DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Feature Im Bannkreis der Flüsse. Norbert Scheuer, Schriftsteller, Mario Reis, bildender Künstler Von Burkhard Reinartz Rollen: Zitator Norbert Scheuer: Bruno Winzen Zitator Mario Reis: Thomas Balou Martin Sprecherin: Kerstin Fischer Regie: Burkhard Reinartz Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 06. Mai 2016, 20.10 Uhr Atmo 1 Flussklänge plus Musik 1: Hildur Gudnadóttar: Casting Zitator Norbert Scheuer: Wo die Kyll ruhig fließt, stehen die großen Forellen. Auf den abgerissenen herzförmigen Blättern der Pestwurz, die man bei uns auch Wilder Rhabarber nennt, liegen getötete Äschen und Barben. Wenn man die Pestwurz trocknet und raucht, bekommt man entweder Krallenfüße und schwebt wie ein Vogel, oder man wird zu einem Fisch in unserem Fluss. Sogar gegen den Schwarzen Tod soll diese Pflanze einst geholfen haben. Während ich von dem Kraut rauche, schwimmen Bisame zu ihren Höhlen im roten Lehm. Ich sehe, wie die Fischer im Morgennebel verschwinden. Im Takt einer geheimnisvollen Melodie schwingen sie ihre Ruten dabei hin und her, lassen die unsichtbaren Schnüre mit Ködern überm Wasser schweben. Aale gleiten an mir vorbei durch feuchtes Gras. Sie kommen von den Viehweiden, wo sie - wie man sich erzählt - des Nachts Milch aus den Eutern der schlafenden Kühe trinken. Von hier aus 34 Musik und atmo aus O-Ton 1 Norbert Scheuer im folgenden über Wasser-Atmo An diesem Fluss oder an der Kyll wird sehr viel geangelt. Forellen gibt es hier in rauen Mengen und meine Protagonisten stehen häufig an diesem Ufer. 7 Wenn man sagt, Kyll, ist das noch nicht mal richtig. Es wird eigentlich in jedem Dorf anders ausgesprochen. Mal heißt es Kill, dann Kall, die Kie-el, jedes Dorf hat sozusagen die eigene Bezeichnung für den Fluss. Atmo : Fluss O-Ton 2 Mario Reis Nachdem das Amerikaprojekt nach fünfzehn Jahren abgeschlossen war, hatte ich erst mal überhaupt keine Naturaquarelle gemacht. In den USA waren ja Riesen-Landflächen, wo ich allein 380.000 Kilometer mit dem Auto gefahren bin und hier in der Eifel ist das sehr überschaubar, aber durch die Dichte der kleinen Bäche ist das genauso spannend, mal so ein Projekt in Angriff zu nehmen Zitator Mario Reis: Ich wollte Flüsse nicht illusionistisch abbilden, sondern zeigen, was die Flüsse wirklich ausmacht und was sie einzigartig macht. So sind diese abstrakten Farbmalereien entstanden, die aber realistischer nicht sein könnten, denn es ist tatsächlich der jeweilige Fluss in seiner Substanz. Sprecherin: Im Bannkreis der Flüsse - Norbert Scheuer, Schriftsteller; Mario Reis, bildender Künstler Ein Feature von Burkhard Reinartz Zitator Norbert Scheuer: Der Siebenuhrzug nach Köln fährt vorbei, die Erschütterung überträgt sich von den Gleisen auf den Bahndamm und das Wasser. Die Bahntrasse folgt dem Flusslauf der Urft, danach der Kyll. Auf der Strecke zwischen Gerolstein und Trier fährt der Zug alle zehn bis fünfzehn Kilometer durch einen Tunnel. Das Tal ist an manchen Stellen so eng, dass kein Platz mehr für die Bahntrasse blieb. Reese hatte einmal gesagt, vor dem Bahnbau sei die Eifel ein armes und einsames Land gewesen. 41 O-Ton 3 Norbert Scheuer 17 In "Überm Rauschen" strukturieren die an- und abfahrenden Züge quasi den ganzen Roman. Ein Zug kommt an, dann geschieht irgendwas, dann fährt er weiter und es geschieht etwas anderes. Atmo Wasser Zitator Norbert Scheuer: Im Wasser spiegeln sich Wolken, ich sehe meinen Schatten in anderen schimmernden Schatten und werfe den Köder. Zehner hat immer behauptet, das alles, was jemals geschehen sei, im Fluss treibe. Wenn sich irgendetwas am Fluss ereigne, sei es nur ein Räuspern, würde es vom Wind in den Fluss getragen, vom langsam dahin ziehenden Wasser aufbewahrt. Jeder Hauch, jedes Flüstern, der Fluss speichere alles, wie ein unendlich großer Seismograph. 44 O-Ton 4 Norbert Scheuer O-Töne vorläufig immer unter Flussatmo 23 Für mich hat der Fluss schon die Bedeutung von einem Medium, das in der Lage ist, viele Sachen zu speichern, auch wenn es nur Imagination ist. Nur ist es so, indem man einen Fluss sieht, die Strömung sieht und sich quasi über die Bewegung zurück versetzt fühlt, in das, was man erlebt hat, besonders, wenn man wie ich an einem Fluss aufgewachsen ist...Und insofern verbindet der Fluss einen mit Vergangenheit und Zukunft und er verbindet einen mit der ganzen Welt - was für mich ein faszinierender Gedanke ist, dass man an einen Fluss steht, auch wenn's noch so ein kleines Gewässer ist, der irgendwann im Meer mündet. Man ist an einem Fluss in gewisser Weise überall. Und das ist für mich die Faszination des Flusses, Sprecherin: Norbert Scheuer, Jahrgang 1951. Geburtsort: Prüm in der Eifel. Studierte Physikalische Technik und später Philosophie mit einer Abschlussarbeit über Immanuel Kant. Der Schriftsteller hat zwei Gedichtbände sowie sechs Romane veröffentlicht und etliche Literaturpreise erhalten. 2009 stand er mit dem Roman "Überm Rauschen" auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, 2015 mit dem Roman "Die Sprache der Vögel" auf der Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse. Im Jahr 2014 übernahm Scheuer die Thomas-Kling-Poetik-Dozentur an der Universität Bonn. Er arbeitet halbtags als Systemprogrammierer und lebt seit Jahrzehnten im Eifeldorf Kall-Keldenich. Zitator Norbert Scheuer: In der Strömung treiben auch Erinnerungen und Träume vorbei, es gibt keinen Unterschied zwischen unseren Vorstellungen und der Wirklichkeit. Alles sinkt irgendwann auf den Grund des Flusses, ins Alleinsein. Vater sagte immer, dass man nur allein richtig fischen könne. Erinnern kann man sich auch nur allein, so ist der Grund und die Tiefe von allem das Alleinsein. O-Ton 5 Norbert Scheuer 26 Das Alleine ist sehr, sehr wichtig. Man muss sich irgendwann über das, was man weiß oder nicht weiß - eher über das, was man nicht weiß - klar werden und das kann man aus meiner Erfahrung nur, wenn man...alleine ist. Es gibt unterschiedliche Strategien, das zu machen. Man kann sich zurückziehen und dann da sitzen und über sein Leben nachdenken. 27 Die viel schönere Variante des Alleinseins ist das Wandern, das Spazieren gehen, das am Fluss sein, was diesen großen Vorteil bietet, dass man unterwegs ist und doch nicht unterwegs. Und deswegen faszinieren mich Flüsse. Durch den Klang der Wellen und was auf Ihnen treibt, durch die Reflexion auf dem Wasser und dass sie auch das Vergängliche in sich tragen, in dem irgend etwas, was auf sie fällt, ein Stückchen treibt und vielleicht das ist, nach dem man sucht. Atmo Wasser O-Ton 6 Mario Reis incl. Atmo 5/6 mit Wasseratmovorlauf: Mittlerweile bin ich am Michelbach angekommen, im kleinen Dorf Michelbach, das ist ein Vorort von Gerolstein und hier werde ich das nächste Naturaquarell vorbereiten, in dem ich einen Keilrahmen im Wasser installiere... Ich such mir jetzt eine Stelle, Gehgeräusche im Wasser 7 Der Keilrahmen, der jetzt ins Wasser kommt, da ist noch kein Tuch drauf, weil ich möchte nicht, dass sich da schon Partikel auf der Leinwand ablagern in dem Zeitraum, wo ich den Keilrahmen im Wasser fixiere. laute Schritte im Wasser O-Ton 7 Mario Reis 8 Das Tuch auf dem Keilrahmen ist nicht präpariert. Es handelt sich tatsächlich um einen weißen Baumwollstoff- Schritte11 Der Keilrahmen ist jetzt im Wasser installiert und an verschiedenen Ecken hab ich Steine befestigt, oben drauf gelegt, damit das Tuch immer unter Wasser bleibt. Denn wichtig ist ja bei der ganzen Aktion, dass das Wasser über das Tuch strömt und dadurch die Sedimente und die natürlichen Pigmente sich auf dem Tuch über mehrere Tage absetzen können. Atmo Fluss O-Ton 8 Mario Reis 17 Ich hab jetzt noch einen Stein auf den Keilrahmen gelegt, um die Strömung umzuleiten, weil -- das Wasser muss jetzt um den Stein herum fließen und hinterm Stein auf dem Keilrahmen wird das Wasser dadurch langsamer. Und weil das Wasser langsamer wird, können sich da eher die Partikel absetzen als da, wo das Wasser direkt über die Leinwand fließt. Sprecherin: Mario Reis, Jahrgang 1953, geboren in Weingarten, Baden-Württemberg. Studierte von 1973 bis 1978 an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. Dort zwei Jahre Meisterschüler von Günther Uecker. Studienaufenthalt in Paris. Bekannt wurde Reis durch seine Naturaquarelle, die er über viele Jahre hinweg auf Reisen durch die Kontinente schuf. Seine Werke hängen in vielen öffentlichen Sammlungen von Dresden bis Kyoto. Typisch für Mario Reis ist der Prozesscharakter seiner Arbeiten. Im Moment lebt der Künstler im Eifeldorf Michelbach bei Gerolstein. O-Ton 9 Mario Reis unter Wasseratmo 12 Ich habe hier in der Vulkaneifel gearbeitet, im Kreis Bitburg-Prüm und im Kreis Euskirchen bis jetzt. Und im jeden Kreis sind bisher 160 Arbeiten entstanden was schon aussagt, wie wasserreich diese Region hier ist. Und die Farben sind sehr erdig, haben nicht so Töne wie in Amerika , wo Gelb- oder Grüntöne sind, es sind eher warme Töne und meistens eher der Landschaft entsprechend, dass es eher Erdfarben sind. 23 Für mich ist es immer sehr überraschend, wenn ich durch die Eifel wandere, um Bäche und Flüsse zu suchen, obwohl es Kulturlandschaft ist, wie romantisch es manchmal aussieht. Obwohl ich nicht auf der Suche danach bin, ist es jedes Mal auch berührend Zitator Mario Reis: Meine Arbeiten lassen sich nicht eindeutig zuordnen. Die Naturaquarelle berühren Farbfeldmalerei, Arte Povera, abstrakte Kunst, konzeptuelle Kunst, Prozesskunst und realistische Malerei; deswegen ist Land Art einfach zu kurz gegriffen und kann die verschiedenen Bedeutungsebenen der Naturaquarelle gar nicht fassen. Zitator Norbert Scheuer: Plötzlich, noch bevor ich richtig begriff, was Hermann mir zurief, brach ich krachend ein, versuchte vergebens mich am Rand festzuhalten, rutschte ab, tauchte unter, die starke Strömung drückte mich sofort unter die Eisdecke. Zuerst war mir kalt, als würde ich lebendig eingefroren, dann schwebte ich in schillernden Farben durch die blitzenden Pfeilscharen, die sich im Eis brachen. Mein Bruder rannte zu den Stromschnellen. Er nahm an, ich würde dort wieder zum Vorschein kommen. Ich wollte nicht gerettet werden, war glücklich, nie mehr so glücklich wie in diesem Moment. Ich blieb in der Mitte des Flusses an den Zweigen eines Baumes hängen, seltsame Fische schwammen um mich herum, weiter entfernt lauerte der "Alte Fisch" und glotzte neugierig zu mir herüber. Ja - ich habe ihn gesehen - vielleicht war es aber auch nur eine Halluzination, welche Rolle spielt das schon? 104 O-Ton 10 Norbert Scheuer 31 Das ist, zum großen Teil, glaube ich, die Funktion von Literatur, dass sie die Hässlichkeiten und dasjenige, was man im Leben nicht aushält, in einer Weise darstellt, dass es aushaltbar ist. Homer hat gesagt: "Jegliches Leid wird noch ein Lied". Ich glaube, dass das diese Situation ausdrückt. Flussatmo O-Ton 11 Mario Reis 15/16 Flüsse sind für mich die Lebensadern der Welt und ohne Flüsse und Wasser würde es hier auf diesem Planeten überhaupt keine Leben geben. Als ich in Paris studiert habe, da kam mir die Idee, mit den Flüssen zu arbeiten, da hab ich mir ein Konzept ausgedacht, dass das eine Interaktion ist zwischen dem Künstler und dem Fluss und der Fluss sein Selbstportrait malt. Kurze Endatmo immer zum Anschluss an den Folge-O-Ton nutzen Zitator Mario Reis: Mario Reis: Manifest, Paris 1977 Das Wasser bekommt die Möglichkeit, sein Wesen abzubilden es nimmt auf das tuch es tränkt das tuch es umschließt das tuch es durchdringt das tuch es überflutet das tuch es trägt das tuch es peitscht das tuch Zitator Norbert Scheuer; Wir öffneten abends das Fenster und das Rauschen flutete in unser Zimmer, der Fluss schmeckte nach Pflaumen, reifen Äpfeln, roch nach schleimigen Kuhnasen, nach einem Sack ertränkter Katzen, nach Nebel und Abenteuern, für die es keine Sprache gab, Dinge, die uns stumm machten wie Fische. 34 weiter Musik plus Flussatmo O-Ton 12 Norbert Scheuer 43 Wenn man aufs Wasser blickt, kann man überhaupt nicht daran denken, dass irgendetwas eindimensional ist, weil das Wasser, besonders Flüsse so vielfältig sind, so viele Strukturen haben, unterschiedliche Seinsebenen. 44 In meinem Roman "Überm Rauschen" charakterisiert der Fluss diese unterschiedlichen Ebenen. Einmal das, was über dem Wasser sich abspielt, was sich im Bewusstsein der Personen hinter der gesellschaftlichen Realität abspielt. So gibt es auf der einen Seite die Oberfläche des Wassers, was spiegelnd ist und auf der anderen Seite gibt es das, was unter der Oberfläche ist. Und diese beiden Ebenen, dasjenige was sich zeigt und das, was verborgen ist, ist beim Wasser als Metapher sehr deutlich. O-Ton 13 Mario Reis unter atmo Fahrgeräusch im Auto 30 Heute ist Freitag, wahrscheinlich werde ich am Sonntag wieder an die Stelle zurückfahren und dann das Tuch aus dem Wasser holen. Und das ist auch der entscheidende Moment, dass ich beim Herausnehmen des Tuches nichts verändere. Wenn ich was verändern würde, zum Beispiel, wenn die Struktur verrutscht, dann wär das Tuch nicht mehr so wie es vom Wasser gemacht wurde und ich würde es auch nicht nehmen. Es geht auch nicht, wenn ich das Tuch entnehme und sage, so gefällt es mir nicht, dass ich das Tuch wieder rein lege. O-Ton 14 Mario Reis mit Vorlauf Gehen Treppen/Türe 33 Wir sind jetzt bei mir im Haus und an der Wand hängt eine Arbeit aus den USA, aus Californien und der Fluss heißt West Sulphur Creek. Das Material, das da drauf ist, ist gelber Schwefel und das ist auch tatsächlich in dem Bach. Und wie man sehen kann, sind die Strukturen leicht wolkig, vom hellen Gelb zieht es ins Orange rein und am Ende der Leinwand verdichtet sich die Ablagerung und wird etwas dunkler. 34 Je nachdem wie groß die Arbeiten sind, werden sie als Tuch an die Wand gehängt, sie können aber auch gerahmt werden. 35 Und hier diese Arbeit aus Western Vulcanic ist ungefähr 1.10 mal 1.10 groß und das ist auch so das Format, das ich normalerweise als größtes Format nehme. O-Ton 16 Mario Reis 40 Hier hängt ein Block, der besteht aus neun Arbeiten. Alle neun Arbeiten sind vom gleichen Bach und wenn diese Tücher fixiert sind, dann gestalte ich ein Gesamtbild, eine Gesamtkomposition. Zitator Norbert Scheuer: Die feinen Spuren auf dem Tuch stammen vielleicht von Wasserschnecken, die über den Stoff gekrochen sind, vom Rumpf eines Insekts, vom Flossenschlag eines Fisches. Selbst Reflexionen einzelner Wolken glaubt man in den Bildern zu erahnen, wenn Mario Reis seine Leinwände wie ein Fischer seine Netze aus dem Fluss gezogen hat. Seine Bilder vermitteln den Eindruck, dass jeder Partikel und jedes Pigment exakt an einer dafür vorgesehenen Stelle, für die es keine Alternative gibt, platziert ist, alles fügt sich zu einem stimmigen ästhetischen Ganzen - tausende von unlösbaren Rätseln, die Kunst braucht, um Kunst zu sein. O-Ton 17 Mario Reis 43 Schritte Vorlauf Eigentlich ist das bei meinen Arbeiten in verschiedenen Werkgruppen so: Es gibt eine Idee und diese Idee arbeite ich aus und versuche dann ein Medium zu finden, was mir hilft, diese Idee zu realisieren. So wie das Wasser sein eigenes Portrait malt oder der Zug sich manifestiert auf einem Baumwollstoff oder einem Holz, hängen hier Arbeiten, die nenne ich "Oxidation". Das sind meistens Grüntöne, aber diese Grüntöne waren vorher überhaupt nicht da, die sind entstanden durch den Prozess beim Arbeiten. O-Ton 18 Norbert Scheuer 54 Wenn ich den Roman "Überm Rauschen" zusammen fassen würde, würde ich sagen, dass die Essenz des Romans ist, dass ein junger Mann nach langer Zeit nach Hause in sein Heimatdorf kommt und dort am Fluss steht, darüber nachdenkt, wie seine Jugend verlaufen ist und wie das das Leben eventuell hätte anders verlaufen können. Zitator Norbert Scheuer Blitze zuckten über dem Tal, alles schien wie elektrisiert. Wir schlängelten uns wie Aale im Wasser. Alma war bei uns. Sie trug einen schwarzen Badeanzug, von dem das Wasser abperlte. Sie hatte bei Gewitter Angst ins Wasser zu gehen, hockte meist unter einem Baum und las in Groschenheften. Almas Brüste waren schon damals groß, ihre Haut leuchtete weiß und auf der Innenseite ihres linken Oberschenkels verbarg sich ein schwarzes Muttermal. 59 O-Ton 19 Mario Reis 49 Goethe hat ja geschrieben: "Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser." Und das sagt ja schon viel aus. Wenn ich sage, das Wasser malt sein Selbstportrait, dann ist das ja fast schon eine Personifizierung des Wassers. O-Ton 20 Mario Reis 52 Es gibt da ein schönes Beispiel von William Turner: das Bild mit dem Schiffbruch. Das ist ein ganz fantastisch gemaltes Bild, aber es ist natürlich im Endeffekt kein Schiffbruch, es ist die Illusion von einem Schiffbruch. Zitator Mario Reis: Ich wollte Flüsse nicht illusionistisch abbilden, sondern zeigen, was die Flüsse wirklich ausmacht und was sie einzigartig macht. So sind diese abstrakten Farbmalereien entstanden, die aber realistischer nicht sein könnten, denn es ist tatsächlich der jeweilige Fluss in seiner Substanz. O-Ton 21 Norbert Scheuer G II 14 Das wurde für mich erst wirklich interessant, als ich erfahren habe, dass er das schon seit Jahrzehnten macht. Diese Konzentration auf eine Sache, mit dieser Beharrlichkeit und das immer wieder zu machen, das ist für mich, was Kunst auszeichnet, was den Künstler auszeichnet: sein Thema zu suchen und es zu verfolgen, gnadenlos, immer weiter. O-Ton 22 Mario Reis 57 Für mich muss ein Kunstwerk nicht schön sein, es muss eigenständig sein, eine eigene Kreativität, einen eigenen Gedankengang haben. Wenn das Bild dann ästhetisch ist, dass man sagt, ich empfinde es als schön, dann ist das auch gut, aber ein Kunstwerk hat nicht die Aufgabe schön zu sein. Es ist ja interessant, dass in diesem Prozess, den ich da in Gang setze, dass da sehr viel auch Zufall mitspielt, ...dass es zum Beispiel anfängt zu regnen und dadurch die Strömung im Wasser ganz anders wird als es vorher geplant war. Zitator Mario Reis: Als ich 1977 mit den Naturaquarellen anfing, wuchs erst allmählich das Bewusstsein für unsere Umwelt und ihren desolaten Zustand. Aber ich bin kein Öko-Apostel und Kunst kann es auch nicht sein. Ich für meinen Teil habe große ökologische Bedenken, aber das wäre nie ein Grund für mich, einen spezifischen Fluss auszusuchen. Ich muss mich in den Ort, den Fluss, die Farben verlieben Atmo Fluss: Zitator Norbert Scheuer: Vater wollte uns alles über das Fischen beibringen. Für ihn war fischen das Leben, in dem er allerdings immer nur verlor. Fischen sei List, Geduld, geheimnisvolle Grausamkeit, Schönheit und Glück. 22 O-Ton 23 Norbert Scheuer 48 Wenn ich angle, bin ich ganz in der Sache. Und diese Tätigkeit ist nur darauf fixiert, den Fisch zu fangen. Das ist gerade das Schöne bei Sachen, die man ganz intensiv macht, das man an nichts anderes denkt. Der Fluss und die Schönheit der Dinge spielen in dem Moment keine Rolle. Die spielen erst dann eine Rolle, wenn man darüber nachdenkt, wenn man darüber schreibt. Und natürlich nimmt man das alles in diesem Moment wahr. Es ist ist genauso wie jemand, der eine Felswand hoch klettert. In dem Moment macht er nichts anderes als einen sicheren Griff zu finden, um dann oben anzukommen. Musik 7: Hildur Gudnadóttir: Casting tr 3 O-Ton 24 Norbert Scheuer 49 Fische sind für mich eine ganz andere Spezies, die wir eigentlich gar nicht verstehen können, weil sie in einem anderen Medium leben. Und trotzdem sind wir in gewisser Weise mit ihnen verbunden, denn das Leben ist im Wasser entstanden, nur wir können nicht wirklich verstehen, was sie empfinden. Darin liegt eigentlich auch der Reiz, wenn man sie zum Gegenstand der Literatur macht. Dass es etwas fremdes ist, das man in einen menschlichen Beziehungskosmos hineinstellt. Zitator Norbert Scheuer: auf dem stillen Wasser der Kyll Spuren Bewegungen von Mücken und Wasserläufern andere Welt in anderem Geist den ich nicht mehr finde erstickte Fische im Nebel eingewickelt in Blätter wilden Rhabarbers ihre Augen glasig verquollen wir trugen sie herum bis ihre Schuppen in unseren Händen glitzerten weißbäuchige tote Fische Zepter im Wasser Könige die einmal über uns richten werden Bis ich dies alles liebte .Gedichte 72 O-Ton 25 Mario Reis 67 Nachdem das Amerikaprojekt nach fünfzehn Jahren abgeschlossen war, hatte ich erst mal überhaupt keine Naturaquarelle gemacht. Es war Zeit, mal andere Dingen zu machen. Als ich mich dann vorbereitet hatte, ein Projekt zu realisieren, da war zuerst Neuseeland im Gespräch, hab mich aber dann für die Eifel entschieden, weil hier auch sehr viel Wasser fließt. Ich bin jetzt drei Jahre dabei, aber ich denke, es wird noch weitere sieben Jahre dauern, dieses Projekt zu realisieren. Atmo / O-Ton-Block 26 Ankunft Nobert Scheuer in Michelbach G I Kaffeetassengeräusche: Reis: Wettermäßig ist das heute super. Es wird Frühling und gut ist. Kaffeetassengeräusche 93 Reis: "Möchte noch jemand Kaffee? 94 Scheuer: "Ja, gerne. Hat er das erzählt? Das war genial: Ich lief an der Urft entlang, in die Urft münden viele kleine Bäche und da seh ich da jemanden in nem Bach stehen mit ner Leinwand und bin zu ihm gegangen und hab ihn zu erst mal nur gestört. Er hat dann gesagt: Moment mal, ich muss erst mal meine Arbeit fertig machen. Dann kam er zu mir und hat erzählt, was er macht. Und da war für mich sofort etwas wie ne Freundschaft da" Reis: 98 Da entstand ein Eifler Freundschaftsverhältnis. Scheuer: 99 Aber zuerst war es so, dass du mich despektierlich behandelt hast, weil du einfach in deiner Arbeit gestört warst. Scheuer: 105 Das Schöne an deinen Arbeiten ist ja, dass sie auf der einen Seite ganz konkrete Orte sind und Orte, die gar nicht existieren, die sozusagen ein Abziehbild eines ganz bestimmten Momentes sind und dann auch schon wieder nicht sind. Und das ist faszinierend. Im Grunde ist das ein ganz philosophischer Ansatz. Zitator Norbert Scheuer: Heimat ist ja so ein Begriff, der negativ besetzt ist. Er kam auf mit der Industrialisierung, als die ländliche Bevölkerung zum Arbeiten in die Stadt ging. Dagegen hat man dann die Idylle des Landlebens geschaffen und propagiert. Das hatte dann immer so etwas Verherrlichendes. Dieses Bild hat sich in Deutschland gehalten. In Amerika spielen fast alle großen Romane auf dem Land, da wird Heimatliteratur anders wahrgenommen...Das, was ich in meinen Romanen beschreibe, ist ja nicht die Eifel als Heimatort, sondern die Eifel als literarischen Ort. O-Ton 27 Norbert Scheuer 107 10 S Ein Ort, an dem ich mich wohlfühle, wo ich die Leute kenne, mit denen ich umgehe und wo ich die Strukturen kenne. Das ist so ein oberflächlicher Begriff von Heimat...Viel bedeutender ist, dass Heimat auch immer ein Ort ist, zu dem man hinstrebt, von dem man vielleicht in frühester Jugend, als man noch gar nicht reflektiert hat, eine Ahnung bekommen hat und zu dem man unterwegs ist. Heimat ist Ziel. 108 Ich glaube, dass Heimat immer etwas mit Sehnsucht zu tun hat, sonst würde man nicht dahin aufbrechen, und diesen Sehnsuchtsort erreichen wollen....Für mich ist es so, dass sehr viele Eindrücke und Bilder auf Jugenderlebnisse zurück gehen. Und die sind uneinholbar. Insofern ist Heimat eine Sehnsucht, etwas, was man nie erreichen kann. Ein Ort, zu dem man immer unterwegs ist. O-Ton 28 Mario Reis 82 Heimat, ja was ist für mich Heimat? Ich kann das gar nicht so klar ausdrücken wie Norbert. Für mich ist Heimat immer da, wo ich mich wohl fühle. Und dann ist das auch egal, ob das im Ausland ist oder in Deutschland, nicht der Ort, wo ich geboren wurde und auch nicht der Ort, wo ich jetzt lebe. 69 Unterwegs zu sein, hat natürlich auch eine gewisse Freiheit, aber das darf man sich nicht so romantisch vorstellen, wenn man in einem Dreieinhalb-Tonnen-Transporter für ein halbes Jahr lebt. 70 Ich kann es aber auch genießen. 71 Die ganze Arbeit ist eigentlich nomadenhaft, weil ja immer von Ort zu Ort gefahren wird, um dort zu arbeiten. O-Ton 29 Mario Reis 68 Ich frag mich oft, was ist das Schöne am Landleben? Ich bin ja eigentlich ein Städter. Ich habe vierzig Jahre in Düsseldorf gelebt und hab sehr gerne dort gelebt, ich hab auch zwei Jahre in Paris gelebt und habe es auch genossen. Auf den Reisen bin ich ja auch oft in Großstädten. 79 Eine Stadt wie Düsseldorf bietet natürlich alle kulturellen Angebote, aber auch dieses riesige Angebot an Lokalitäten. Ich geh gerne essen und da ist ne Stadt wie Düsseldorf natürlich hervorragend. Jetzt, wo ich hier bin, ist unsere größte Attraktion der Briefkasten. 81 In Düsseldorf ist der riesige Unterschied gegenüber dem Land, das ich da verstärkt kulturelle Angebote wahrnehmen kann, die hier gar nicht da sind. Hier sind eher die Kettensägen und die Traktoren im Vordergrund. Musik 8: Mette Henriette: so tr 1 Zitator Norbert Scheuer: Fortgehen so wie die Vögel fliegen gelernt haben am Straßenrand stehen mit dem ersten mitfahren, der anhält laute Rockmusik aus einem blauen VW-Bus ein Mädchen im Schneidersitz am Lagerfeuer Traktorspuren die in Pfützen enden vertrocknete Meerlandschaft hingegeben dem Vergessen Musik aus dem Inneren der Hügel wo die Paläste der Zauberinnen sind nie mehr wünschen als man vom Leben erfüllt bekommt. Dorf, das ich nicht verlassen werde Bis ich dies alles liebte .Gedichte 91 O- Ton 30 Norbert Scheuer Bezogen auf meine Gedichte und Geschichten ist es so, dass der Künstler die Möglichkeit hat, so etwas zu imaginieren. Er muss nicht nach einem Ort suchen, der real ist, sondern er kann sich in der Literatur danach aufmachen. 110 Wenn ich Gedichte schreibe, habe ich nicht vor, eine Idylle aufzubauen oder zu zerstören. Das ergibt sich zwangsläufig aus den Erfahrungen, aus dem, was ich weiß und wie ich die Welt interpretiere. Dabei kommt dann heraus, dass eine Heimatliteratur entsteht, die nichts mit Heimatliteratur zu tun hat. Es wäre vollkommen an der Wirklichkeit vorbei, wenn das ne Idylle ist. O-Ton 31 Mario Reis 74 Ich hab mich hier eingerichtet, um das Eifelprojekt zu realisieren und ich weiß, dass es ungefähr zehn Jahre dauert. Ob ich danach noch in der Eifel bleibe, weiß ich nicht. Ich weiß, dass es wie Düsseldorf eine Basisstation bleiben wird. 75 Man kann ja auch an verschiedenen Orten leben, man muss ja nicht an einem Ort bleiben. 77 Zum Beispiel Norbert Scheuer, der sehr mit seinem Kall verbunden ist: ich find das faszinierend, weil er etwas verkörpert, was ich nicht habe und ich glaube, er fühlt sich da so wohl und auch eingebunden, dass er so zufrieden da ist, er genießt es auch, diese Heimat so zu erleben. Bei mir ist das nicht wichtig, aber ich finde es schön, dass Leute das so können. Ich kann's einfach auch nicht. Vielleicht ist das meine innere Unruhe. Das ist dieses Nomadenhafte, dass ich mich wieder auf die Socken mache. Zitator Norbert Scheuer: Container auf Abstellgleisen stündlich vorbeifahrende Züge Richtung Stadt in der ich seit Jahren nicht mehr war, die ich endgültig verlassen habe um hier zu gehen auf dem Pfad zwischen Fluss und Bahndamm bis zur Gastwirtschaft und wieder zurück über den Parkplatz des Supermarktes wo Jungen Kunststücke vollführen schön und schwachsinnig zugleich wie ein Gedicht. Atmo Gehen aus Zitator Norbert Scheuer: Leute aus umliegenden Ortschaften steigen aus Autos holen Einkaufswagen schieben zur Drehtür des Supermarkts zum Getränkemarkt in der Lagerhalle der ehemaligen Molkerei Bis ich dies alles liebte .Gedichte Atmo Café / Stimmen tr 63 20 Sek O-Ton 32 Norbert Scheuer: G II Für mich war in meiner Literatur immer die Dorfgaststätte immer ganz wichtig, weil da die Leute zusammen gekommen sind, miteinander geredet haben. Von da ausgehend konnte man sozusagen den ganzen Kosmos einer ländlichen Umgebung beschreiben. Das hat sich mittlerweile aber sehr geändert. Es gibt kaum noch diese Dorfgaststätten. start Caféatmo Verschoben hat sich das in meiner Literatur zu einem ganz bestimmten Café, einem Supermarktcafé, wo ganz bestimmte Leute zusammen kommen aus einer Region. Von da aus kann ich da so einen Kosmos entwickeln. Atmo aus O-Ton 33 Norbert Scheuer 130 In gewisser Weise ist Heimat bei mir ein Un-Ort, ein Ort, wo sich Leute treffen und gar keine richtigen Bindungen mehr haben, sie treffen sich einfach dort. 131 Der Ort Kall ist so ein Un-Ort, ein Ort, zu dem sich keiner wirklich hin sehnt. Und insofern denke ich, habe ich den Begriff Heimat für meine Literatur neu erfunden. Zitator Norbert Scheuer: Das Dorf ist ein erfrorener Dachs, der den Ginster blühen hörte und das Knacken der überreifen platzenden Schoten von hier aus 22 O- Ton 34 Norbert Scheuer 113 Ich kann mir gar nicht vorstellen, über einen Gegenstand zu schreiben, den ich nicht kenne, über den ich keine Bilder besitze...Diese Bilder haben für mich ihren Ursprung in einem ganz konkreten Erlebniskern und deswegen bin ich auch gebunden an eine Landschaft, in der ich wohne, in der ich aufgewachsen bin, und in der ich sehr viel kenne. 14 Ich muss auch Wege immer mehrmals gehen. Es ist mir nicht möglich, wenn ich einmal irgendwo gewesen bin, das in den Kosmos meiner Geschichten aufzunehmen, ich muss immer wieder dorthin gehen und irgendwann ist das ein Teil von mir und dann kann ich beginnen. Zitator Reis: Mir geht es nicht um eine Dokumentation von Phänomenen. Mir geht es um Malerei und um sinnliche Erkenntnis, die oft unmittelbarer und nachhaltiger ist als der Versuch, alles intellektuell zu erarbeiten. Wenn die Arbeiten gut sind, also kraftvoll, energiegeladen und konzentriert, verschieben sie die Wahrnehmung, und der Intellekt folgt dann sowieso. Kunst ist eine Sprache wie Musik oder Literatur, der man sich nähern muss, um sie zu verstehen, genauso wie eine Fremdsprache. Das fängt mit der Grammatik an und Kunst hat eben auch eine Grammatik. Zitator Norbert Scheuer: Ein Schriftsteller macht ja im Grunde nichts anderes als das: Es verwandelt die Bilder, die er im Kopf hat, in Sprache. Es gibt verschiedene Arten von Schriftstellern. Die einen legen vor allem Wert auf die Dialoge, die anderen auf die Handlung, wieder andere auf die Reflexion. Ich beschreibe. Zitator Norbert Scheuer: Tief im Kalksteinbruch schimmert ein grüner See. Die Bäckereiverkäuferin im Supermarkt wischt kurz vor Ladenschluss über die roten Plastiktischdecken auf den Stehtischen. Ein Windstoß weht welke Blätter von der Treppe der Gemeindeverwaltung. Vom Schlafzimmerfenster blickt eine Frau über das Garagendach auf die verlassene Bahnhofstraße. Sie träumt von einem Pferd, viel zu schön, um es zu reiten. Gestern wurden die Uhren auf Winterzeit umgestellt. Über Nacht wuchsen auf den Schlehdornhecken Eiskristalle Von hier aus 52 O-Ton 35 Norbert Scheuer Manchmal stelle ich mir vor, ich müsste mal eine Weltreise machen und all das kennenlernen, was ich nicht kenne und ich kenne sehr viel nicht. Aber dann denke ich mir wieder, ich kann genauso in einem kleinen Ort in der Eifel bleiben und von da aus alles erkunden. Einmal hab ich meine Gedichte und meine Literatur dazu und ich bin in meiner Jugend eigentlich viel gereist. Als kleiner Junge von einem Eifeldorf zum anderen. Und im Grunde war es jedes mal eine neue Welt. Musik 11: Mette Henriette: Beneath you tr 6 Zitator Norbert Scheuer: Etwas fehlt immer das Dorf in dem wir wohnen liegt auf einem Hügel es gibt hohes Gras Ginster der im Frühsommer blüht meine Eltern wohnten hier auch die Eltern meiner Eltern ich dachte immer dass es woanders mehr gibt wenn ich zu den Sternen sah wusste ich nie ob ich fortgehen oder bleiben sollte es dauerte bis ich dies alles liebte. Bis ich dies alles liebte .Gedichte O- Ton 37 Norbert Scheuer Ich glaube, dass es sehr lange gedauert hat, bis ich mit meinem Leben zufrieden war. Das Leben läuft meist so ab, dass man zuerst mal sehr unzufrieden ist mit der Situation in der man lebt, auf dem Land wird's irgendwie deutlicher. Man lebt irgendwo und will raus, ganz woanders hin. Irgendwo anders spielt sich das Leben ab, nur nicht da, wo man ist. Und während einer Entwicklung erkennt man irgendwann, dass das alles eine Chimäre war, dass man genauso gut an dem Ort, wo man gewesen ist, glücklich sein kann und diesen Prozess meine ich damit. Es lohnt eigentlich gar nicht so weit weg zu gehen, man sollte eher diese Zufriedenheit in sich selbst suchen. Zitator Norbert Scheuer: Sohle des Steinbruchs vom Wind aufgeblätterte Illustrierte alte Autoreifen blaue und weiße Skabiosen Wanderfalken suchen ein neues Jagdreviert noch jung doch mir schon überlegen an Stille, Beharrlichkeit sind weit gereist viel weiter als ich der ich mich für immer an diesem Ort eingerichtet habe, Bis ich dies alles liebte Ged 43 O-Ton 38 Norbert Scheuer 133 Wenn ich an die Figuren in meinen Romanen denke, "Überm Rauschen" oder "Kall, Eifel", dann sind die Personen immer auf der Suche nach etwas. Entweder sie wollen die Enge verlassen und raus in die Welt oder sie haben sich damit eingerichtet, dass sie bleiben und wählen irgendeine Lösung, um mit dem Leben zurecht zu kommen, dass heißt, sie werden skurril, entwickeln irgendwelche Besonderheiten, ein Ziel oder eine Idee, hinter der sie her rennen wie Praden, der wie ein Verrückter sich aufmacht nach Steinen zu suchen oder sie werden fanatische Angler. Es geht darum, irgend etwas zu finden, mit dem sie über die Runden kommen in irgendeiner Art und Weise. Diejenigen die weggehen, machen natürlich genau das gleiche, aber die sind nicht in meinem Fokus, weil ich über Leute schreibe, die da geblieben sind. Atmo Wasser (Wehr) Zitator Mario Reis Mario Reis: Manifest, Paris 1977 das Wasser wiegt das tuch es schleudert das tuch es wiegt das tuch es verschleiert das tuch es vereint sich mit dem tuch es verwandelt das tuch es gibt dem tuch einen teil von seinem wesen O-Ton 39 Norbert Scheuer 2 Im Roman "Überm Rauschen" wird die Geschichte erzählt von einer Familie, die an einem Wehr lebt. Dieses Wehr wird "der Rauschen" genannt. Und die Kinder liegen nachts in ihrem Zimmer und hören dieses Rauschen. Dieses Rauschen bezeichnet in dem Roman nicht nur das Rauschen des Wehrs, sondern die Stimmen, die in den Dörfern zu hören sind, sozusagen eine Grundierung des Lebens. Atmo weißes Rauschen O-Ton 40 Norbert Scheuer 3 Es ist vielleicht so zu verstehen wie der physikalische Begriff des Rauschens, der keine direkten Aussagen über Wirklichkeit macht, sondern nur sagt, es gibt eine Grundinformation von allem. Und in diesem Roman hab ich versucht, mit diesen Bedeutungen zu spielen, also Stimmen aus dieser Gegend übereinander zu legen und daraus ne Geschichte zu machen: der Familie, des Ortes und der Eifel. Zitator Norbert Scheuer: In der Früh wehen die Kirchenglocken über die Hügel Kühe mit Wimpern von indischen Tänzerinnen die Markierung der Bolzen auf der Stirn Bis ich dies alles liebte Gedichte 18 O-Ton 41 Norbert Scheuer 6 Wir nehmen für unser alltägliches Leben so etwas wie eine reale Wirklichkeit an, mit der etwas substantielles korrespondiert. Auf der anderen Seite ist es so, wenn ich philosophisch darüber nachdenke: diese Wirklichkeit gibt es nicht Und genau da ist der Punkt, wo für mich Literatur wichtig wird. In der Literatur kann ich eine Wirklichkeit erzeugen und insofern meine ich, dass die Realität, das, was wir wahrnehmen, immer nur der kleinere Teil der Wirklichkeit ist. Der viel Größere ist das Spielerische, das was in der Kunst gemacht wird. Musik aus Zitator Mario Reis: Ich würde nicht so weit gehen und sagen, dass meine Kunst die Natur zelebriert. Die Natur braucht mich nicht, um sich zu zelebrieren. Sie macht das schon selber, indem sie einfach das ist, was sie ist. Meine Rolle als Künstler ist die Interaktion mit dem Fluss, die Zusammenarbeit mit der Natur. O-Ton 42 Norbert Scheuer : Alles, was ich in der Literatur schreibe, ist immer ein Teil von mir. Das heißt nicht, dass ich Biografien im eigentlichen Sinne schreibe. Im Grunde ist es eine Art Dekonstruktion meiner eigenen Biografie und darin liegt der Reiz für den Schriftsteller, dass er die ganze Zeit so ne Art Mimikry betreibt. Er schreibt über sein Leben, was er selber in Gänze nicht versteht. 10 Insofern ist die Literatur immer die Suche nach dem eigenen Leben und der Heimat. Zitator Norbert Scheuer: Fortgehen fängt damit an dass ich mich zurücksehne es ist das andere neben den Wörtern woran ich nicht mehr glaube überhaupt noch etwas zu wissen ist schon genug das Leben ist die Girtzenbergstraße einmal hinauf und hinunter der Tod ist nur eine falsche Bewegung aus allem raus dort ist es still wie in einem Bienenstock im Winter bis ich dies alles liebte Ged 84 Zitator Norbert Scheuer: Springende Forellen im Fluss Kreise die sich ausdehnen und zusammenziehen in Wörtern der Welt die gerade erschaffen wurde die hinabsanken unter die Steine im Fluss wo sie ein Echo wurden von allem, was ich nicht wußte bis ich dies alles liebte 37 O-Ton 43 Norbert Scheuer am Fluss 46 10 S Wenn ich am Wasser sitze, bin ich vollkommen in so einer Art als würde man Musik hören, leise beruhigende Musik. Dieses Naturgeräusch des Wassers, was auf der einen Seite sehr vielfältig ist, und den Eindruck vermittelt, dass man dazugehört, dass man Teil davon ist. 47 Das Wasser suggeriert einem, dass man unterwegs ist. Man sitzt an einem Ort, der sich dauernd bewegt und ist trotzdem in Ruhe. weiter Flussatmo Zitator Mario Reis: Meine Naturaquarelle sind Fenster in die Welt, weil sie Teil der Welt sind. Die unzähligen Nuancen der Flüsse festzuhalten fasziniert mich. Wir leben in einer Zeit, die am liebsten alles gleich machen würde, weil sie so vermeintlich besser zu bewältigen ist. Aber ich finde es gerade wichtig, den Blick für die Unterschiede nicht zu verlieren. Atmo Flussklänge Zitator Norbert Scheuer: Bilder, als würde ein leichter Schleier darüber wehen, bis nur mehr durchsichtige Gestalten umher wandeln, von denen ich leise ahne, was sie mir einmal bedeuteten. Dann ist es Zeit, davon zu erzählen. Ich sehe Hermann als Jungen hinter der Theke unserer Wirtschaft, höre ihn sagen: "Fischers Fritz fischt frische Fische ..." Er produziert dabei ulkige, lispelnde Zischlaute, weil er es nicht richtig hinbekommt. Ich liege mit meinem Bruder zusammen im Zimmer, wir treiben langsam mit ausgebreiteten Armen auf dem Fluss, hören Musikboxlieder aus der Gaststätte, sehen zu den Sternen, zum unendlichen Himmel über uns. Alles, was je gewesen ist, treibt jetzt mit uns auf dem Fluss zum Rauschen hinunter. Von hier aus 46 plus 165 Sprecherin: Im Bannkreis der Flüsse - Norbert Scheuer, Schriftsteller; Mario Reis, bildender Künstler Sie hörten ein Feature von Burkhard Reinartz Zitator Mario Reis: Wenn es überhaupt eine Aufgabe des Künstlers gibt, dann ist es der Versuch, Menschen neue Erfahrungen zu vermitteln, die ihr und auch mein Leben bereichern. Zitator Norbert Scheuer: Wissen, dass die ganze Kunst nur im Übergang liegt wenn überhaupt in irgendetwas dann im Übergang Ged 89 Sprecherin: es sprachen: Bruno Winzen Thomas Balou Martin und Kerstin Fischer Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Anna D'hein Regie: Burkhard Reinartz Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2016 ________________________________________________________ 2