COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Die Reportage 1. 4. 2012, 13.05 Uhr Ich will da rein! Sophie will Thomanerin werden Autoren: Sarah Zerback, André Zantow, Markus Dichmann, Aglaia Dane, Thielko Grieß +++++++++++ Beitrag Beginn +++++++++ Atmo 1: Mädchen singen sich ein und lachen Sprecher 1 Lachen, rumalbern und ein bisschen einsingen - gleich beginnt die wöchentliche Chorprobe. Sieben Mädchen haben sich rund um den schwarzen Flügel im Chorsaal versammelt. Sie klimpern ein wenig auf den Tasten, machen Scherze, nur eine studiert schon gewissenhaft ihre Notenblätter und singt dann besonders leidenschaftlich. Atmo 1: hoch, wenn Sophie zu hören ist Sprecher 1 Sophie ist seit zwei Jahren im Kinderchor der Komischen Oper in Berlin. Dort hatte die Zehnjährige bereits Haupt-Rollen in Kinderopern wie "Robin Hood" und "Die Schneekönigin." Aber seit sie professionell singt, hat sie nur einen Traum: Sophie möchte im Thomanerchor singen! Auch wenn das ein reiner Knabenchor ist. OT 1 (Sophie): Also ich find das eigentlich total blöd, weil ich meine, Mädchen können ja dieselbe Chance haben wie Jungs. Und die Musik ist ja auch sehr schön. Sprecher 2 Der Thomanerchor ist einer der berühmtesten Chöre der Welt - und einer der ältesten. Im Jahr 1212 wird er gegründet, besteht bis heute ausschließlich aus Jungen. Seine Zuhause ist die protestantische Thomaskirche in Leipzig. Hier singen um die hundert Jungen zwischen 9 und 19 Jahren. Der bekannteste Thomaskantor war Johann Sebastian Bach, der den Chor von 1723 bis 1750 leitet. Atmo 2: Mädchen singen Sprecher 1 Sophies Chor singt heute Popularmusik. Stücke von Bach haben sie noch nie aufgeführt. Das findet Sophie sehr schade. Das 10-jährige Mädchen mit den wilden blonden Haaren liebt den Komponisten aus Eisenach. Das liegt bei uns irgendwie in der Familie, sagt sie, wir hören zu Hause fast ausschließlich Barock-Musik. Ihre Eltern zum Beispiel gucken abends nicht etwa Tatort oder die Heute-Show. Sie lassen den Tag lieber mit Vivaldi und Telemann ausklingen. OT 2 (Sophie): Und das hat irgendwie jetzt weiter gewirkt. Und das finde ich auch schöner als diese Drum- Musik oder Punk. Sprecher 1 Neben den Eltern wurde Sophie aber vor allem von ihrer Oma musikalisch beeinflusst. Sie hatte eine große Sammlung von Platten und CDs der Thomaner. Vor allem zu Weihnachten durfte nichts anderes in der Stube gespielt werden. OT 3 (Sophie): Also sie hat immer Thomaner gehört und hat dann immer mitgesummt. Als sie dann halt gestorben ist, hat sie sich dann auch gewünscht, dass ich da hingehen soll. Sprecher 1 Ein prägendes Erlebnis für die Zehnjährige. Nach dem Tod ihrer Großmutter bewirbt sich Sophie beim Leipziger Traditionschor. Schnell kommt die Antwort: Eine Absage. Das ist jetzt ein Jahre her. Sophie streicht sich die blonden, langen Haare aus dem Gesicht und sieht auf einmal sehr ernst, sehr entschlossen aus. OT 4 (Sophie): Ich hab das erstmal nicht wirklich kapiert, warum die das nicht ändern wollen. Und dann habe ich mich darüber geärgert und hab gedacht: Kann man ja später noch mal versuchen. Atmo 3: Vor der Chorprobe, Mädchen besprechen sich, singen Sprecher 1 Später, das ist jetzt! Sophie kämpft dafür, dass sich die 800 Jahre alte Praxis der Thomaner ändert und bis dahin will sie fleißig üben für die Aufnahmeprüfung. Atmo 4: Chorprobe beginnt, Chorleiter bittet um Ruhe, singen frei dann als Bett Sprecher 1 Chorleiter Walter Philipp beobachtet jede Regung seiner Schüler genau. Die Stirn liegt in Falten. Die Augenbrauen wandern hoch und runter. Von Sophies Talent ist er überzeugt. OT 5 (Chorleiter): Als Sophie vor zwei Jahren zum ersten Mal mitgesungen hat, ist mir gleich ihre tolle Stimme aufgefallen. Atmo 4: noch mal hoch OT 6 (Chorleiter): Und ihr Ehrgeiz! Wenn sie was will, dann übt sie auch, bis es klappt. OT 7 (Sophie): Also Singen übe ich so anderthalb Stunden am Tag oder eine Stunde. Das schaff ich schon. Sprecher 1 Außerdem spielt sie Klavier, Cello und Geige. Ihre Mutter, erzählt Sophie, ist ausgebildete Sopranistin und hilft ihr viel. Und falls Sophie die Aufnahmeprüfung der Thomaner besteht, würde die Familie sogar nach Leipzig ziehen. Wie das wäre, das hat sich Sophie schon oft ausgemalt. Atmo 4: weiter Atmo aus Probe Sprecher 2 Sie würde dann endlich die Werke Bachs singen. Dessen Motteten und Kantaten wöchentlich in der Leipziger Thomaskirche aufführen. Und mit den Oratorien durch die ganze Welt touren. Sicher wäre sie dann auch zur Jubiläums-Tour durch Korea, Japan und Großbritannien gereist. OT 8 (Sophie): "Also meine Mutter ist sehr dafür. Und meine Schwester und meine Freundinnen finden das auch sehr schön." Atmo 5: Mädchen singen und gehen los Sprecher 1 Aber Sophie ist immer noch in Berlin und probt einen englischen Popsong. Das darf nicht so bleiben, also trifft sie sich seit gut einem Jahr regelmäßig mit ihren Freundinnen. Ihr gemeinsames Ziel: "Sophie wird Thomanerin!" Atmo 6: (Mädchen, durcheinander; Straßengeräusche): Ich würd auf jeden Fall sagen, dass wir das jetzt bald machen//Also am Wochenende geht klar! Hast du auch Zeit?// Ja, klar//Aber ich würd vorher die Flugblätter verteilen, damit auch Leute kommen. Mein ihr Lilly hat dann auch Zeit?//Ja klar, die hat immer Zeit. (Dann als Bett unter folgenden Autorentext) Sprecher 1 Aufgeregt macht sich die erste Hälfte der Mädchen-Gruppe auf den Weg zu Sophie - dort ist das Hauptquartier der kleinen Wutbürgerinnen, wie sie ihre Eltern scherzhaft nennen. Den Mädchen - ist es ernst! 0T 9 (Sophie): "Also wir hatten ja auch schon so ein paar Ideen, was wir dagegen machen sollen. Also zum Beispiel jetzt Freunde anrufen und ne Demo organisieren oder halt Mails verschicken oder zu Facebook gehen." Atmo 7 (Mädchen, durcheinander) Also ich finde das ehrlich gesagt jetzt schon unfair. Weil es gibt ja auch irgendwie die Wiener Sängerknaben, die sind auch nur Jungs. Alles nur Jungs!// Gibt es nicht auch Mädchenchöre?// Also ich kenne keinen.// Auch in Regensburg gibt es einen. Also ich finde das irgendwie...//Und wie wir eben gemerkt haben: Also Mädchen können auch singen! Also so ist es nicht. Atmo 8 - Zimmereintritt - Zimmer-Atmo unten drunter weiter laufen lassen Sprecher 2 Die ersten drei Mädchen betreten Sophies Kinderzimmer. Vor ihnen sitzt ein weißer Stoffhase in einem deckenhohen Regal, daneben mehrere Bücher. Harry Potter, Die Penderwicks und mehrere Bände der "Drei Ausrufezeichen". Über Sophies Bett hängt noch ein Poster von Harry Potter. Und auf der Fensterbank steht ein kleines gerahmtes Foto von einem pausbäckigen Mann mit weißer Perücke. Nicht etwa Sophies Opa - nein. Johann Sebastian Bach natürlich. Er blickt in die Mitte des Raumes. Hier wuseln Sophie und ihre Freundinnen zwischen Schreibtisch und einer Kommode, auf der allerlei Haargummis rumfliegen. Dann geht die Tür auf und der Rest der Bande kommt herein. Atmo 9 - erst stehen lassen und dann runter ziehen Hallo da seid ihr ja. Und habt ihr schon alles vorbereitet für die Demo? Ja, fast. Also, Samstag oder Sonntag? Ich find Sonntag besser, weil das immer so ruhig ist und da gucken die Leute mehr hin... Sprecher 2 Stella gibt bei den Treffen oft den Ton an. Sie ist die ältere Schwester von Sophie und so etwas wie ihr Spindoktor. Stella legt den Schlachtplan fest, entwickelt Ideen und rekrutiert neue Helfer. Außerdem hat sie schon eine Flatrate für ihr Handy. OT 10 (1:37 min) - weiter laufen lassen, runter ziehen Hallo hier ist Stella, wann kommst du endlich? Sprecher 2 Stella könnte mit ihren 12 Jahren auch Personalleiterin in einem Unternehmen sein. So straff führt sie die Mädchen-Gruppe. OT 11 (2:11 min) Das ist jetzt nicht unser Problem. Habt ihr schon Flugblätter verteilt? Sprecher 2 Seit einigen Wochen legen die Mädchen morgens auf dem Schulweg Flugblätter in die Briefkästen ihrer Umgebung. Auf den A4 Zetteln steht in großen Buchstaben: "Die super ThomanerIN" oder "Helft Sophie!". Daneben steht dann der Termin einer großen Demonstration, die die Mädchen am kommenden Wochenende planen und der Link zur Facebookgruppe. So wurden aus einem Duzend Schulkameraden inzwischen ein paar Tausend Fans im Internet. Aber zeigen die sich nun auch in der realen Welt? Stella ist das skeptisch. OT 12 (2:50 min) Also Leute, jetzt eine Sache, wenn wir jetzt auf die Demo gehen, glaubt ihr da kommen jetzt genug Leute? Sprecher 2 Zweitausend Menschen sind für den Protestzug angemeldet. Ein waghalsiger Schritt. Denn beim letzten Flashmob am Potsdamer Platz kamen gerade mal 30 Leute. Die Aktivisten sollten die bekannte Bach-Motette "Komm, Jesu, komm" singen. Aber historische a-cappella- Formen mit geistlichem Hintergrund - in Berlin, das konnte nicht klappen, sagt Spindoktorin Stella heute. Nun muss es besser werden - über das Internet hat sie einen Karton mit Trillerpfeifen von Verdi ersteigert. OT 13 (4:17 min) Wenn es diesmal nicht klappt. Wir versuchen es nicht noch mal Sophie. Ok, das ist dir klar? Das ist das letzte Mal. Ja. Sprecher 2 Bei allem Enthusiasmus schwingt in Stellas Stimme manchmal auch Verzweiflung mit. Seit mehreren Monaten laufen die Mädchen immer wieder gegen eine Mauer. Sprecher 1 Sie haben bei Wikipedia nachgeschlagen, dass Frauen in Deutschland seit 1919 wählen können, dass Frauen und Männer seit 1949 vor dem Grundgesetz gleich sind, und dass Angela Merkel seit 2005 die erste deutsche Bundeskanzlerin ist. Aber der Thomanerchor versperrt immer noch seine Tore. Mädchen sind unerwünscht. Atmo 10 + Atmo 11 - Zimmer kann drunter Sprecher 2 Das hat Sophie seit einem Jahr schwarz auf weiß. Damals bekam sie einen Brief aus Leipzig. Es war die Antwort auf ihre Bewerbung bei den Thomanern. Die 10-Jährige kramt den Zettel unter ihrem Bett hervor. Wie jedes mal vor großen Aktionen. Die Absage, sie schweißt die Mädchen nur noch enger zusammen, motiviert sie. Sophie öffnet den Brief. Sie wirkt dabei nervös und hastet über die Zeilen, als wolle Sie, dass es schnell vorbei geht. O-Ton 14 (10:40 min) Liebe Sophie. Leider können wir dich nicht im Thomanerchor aufnehmen. Es ist ein reiner Knabenchor. Mit freundlichen Grüßen. Was ist das für eine Unterschrift? Sprecher 2 Die Absage des Thomanerchores ist kurz und unmissverständlich. Sie hat das falsche Geschlecht. Ansprechpartner: Nicht lesbar. Das macht Sophie noch heute wütend. Ihre Freundinnen nicken. Sie wissen, welche Geschichte jetzt folgt. Damals bin ich mit meiner großen Schwester und Toni einfach in den Zug gestiegen, nach Leipzig gefahren", erzählt sie. Um einen Verantwortlichen zur Rede zu stellen. Aber niemand will mit Sophie reden. Zutritt zum Internat der Thomaner bekommen die Mädchen auch nicht. Also besetzen sie den Parkplatz vor dem Thomas-Alumnat. Sprecher 1 An diesem Abend treffen sie Thoralf Schulze. Er leitet das Internat und hat Mitleid mit Sophie, ihrer Schwester und ihrer Freundin. Außerdem will er mit seinem Auto vom Parkplatz fahren. Das Gespräch zwischen Sophie und dem Internatsleiter Schulze hat Stella aber immer griffbereit im Telefon-Speicher abgelegt. OT 15 - auch das Original in besserer Audio-Quali liegt hinten im Takeband Sophie: Ich möchte unbedingt in den Thomanerchor. Schulze: Ach, Sophie, das tut mir wirklich leid. Du hast ja wirklich einen weiten Weg gemacht zu uns und ich freue mich sehr, dass du dich so für uns interessierst, aber ich muss leider sagen, dass wir wirklich ein reiner Jungs-Knaben-Chor sind, der wirklich alle Stimmen, entweder mit Jungs oder jungen Männern besetzt. Also wir haben keine Mädchen und wir haben auch nicht vorgesehen, dass Mädchen in den Chor aufgenommen werden. Sophie: Aber Mädchen können auch gut singen. Schulze: Das weiß ich. Mädchen können fantastisch singen. Deswegen habe ich auch ein kleines Angebot für dich. An der Thomasschule sind ja nicht nur die Thomaner, die unterrichtet werden. An der Thomasschule werden auch Mädchen unterrichtet und die Thomasschule hat einen sehr, sehr guten Chor, den Thomasschulechor mit dem wir als Thomaner auch Musik machen, so dass die kleine Chance bestehen würde, wenn du nach Leipzig kommst, dann hier an die Thomasschule zu gehen und dann in diesem Chor mitzusingen. Mit dem Thomanerchor, das muss ich dir ganz, ganz leider abschlagen diese Bitte. Sophie: Gleichberechtigung ist das aber nicht. Schulze: Stimmt, Sophie, da hast du Recht. Das ist das Schachmattargument. Da kann ich eigentlich auch nichts dagegen sagen. Aber es ist nun mal so eine spezielle Art Musik für Knabenchöre. Und du musst dir auch vorstellen, wie wäre es denn eigentlich für dich hier zu wohnen mit nahezu hundert Jungs. Das ganze Jahr. Nicht nur mit denen Musik zu machen, sondern das ganze Jahr mit denen zu wohnen. Das ist ja das was immer bei uns mit dran hängt. Es ist kein anderes Mädchen hier. Es sind nur wirklich ganz nette, hochbegabte Rabauken im Alter von neun bis 19 Jahren. Das funktioniert wahrscheinlich auch nicht. Und da ist es glaub ich besser, an der Schule zu sein und in dem Thomasschulchor zu singen. Und wenn du dich mit dem Thomanerchor gut verstehst, hast du sogar die Chance offiziell den Titel FDC - eine Freundin des Chores - zu werden. Sprecher 2 Stella beendet die Abspielfunktion und legt ihr Handy beiseite. "FDC - Freundin des Chores", das klingt ja wie Spielerfrau, sagt sie auch heute wieder zu ihrer kleinen Schwester. Wie das blonde Anhängsel von einem Profifußballer. Und die Mädchen sind sich einig: Es war die richtige Entscheidung auf das nett gemeinte Angebot des Internatsleiters der Thomaner nicht einzugehen. Obwohl Sophie lange überlegt. Oma hätte es nicht gewollt, sagt sie leise. Dann aber wird der Ton im Kinderzimmer wieder kämpferisch. Atmo 12 (6:34 min) So Leute. Ich fang schon mal mit der Telefonkette an, ja. Wie ein aufgeschreckte Ameisen wirbeln die sechs Mädchen durch Sophies Zimmer. Alle sollen kommen zur großen Demo. Ein Laptop wird geholt, E-Mails verschickt, unzählige Freunde angerufen. Telefonkette heißt das Zauberwort. Wie bei "Den Drei Ausrufezeichen", scherzt Sophie und blickt in ihr großes Bücherregal. Atmo 13 (8:00 min oder 8:49 min) - langsam ausblenden Atmo 14 - Demo - langsam einblenden (5:41 min) Sprecher 1 Eine Woche später ist es soweit. Rote Trillerpfeifen. Plakate mit Sophies Namen. Und Menschen, überall Menschen. Die Polizei spricht von 28.000 Tausend Teilnehmern. Fast bis zum Großen Stern reiht sich der Demonstrationszug. Gleichberechtigung auch im Thomanerchor ist die Parole. Auch für Sven und Gunnar. Die beiden Sozialpädagogik Studenten an der Berliner Humboldt Uni haben von der Demo über Facebook erfahren. Sophie kennen Sie nicht persönlich, aber die Idee wollen sie unterstützen. OT 16 17 (3:00 min) Ja, wir sind auf jeden Fall dafür, dass auch Mädchen, also dass sozusagen die Gleichberechtigung in den Chören auch fortschreitet und dass wir da auch die Frauen rein kriegen. Ganz klar. Ja, also das geht ja nicht, dass nur Männer singen können. Das stimmt auch wirklich nicht. Atmo 15 (6:49 min) Sprecher 1 Der Unmut ist groß unter den Demonstranten. Sophie scheint einen Nerv getroffen zu haben. Sogar politische Bewegungen sind vertreten. Viele Flaggen der Piratenpartei werden geschwenkt und zwei von der "Feministischen Partei Die Frauen". Die Mädchengruppe um Sophie hat sich in der Menschenmenge inzwischen verteilt. Die einen lauschen den Rednern, die anderen tanzen vor den Musikwagen, die aus ganz Deutschland angereist sind. Atmo 16 (1:11 min) Sprecher 1 Einen roten VW-Bus mit großen schwarzen Boxen auf dem Dach betreibt Maren Siegberg. Die 30-Jährige kommt aus Mecklenburg-Vorpommern. Dort arbeitet sie als DJ in einer Großraumdisko. Als sie von Sophies Geschichte erfährt und davon, dass sie abgelehnt wird - packt sie ihre Sachen und fährt nach Berlin. OT 17 (12:34min) Warum denn? Ist doch Gleichberechtigung. Es kann jeder singen, es kann jeder tanzen, es kann jeder dies und das machen. Also warum sollte sie nicht da mit rein kommen dürfen. Atmo 17 (15:50 min) Sprecher 1 Extra aus Stuttgart angereist ist Gerda Flieder. Die 54-Jährige Frau mit dem runden Gesicht und der bunten Jacke hat in ihrer Kindheit selbst unter einigen Ungerechtigkeiten gelitten, sagt sie. Das müsse endlich ein Ende haben. Von Sophie könnte der Funke auch in andere Bereiche der Gesellschaft überspringen. OT 18 (4:50 min) Ich möchte auch, dass mehr Frauen bzw. dass überhaupt mal Frauen in dem Thomanerchor in Leipzig mitsingen können. Sprecher 2 Etwas abseits des Trubels zwischen Brandenburger Tor und Großem Stern steht ein ehemaliger Thomaner, blickt auf die Demoteilnehmer. Er möchte ungern erkannt werden. Es könnte ja unangenehme Fragen geben. Aber Sympathie für Sophie empfindet Sebastian Krumbiegel trotzdem. O-Ton 19 (19:28 min) Na, alle reden über Frauenquote. Und ich war ja nun selbst Thomaner und hab das damals mitgekriegt wie das war. Und das war schon teilweise sehr einsam ohne Mädchen. Und ich hab mir damals immer schon gewünscht, wenn Mädchen dabei wären, das wäre viel cooler. Ich wünsch Sophie, dass sie das schafft, dass sie das hinkriegt. Und ich wünsche uns allen, dass unsere Jungs, auch was sexuelle Dinge anbetrifft ein bisschen freier aufwachsen und nicht so verknöchert wie ich damals. Sprecher 2 Sebastian Krumbiegel wächst in Leipzig auf. Seine Eltern benennen ihn nach Johann Sebastian Bach. Der restliche Weg scheint da schon vorgezeichnet. Er schafft es in den Thomanerchor, gründet später eine der erfolgreichsten deutschen Bands: "Die Prinzen". Heute fremdelt Krumbiegel mit den Idealen seiner Jugend. O-Ton 20 (20:37 min) Wir sind immer so groß gewordne damals im Thomanerchor, dass uns gesagt wurde, das ist Tradition seit 1212. Das sind jetzt wie wir alle rechnen können 800 Jahre. Und ich versteh zwar diese Sucht nach Tradition, aber ich finde man sollte auch alte Dinge über Board werfen und sollte sich neuen Dingen öffnen. Und gerade der Thomanerchor, der ja auch Nachwuchs sucht, sollte eigentlich in die Hände klatschen und sollte sagen großartig, jetzt können wir endlich Mädels mit dazu nehmen, dann haben wir keinen Stress mehr. (Ganz abgesehen, dass der Sound dieses Chores ein ganz anderer werden würde. Und das meine ich jetzt sehr positiv. Wenn Frauenstimmen dabei sind, ist das eben was völlig anderes. Sprecher 2 Krumbiegel hat genug gesehen. Der nächste Promo-Termin für seine Solo-Tour wartet. Auch Sophie und ihre Freundinnen haben sich schon wieder auf den Heimweg gemacht. Sie wollen noch lernen für die Mathearbeit am Montag. Sie sind sprachlos, überwältigt, dass so viele Menschen zu ihrer Demo gekommen sind. Nun wächst der öffentliche Druck auf den Thomanerchor noch stärker als geplant. Atmo 18 Sprecher 1 Wenige hundert Meter entfernt von den Demonstranten steht der Reichstag: Im Inneren beraten die Abgeordneten an diesem Nachmittag über das Organspendengesetz und höhere Steuern für Reiche. Atmo 19 + Atmo 20 kann drunter Sprecher 1 In den Pausen verlässt immer einer den Plenarsaal: Thomas Feist. Er sitzt für die CDU im Bundestag und kommt aus Leipzig. Nun ist er auf dem Weg zum Südflügel, weil er von dort den Protestzug sehen kann. Feist hat seine Doktorarbeit über "Musik als Kulturfaktor" geschrieben. Ihn beschäftigt die Diskussion über die Thomaner besonders. OT 21 "Also ich muss sagen, ich hab mit der Frage natürlich sehr gekämpft am Anfang. Aber ich habe mich schließlich davon überzeugen lassen, dass das eine hervorragende Idee ist." Atmo 21 + Atmo 22 loopen bis Ende Sprecher 1 ... sagt er offen und gerade heraus. Und wirkt sichtlich erleichtert. Erst gestern hat er seinen Kurswechsel vollzogen, gegen das Establishment seiner Partei. Nun ergreift auch Feist öffentlich Stellung für Sophie als erste Thomanerin. Dafür wird er hart angegriffen. Die bayerische Schwesterpartei CSU wirft ihm den "Ausverkauf eines konservativen Markenkerns" vor. Feist dagegen hält es mit der Kanzlerin: Die CDU muss sich um die urbane, weibliche Mittelschicht kümmern. OT 22 "Ich bin dafür, dass man das ordentlich quotiert. Und daraus einen Chor wie jeden anderen macht. Und dann ist natürlich die Frage, was bleibt von den Thomanern noch übrig. Ich glaube, dann bräuchten wir eine Thomaskantorin. Vielleicht die Frau Katzenberger, die hat doch Zeit, oder?" Sprecher 1 Ein Scherz des Abgeordneten. Um dem ganzen die Schärfe zu nehmen. Plötzlich wird der Blick von Thomas Feist wieder ernst. Als neben ihm die nächste Abgeordnete ans Fenster eilt. OT 23 "Die Mauer ist jetzt auch lang genug gefallen. Jetzt kann auch mal diese alte Tradition beendet werden." Sprecher 2 Claudia Roth, Vorsitzende von Bündnis 90 Die Grünen will auch einen Blick auf den Demonstrantionszug am Brandenburger Tor werfen. Atmo 23: leise, dumpf im Hintergrund hören Sprecher 2 Die Wucht der Sympathie-Welle für Sophie hat die Grünen-Chefin lange unterschätzt, sagt sie. Ihr Referent für Netzpolitik hat ihr schon vor Monaten davon berichtet. Nun will Roth endlich handeln. OT 24 "Wir fordern deswegen die Mindestquotierung des Thomanerchors, auch dieser großen, alten Institution." Sprecher 2 Wegen der Gleichberechtigung, die immer schon Roths Lieblingsthema war. Aber nicht nur! OT 25 "Es müssen ja jetzt die nächsten 800 Jahre eingesungen werden." Sprecher 2 Die Grünen-Chefin, sie denkt in großen Linien. Und sagt dann das bislang Undenkbare. OT 26 "Und da die Jungs ja eigentlich immer zierlicher, sanfter, schwächer werden, sollen die doch in so einem Chor die hohen Sopranstimmen übernehmen, und die Mädchen, die starken Mädchen geht dann in Richtung Alt, Tenor, die Bässe. Da muss man dann gucken, wie man das ausfüllt." Sprecher 2 Natürlich wird man mich für Sätze wie diese belächeln, sagt sie und blickt kurz hoch durch das Fenster in den Berliner Himmel. Aber, fährt sie dann fort, so ist das bei den Grünen. Vor 30 Jahren hat uns ja auch niemand die Sache mit dem Atomausstieg abgenommen. Oder fünf Euro für den Liter Benzin. OT 27 "Aber jetzt reicht es, wir sind jetzt im Jahr 2012, die ganze Welt redet von Quote außer der zuständigen Ministerin. Auf die ist kein Verlass. Ich glaube übrigens auch nicht, dass die singen kann." Sprecher 2 Die Anspielung auf die CDU - ein geschicktes Ablenkungsmanöver. Vielleicht auch eine Stichelei in Richtung Thomas Feist. Der reagier aber nicht, blickt nur stoisch aus dem Fenster. Kopfzerbrechen bereitet Roth in Wahrheit ein anderer politischer Gegner. Wie sich die Piratenpartei das Thema regelrecht erbeutet hat, das sei schon ein starkes Stück. OT 28 "Weil bitteschön, wo haben die denn die weiblichen Sängerinnen? Haben sie ja nicht!" Sprecher 2 Das Fahnenmeer der Demonstranten vor dem Brandenburger Tor ist gut zu sehen - hier und da tanzt das geschwungene Segel mit dem Logo der Piraten im Wind. Die neue Konkurrenz wirbt längst im Netz mit Sophies Konterfei und dem Slogan: "Thomanerchor: Fertig machen zum Entern". Eines ist ja mal klar, stößt Roth hervor: Für Musiktraditionen haben die Piraten überhaupt keinen Sinn. OT 29 "Da ist wenig Verlass. Da gibt's vielleicht ne Seemanns-CD, die sind ja sowieso gerade in den Charts." Sprecher 2 Wie gesagt: Roths Sache sind die großen Linien. OT 30 "Aber ich will echt dem Mariengesang wieder eine neue Dimension geben. Und Marienlieder mit tollen Frauenstimmen, das ist doch sensationell! Also da..." Sprecher 2 ... Roth stoppt plötzlich mitten im Satz. Thomas Feist deutet Richtung Plenarsaal. Es ist Ziet, die beiden müssten jetzt wieder los, sagen sie. Schwarz-Grünes Gekungel in Wahlkampfzeiten - kein gutes Bild in der Öffentlichkeit. Sprecher 1 Die Kultur aber, sagt Feist noch - aber nicht ins Mikro - ist ein neutrales Feld, da könne man sich hinter den Kulissen ruhig näher kommen. Und wenn es im Bundestag eine Mehrheit gibt für Mädchen im Thomanerchor, wäre das ein Durchbruch. 800 Jahre Tradition wären gesprengt. Dann könnten auch in Daxvorstände oder Medienhäusern Frauen einziehen. Es wäre ein Symbol mit ungeheurer Tragweite. Sprecher 2 Deswegen haben Thomas Feist und Claudia Roth den Fall auch schon nach Brüssel gemeldet. Aber noch verhindert die gute Lobbyarbeit der Thomaner, dass die EU- Kommission eingreift. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die zuständige Kommissarin Reading Freikarten der Thomaner selten ablehnt. So bleibt im Moment nur der Weg über die Bürger. Ab 1. April ist ein europäische Bürgerentscheid möglich. Thomas Feist drückt Sophie die Daumen. O-Ton 31 Thomas Feist Ich wünsch der Sophie, dass Sie mal ein richtiger ... Kerl wird. So, also, später auch als Frau ihren Mann steht. Ohne Diskriminierung und diesen ganzen Schnickschnack. ENDE