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Was man nicht sieht: Der Junge kam fast vier Monate zu früh auf die Welt, in der 23. Schwangerschaftswoche, mit gerade mal 600 Gramm - das ist etwas mehr als zwei Stück Butter. Winzig klein und verletzlich. 3 Take: Wahren Ich war schon erschrocken. So ein Blick, wo man sich einfach nur erbarmen möchte. Man wünscht sich doch, den Bauch einfach nur um den Inkubator legen zu können. Sprecherin: Jonatan kein Einzelfall. Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 50 000 Kinder zu früh geborenen. Das sind ungefähr sieben Prozent der Neugeborenen. Tendenz steigend. Als Frühgeborene gelten all jene Mädchen und Jungen, die in der 37. Schwangerschaftswoche oder früher das Licht der Welt erblicken. 4 Take: Bührer Und richtig kritisch wird es bei einem Gestikationsalter von 29 Wochen, d.h. Kinder, die mehr als 11 Woche zu früh auf die Welt kommen. Das ist die eigentliche Hochrisikopopulation. Früher hat man gesagt, ist die kritischen Grenze 1500 Gramm, jetzt hat man gesagt zwischen 1250 und 15 00. Und nach unten zu gibt es biologische Grenzen, wo man nicht genau weiß, wo die sind. Kinder zwischen 300 und 400 sterben die meisten, auch bei uns. Zwischen 400 und 500 liegen die Überlebensraten schon bei 50 Prozent. Sprecherin: Kinderarzt Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie der Charité in Berlin, eine der rund 300 Kinderkliniken in Deutschland mit einer speziellen neonatologischen Abteilung. Auf den Stationen seiner Klinik werden Jahr für Jahr etwa 240 Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1 500 Gramm ins Leben begleitet. Sie sind so winzig klein, dass ein Taschentuch genügt, um sie zu zudecken. Ihre Haut ist fast durchsichtig. Mitunter sind die Augen noch zugeklebt. Auch wenn bereits alles an ihnen dran ist - die Muskulatur, die Organe und vor allem das Gehirn sind für das Leben außerhalb des Mutterleibes noch nicht ausgereift. 5 Take: Wahren Alles ist so wahnsinnig unreif, die Lunge, die ganzen Organe, die müssen plötzlich etwas können, was sie eigentlich nicht können müssten. Der Darm ist nicht bereit zu arbeiten, die Leber, die Nieren und auch die Haut war absolut unreif. Die hatten wohl nach der Geburt versucht, ihm gleich Sonden zu legen, das hat ihm sofort Verbrennungen gemacht. Die Haut war noch so ganz transparent und feucht und war eigentlich wie unberührbar. Und dann musste sehr oft Blut abgenommen werden, was natürlich bei so einem Kleinen ganz krass ist. Er bekam alle vier bis sechs Stunden eine Blutabnahme und musste alle paar Tage eine Blutkonserve bekommen, um wieder aufgefüllt zu werden. Das war der Kreislauf in den ersten Wochen, diese Kontrolle und der Versuch, ihn zu ernähren. 6 Atmo: Frühgeborenenstation Sprecherin: Auf der Frühgeborenenstation der Charite liegen die etwa 20 Zentimeter großen, schmächtigen Neuankömmlinge nackt, nur mit einer Windel bekleidet in einem Bettchen aus Plexiglas wie in einem Gewächshaus. Es ist mit seinen Bedingungen weitgehend dem Mutterleib nachempfunden. Ständig werden die Kinder mit feuchter, warmer Luft versorgt. Über Schläuche zur Nase, die die Funktion der Nabelschnur ersetzen, werden ihnen Nährstoffe zugeführt. Sonden an der Brust, an den Füßen überwachen den Herzschlag, und die Atmung. Die Pflaster, mit denen die Sonden befestigt sind, verdecken die kleinen Wesen fast vollständig. 7 Take: Wahren Die ersten sechs, sieben Woche waren schon irgendwie im Angesicht des Todes. Ich saß dann am Inkubator und habe auch die Ohnmacht ständig gefühlt, dass ich nichts tun kann, um ihn da rauszureißen. Und die Ärzte haben auch manchmal gesagt, okay, wir haben bei solchen Kleinen nur begrenzte Möglichkeiten. Wenn das jetzt nicht wirkt, dieses Antibiotika, als er die Darminfektion hatte... und die Beatmungsparameter wurden immer höher immer höher geschraubt, also der Druck konnte irgendwann nicht mehr erhöht werden, das hätte die Lunge irgendwann zerfetzt. Da gab es mal so einen Moment, das haben sie mir auch gesagt, da stehen wir mit dem Rücken an der Wand, wenn es jetzt nicht eine Wende gibt, wenn er es jetzt nicht schafft, wir können nichts Neues machen. Sprecherin: Je unreifer und früher ein Kind geboren wird, umso häufiger ist mit Komplikationen schon unmittelbar nach der Geburt zu rechnen: mit Hirnblutungen, die die Nervenzellen zerstören können, mit Verletzungen an der Netzhaut des Auges, mit entzündliche Darmerkrankungen oder chronischen Lungenerkrankungen durch die ständige Beatmung. Es drohen Blindheit, Lähmungen und Sprachstörungen bis hin zur totalen Kommunikationslosigkeit. Das zu verhindern kostet Geld. Viel Geld. Allein die Ausgaben für die mehrmonatigen Krankenhausaufenthalte übersteigen schnell 100 000 Euro Marke. Dazu kommen die Nachsorgeuntersuchungen und Folgetherapien. In der ethisch schwierigen Diskussion werden die frühen Frühchen schnell auch zum Kostenpunkt. Was mutet man den Kindern an körperlichen und seelischen Leid zu? Lohnen die Kosten und die Mühe, diese handvoll Leben zu retten? Sollten so extrem Frühgeborene tatsächlich durch eine intensiv medizinische Behandlung am Leben erhalten werden? Und wenn ja, wo liegen sinnvolle Grenzen? Die Antwort in Deutschland ist eindeutig. 8 Take: Merkel Das Kind hat ein Recht auf Leben, aber keine ihm aufzuerlegende Pflicht zum Leben. Sprecherin: Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Er war Mitglied der Enquete-Kommission 'Recht und Ethik der modernen Medizin' des Deutschen Bundestages. 9 Take: Merkel Allein der Umstand, dass ein Kind wegen der Frühgeburt aller Voraussicht nach später mit einer Behinderung durchs Leben gehen wird, kann nicht legitimieren, dieses Kind sterben zu lassen. Andererseits gibt es Fälle, wo man im Interesse des Kindes keine moralische Rechtfertigung hat, das Kind ins Leben zu zwingen. Wir sollten beides sehen und zugeben. Wegen des Wunsches der Eltern oder wegen des Nicht-Behandeln- Wollens der Ärzte darf man so ein Kind auf gar keinen Fall sterben lassen. Allenfalls kann man die Behandlung einstellen, wenn es im Wohlverstandenen eigenem Interesse des Kindes liegt. Das ist der Sinn der Formulierung Lebensrecht heißt nicht Lebenspflicht. Sprecherin: In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Ärzte auf den Frühgeborenenstationen des Landes und betreten dabei emotional hoch vermintes Gelände. Zumal sich durch die Hochleistungsmedizin die Grenzen zwischen den Zeiten, in denen ein Kind legal abgetrieben werden darf und denen, wann ein anderes gerettet wird, immer mehr aufeinander zu bewegen. Normalerweise darf bis zur 12. Schwangerschaftswoche, im Falle einer Prognose einer schweren Behinderung sogar weit darüber hinaus die Interruption durchgeführt werden. Zu einem vergleichbaren Zeitpunkt wird heute einem Frühgeborenen hingegen geholfen - oft ohne nach den gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu fragen. Das verlangt schwere ethische Entscheidungen von den Ärzten. Orientierung geben ihnen die "Gemeinsamen Empfehlungen" der Frauen- und Kinderärztlichen Fachgesellschaften, die vor zwölf Jahren erarbeitet und 2007 aktualisiert wurden. Dort wird empfohlen, bei Frühgeborenen ab der 24. Schwangerschaftswoche grundsätzlich zu versuchen, das Leben zu erhalten. Bei Frühgeborenen vor der 22. Schwangerschaftswoche, so heißt es in dem Papier, soll auf eine Reanimation verzichtet werden. Ihre Überlebenschancen seien zu gering. Keiner kann genau sagen, was wirklich im "Interesse des Kindes" ist. Christoph Bührer. 10 Take: Bührer Das kann man nicht ausrechnen. Da braucht man erstens Erfahrung. Zweitens Nachuntersuchungen. Man braucht Statistik. Man braucht so etwas wie Intuition. Und man kann es nie alleine entscheiden. Sprecherin: Bei Frühgeborenen ab der 22. Schwangerschaftswochen schlagen die Fachgesellschaften vor, mit den Eltern abzuwägen, ob eine lebenserhaltende oder eine palliative Therapie durchgeführt werden soll. Also, ob die Schmerzen gelindert und eine weitergehende Behandlung abgebrochen werden soll. 11 Take: Merkel Da haben sie ein Kind in der 22 Woche, das so eine Art Schnappatmung macht, was so alle 20 Sekunden versucht zu atmen. Die Ärzte sehen, dass sie das Kind nicht künstlich beatmen können, weil die Lungen nicht hinreichend entwickelt sind. Da ist die künstliche Beatmung lebensgefährlich. Sie könnte die Lungen zerreißen. Dass also jetzt mit der Geburt des Kindes das Sterben begonnen hat und wegen der Unfähigkeit, richtig zu atmen, eine erbärmliche Quälerei für das Kind sei. In einem solchen Fall dürfen die Ärzte überlegen, sofort Maßnahmen einzuleiten, die das Kind, wie man in der Klinik das nennt, terminal sedieren. Dann stirbt das Kind in einer viertel Stunde, es hätte sonst zwei Stunden überlebt. Dass ist eine Variante, die zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe ist, in vielerlei Hinsicht problematisch, aber die Rechtsethische allein richtige. Sprecherin: Wie schwierig der Umgang mit Frühgeborenen ist, beweist ein Blick über die Landesgrenze hinaus. Einheitlich Kriterien gibt es international nicht. In einigen Ländern lehnen Ärzte lebensrettende Interventionen vor der 24. Woche ab. In anderen wiederum starten die Intensivmediziner mit der unbedingten Lebenserhaltung, egal wie jung und wie früh das Kind geboren ist und nehmen dabei auch unnötige Qualen des Kindes in Kauf. In Deutschland geht man einen Zwischenweg: hierzulande wird genau auf das Kind geschaut, auf sein Reifestadium nach der Geburt und wie es auf erste vorsichtige Interventionen reagiert. Danach wird individuell entschieden. 12 Take: Haker Wenn man sieht, dass ein Kind einfach nicht mehr kann und die Ärzte sehen das, die Eltern vielleicht nicht, aber die Ärzte mit ihrem ganzen Erfahrungswissen, mit ihrem medizinischen Fachwissen sehen sehr wohl, ob ein Kind noch kämpft oder nicht mehr kämpfen kann. Dann sagt man ja nicht innerhalb von drei Stunden, hier, dieses Kind kämpft nicht mehr, sondern man guckt, beobachtet, tauscht sich aus, kommuniziert usw. Und das meine ich mit dieser Einzelfallinterpretation. Sprecherin: Hille Haker, Professorin für Moraltheologie und Sozialethik an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main und der University of Chicago. Die Medizinethikerin lässt sie sich von vier Prinzipien leiten: der Autonomie und der Nichtschädigung des Patienten, seinem Wohl und der Gerechtigkeit. Diese Prinzipien allerdings sieht sie überfordert, wenn es um die Frühgeborenenmedizin geht. Ab wann hat ein vielleicht 500 Gramm schweres Kind ein Lebensrecht? Wann darf die Behandlung abgebrochen werden? Was darf man diesen Mädchen und Jungen an Leid zumuten? Diese Fragen müssen beantwortet werden und das geht nur mit den Eltern. Sie müssen unterstützt werden und erahnen lernen, was das Beste für ihr Kind ist. Allerdings, so Hille Haker, muss immer auch die traumatische Situation wenige Stunden oder Tage nach der zu frühen Geburt eines Kindes beachtet werden. 13 Take: Haker Dazu gehört nämlich z.B. Schock, dazu gehört die Unmöglichkeit, eine Situation umfassend zu interpretieren, auf Dauer zu interpretieren. Man sitzt sozusagen im Empfinden und im Beurteilen in dieser Jetzt-Situation fest und kann sich fast nicht vorstellen, dass die vergehen kann. Ich halte den für ganz wichtig, weil häufig so getan wird, als wenn die Eltern in beiden Konfliktfeldern sozusagen einfach relativ souverän entscheiden; aha, wir haben schon sechs oder sieben Kinder, dann dieses nicht mehr, dann kann dieses ja sterben. Welche Mutter und welcher Vater würde das denn so sagen? Das ist ein verzehrter Blick. Sprecherin: Die Medizinethikerin selbst weiß, wovor sie redet. Sie gebar vor 15 Jahren ein Frühchen: 26. Woche. 890 Gramm schwer: 14 Take: Haker Jahrelang habe ich gedacht, dass meine Tochter nicht so gesund herauskommen würde und habe trotzdem immer gesagt, dass die Frühgeborenenmedizin erst mal behandeln muss. In unserem Fall muss ich sagen, nach 14, 15 Jahren kann ich das sagen, dass es sich lohnt, diesen Aufwand zu treiben. 15 Atmo: Klinik Sprecherin: Aufwand treiben heißt in der Frühgeburtenmedizin: immer mehr wagen, immer mehr können, immer besser werden. Dazu brauchen die Ärzte vor allem hochspezielle, äußerst sensible Geräte und Instrumente für die immer kleiner werdenden Kinder, deren Venen nicht dicker sind als ein dünner Wollfaden. Die Spritzen müssen dementsprechend dünne Kanülen haben, die Diagnosegeräte müssen schon auf die empfindlichsten Reize reagieren und die Beatmungsgeräte müssen besonders fein sein. Denn schon diese wenigen, feinen Apparate stören massiv den biologischen Frieden der Babys. 16 Take: Wahren Jede Manipulation hat ihn an den Rand des Leben, des Totes gebracht, an den Abgrund, immer. Eine Schwester hat auch gesagt, sie wusste nicht, was sie machen sollte...Nur die Inkubatortür auf und er rauschte ab, hat so einen Absturz gehabt. Hat gegen die Maschine geatmet oder hat den Atem verweigert. Das war ein großes Problem, ihn überhaupt nur zu wickeln oder das nötige mit ihm zu machen, was er brauchte. 17 Atmo: Gesang Frau Wahren Sprecherin: Auch wenn Frühchen noch so winzig, geschwächt, vielleicht auch krank sind - sie haben bereits ein Seelenleben. Sie können bereits ihre Umgebung wahrnehmen und mit ihren Mittel ausdrücken, wie sie es empfinden, Monate vor dem errechneten Termin in die Welt geworfen zu sein. 18 Take: Israel Der Verlust dieser tragenden umhüllenden Umgebung, den müsste man sich schon wie einen Riss vorstellen. Sprecherin: Die Kinder- und Jugendtherapeutin Agathe Israel. Gemeinsam mit Kollegen vom Berliner "Institut für analytische Kinder - und Jugendpsychotherapie" erforscht die Psychoanalytikerin Frühgeborene durch die sogenannte "teilnehmende Beobachtung": sie setzt sich neben die Inkubatoren zu den Kindern und versucht widerzuspiegeln, was das Kind erlebt. 19 Take: Israel Ich denke, was neu ist, ist wirklich die Gefühlsvielfalt, die wir erlebt haben und auch besonders die Angst der Kinder, die wir wahrnehmen konnten, die sie nicht unbedingt eben mit heftigen Gestikulieren immer gezeigt haben, sondern auch in diesem Rückzug, den sie angetreten haben, bis hin zum Atemstillstand. Sprecherin: Dokumentiert hat Agathe Israel ihre Erfahrungen auch in dem Buch "Früh in der Welt". Auf den darin enthaltenen Fotos glaubt man aus dem Gesichtsausdruck der wenige Tagen und Wochen alten Mädchen und Jungen deren Verlorenheit und Angst, eine empfundene Zeit- und auch Sinnlosigkeit ablesen zu können. Gleichzeitig signalisieren diese Kinder - so unvollkommen sie sein mögen - welches Interesse an Kontakt sie haben und wie viel Freude und Gelöstheit ihnen dadurch möglich sind. 20 Take: Israel Wenn eine Schwester wirklich mit dem Kind Kontakt aufnimmt, es nicht nur pflegt und versorgt technisch, sondern mit dem Kind spricht, dann entsteht, so klein dieses Kind auch ist, schon ein leichter Fluss, also es geht hin und her. Das Kind reagiert, es schaut, es lächelt, es bewegst sogar seinen Körper in die Richtung. Sprecherin: Umso wichtiger ist es, die Eltern vor allem auch die Mütter darin zu unterstützen, eine Bindung zu ihren viel zu früh geborenen Kindern herzustellen. Eine Bindung, die bei einer natürlichen Geburt durch Hormone gesteuert wird, die aber im drastischen Fall einer Frühgeburt oft nicht erfolgt. Die meisten Frühgeburten kommen durch einen Kaiserschnitt zur Welt. Dadurch ist der erste, körperliche Kontakt unmöglich. Die Kinder müssen schließlich sofort medizinisch versorgt werden. Diesen Bruch gilt es zu überbrücken: Eine wichtige Rolle spielt dabei das Gehör der Kindes. Bereits ab dem dritten Schwangerschaftsmonat lauschen die Embryos dem Herzschlag, dem Rauschen des Blutes und vor allem der Stimme ihrer Mutter. Genau mit dieser scheint man auch nach der Geburt wieder eine wichtige Verbindung herstellen zu können. Take 17: Gesang Birgit Wahren- unterlegen - dann noch mal hoch und weg Sprecherin: Das jedenfalls ist die Erfahrung von Birgit Wahren. Das Lied, das die 32 jährige Musikerin bereits während der Schwangerschaft immer gesungen hatte, zeigte auch in der schweren Anfangszeit Wirkung. Die Mutter bemerkte, dass ihr jüngster Sohn auf das Lied aufmerksam reagierte, wenn sie es ihm am Wärmebett in der Klinik vorsang, stundenlang, monatelang. Eine enge Mutter-Kind-Bindung entstand, die beide stark machte. Auch für Krisenzeiten. 21 Take: Wahren Es war auch immer wieder so ein Moment, liebst du ihn, auch wenn sie dir sagen, er wird niemals sehen können, was weiß ich was, können. Liebst du ihn, liebst du ihn, liebst du ihn. Also, immer wieder an dem Punkt, ja, ich will ihn, ich lieb ihn, ich sag ja zu diesem Leben. Sprecherin: Doch nicht alle Mütter und Väter sind in der Lage von Anfang an ein emotionales Band zu ihrem Kind zu knüpfen. Manchen Müttern scheint es sogar unmöglich. 22 Take: Bührer Sie weiß, dass es sein kann, dass das Kind stirbt. Sie weiß, dass das Kind vielleicht von Behinderung bedroht ist. Das kommt alles auf sie zu. Da gehen ganz viele Gedanken durch ihren Kopf, die für die Bindung schwierig sind. 23 Take: Israel Wenn die Mütter selber traumatisiert sind, also selber geschockt sind über das: was habe ich getan oder was ist da passiert, voller Schuldgefühle sind, dann sind sie kaum in der Lage, die Not ihres Kindes zu sehen. Und das ist dann das Dramatische. Viele Mütter sagen dann auch: "Wir haben dann das gemacht, was die Schwestern gesagt haben". Sie streicheln mechanisch, aber sie sind nicht im Kontakt wirklich mit ihrem Kind. Oder sie können es gar nicht anfassen oder sie sagen eben, ,Ich will das Kind erst sehen, wenn es stabiler ist. Ich will mich gar nicht erst binden, vielleicht stirbt es.' Also, das sind alles solche Schutzmechanismen, die für das Kind ganz schrecklich sind. Sprecherin: Laut einem im Juni 2010 veröffentlichten Report der "European Foundation for the Care of the Newborn Infants" stieg in Deutschland seit den 80er Jahren die Zahl der Frühgeburten kontinuierlich an. Hauptursachen dafür sind: Infektionen im Fruchtwasser, ein unzureichendes Wachstum des Mutterkuchens und Mehrlingsgeburten. Außerdem gelten das höhere Alter von Erstgebärenden und - das ist weniger bekannt - ein schlechter Gesundheitszustand als Risikofaktor. Der Neonatologe Christoph Bührer. 24 Take: Bührer Es sind oft sehr sehr junge Frauen und es sind oft Frauen, die ungewollt schwanger geworden sind. Das verknüpft sich dann oft mit Armut, schlechten sozialen Status. Das ist ein weltweites Problem. Gerade dieser Teil der Frühgeburt, der mit Infektionen einhergeht, der geht auch mit Armut einher. Sprecherin: Trotz der stetig steigenden Zahl von Frühgeburten gibt es bis heute in Deutschland keine Präventionsprogramme, wie sie beispielsweise in Schweden, Frankreich, Großbritannien und der Tschechischen Republik existieren. Vorzeigeland ist Schweden. Dort wurde massiv in die Forschung, Weiterbildung des Personals und die Ausstattung investiert. Frühchen dürfen nur in spezialisierten Zentren geboren werden. Vor allem aber bekommen die Frühgeborenen eine exzellente familien- und entwicklungsbezogenen Früh- und Nachsorge. Gerade das dient einer guten Perspektive für diese Kinder. 25 Take: Israel Das haben wir auch bemerkt, also dass es Kinder gibt, die durchaus spüren, ob sie jetzt in ihrer Schwachheit, in ihrem Elend, auch aufgenommen werden oder nicht. Das passiert über ganz kleine Gesten, ob Eltern bereit sind, die Not, die sie sehen in ihrem Kind, auch in ihren Augen, in den kleinen Gesten, anzunehmen, oder ob sie eher dann steif und hart werden und sagen "Nein, ich will dich erst haben, wenn du o.k. bist". 26 Take: Atmo: Klinik - Beatmungsgerät Sprecherin: Die Neonatologie ist eine noch verhältnismäßig junge Disziplin. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Frühgeborenenvorsorge zu einem eigenen Medizinbereich: mit Fachgesellschaft und eigenen Behandlungsrichtlinien. Seither geht es stetig voran; während 1960 Kinder zwischen 1001 und 1500 Gramm nur eine Überlebenschance von 50 Prozent hatten, liegt sie heute bei 95 Prozent. Zugleich stieg in den zurückliegenden 50 Jahren die Überlebensrate von Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht zwischen 500 und 1000 Gramm von sieben auf 70 Prozent. Das gelang unter anderem dadurch, dass man ab den 80er Jahren begann, die Winzlinge zu beatmen. Außerdem beschleunigte man die Lungenreife der Ungeborenen, indem man den von einer Frühgeburt bedrohten Müttern eine entsprechende Substanz spritzte. 27 Take: Merkel Der medizinische Fortschritt war damit verbunden, dass die Ärzte angefangen haben, bei immer kleineren, immer jüngeren Kindern absolute Lebenserhaltung zu betreiben. Sprecherin: Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel. 28 Take: Merkel Ärzte sagen, wir könnten heute Kindern, die in der 23. Woche, die zur Welt kommen, nicht helfen, wenn wir nicht vor 30 Jahren bei Kindern in der 30. Woche eine Intensivbehandlung begonnen hätten. Die sind reihenweise gestorben. Wir haben sie unnützerweise gequält. Aber deswegen überleben heute Kinder in der 23. Woche. Das ist ein schweres ethisches Problem. Sprecherin: Was also darf man, kann man, muss man tun? Was kann man diesen Kindern und was den Eltern zumuten, die sowieso unter Schock stehen? Darf man solche Winzlinge zu Forschungsobjekten machen? Eine schwierige Situation, gibt die Bioethikerin Hille Haker zu bedenken. Schließlich stehen die Eltern in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den behandelnden Ärzten. 29 Take: Haker Als Eltern kann man nicht notwendig wissen, ob dieser Schmerz zum Guten ist oder ob es unnötig ist. Also man hat einfach keine richtige Beurteilungsgrundlage und das heißt, eine ganze Menge Vertrauen ist nötig in dieses Erfahrungswissen der Ärzte. In dieser Situation Misstrauen zu entwickeln in Bezug auf eine Forschungsperspektive das ist fast nicht möglich, weil man gegen sich selber arbeiten muss. Deswegen sage ich, es muss eigentlich neu justiert werden, um genau das zu gewährleisten, z.B. durch Ombudsleute, könnte man ja machen. Es gibt ganz tolle Selbsthilfevereine gerade in der Neonatologie und es gibt genügend Initiativen, wo sozusagen dann doch noch einmal ein so genannter Patientenanwalt eingeschaltet wird. Sprecherin: Mit dem Patientenanwalt könnten die Eltern dann ihre Fragen und Hoffnungen an eine mögliche Studie diskutieren. Die Ärzte würden in den Hintergrund treten. 30 Take: Bührer Unser Ziel ist, dass mehr von diesen extrem unreifen Kindern überleben. Sondern unser Ziel ist, dass die Kinder, die überleben, dass die so überleben, dass sie keinen Unterschied mehr merken. Sprecherin: Dafür ist die Spezialisierung der Kliniken so wichtig. Die aber beginnt sich in Deutschland erst langsam durchzusetzen. Zu lukrativ sind die Fallpauschalen der Krankenkassen für die Betreuung dieser Risikogruppe gerade auch für kleinere Krankenhäuser. Dadurch dass Frühchen in Neugeborenenstationen mit nur mangelhaft spezialisiertem Personal geboren werden, erhöht sich die Säuglingssterblichkeit und die Zahl weitere Komplikationen nach einer Frühgeburt. Verglichen mit anderen OECD-Staaten liegt Deutschland auf diesem Gebiet nur im Mittelfeld. 31 Take: Bührer Das liegt daran, dass man in diesen Ländern sehr viel früher erkannt hat, dass es wichtig ist, das Spezialproblem Frühgeburten in ganz wenigen Kliniken zu konzentrieren und in diesen Klinken konnte man sich auch leisten, große Teams zu bilden, um auf alles mögliche einzugehen, z.B. auch auf die Psyche der Mutter, aber wo man auch die Erfahrung hat im täglichen Umgang mit so extrem unreifen Frühgeborenen. Sprecherin: Deshalb hat der gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Kliniken und Krankenkassen im Juni 2010 beschlossen, dass Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm nur noch in speziellen Perinatalzentren betreut werden sollen. Diese Zentren müssten wenigstens die Erfahrung von 30 Fällen pro Jahr einbringen - nicht mehr nur 14 wie bisher. Wird dieser Beschluss umgesetzt, müssten ab 2011 Kliniken mit weniger Expertise eine Schwangere mit drohender Frühgeburt in eines der spezialisierten Zentren überweisen und dürften das Kind erst dann weiter betreuen, wenn sich dessen Gesundheitszustand stabilisiert hat. Damit ist der Bundesverband noch hinter der Forderung der Neonatologen und Elternverbänden zurück geblieben, die sich für eine Mindestanzahl von 50 Fällen pro Jahr ausgesprochen hatten. Trotzdem soll mit der Erhöhung der Fallzahlen die Behandlung - ähnlich wie in den nordischen Ländern- professioneller und effektiver werden. Dort sitzen schon heute alle nötigen Spezialisten Tür an Tür, mit dem Ergebnis, dass die Kinder mit besseren Resultaten gerettet werden. Statistiken zeigen, dass heute etwa ein Fünftel bis ein Drittel der extrem früh Geborenen auch im späteren Leben unterschiedlich stark behindert ist. Sie fallen vor allem häufig durch Lern- und Verhaltensstörungen auf. Atmo Gesang Sprecherin: Viele Frühchen verbringen ihre ersten Lebensmonate im Krankenhaus. In dem Zusammenhang wird vor allem darüber spekuliert, wie sich die lange Hospitalisation der Kinder, ihre lange und frühe Trennung von den Eltern und deren Schock über die frühe Geburt auf die Entwicklung und die Bindung von Kindern und Eltern auswirkt. Während man in den Anfangsjahren der Frühgeborenenmedizin noch die Eltern von ihren Jüngsten fern hielt, weiß man heute, dass gerade deren Nähe und einfühlsame Begleitung eine große Entwicklungsressource ist. Die Wärme der Eltern, deren Geduld gegenüber den Entwicklungsverzögerungen ihrer Sprösslinge scheint maßgeblich zu sein, wenn heute bereits 60 Prozent der Frühgeborenen bis zur Einschulung ihren anfänglichen Rückstand aufholen. Und wie geht es Jonatan, ein halbes Jahr nach seiner Geburt? Atmo: Wahren - zu Hause - Take 1 33 Take: Wahren Eigentlich ist er gesund. Er hat eine, das nennt man bronchopulmonale Dysplasie, d.h. seine Lunge hat natürlich gelitten unter dieser Beamtung. Da schnaufst du auch gleich noch mal. Man kann sich das so vorstellen, dass die Lunge nicht gut wachsen konnte in der Zeit und jetzt einfach hinterher hinkt und das wird nach ein paar Jahren ausgewachsen sein. Was die Infektanfälligkeit angeht, da müssen wir jetzt halt besonders auf ihn aufpassen. Manche Sachen wissen wir noch nicht. Aber das ist eigentlich bei jedem Kind so. Weiß man es, wie es wird? Das weiß man ja nie so genau, nee. 2 2