COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Zeitreisen 2. Januar 2013 Sándor Márai, Lunik IX und Andy Warhol Kosice - europäische Kulturhauptstadt 2013 von Joachim Hildebrandt Atmo 1: Ave Roma (Volksweise) O-Ton 1, Danica Remetová Guten Tag und herzlich willkommen hier in unserer Stadt Kosice. Ich heiße Danica Remetová und werde Sie durch unsere Stadt führen. Ich werde vorschlagen, wir gehen zum unteren Tor. Das ist ein altes mittelalterliches Tor in die Stadt. Dann werde ich Ihnen ein bisschen auch über die Geschichte der Slowakei und der Stadt erzählen. Erzähler Kosice ist die zweitgrößte Stadt der Slowakei. Bratislava, die größte Stadt, liegt ganz im Westen, fast an der österreichischen Grenze. Kosice liegt ganz im Osten des Landes. O-Ton 2, Danica Remetová Wir befinden uns hier in einem Länderdreieck. Richtung Süden haben wir 17 Kilometer bis zur ungarischen Grenze, Richtung Osten haben wir 103 Kilometer zur Grenze mit der Ukraine und cirka 116 Kilometer nach Norden ist die Grenze mit Polen. Angeblich ist das eine ideale Lage für die Zukunft, für den Handel. Das wurde schon vor zehn, vor fünfzehn Jahren gesagt. Bis jetzt ist es noch nicht zustande gekommen. Erzähler Ein großer Warenumschlagplatz: das ist der Gedanke. Von Kosice aus sollen eines Tages Waren aus Russland oder China mit der Eisenbahn oder dem LKW weiter Richtung Westen befördert werden. Kosice - Kreuzungspunkt zwischen Ost und West, Süd und Nord. O-Ton 3, Axel Hartmann Das ist hier eine interessante Stadt. Sie hat eine interessante Geschichte. Sie ist multikulturell gewesen im besten Sinne. Teilweise ja heute auch noch. Bis zum Ersten Weltkrieg haben hier Ungarn, Slowaken, Deutsche und Juden friedlich miteinander gelebt. Erzähler Der deutsche Botschafter in der Slowakei, Axel Hartmann, ist überzeugt, dass Kosice als europäische Kulturhauptstadt eine gute Wahl ist. Regie: Musik unter den Text blenden Erzähler "Kaschau war eine europäische Stadt", schreibt der Schriftsteller Sándor Márai, der am 11. April 1900 in der Nelkengasse 6 im damaligen Kaschau zur Welt kam. Eine Stadt mit einem Vielvölkergemisch. Die Vergangenheit seines Geburtsortes als Schauplatz seiner Kindheit und geographischer Bezugspunkt seines Lebens blieb für ihn gegenwärtig, obwohl die Welt seiner Kindheit untergegangen war, im Zweiten Weltkrieg. "Kaschauer Bomben" heißt seine Erzählung aus dem Jahr 1941: Was ist ihm geblieben von dem Ort seiner Kindheitserinnerungen? Zitator, Sándor Márai "Mit den Jahren wird unsere Beziehung zum Geburtsort immer komplizierter. Mit der Zeit kommt der Mensch nicht mehr in seine Geburtsstadt, um nach Erinnerungen zu suchen, sondern mit dem Ziel, für eine Weile das unbeständige Gefühl der Geborgenheit in einer sich ständig wandelnden Welt zurückzubekommen. Die Welt ist für den Menschen genauso groß wie seine Erinnerungen sind. Alles andere ist unbekannt." Erzähler Bereits 1919 hatte Sándor Márai seine Heimat verlassen, hatte in Berlin, Paris, dann Budapest gelebt. Mit seinen Romanen wurde er in den 30er Jahren einer der bekanntesten Schriftsteller in Ungarn. Doch die Sehnsucht nach seiner alten Heimat verließ ihn nie. Die aber fand er nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern vor: Zitator, Sándor Márai "Von meiner Wohnung fand ich nur einige Tragwände der Brandschutzmauern. Während der Belagerung wurde sie dreimal von Bomben und mehr als dreißig Mal von Granaten getroffen." Erzähler Kosice ist eine jener osteuropäischen Städte, die die Stürme der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts erlebt und erlitten haben. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges gehörte Kaschau zur Donaumonarchie, dann zur Tschechoslowakei, ab 1938 zu Ungarn, wurde im Zweiten Weltkrieg bombardiert und 1945 von der Roten Armee erobert, wurde für kurze Zeit Hauptstadt der Tschechoslowakei, schließlich Industriestadt an der Grenze zur Sowjetunion. 1989 erlebte auch Kosice die Befreiung von der kommunistischen Herrschaft und ist nun eine Stadt nahe der Grenze der Slowakei zur Ukraine, eine Stadt am östlichen Rand der EU. Nach einem Jahrhundert des Nationalismus und des Kalten Krieges kann man hier studieren, was die Aufgabe der Europäischen Union ist: die Bändigung des Nationalismus, Ruhe an den Grenzen, Friedensstiftung in den äußeren Beziehungen der europäischen Staaten und in ihren inneren Verhältnissen. Und das funktioniert nur, wenn ethnische Gegensätze ausgeglichen und Lebensverhältnisse angeglichen werden: Kosice zeigt im Kleinen, worauf es in Europa im Ganzen ankommt. Das Miteinander von Kulturen: In Kosice sind es die Slowaken, die Tschechen, die Ungarn, die Roma und, nicht zuletzt, auch Deutsche - Nachfahren der Einwanderer, mit denen Botschafter Axel Hartmann zu tun hat: O-Ton 4, Axel Hartmann Für uns als Botschaft ist natürlich die Karpatendeutsche Vereinigung der unmittelbare Ansprechpartner. Wir haben noch einige tausend Aktive, die ihre Sprache und ihre Mundart beherrschen. Das ist ja eine mittelalterliche Mundart, die hier gesprochen wird. Erzähler Einer von ihnen, Rudolf Schuster, war von 1983 bis 1986 Oberbürgermeister seiner Geburtsstadt Kosice und von 1999 bis 2004 Präsident der Slowakei. Ihn interessiert vor allem, dass die historische Stadt wiederentdeckt und geschützt wird. Da hofft er auf das Kulturhauptstadtjahr und die Gäste, die es bringt. Im Stadtzentrum um den St. Elisabeth-Dom stehen die historischen Fassaden in großer Harmonie. Die Hauptstraße, slowakisch Hlavna, hieß bis 1989 Lenin-Straße. Die mehr als einen Kilometer lange Prachtstraße umschließt wie eine Insel in ihrer Mitte die gotische Kathedrale. Doch die innerstädtische Harmonie hat ihren Preis: In den neunziger Jahren wurden die hier zahlreich vertretenen Roma mit einer gesetzlichen Richtlinie aus der Innenstadt ausgesiedelt. O-Ton 5, Rudolf Schuster Denn bevor die Stadt nicht rekonstruiert war, war die Hauptstraße mit Roma voll. Heute ist Lunik IX, das ist eine schwere Sache, aber wenn nicht Lunik IX wäre, dann wäre keine Hauptstraße. Erzähler Lunik IX: das ist eine Siedlung, in die die Roma geschickt worden sind. Eine Siedlung ohne Infrastruktur. Mit Strom werden nur wenige Familien versorgt, es gibt keine ständig funktionierende Wasserversorgung in den Plattenbauten sowie keine Heizung im Winter. Die Kinder sollen in Internatsschulen gehen, um an regelmäßigen Schulbesuch gewöhnt zu werden. Rudolf Schuster vergleicht sich gern mit den jungen Menschen in der Siedlung. Er sagt, er sei doch auch als Schüler ins Internat nach Kosice gefahren. Aufgewachsen ist er in Medzev / Metzenseifen. O-Ton 6, Rudolf Schuster Und das war keine Diskriminierung. Da waren doch keine Menschenrechte gebrochen. Heute sagen sie: Sie nehmen die Kinder weg von der Familie. Nein, wenn sie dort bleiben, sie gehen in die Schule, sie kommen zurück. Diese Gebräuche, die sie sehen von den Eltern, die können sie nicht einfach verlassen. Das kann man nur so machen, dass sie in Internatsschulen gehen, wo sie sich Programme machen. Aber sie werden das nicht anerkennen. Das sind keine Menschenrechte! Sie nehmen doch die Kinder weg! Erzähler Ungenügend ausgebildet, kleinkriminell und nicht integrationsfähig: Dieses Bild zeichnen die slowakischen Medien von den Roma. Vor zwölf Jahren gründeten Journalisten aus Kosice deshalb die Roma-Presseagentur MECEM. Sie produzieren Sendungen für den Hörfunk und für das slowakische Fernsehen, machen Angebote für Zeitungen und für das Internet. Zunächst sahen sie ihre Aufgabe darin, positive Informationen über die Roma zu verbreiten. Erreichen wollen sie damit auch die Zuhörer und Zuschauer der Nicht-Roma, also der Mehrheit der Bevölkerung. Kristina Magdolenová: O-Ton 7, Kristina Magdolenová Seit dem September dieses Jahres wird es wöchentlich gesendet. Fast eine halbe Stunde lang. Das Besondere ist, dass dieses Programm nicht nur von den Roma-Journalisten gemacht wird, sondern auch in der Roma-Sprache mit slowakischen Untertiteln. Erzähler Für ihre Sendungen haben sie schon viele Preise bekommen, im letzten Jahr den österreichischen Preis der "Erste Bank Stiftung" für soziale Integration und für ihre Bildungsprogramme. Außerdem wurde ihnen der Medienpreis des slowakischen Kulturministeriums zugesprochen. O-Ton 8, Kristina Magdolenová Wir haben etwa 300.000 Zuschauer, im Fernsehen, und im Rundfunk 60.000 Zuhörer. Und im Jahr etwa 3 Millionen Besucher auf unserer Website. Erzähler Die Chefredakteurin Jarmila Vanová, selbst eine Roma, ergänzt zu ihrer Medienpräsenz: O-Ton 9, Jarmila Vanová Das Wichtigste ist, dass hier in der Gesellschaft der Wille da ist, sich mit Roma-Medien zu beschäftigen. Die jetzige Lage deutet an, dass wir solch einen Wechsel erleben. Wir haben nun den ersten Abgeordneten im Parlament, der die Roma-Medien unterstützen will. Atmo 2: Joi mamo (Roma Volksweise) Erzähler Die meisten der Roma gehen auf eine Sonderschule. Anspruchsvollere Schulen in der Kreisstadt Kosice sind für viele Roma unerreichbar, weil die Eltern die Fahrkarten für den Bus nicht bezahlen können. So bleiben sie in diesem Teufelskreis aus Armut und fehlender Bildung gefangen. Dazu sind es immer noch große Familien mit bis zu acht Kindern. Ein älteres Kind muss sich schon zeitig um ein jüngeres kümmern. Und ihr erstes Kind bekommen sie selber nicht selten schon, wenn sie noch zur Schule gehen. In Kosice hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert. In den siebziger Jahren etwa war die Wasserversorgung für alle Einwohner, selbst im Zentrum, schwierig. Die Stadtführerin Danica Remetová erinnert sich: O-Ton 12, Danica Remetová Da war es wirklich so, da war so wenig Wasser in Kosice, dass ich aus der Schule um 15 Uhr nach Hause laufen musste, weil ich wusste, am Abend gibt es kein Wasser mehr. Damals war er an der Spitze von diesem ostslowakischen Ausschuss und hat sich sehr dafür eingesetzt, dass ein neuer Stausee gebaut wurde. Ganz im Osten des Landes, fast an der ukrainischen Grenze. Erzähler Die Rede ist von Rudolf Schuster, der als gelernter Wasserbau-Ingenieur zu der Zeit, als er Oberbürgermeister von Kosice war, die Talsperre Starina bauen ließ. O-Ton 13, Danica Remetová Und dann, nach der Wende, hat er sehr viel gemacht. Andererseits, da funktionierte nicht mehr alles wie zu sozialistischen Zeiten, und Kosice hat sich auch sehr verschuldet. Erzähler Als Nachfahr deutscher Einwanderer war und ist Rudolf Schuster Angehöriger einer ethnischen Minderheit in der Slowakei. Aber er verkörpert das Selbstbewusstsein einer erfolgreichen Minderheit, die sich gegenüber der Bevölkerungsmehrheit behaupten will. Regie: Stadt-Atmo einblenden Erzähler Vom Selbstbewusstsein und der Schaffenskraft Schusters hat Kosice vor allem nach dem Ende der realsozialistischen Mangelwirtschaft profitiert, erzählt die Stadtführerin Danica Remetová. O-Ton 15, Danica Remetová Als Herr Schuster, der ehemalige Präsident, Bürgermeister der Stadt war, hat er dazu beigetragen, dass Kosice sehr stark renoviert wurde. Praktisch alle Medien wurden damals ausgetauscht: Wasser, Strom, Gas. Und damals hat man die Fundamente des unteren Tores hier gefunden. Man kann diesen archäologischen Komplex jetzt besuchen. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts hat man auch mit dem Bau der Kathedrale der heiligen Elisabeth begonnen. Damals hatte Kosice schon 4.000 Einwohner. Das Bürgertum war vor allem deutsch. Regie: Stadt-Atmo kurz freistehen lassen - unter den Text und O-Ton legen Erzähler Stadtrundgang mit Danica Remetová. Sie gibt den Besuchern einen Überblick über tausendzweihundert Jahre slowakischer Geschichte. O-Ton 16, Danica Remetová Die Slowakei als ein selbstständiger Staat ist eigentlich ein sehr junger Staat. Die Slawen oder Slowaken gab es schon immer, aber die staatlichen Gebilde haben sich geändert. Das erste staatliche Gebilde war das Großmährische Reich im 9. Jahrhundert. Ganz genau wurde es 863 gegründet. Damals begann die Christianisierung des Landes. Es kamen, vielleicht sind ihnen die Namen Kyrill und Method bekannt, die zwei Heiligen, die in dieses Reich das Christentum brachten, die Bibel ins Slawische übersetzt haben. Im 10. Jahrhundert zerfiel dieses Reich und die Slowakei gehörte dann tausend Jahre zum ungarischen Reich. Im Rahmen Ungarns hieß die Slowakei "Oberungarn". Dieses Gebiet war schon in dieser Zeit durch eine wichtige Handelsstraße geprägt. Schon im 12. Jahrhundert kamen hierher, hier wurden sie genannt: "deutsche Kolonisten". Meistens Handelsleute, die sich hier niedergesetzt und Handel betrieben haben. Erzähler Kosice bekam im Jahre 1342 die Stadtrechte. Handwerk und Landwirtschaft hatten keine große Bedeutung, mit Ausnahme des Weinbaus. In der Umgebung von Kosice waren früher viele Weinberge - heute sind die Hügel bewaldet. Doch die Ära des Weinbaus soll im Kulturhauptstadtjahr eine Rolle spielen. So sind für September 2013 Weinfesttage geplant, anknüpfend an die Tradition des Weinbaus in der Region Tokaj. Regie: Musik zum Thema jüdisches Leben, unter den Erzähler Erzähler Kosice: das ist auch jüdisches Leben - besser: das war auch jüdisches Leben, jüdische Kultur. Jana Tesserová führt durch das jüdische Kaschau. Vor dem Krieg lebten dort etwa 11.500 Juden. Damals hatte die Stadt 60.000 Einwohner. Heute leben in Kosice nur noch sehr wenige Juden. O-Ton 17, Jana Tesserová In Kosice registrierte Juden bei der Jüdischen Gemeinde sind, ich glaube, 260, aber ich muss sagen, sehr, sehr alte. Jetzt ist hier ein halbes, dreiviertel Jahr ein junger Rabbiner aus Budapest. Er ist 30 Jahre alt. Herr Asztalos. Er kommt immer am Freitag Vormittag, und am Sonntag fährt er wieder nach Budapest zurück. Erzähler Als die deutsche Wehrmacht im März 1944 Ungarn besetzte, bedeutete das auch für die jüdische Bevölkerung von Kosice das Todesurteil. Im Mai und Juni 1944 rollten die Deportationszüge mit über 11.000 Menschen von Kosice nach Auschwitz. Von den Synagogen, die es früher in Kosice einmal gab, wird heute nur noch eine Synagoge für Gottesdienste genutzt, in der Puschkinstraße. Bei einer anderen, noch älteren, ist die Fassade restauriert worden, im Innern ist sie jedoch noch eine Ruine. Immerhin: nachdem die jüdische Gemeinde ein altes Kasino und eine Schule verkauft hat, sind nun die finanziellen Mittel vorhanden, um das Innere dieser Synagoge wiederherzustellen. Die Besucher gehen über knirschenden Sand. Baumaterialien liegen herum. In der Synagoge erzählt Jana Tesserová über Pläne für dieses alte Gebäude. O-Ton 18, Jana Tesserová Hier wollen wir in naher Zukunft immer Kunstausstellungen machen und oben ein Museum vom Holocaust machen. In Kosice lebten viele wichtige Persönlichkeiten. Maler, Musiker. Wie in der ganzen Slowakei hat man die Juden in Kosice gesammelt, und von hier gingen die Transporte vor allem nach Auschwitz. Bis zur Wende wurde das Judentum in Kosice, also diese Sachen wurden vernachlässigt. Erzähler Erst nach 1989 kamen viele Leute in das einstige jüdische Kaschau. Der Rabbiner aus Budapest, Károli Asztalos, spricht mit den Kindern Ungarisch. Er will dazu beitragen, dass das Judentum in Kosice nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft hat. O-Ton 19, Károli Asztalos (ungarisch) Übersetzer: Es ist für mich eine große Herausforderung hierher zu kommen. Von der großen jüdischen Gemeinde in Budapest bin ich gekommen, um mich um diese Gemeinde zu kümmern. Hier sind nur sehr wenige Kinder, die Ungarisch sprechen. Ich kann also mich nur den Kindern widmen, die Ungarisch verstehen. Aber ich lerne Slowakisch. Und wenn ich diese Sprache besser kann, werde ich mehr Kinder unterrichten. Regie: Evtl. Auto-Atmo aufblenden, unterlegen Erzähler Eine wichtige Verkehrsverbindung quer durch die Slowakei führt von der Hauptstadt Bratislava - an der slowakischen Westgrenze - nach Kosice im Ostteil des Landes. Fährt man mit dem Auto, geht es zunächst durch das breite Tal des Flusses Waag in Richtung Norden. Die dicht bewaldeten Hügel an der Strecke der Autobahn steigen sanft an. Hier, gleich hinter der slowakischen Hauptstadt, beginnen die Kleinen Karpaten. Weiter durchstreift man die Niedere und Hohe Tatra. Von Presov ab führt das letzte Stück auf der Autobahn bis nach Kosice. Am Autobahnring um die Stadt fällt gleich die städtische Expansion auf, die westlichen Besuchern schon vertraut ist: Einkaufszentren von Baumax, Tesco, Carrefour oder Billa reihen sich aneinander. Der Stadtring entstand zu sozialistischen Zeiten, mit Plattenbauten und Wohnsilos an den Straßenkreuzungen. Wie viele alte Städte ist die kleine historische Altstadt umgeben von Trabantensiedlungen zweifelhafter Schönheit. Die Einwohnerzahl von Kosice ist in den letzten hundert Jahren von 44.000 auf über 240.000 gestiegen. Im Stadtzentrum, um den Elisabeth-Dom, sind die historischen Fassaden bestens restauriert. Man wundert sich, dass der Dom schräg mitten auf der Hauptstraße steht. O-Ton 20, Danica Remetová Früher stand an der Stelle eine alte Kirche. Es war auch eine frühgotische Kirche und ist mit dieser neuen Kirche die alte Kirche umgebaut worden. Auch für Kosice ist das eine interessante Gestalt, weil - die Person stammt aus Ungarn und wurde auch hier durch ihre Wohltätigkeit und ihre Hilfe für die Armen und Kranken bekannt. Wahrscheinlich auch aus dem Grunde wurde der Dom der Elisabeth geweiht. Erzähler Im Leben und Schaffen von Sándor Márai spielt der Dom eine wichtige Rolle. Er schreibt: Zitator, Sándor Márai "Die sechshundertjährige Kirche erhob sich hoch über der Stadt. Zentrum allen Lebens und Denkens, das sie durch Jahrhunderte durchströmte, als hielte sie durch Zeiten und Zeitalter das Gleichgewicht der Stadt. Form gewordene Idee, die weithin sichtbar aus dem schmatzenden, sterblichen Alltagswirrwarr, aus dem vertrauten Radau der Stadt herausragt ... Mit seinen drei großen Schiffen, deren genaues Ebenbild ich an der Kathedrale von Tours fand, und seiner leuchtenden, farbigen Schieferbedachung lagerte der Dom behäbig und mit der schwerfälligen Ebenmäßigkeit eines Riesen in einer kleinen Stadt." Erzähler Es lohnt sich auf den 60 Meter hohen Nordturm des Elisabeth-Doms hinaufzusteigen und den weiten Blick über die Stadt zu genießen. Wenn man durch das Stadtzentrum spazieren geht, stößt man immer wieder auf diesen prächtigen Bau, die größte Kirche der Slowakei. O-Ton 21, Danica Remetová Der nördliche Turm hat eine Barockkuppel. Die Türme wurden nicht fertiggebaut. Und der südliche Turm fehlt. Also, wir gehen jetzt in die Kathedrale. Im Zentrum sehen Sie drei Statuen. Zwei Elisabeths. Eine Elisabeth von Thüringen, die zweite ist die biblische Elisabeth, und in der Mitte ist die Muttergottes Maria. Unten, also stilisiert, ist das Abendmahl. Die Tafelmalerein sind aus der niederländischen Schule und die Holzschnitzerein Wiener Schule. Erzähler Die Kathedrale wurde im 19. Jahrhundert restauriert. Damals wurden die ursprünglichen Fresken aus dem 15. Jahrhundert gefunden. Nur wenige Meter von der Kirche entfernt ist ein Glockenspiel zu hören. 40 verschiedene Melodien von Liedern können ertönen. Atmo 3, Glockenspiel (summertime) Erzähler Über die Hälfte der Einwohner von Kosice gehört heute der römisch-katholischen Kirche an. Die Stadt ist seit 1995 Sitz des römisch-katholischen Erzbistums der Ostslowakei, zugleich Bischofssitz der griechisch-katholischen und der evangelisch-reformierten Kirche. Dieses Nebeneinander ist keine Herausforderung für die Kulturhauptstadt. Die Herausforderung sieht man außerhalb der Altstadt, in den ärmlichen Stadtrand- Siedlungen der Roma. Es gibt zwar ein EU-Programm, um die Integration zu fördern, aber bis jetzt ohne nachhaltigen Erfolg. In der nur fünfzehn Auto-Minuten vom Stadtzentrum entfernten Siedlung Lunik IX versucht das Don Bosco-Zentrum, einen Ausweg für die Roma zu finden. Der Ingenieur und Theologe Peter Besenyei kümmert sich dort um Straßenkinder, Religion, Nachhilfe, Seelsorge, Musik, Messen und macht sonntags street work. Ohne ihn wäre der soziale Niedergang in der Siedlung kaum aufzuhalten. O-Ton 22, Peter Besenyei (slowakisch) Übersetzer Der Samstag ist ein besonderer Tag. An dem Tag gibt es von 8 bis 18 Uhr individuellen Musikunterricht. Dabei helfen uns unsere freiwilligen Mitarbeiter aus der Stadt. Wenn ich die Entwicklung von Lunik bewerten soll, dann habe ich in den fünf Jahren, seitdem ich hier arbeite, einen starken sozialen Niedergang registriert. Zuerst haben wir erlebt, dass sie keine Gasversorgung mehr hatten. Dann gab es Störungen in der Wasserversorgung, beziehungsweise die Wasserversorgung wurde minimiert, eine Stunde vormittags und eine Stunde nachmittags. Im Moment haben sie kein Trinkwasser. Es gibt eine Stelle, an der sie Trinkwasser abzapfen können. In den fünf Jahren wurden drei Plattenbauten, ungefähr 100 Wohnungen, abgerissen und in diesem Monat soll wieder eine Platte abgerissen werden. Die die Möglichkeit dazu haben, wandern aus. Sie gehen ins Ausland. Oder sie gehen zu Verwandten oder zu Freunden in andere Wohnungen. Wo eine Familie früher wohnte, wohnen jetzt zwei oder drei und dann entstehen Notlagerhütten im Wald. Erzähler Das Don Bosco-Zentrum versucht die soziale Situation abzumildern. O-Ton 23, Peter Besenyei (slowakisch) Übersetzer Der Staat betreibt keine Diskriminierungspolitik. Aber sie haben es solange geduldet, bis die Schulden so hoch geworden sind, dass die Betreiber das Gas und Wasser abgestellt haben, weil die Familien die Schulden nicht mehr zurückzahlen können. Lunik IX war eine Notlösung. Früher gab es kein Ghetto. Die Roma lebten in der Innenstadt, aber die Lage war katastrophal. Deshalb bin ich vorsichtig zu empfehlen, Lunik IX aufzulösen. Das Problem ist die Gegenwartsmentalität. Das ist auch eine Ursache dafür, warum sie Kinder zum Beispiel nicht zur Schule schicken. Bildung trägt erst Früchte nach 10 oder 20 Jahren. Die Investitionsbereitschaft in die Zukunft ist gering. Deshalb ist unsere Aufgabe in Lunik IX, die Mentalität zu ändern. Ein Roma ist nicht nur ein anderes Gesicht, eine andere Hautfarbe, sondern auch eine andere Mentalität. Wir wollen Aggressionen senken und denen eine Chance geben, die anpassungsfähig sind. Erzähler Jarmila Vanová sieht die Konflikte zwischen Roma und Nicht-Roma nicht als ein Problem zwischen ethnischen Gruppen. Sie sagt, was heutzutage in diesen Siedlungen in der Slowakei überall zu sehen ist, das sei keine Kultur der Roma, sondern die Kultur der Armut. Und diese sei die Ursache für die Probleme, die die Mehrheitsgesellschaft nicht gerne sieht. Atmo 4, Ave Roma Erzähler Das Roma-Theater Romathan in Kosice hat 36 Mitarbeiter und bringt jedes Jahr 120 Vorstellungen und drei Premieren auf die Bühne. Zwei Aufführungen für Erwachsene und ein Märchen für Kinder. Über mangelnden Besuch können sie sich nicht beklagen. Sie können keine Probleme lösen, aber darauf hinweisen. Die Schauspieler, Musiker und Tänzer erlauben sich, die Sitten, die den Darstellern selbst nicht gefallen, in ihren Stücken zu ironisieren und zu kritisieren. Zum Beispiel handelt die Komödie "Ausgefuchste Familie" von Wucherei in Roma-Familien. Der Violinist Karel Adam erzählt über ein anderes neues Stück. O-Ton 24, Karel Adam (Slowakisch) Übersetzer Es heißt "Ein Ort für Roma" und beschreibt die Geschichte der Roma seit ihrer Migration aus Indien. Wir haben für diese Inszenierung historische Dokumente benutzt. Wir stellen auch die Probleme der Gegenwart dar. Es gab ein Verbot, dass sich die Roma in der Stadt nicht frei bewegen durften. Aber das gibt es nicht mehr. Erzähler Sie stärken das Selbstbewusstsein der Roma, indem sie die Kunst, die sie als eine Kunst des Erzählens verstehen, den Zuschauern darstellen. Regie: Musik oder Stadt-Atmo einblenden Erzähler 2013 präsentiert sich Kosice den Europäern als Kulturhauptstadt. Der Blick der Besucher wird auf die Sehenswürdigkeiten gelenkt, die Probleme am Rande der Stadt sollen möglichst nicht ins Blickfeld rücken. 360 Veranstaltungen sind geplant, darunter 25 so genannte Highlights, ein Lichtfest, "Nuit Blanche", ein Musikfestival im Frühjahr, eine Museumsnacht, ein Gourmet-Fest. Etwas merkwürdig mutet der bizarre Andy-Warhol- Kult an. Im August 2013 soll sein Geburtstag groß gefeiert werden. Eine mobile Warhol- Galerie wird dann in der Stadt unterwegs sein. Die Eltern des 1928 geborenen Mitbegründers der Pop-Art stammen aus der Region. Und für Sándor Márai, den großen Schriftsteller der Stadt, ist auf Anregung seines Neffen János Jáky in der Mäsiarska Straße eine Gedenkstätte eingerichtet worden. Dort kann man auch die Originalhandschriften des Dichters sehen. O-Ton 26, Rudolf Schuster Ich denke, das wird ein bisschen den Leuten helfen, mehr daran zu denken, dass Kosice eine historische Stadt ist, die geschützt werden muss und dass mehr Gäste kommen. Erzähler Das ist die Hoffnung des ehemaligen Oberbürgermeisters von Kosice, Rudolf Schuster, für 2013. Denn die Stadt, die bisher vergeblich hofft, Drehscheibe an den Karpaten zwischen Ost und West, Nord und Süd, zu sein, braucht den Tourismus. Einer der großen industriellen Arbeitgeber hat angekündigt, bis 2015 1.700 Arbeitsplätze in Kosice abzubauen. Wirtschaftlich und sozial steht die europäische Kulturhauptstadt 2013 vor neuen schweren Herausforderungen. 1