wenn wird das auf einer platten Wiesenfläche gemacht hätten, weil dieses Areal eben diesen Spirit mitbringt. Autorin: Kultur als Motor des Wandels, so versteht der Kulturdezernent auch den Auftrag der Kulturhauptstadt Essen. Eine Million Besucher kommen im Jahr, nicht nur aus dem Ausland, auch aus dem Revier. Für den Erhalt des Industriedenkmals wurden bislang 100 Millionen Euro investiert. Das Land gibt jährliche Zuschüsse im einstelligen Millionenbereich, aber auch die Grundstückseigentümer finanzieren mit: zum Beispiel die Essener Ruhrkohle Aktiengesellschaft. Eine Kohle-Stiftung soll im kommenden Jahr die profitablen Sparten der RAG an die Börse bringen. Der Milliardenerlös finanziert die Bergschäden und die Pensionen der Kumpel. O-Ton 25 Oliver Scheytt: Ich glaube schon, dass für die Geistesgeschichte in Europa die Akropolis oder das Forum Romanum ganz große Bedeutung haben. Aber für die Industriegeschichte der Bundesrepublik gibt es eigentlich keinen anderen Ort, der diese Industriegeschichte so zeigen kann wie Zollverein. Hier kann man feststellen, wie ist überhaupt diese ganze Region mit fünf Millionen Einwohnern, der größte Ballungsraum, entstanden, nämlich weil er unter der Erde die Kohle hatte. Atmo 20 laufen ... Tach, meine Name ist Scheytt, ich bin der Kulturdezernent der Stadt Essen, können Sie mir einmal das Aussichtsreich gewähren? ... Autorin: Oliver Scheytt lässt seinen Charme spielen. Bislang dürfen nur ausgesuchte Gäste die Plattform der Kohlenwäsche betreten. Ein Restaurant betreibt den schönsten Saal im Ruhrgebiet, sagt der Dezernent. Aber das ?Portal Ruhrgebiet? schafft im kommenden Jahr den gesellschaftlichen Ausgleich. Atmo 21 ... oh wir müssen uns sputen, aber das da oben muss ich Ihnen noch zeigen ... Autorin: Dann darf jeder das Panorama genießen. Erhascht bei guter Sicht einen Blick auf die weiße Ufo-Haube der Schalkearena oder auf den dunkel verglasten RAG-Turm in Essen. Schwarz und glänzend erinnert der Konzern auch aus der Ferne daran, was das Ruhrgebiet zu dem gemacht hat was es heute ist. Atmo 22 Fahrstuhl geht auf ... so das ist jetzt der vielleicht schönste Raum im Ruhrgebiet...diese Ausblick fantastisch .... verschiedenste Veranstaltungen finden hier statt ...jetzt sehen Sie hier die Skyline von Essen ... Atmo 23 Vögelzwitschern Autorin: Kultur, sagt der Dezernent mit einem viel sagenden Blick, Kultur ist doch nicht nur Oper und Theater. Unter dem Kulturbegriff verstehe ich auch die Frage danach, wie leben und arbeiten die über fünf Millionen Menschen im Ruhrgebiet. 600 000 von ihnen haben keinen deutschen Pass, sie stammen aus 140 Nationen, die meisten sind Türken. Eingewandert, als Bergbau und Schwerindustrie in den 60er Jahren billige Arbeitskräfte suchten. Dann dreht sich Oliver Scheytt um die eigene Achse. Zeigt mit dem ausgestreckten Finger auf die 20 Kirchtürme, die zu sehen sind. Noch, sagt der Dezernent, Essen müsse bald ein Drittel dieser Gebäude aufgeben. Die Kirchen haben zu wenige Mitglieder, um die jahrhunderte alten Mauern instand zu halten. Die 80 Moscheen in dieser Gegend sieht man dagegen nicht. Noch nicht, sagt Oliver Scheytt, und betont, auch diese Gebäude seien identitätsstiftend. O-Ton 25 Oliver Scheytt: Die Zukunft für Europa liegt darin mit den kulturellen Möglichkeiten, die wir haben, gut umzugehen. Sensibilität fürs andere zu entwickeln. Die Frage danach zu stellen, wie kann eine Identität aussehen. Man muss lernen, mit anderen Kulturen umzugehen. Wenn wir diese Fähigkeit, mit kulturellen Mittel Frieden zu stiften, wenn wir die in die Welt einbringen, dann haben wir sehr viel der Welt auch mitzuteilen. Autorin: Ohne Vision keine Metamorphose, soviel ist sicher. Aber dass dieser kultureller Wandel auch im Ruhrgebiet noch lange nicht abgeschlossen ist, dass weiß auch Oliver Scheytt. MUSIK 3 Interpret: Bob Dylan Titel: Things have changed CD: Things have changed Track: 1 Komponist: Bob Dylan Text: Bob Dylan LC/Best.-Nr.: 00162 DLR-Archiv#: Atmo 24 Unigelände Autorin: Dortmund im östlichen Ruhrgebiet. Horst Pöttker sitzt 20 Kilometer weiter weg in einem abgedunkelten Raum. Baracke, nennt er abfällig das einstöckige Holzgebäude. Übergangsweise ist dort der Fachbereich Journalistik der Universität Dortmund untergebracht. Der Professor ist nicht in allerbester Laune. In Dortmund brechen demnächst harte Zeiten für Geisteswissenschaftler an, sagt er und seufzt. Aus der Universität soll eine Technische Hochschule werden. Auch so kann die Antwort auf den Strukturwandel im Ruhrgebiet aussehen. Mit dem Essener Kulturdezernenten Oliver Scheytt würde Horst Pöttker liebend gern zusammenarbeiten. Das Ruhrgebiet und seine integrative Kraft, ein Schwerpunkt in Pöttkers wissenschaftlichen Untersuchungen. Für das Gemeinschaftsprojekt Mediale Integration ethnischer Minderheiten der Universitäten Siegen und Dortmund forschte er über das Leben der Ruhrpolen. Und ging, wie er sagt, erst einmal von einer falschen These aus, nämlich einer gelungenen Integration. O-Ton 26 Horst Pöttker: Frau Böhmer, die Integrations-Beauftragte der Bundeskanzlerin, sagt öfter bei passenden Gelegenheiten, Deutschland sei ein integrationsbereites und aufnahmewilliges Land. Und dann wird gelegentlich das Beispiel der Polen genannt, der Ruhrpolen. Also im politischen Diskurs wird dieses Beispiel als gelungen bezeichnet und das habe ich am Anfang übernommen. Autorin: Als den Zechen die Bergmänner fehlten, warben die Besitzer vor 150 Jahren neue Arbeitskräfte aus den ländlichen Ost-Gebieten des Deutschen Reiches ab. Mit Erfolg. Vor dem ersten Weltkrieg schufteten über eine halbe Million Ruhrpolen unter Tage. Zeitzeugen sind längst verstorben. Horst Pöttker wälzt also monatelang Zeitungen. Er schaute in die Lokalausgaben der Städte, wo der Anteil polnischer Grubenarbeitern besonders hoch war. Bottrop oder Recklinghausen beispielsweise. Hort Pöttker kam zu einem überraschenden Ergebnis. O-Ton 27 Horst Pöttker: Und tatsächlich sind sie überhaupt nicht wahrgenommen worden in der Berichterstattung. Sie kommen vor in den Zivilstandsnachrichten, Geburten, Todesfälle, Heiraten. Sie sind kaum wahrgenommen worden in der Presse der Mehrheitsgesellschaft der deutschen Presse. ... Wenn Menschen ignoriert werden in ihrer Besonderheit, man fühlt sich dann abgelehnt und unwohl, das gibt es auch zwischen Kulturen. Diese Nichtwahrnehmung ist ein ganz großes Problem für Integrationsprozesse. Integration setzt wechselseitige Wahrnehmung voraus. Autorin: In ihrem Pass stand zwar, dass sie Deutsche waren, von ihrem Herzen her aber fühlten sich die Menschen aus Ostpreußen als Polen. Ab 1890 entstanden polnische Zeitungen. Zum Beispiel Wiarus polski ? übersetzt der polnische Getreue. Anfangs seien die Blätter unpolitisch gewesen, erzählt Horst Pöttker. Sie berichteten über den Alltag der Ruhrpolen und ihr Heimatland. Das sollte sich jedoch bald ändern. O-Ton 28 Horst Pöttker: Es wurde eine sehr polnisch-nationalistische Presse. Ich denke mal, das war auch eine Reaktion auf die Politik, die von der deutschen Seite gemacht wurde. Das war nämlich eine Politik, die sehr stark auf Germanisierung drängte. Es war den Polen verboten ab 1900 die polnische Sprache in öffentlichen Versammlungen zu verwenden, Es gab auch in Bochum eine Überwachungsstelle für die Ruhrpolen, die wurden auf ihre politischen Tätigkeiten überwacht. Autorin: Assimilation statt Integration. Wie weit die Repressalien gingen, lässt sich anhand des Materials nicht mehr erforschen. Tatsache ist, dass am Ende von einer halben Million Polen nur 150.000 im Ruhrgebiet blieben. Nach dem ersten Weltkrieg hätten sie in ihre wiedervereinigte Heimat zurückkehren können. Die meisten aber sind weiter nach Westen gezogen, in die nordfranzösischen und belgischen Bergbaugebiete. MUSIK 4 Interpret: Herbert Grönemeyer Titel: Land unter CD: Chaos Track: 3 Komponist: Herbert Grönemeyer Text: Herbert Grönemeyer LC/Best.-Nr.: 0193 DLR-Archiv#: 90-38477 Atmo 25 Einkaufsstraße (fehlt) Autorin: Herten liegt im Norden des Ruhrgebiets. Der 60.000 Einwohner große Stadt fehlen wie so vielen Kommunen nördlich des Hellwegs industrielle Alternativen. Der Hellweg war im Mittelalter eine große Heerstraße. Heute kämpfen die Hertener mit ihrer Arbeitslosenquote, die liegt zurzeit bei knapp 16 Prozent. Die Stadt hält so einige traurige Rekorde: Herten hat heute die größte Haldenlandschaft, ist ehemals größte Bergbaustadt, zumindest gemessen an der Fördermenge und die größte deutsche und zweitgrößte europäische Stadt ohne Bahnhof. Atmo 26 Cafe Autorin: Die Konditorei Domcafe, die streng genommen Kirchencafe heißen müsste, liegt in der Antoniusstraße direkt gegenüber der Antoniuskirche. Ein schmaler Eingang, man kann die Patisserie leicht übersehen. Es ist das älteste Cafe am Platz. Wer es betritt, dessen Blick fällt zuerst auf die Vitrine mit den süßen Köstlichkeiten. Alles von Hand gemacht, sagt Konditormeister Ralf Hoffman stolz und begleitet die Besucherin in den ersten Stock. Dort nimmt er Platz, zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug. Atmo 27 Tschüß, bis nächsten Monat .. ja Wiedersehen ... Wiedersehen... Autorin: Ralf Hoffmann schaut seinen Gästen hinterher. Auf seiner Stirn stehen plötzlich Sorgenfalten. Einmal im Monat besuchen die sechs Frauen das Domcafe, genießen die leckere Grillasch-Torte. Eine Spezialität des Hauses. Um 16 Uhr ist das Cafe mit 110 Sitzplätzen nur zum Viertel gefüllt. Aber Hoffman ist keiner, der gerne jammert. Ein drahtiger Typ: kurze Haare, markantes Gesicht, kein bisschen Bauchansatz. Nach der Schule absolviert er in dem Cafe seine Konditorlehre. Dabei wäre er viel lieber in das Bergwerk gefahren. O-Ton 30 Ralf Hoffmann: Das war 1973, der Vater war auf Zeche und ich durfte nicht. Weil da zuviel passiert ist. Der hat auch Zechenunfall gehabt 1966, Zehe ab, Finger ab, all so was, eingequetscht. Ein Jahr später ist er wieder arbeiten gegangen. Autorin: Bergmänner sind hart im Nehmen, Ralf Hoffmann auch. Er schließt nach drei Jahren seine Lehre ab, heiratet, bekommt eine Tochter. O-Ton 31 Ralf Hoffmann: Ja und dann 78 ist unsere Tochter gekommen du dann hat das vorne und hinten nicht gereicht mit dem Geld sach ich mal. Weil die Frau konnte dann ja auch nicht arbeiten. Ja und dann bin ich auf Zeche gegangen 1980. Autorin: Anfang der 80er gab es zuwenig Bergmänner im Ruhrgebiet. Das Revier profitierte noch immer vom wirtschaftlichen Aufschwung und nicht jeder wollte den schmutzigen Malocherjob unter Tage machen. Ralf Hoffmann dagegen schon. Sein Vater genoss einen guten Ruf: immer pünktlich, wenig Fehlzeit. Die Attribute übertragen sich also auch auf den Sohn. So denkt der Bergmann. Ralf Hoffmann konnte sofort anfangen, verdiente jetzt unter Tage fast doppelt so viel. Das waren damals schöne Zeiten, erinnert er sich, nimmt einen tiefen Zug, bläst den Rauch langsam wieder aus. Zu acht richteten sie Kohlen-Streben ein. Sechs Meter breite und 200 Meter tiefe Gänge. Graben sich für die Kumpel bis an das schwarze Flöz heran. O-Ton 32 Ralf Hoffmann: Ich war doof gewesen. Nächstes Jahr wäre ich in Rente. Jetzt gehe ich bis ich 70 bin arbeiten und so wäre ich mit 50 in Rente gegangen. Warum ... die erste Zeit war ja auch alles bombig. Aber dann. Die Leute haben über ihre Verhältnisse gelebt und dann kam der Euro, tja, ... ich hätte auf Zeche weitergemacht, und wäre nächstes Jahr in Rente gegangen und wäre dann fertig Autorin: Vor sieben Jahren beschließen Ralf Hoffmann und seine Frau, in Sachen Kohle auszusteigen Die beiden wollen das Cafe übernehmen, in dem die sich in Herten kennen gelernt haben. Der Besitzer sucht einen Nachfolger und kann sich noch gut an seinen Lehrling erinnern. Für die Ehefrau ein Traum, für Hoffmann eine Herausforderung, für die Bergwerksverwaltung eine Möglichkeit, den Kumpel billig los zu werden. O-Ton 33 Ralf Hoffmann: Die wollten ja eh zusehen, dass die Leute von der Zeche runtergehen. Und dann haben die gesagt, ja gut, alles klar, mach das. Autorin: Zehn Monate lang drückt Ralf Hoffmann die Schulbank, besteht die Meisterprüfung. Das neue Leben kann beginnen, doch die neue Währung macht der Familie einen Strich durch die Rechnung. Statt drei Stück Kuchen, landen jetzt höchstens zwei auf dem Teller. Statt zweimal in der Woche, besuchen die Gäste das Cafe jetzt nur noch einmal im Monat. Die billigen Stehcafes nehmen die Kundschaft zusätzlich weg. Das Leben unter Tage war einfacher als das über Tage. O-Ton 34 Ralf Hoffmann: Man sieht das jetzt ja als Bestätigung, ich hatte meinen Job auf der Zeche, ich habe gutes Geld verdient auf der Zeche und wenn ich das jetzt so vergleiche mit dem was ich hier habe, den ganzen Ärger, die ganzen Stunden, ich mach von den Stunden her fast dreimal so viel wie auf der Zeche. War zwar körperlich mehr Arbeit als hier, aber so das Ganze drum herum. Keinen Tag frei, keinen Urlaub, von morgens bis abends jeden Tag in den Betrieb von morgens bis abends. Autorin: Auf der schmalen Stirn erscheinen wieder die Sorgenfalten. Der Konditormeister winkt ab. Er wollte diesen Wandel in seinem Leben - für sich und seine Frau. Aber jeden Morgen um vier Uhr früh die Bäckerstube aufschließen und nach 19 Uhr abschließen und das sieben Mal die Woche. Nein, so hatte er sich das Leben nach der Zeche nicht vorgestellt. Für Ralf Hoffmann bedeutet Strukturwandel weniger Geld, dafür mehr Arbeit, mehr Konkurrenz. Die Freunde von der Zeche, die gehen bald in Rente. Ralf Hoffmann geht auf dem Zahnfleisch. O-Ton 35 Ralf Hoffmann: Man plant, dass es vielleicht doch besser wird, Atmo 28 ... seufzen ... steht auf, geht weg ... Tür geht zu ... Autorin: Mit der rechten Hand wischt er sich über die Augen, entschuldigt sich, verschwindet schnell um die Ecke. Nach einer Minute ist der 48-jährige wieder da und zeigt dann stolz zum Abschied: Atmo 29 rascheln O-Ton 36 Ralf Hoffmann: Das hier ist ein Hippengebäck mit Marzipan, Eiweiß, sieht aus wie ein Schmetterling. Deswegen heißen die auch Hertener Schmetterlinge. Diese Schmetterlinge, die gibt es im ganzen Kreis Recklinghausen nicht. Und warum nicht? Weil das viel Arbeit ist, die Leute haben keine Zeit das herzustellen. Da ist ein Kostenfaktor. Plus minus null. Autorin: Ralf Hoffmann nimmt sich trotzdem die Zeit für das zarte Gebäck. Auch wenn es ihm kein Geld einbringt, bringt es ihm zumindest Freude an seiner Arbeit. Muss halt, sagt er, und lächelt schon wieder. SpvD: Wir im Revier ? Der Strukturwandel im Ruhrgebiet Eine Deutschlandrundfahrt mit Susanne Arlt. Musik hoch 1