Deutschlandrundfahrt Das Dorf auf dem Fluss Die Krämerbrücke im thüringischen Erfurt Eine Sendung von Paul Stänner Sendung: 28. April 2012, 15:05 Uhr Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 Atmo Das Rauschen der Gera Erzähler Die Krämerbrücke ist der vermutlich bekannteste Touristenmagnet in Erfurt. Und sie ist alt, eingehüllt in den romantischen Charme der früheren Zeiten. Offenbar ist sie aber auch ein magischer Sammelpunkt für einen besonderen Typ von Menschen - wenn man sich dazu entscheidet, auf der Krämerbrücke zu wohnen, muss man schon eine sehr eigene Einstellung mitbringen. 1. Ot Kister Es hat mich so verzaubert. Also die Brücke atmet, sie atmet Geschichte, sie erzählt, man muss nur hier stehen und schauen und erzählt die Brücke Geschichten von Menschen, die hier früher gelebt haben, man hört noch das Pferdegetrappel, es hat mich schon immer fasziniert, obwohl die Brücke so kurz nach der Wende alles andere als so farbenprächtig wie heute war. ... und trotzdem hat mich das von Anfang an fasziniert, also ich wollte unbedingt hier leben. Spr. v. Dienst Das Dorf auf dem Fluss Die Krämerbrücke im thüringischen Erfurt Eine Deutschlandrundfahrt von Paul Stänner Atmo Brücke Erzähler Es ist früher Morgen. Das heißt: So um zehn Uhr. Noch tut sich nichts auf der Brücke. Das Kopfsteinpflaster glänzt. Eine Frau von kraftvoller Statur fegt vor dem Glasladen den Rinnstein sauber, kaum von Besuchern gestört. Die Krämerbrücke lebt wesentlich von Touristen, die Erfurter selbst haben keinen täglichen Bedarf nach Kunst oder Kunsthandwerk. Der Tourist, von dessen Geld die Brücke lebt, sitzt noch beim Frühstück und überlegt, ob es jetzt reicht mit dem Kaffee oder ob er noch eine weitere Tasse zu sich nehmen sollte. Er erinnert sich, dass das Frühstück zum Zimmerpreis gehört und also bleibt er sitzen und gönnt sich noch zwei Tassen. Bezahlt ist bezahlt. Erst nach zehn greift der Tourist zu Fotoapparat und Regenschirm und schlendert auf die Brücke. Wir verpassen also nichts, wenn wir erst einmal Egon Zimpel besuchen. Zimpel lebt seit 1972 auf der Brücke. Musik 1 Titel: Sinfonia 11 (BWV 797) Komponist: Johann Sebastian Bach Interpret: David Russell Label: Telarc, LC-Nr. 05307 2. Ot Zimpel Also es sind diese alten Balken, ich kann nicht sagen, wie alt genau, aber richtig schön alt, nennen wir das mal so. Die sind natürlich sehr trocken noch und Sie sehen auch teilweise den Lehm, denn das waren ja Lehmbauten. Im Prinzip ist das Holz noch sehr gut erhalten. Erzähler In Egon Zimpels Wohnung muss man auf seine Füße achten. Es gibt sechs verschiedene Höhenniveaus in einem Raum, Schwellen und Erhebungen, die entstanden, weil über Jahrhunderte an den Häusern herumgebastelt wurde. Egon Zimpel bewegt sich mit der Sicherheit einer Katze über die Verwerfungen seiner Wohnung. 3. Ot Zimpel Man spürt es auch ganz leicht, dass immer mal ne Bewegung da ist, das verkraftet das Haus. Musik 2 s. Musik 1 Erzähler Egon Zimpel ist Maler und arbeitet zum Beispiel auf selbst geschöpften Papieren mit unterschiedlichsten Materialien wie farbigen Sanden, Asche, Kohle. Gleich nach dem Studium in Greifswald war er nach Erfurt gekommen, hatte zunächst möbliert gewohnt, dann in einer eigenen Wohnung. Sie steht ganz im Zeichen seiner Arbeit. Schon auf dem Treppenabsatz vor der Wohnung steht die große Staffelei im Weg, daneben ein breiter Planschrank für die Grafiken und Zeichnungen. Zimpel kann immer nur einen Gast nach dem anderen begrüßen, denn der Wohnungsflur ist klein, rechteckig, und praktischerweise zu einem Bücherschrank umfunktioniert. Im Arbeitszimmer stehen zwei Zeichen- und Schreibtische an den Fenstern zur Brücke. Die massiven Balken des Fachwerks liegen frei und bilden einen Teil des Zimmerschmucks. An den Wänden hängen Radierungen von Felszeichnungen, schnörkellos klare, strukturiere Darstellungen von Tieren und geometrischen Mustern. Auf den Bücherregalen erneut großformatige Bildbände über Felszeichnungen. Den Felszeichnungen in der Sahara gilt Zimpels leidenschaftliches Interesse. In der DDR war davon nur zu träumen, aber nach der Wende war der Weg frei. 4. Ot Zimpel Ich musste Französisch lernen, weil ich nach der Wende, wo alle erst mal aus dem Osten Richtung Westen gingen, was mich gar nicht so interessierte, wollte ich in die Wüste. ... und dort gibt es heute noch an Steinen alte Felsgravuren und Felsmalereien.... Und darüber habe ich Film gedreht Erzähler Zimpel ist nicht eben ein Athlet. Im Thüringer Wald hat er sich für die Wüste fit gemacht und dann ist er losgezogen. Weil er es so wollte. 5. Ot Zimpel Man muss Zeit haben. Zeit hat ich ja, ich bin ohne Rückfahrkarte gestartet nach Afrika ... ich wusste nicht, wann komm ich wieder? Erzähler Aber er kam wieder, zurück auf seine Brücke. Durch die marktwirtschaftliche Wüste der ehemaligen DDR zogen derweil Investorengruppen auf der Suche nach profitablen Anlagen. Auch die berühmte Brücke geriet in ihr Visier. 6. Ot Zimpel Diese Brücke privatisieren oder zurückverkaufen, das wäre der Tod, weil dann das Denkmal draufgeht. Und dass wir sagten: Am besten wäre eine Stiftung. Erzähler Es gelang mit der Hilfe der damaligen Behörden die Krämerbrücke durch eine Stiftung dem Druck der Marktwirtschaft und der Investoren zu entziehen. Der Hintergrund dieser Initiative ist so einleuchtend wie poetisch. 7. Ot Zimpel Die Krämerbrücke ist so alt, und wir wissen, ein alter Körper muss ständig zum Arzt, da ist ständig etwas zu machen und um das in den Griff zu bekommen ist es günstig, wenn eine neutrale Gruppierung die Brücke verwaltet und so ergab sich eine Stiftung, wo die Stadt natürlich drin ist, wo auch die Bürger vertreten sind, um das Knistern in den eigenen Wänden sofort in die Stiftung reinzutragen - um zu alarmieren, hier muss was gemacht werden. Wer hört es denn sonst, wenn es nicht die Bewohner selber hören. Erzähler Die Stiftung Krämerbrücke wurde 1996 von der Stadt Erfurt gegründet. Sie arbeitet heute mit der Deutschen Stiftung Denkmalschutz zusammen und der privaten Elisabeth und Fritz Thayssen Stiftung aus Hamburg. Das hat den Vorteil, dass an den Beschlüssen viele Akteure mitarbeiten müssen. 8. Ot Zimpel Und im Umbruch der Anfangsjahre ergab sich das, dass die sagten, wir könnten doch ein Buch machen über die Krämerbrücke und da lag natürlich nahe: ein Kinderbuch, weil man Kinder mit so einem Buch animiert, langfristig sich damit mal auseinanderzusetzen und auch einen Faden zu alten historischen Bauweisen zu finden und nicht zu sagen, ach das war ja gestern, das war alles schlecht oder so, sondern dass man da heute noch sehr gut drin leben kann und das ist inzwischen die 2. Auflage, die schon rausgekommen ist mit diesem Buch. Atmo Spieluhr Erzähler Es geht um einen Mann namens Wacki, und der ist Uhrmacher auf der Krämerbrücke. Zitatorin Er trägt schon den ganzen Morgen den alten Uhrmachermantel. Superweiß ist er gewaschen und an etlichen Stellen sauber geflickt. Erzähler Auf einem Foto von 1891 ist an dieser Stelle das Geschäft des Uhrmachers Wackernagel zu sehen. Wie Herr Wacki jetzt in der Geschichte im Kittel am Tisch sitzt und den Drehungen seiner Spieluhr zuschaut, könnte er einer seiner Nachfahren sein. Genau kann man das nicht belegen. Und jetzt: Auftritt Franz, der Kater. Im Volksmund kurz: Brückenkater Franz. Zitatorin Kater Franz hat sein Vormittagsschläfchen beendet und tritt hinaus auf die Gasse. 9. Ot Zimpel Den Kater gab es wirklich ... und er ist aus Altersgründen gestorben, der war aber ein besonderes Tier, wie der sich hier bewegte und was er machte, war unglaublich, er wurde verehrt und er gehörte so richtig hier zu, und das war eine tolle Geschichte, dieser Kater hier auf dieser Brücke und wie er sich hier zuhause fühlte, wie er das Klima hier mitbestimmte - das hätte ich nie gedacht. Erzähler Franz war der Kater von Frau Leuschner, mit der bin ich später verabredet. Zitatorin Er schaut sich um und stellt fest, auch heute ist die Tür des Uhrmacherhauses nicht fest verschlossen. Nach kurzem zögern geht er bis zur Treppe und hört die leise Musik, die aus dem oberen Stockwerk dringt. 10. Ot Zimpel Und deshalb lag es nahe, über diesen Kater Franz, der sehr neugierig war und der sehr viel sah und zuhause war in allen Häusern eigentlich, dass wir ihn benutzten und sagten: über diesen Kater können wir auch Geschichten schreiben. Erzähler Als Uhrmacher Wacki einen Hustenanfall bekommt und dabei die Spieluhr zu Boden stößt, wirft sich Brückenkater Franz behend unter das kostbare Stück und rettet es unter dem Einsatz von einem seiner sieben Leben. Wacki ist völlig fertig und dankbar. Zitatorin "Franz, alter Schlawiner", entringt sich röchelnd ein Satz seiner Brust. "Das haste fantastisch gemacht". Atmo Spieluhr Ende Erzähler Im Hausflur zu ebener Erde - erläutert Egon Zimpel, als er mich zur Tür bringt - befindet sich eine Falltür. Weil sein Haus auf einem Brückenpfeiler steht, hat es einen Keller, denn der Pfeiler ist nicht massiv, sondern verfügt im oberen Teil über ein ausgebautes Gewölbe. Dorthinein schütteten zu DDR-Zeiten die Kohlenträger die Kohle. Schwere Klumpen und leichten Staub, wie es gerade kam. Hauptsache, die Kohlenschlepper waren den Kram los. Das heißt, sagt Zimpel, zwei Mal im Jahr, konnte man grundreinigen und renovieren. Der historisch interessierte Besucher aus dem Westen lernt: Die DDR verstand sich als Arbeiterstaat, die Kohlenträger verstanden sich als herrschende Klasse und traten auch so anmaßend auf. Die sozialistische Gesellschaft, das hört man immer wieder, war alles Mögliche, aber auf jeden Fall keine Dienstleistungsgesellschaft. Hatte nicht die Schriftstellerin Monika Maron geklagt, sie habe in der DDR nicht unter der Stasi gelitten, sondern unter den Kellnern? Tempi passati - heute hat die gesamte Krämerbrücke Zentralheizung. Auf keinen Fall mehr offenes Feuer zwischen den alten Balken. Und keine Kohlenträgerknechte mit Starallüren. Musik 3 s. Musik 1 Atmo Brücke Erzähler Wir stehen auf der Krämerbrücke, im Zentrum der thüringischen Hauptstadt Erfurt. 1117 wird sie zum ersten Mal schriftlich erwähnt. Nachdem sie mindestens sieben Mal abgebrannt war, entschloss sich der Rat von Erfurt zu einem Steinbau, der 1325 fertig gestellt wurde. Von hier oben ist das Flüsschen Gera nicht mehr zu sehen, lückenlos reihen sich die Häuser aneinander. Sabine Hahne erzählt mit lebhaften Gesten die Geschichte ihrer Stadt: 11. Ot Hahne Die Brücke hat an jedem Ende einen kleinen Platz, der im Mittelalter als Markt benutzt wurde und gleichzeitig wird sie begrenzt von einer Brückenkopfkirche, da stehen wir grade drunter, auf der anderen Seite die Kirche, die es mal gab, gibt es nicht mehr. D.h. es sind Brückenkopfkirchen gewesen, einerseits natürlich zum Beten, das ist klar, wenn man in dieser Kirche beten möchte, muss man aber eine Etage nach oben. Andererseits hat man sie genutzt, um Brückenzins zu kassieren, genau deshalb sind sie so gebaut. Während die oben gebetet haben, standen hier, wo wir uns jetzt befinden, die Büttel der Stadt, haben die Hand aufgehalten und haben Brückenzins genommen. Erzähler Natürlich musste sich die teure Steinbrücke ihren Unterhalt verdienen. Die Vorläufer der noch immer ungeliebten Mitarbeiter des Ordnungsamtes standen im Schutz der mächtigen Kirchtürme und kassierten ab. 12. Ot Hahne Also hatte man natürlich an jedem Ende der Brücke eine Kirche! Wenn Sie nur eine Kirche nehmen, dann entgeht Ihnen ja die Hälfte der Einnahmen. Erzähler Die Brücke steht noch, das Ordnungsamt gibt es auch noch - manche Dinge vergehen nie. Die Krämerbrücke ist zweifach gewölbt. Vom einen Ende zum anderen, also gleichsam von der Ägidiuskirche auf dem westlichen Brückenkopf hinüber zum östlichen Brückenkopf, dort, wo bis 1896 die Benediktikirche gestanden hat. Dann hat die Brücke noch eine zweite Wölbung von Norden nach Süden, also quer über die Straße, damit das Regenwasser über die eleganten Bögen des Kopfsteinpflasters ordentlich seinen Weg in den Rinnstein findet und nicht in die Häuser schwappt. 13. Ot Hahne Da sieht man ganz oft die Haussymbole, müssen uns nur rumdrehen, hier haben wir das Haus zur Kanne mit der goldenen Kanne über der Tür, das Haus zum goldenen Helm, bei der Schokoladenmanufaktur, deswegen auch Goldhelm Schokolade, hinten noch das Haus zum roten Stern und so hat fast jedes Haus seine alte Bezeichnung, weil die Leute im Mittelalter ja kaum lesen und schreiben konnten. Die meisten Menschen waren Analphabeten, aber sie fanden sich zurecht, wenn sie Symbole gesehen haben und das kann man bei uns eigentlich überall in der Stadt noch nachvollziehen. Erzähler Die Krämerbrücke liegt auf einem Knotenpunkt historischer Handelswege. Die Via Regia war eine mittelalterliche Fernstraßenverbindung, die von Italien bis ins heutige Russland reichte. Sie überquerte die Gera auf der Krämerbrücke und traf auf eine Salzroute, die nach Lübeck führte. Die Krämerbrücke gehört in den Katalog von etlichen Brücken, die mit Häusern bebaut sind. Am bekanntesten ist die Ponte Vecchio in Florenz, aber auch in Deutschland gibt es zum Beispiel in Bad Kreuznach, Nürnberg oder Bamberg überbaute Brücken. Die Krämerbrücke in Erfurt aber ist die einzige vollständig bebaute Brücke nördlich der Alpen - so rühmt die stolze Stadt ihr Wahrzeichen. Am westlichen Ende steht die Ägidiuskirche, Sabine Hahne und ich steigen ihr auf den Turm. Atmo Treppensteigen Erzähler Was für eine Schinderei! 14. Ot Hahne Wir haben den Blick nach Westen, wie sehen Dom und Severi und die Krämerbrücke hier direkt unter uns und haben sogar die Zitadelle im Blick zwischen dem Domberg und dem Petersberg, wo sich die Zitadelle befindet, da kam die Via Regia von Frankfurt aus Paris oder noch weiter her in die Stadt Erfurt rein und führte hier entlang der Krämerbrücke Richtung Osten, Richtung Leipzig, aus der Stadt wieder heraus. Musik 4 Titel: Bilder einer Ausstellung: Promenade Komponist: Modest Mussorgsky Interpret: Deutsches Symphonie-Orchester, Ltg. Georges Prêtre Label: Weitblick, LC-Nr. 10582 Erzähler In meinem Hotel hängt ein Foto von der Krämerbrücke. Die Unterzeile besagt, dass es um 1891 aufgenommen wurde. Man erkennt Ladenschilder: Karl Stremberg bietet Klempnerarbeiten an: Bad - Gas - Wasser und Closet-Anlagen baut er ein. Weiter hinten verkündet Ida Fritsche, dass sie alle Sorten roher Felle einkauft - man ahnt, in dem Laden wird es stinken. Ein Josef K., mehr kann man nicht lesen, führt eine Buchhandlung. Offenbar war diese Brücke einmal eine ganz normale Geschäftsstraße. Erzähler Heute verkauft die Nr. 23 Gewürze und knüpft so an die Geschichte an, schon 1653 stand in diesem Haus ein Gewürzkrämer hinter der Ladentheke. In der Nr. 5 befindet sich eine Schmuckwerkstatt und die Nr. 29 sieht aus, als habe hier schon Harry Potter eingekauft - aber es gibt keine Zauberstäbe, sondern Kinder- und Märchenbücher, die in der dunklen und völlig zugekramten Fachwerkstube besonders spooky wirken. Regie Ende Musik 15. Ot Hahne Wir stehen jetzt vor dem Kleinformat, hier gibt es Kunstdrucke sehr farbig von der Brücke und anderen Ideen und haben hier eine ganz typische Variante des Verkaufs. Sie sehen hier einen Laden, viele kennen das Wort vom Fensterladen, die klappt man zur Seite, aber ursprünglich hat man das so gemacht wie jetzt hier zu sehen: einen Laden klappt man nach unten als Brett und Tisch und den anderen nach oben als Dach. Und so hat man auf diesem Laden, auf diesem Brett verkauft und wenn abends geschlossen wurde, wurde zusammen geklappt und man hat auch gesagt: der Laden ist geschlossen. Erzähler Dieser Laden ist offen und deshalb gehe ich hinein und steh auch gleich in der Küche. Kaffee wird zubereitet. Musik 5 Titel: Mazurka für Klavier Nr. 17, b-Moll Komponist: Frederic Chopin Interpret: Arthur Rubinstein Label: RCA, LC-Nr. 00316 16. Ot Kister Ich bin die Beate und wohne auf der Krämerbrücke 25 Erzähler Die Nummer 25 ist die Heimat des Kleinformats, was ist Kleinformat? 17. Ot Kister Kleinformat ist meine Idee, vor 6 Jahren ist sie etwa entstanden, ich bin gelernte Buchhändlerin und hab das auch sehr sehr gerne gemacht, und bin dann aber auch zum Malen gekommen, und so hab ich mich dann entschlossen, mich selbständig zu machen mit den Bildern hier auf der Krämerbrücke. Es ist ein toller Standort dafür, male seit 5-6 Jahren mach ich das jetzt schon, meine kleinen Kleinformatbilder, verkaufe die hier mit großer Freude, ... auch mit Erfolg, groß will ich jetzt gar nicht mal sagen, ich kann sehr gut davon leben ... und bin natürlich sehr glücklich hier diesen Standort zu haben, weil jeder Tourist über die Brücke muss, es ist einfach ein Muss. Erzähler Beate Kister trägt eine rote Filzmütze, die Kopf und Ohren schützt, weil es früh im Frühjahr noch einmal kalt geworden ist, sie aber trotzdem das Fenster für die Auslagen geöffnet hat. 18. Ot Kister Als ich nach Erfurt kam, das war 1987, habe ich hier eine Buchhandlungslehre begonnen, habe mich dann in die Stadt verliebt, und sehr in die Krämerbrücke. Und nun war das aber auch klar, dass man hier nicht einfach hinziehen kann in dieses Denkmal, also dass es mit Schwierigkeiten verbunden sein wird und ich habe mich trotzdem immer hier raufgeschlichen und habe geträumt davon, hier einmal zu wohnen. Das war mein großer Traum. Erzähler Jetzt ahne ich es noch nicht, aber das wird mir mehrmals passieren - dass ich auf Menschen treffe, die sich etwas in den Kopf setzen und unbedingt etwas Bestimmtes machen wollen. Auf der Brücke zu wohnen ist nur eine der versponnenen Ideen. 19. Ot Kister Bin dann nach der Wende zur Wohnungsgenossenschaft ... habe gezielt nach einer Wohnung gefragt, die leer stand, nämlich auch diese, die drucksten immer son bisschen rum und da bin ich wirklich jeden Dienstag, da war eine Sprechstunde, bin jeden Dienstag hin, habe gebeten, mir doch diese Wohnung geben und nach nem Vierteljahr Kampf hab ich mich dann aber noch mal beworben, richtig schriftlich, ... es wird auch darauf geschaut, dass hier vorrangig künstlerische Menschen hier zusammen kommen. Erzähler Das Geschäft "Kleinformat" besteht im Wesentlichen aus den Auslagen vor dem Fenster. Auf dem heruntergeklappten Laden stehen postkartengroße Bilder, andere hängen rechts und links neben dem Fenster. Wer vor dem Laden steht und die Bilder betrachtet, wirft unwillkürlich einen Blick in das Zimmer hinter den Auslagen. Er sieht einen schmalen, länglichen Raum, vorn am Fenster einen runden Tisch mit allerlei Utensilien darauf - später wird die Künstlerin erklären, dass sie hier, quasi unter den Augen des Publikums, malt. Dann sind da noch ein kleines Regal und weiter hinten, nahe der Tür, ein Piano mit aufgeklapptem Tastendeckel und Noten auf dem Ständer. Musik 6 siehe Musik 5 Erzähler Sie kann die Menschen vor ihrem Fenster beobachten. Sie sind fasziniert, fotografieren sehr viel und finden es sehr schön, weil es das auch kaum noch gibt: Bilder, die man überall aufstellen kann. Andererseits ist sie selbst als Künstlerin dankbar für diese Gassen-Atmosphäre auf der Brücke, die ihr eine besondere Ruhe schenke, die man in ihren Bildern auch wieder findet. Ich frage nach den Passanten - kommentieren sie ihre Arbeiten? 20. OT Kister Sie stellen mehr fest, als sie fragen und sagen zu meinen Bildern, sie sagen: Sie müssen ein glücklicher Mensch sein oder solche Dinge. Erzähler Was die Passanten am meisten interessiere, sagt Beate Kisten, sei, wie man leben könne, auf 47 Quadratmetern mit wenig Luxus. In der Tat, die Küche, in der wir sitzen, ist kaum mehr als eine Kochnische mit Ambitionen, aber wir blicken auf historischen Boden: Als sie einzog, hat Beate Kisten unter dem Linoleum Ziegelsteine im alten Format entdeckt und restauriert. 21. Ot Kister Ich hab auch im Archiv recherchiert hier in Erfurt, wer alles hier gelebt hat ab 1580 etwa ... es hat auch sogar mal ein Maler hier gelebt, ein Kunstmaler oder ein Knopfmacher, dann ein Posamierer, das ist ne andere Bezeichnung für Knopfmacher, ... dann auch mal in den 30er Jahren ein Aufseher, da kann man ja auch viel reininterpretieren, dann war mal ein Zeitungsladen, ein Zigarettenladen, ein Oberbekleidungsgeschäft in diesem Haus, also sehr viele unterschiedliche Menschen haben hier gelebt. Erzähler Jetzt lebt sie hier, mit Mann und Kind, und hat, wofür sie so hartnäckig gekämpft hat - eine Wohnung auf der Krämerbrücke. 22. Ot Kister Wer einmal auf der Krämerbrücke eine Wohnung hat, der gibt die nicht wieder auf. Musik 7 siehe Musik 5 Erzähler Gabriele Leuschner ist Holzbildhauerin und umgeben von einer Aura des Handwerklichen, ohne dass man an einem Detail festmachen könnte, was diesen Eindruck auslöst. Frau Leuschner ist die Katzenmutter von Kater Franz, dem Brückenkater Franz, den Egon Zimpel in seinem Buch verewigt hat. 23. Ot G. Leuschner Ja, der Kater Franz, der hat sich hier in alle Herzen gespielt (lacht). Der ist schon zwei Jahre tot, aber es kommen immer noch Leute und fragen nach dem Kater, und wollen ihn besuchen und ich krieg auch Post, es ist so rührend. Erzähler Die Wohnung hat noch einen großen Kachelofen, der aber nicht mehr in Betrieb ist. Davor das Sofa, dicht an die Kacheln geschmiegt. Hier war in früheren Zeiten der kuschelwarme Platz für die Kinder und auch für Franz, den Brückenkater. Hinter dem Sofa steht eine Galerie von kleinen Holzplastiken, unschwer erkennt man, dass hier die Häuser der Krämerbrücke nachgestaltet wurden. Wie kam Gabriele Leuschner, damals als junge Holzbildhauerin, auf die Krämerbrücke? 24. Ot G. Leuschner Zu DDR-Zeiten gab es Konzeption für Krämerbrücke und das hieß Ansiedlung von Künstlern und Kunsthandwerkern. Das war Anfang der 70er Jahre und da war ich gerade so fertig mit meinem Studium und da hab ich mir so eine Werkstatt gesucht ... so als Zukunftsbild für meinen Beruf, da hab ich mich dafür beworben bei der Stadt und dem ist auch statt gegeben worden. Erzähler Ich sehe: Der Esstisch ist ein wenig vom Fenster abgerückt, als ob man mehr Abstand zu den Nachbarn auf der anderen Brückenseite haben möchte. Eine Schrankwand mit Büchern und Kram stützt eine historische Mauer. Und ich höre: 25. Ot G. Leuschner Diese Krämerbrücke, das war so ein bisschen asoziales Flair geworden und die Stadt hat gesagt, also die KB müssen wir restaurieren und beleben...und da hatten sie geniale Idee, das mit Künstlern und Kunsthandwerk zu gestalten. Musik 8 Nationalhymne der DDR Interpret: Rainer Oleak Komponist/Texter: H. Eisler, J.R. Becher Label: Zyx, LC-Nr. 06350 Erzähler Eine Teilsanierung erfolgte in den 80er Jahren, die Belebung begann schon früher - einigermaßen zaghaft. Ein Buch über Erfurt von 1971 zeigt ein Foto der Krämerbrücke mit dem Text: Zitatorin Eine beliebte Sehenswürdigkeit ist zu allen Tageszeiten die Krämerbrücke. Erzähler Von allen Tageszeiten hat der Fotograf vorsichtshalber die Nachtstunden ausgewählt, um die beliebte Sehenswürdigkeit abzulichten. Was Frau Leuschner beschreibt, ist "Gentrifikation" nach DDR-Art - im Sozialismus wie im Kapitalismus verfolgte man die geniale Idee, Künstler mit preiswertem Wohn- und Arbeitsraum in heruntergekommene Stadtteile zu locken, damit sie sie hipp und kreativ gestalten. So werden die Quartiere auch für die gesetzteren Kreise attraktiv, die dann nachziehen. Auch in Erfurt hat es wohl funktioniert. 26. Ot J.Leuschner Ja es ist ein Dorf, es ist wirklich ein Dorf, man lebt da auf naher Distanz, man kennt sich und es ist ein sehr, sehr angenehmes Verhältnis hier, ... und gerade jetzt im Sommer, was meinen Sie, wenn Sie im Sommer abends um 6 hier mal herkommen, dann sitzen die vor der Haustür, trinken, Kaffee oder Wein, fast schon familiär. Erzähler Jochen Leuschner ist in der Krämerbrückenstiftung der Sprecher der Mieter und so etwas wie der heimliche Bürgermeister der Krämerbrücke. Früher war er Referent im Umweltministerium, heute ist er Rentner. Musik 9 Titel: Imagine Interpret/Komponist: John Lennon Label: Capitol, LC-Nr. 00148 Erzähler Die Stiftung Krämerbrücke wacht über die Zusammensetzung der Mieter. Die Idealvorstellung ist, dass im Erdgeschoss ein künstlerisches oder kunsthandwerkliches Gewerbe ausgeübt und die Stockwerke darüber als Wohnungen genutzt werden. Manchmal geht das zusammen wie bei der Familie Leuschner, manchmal sind Laden und Wohnungen getrennt. 27. Ot J.Leuschner Die Höhe der Miete orientiert sich nicht an der 1 A Lage - gut der Mietspiegel der Stadt spielt schon eine Rolle, mehr noch das Anliegen der Stiftung, hier nämlich eine bestimmte Klientel zu haben, da kann man nicht mit Topmieten kommen. Erzähler Seit den 80er Jahren lebt Frau Leuschner in ihrem Brückenhaus, nach und nach wurde es aus- und umgebaut und der wachsenden Familie angepasst. Inzwischen arbeitet sie hier nicht mehr, weil die Maschinen zu groß wurden, aber im Erdgeschoss unterhält sie ein Geschäft. Den Wandel hat auch sie zu spüren bekommen - zu DDR-Zeiten schuf sie Gebrauchsgegenstände, Spielzeuge, Reliefs, sie gestaltete Spielplätze und Grabmale. Binnen weniger Stunden war verkauft, was sie aus eigener Werkstatt anbieten konnte - davon kann man heute kein Geschäft mehr unterhalten. 28. Ot G. Leuschner Jetzt habe ich ja neben meinen ganz wenigen Dingen, die ich ja schaffe, habe ich ja Handelware. Kam dann mit der Wende ... das war schon ne Umstellung. Musik 10 siehe Musik 9 Erzähler Wir schauen aus dem Fenster - dicht vor dem Turm der Ägidiuskirche steht ein Haus, das nicht zum Stiftungsensemble gehört. Also hat sich der Besitzer auch nicht an die Vorgaben der Stiftung halten müssen. Früher war hier ein Porzellangeschäft, dann wurde die Miete verdoppelt und der Pächter konnte sich nicht halten. Jetzt funkelt in schreiendem Kontrast zu den übrigen Häusern ein glitzernder, grell erleuchteter Schuhladen wie ein Ufo aus einer anderen Galaxie, supermodern und weit weg von allem Historischen. Um die Ecke im gleichen Gebäude liegt eine psychotherapeutische Praxis. Vermutlich ebenfalls supermodern und weit weg von allem Kunsthandwerk. Die von der Stiftung tragen es mit Fassung. 29. Ot J.Leuschner Wir gehören jetzt schon zu den Alten, wir sind als relativ jung bis mittelalt hier auf die Brücke gezogen, gehören jetzt zu den Alten und haben mit der jungen Generation, die jetzt nachrückt, die auch andere Gedanken und andere Ideen hat, überhaupt kein Problem, null Problem, ganz im Gegenteil, wir haben ein ganz ganz herzliches und freundliches Verhältnis zueinander, vielleicht hängt es auch mit der Klientel zusammen, die sich hier findet, dass das auch so eine bestimmte Wellenlänge ist, auf der man schwimmt, offene und auch zukunftsorientierte Menschen, die auch kreativ sind. Musik 11 Barbier von Sevilla - Cavatina "Ecco ridente in cielo" Interpret: Münchner Rundfunkorchester, Dgt. Ralf Weikert, Juan Diego Florez Komponist: Gioacchino Rossini Label: Nightingale Classics, LC-Nr. 03323 30. Ot Gobsch Das ist ein gewisser Graf Almaviva aus dem Barbier von Sevilla, einer komischen Oper von Rossini. Das ist eine Produktion für die Marionettenoper Lindau am Bodensee. Atmo Holzarbeiten Erzähler Die Figur des Grafen Almaviva mit dem kantigen Gesicht und den drolligen Rollen seiner Perücke über den Ohren ist entstanden in langen Gesprächen mit dem Auftraggeber in Lindau. Dann wird eine Zeichnung erstellt, nach der Martin Gobsch die Figur schnitzt. Atmo Holzarbeiten Erzähler Martin Gobsch, in brauner Cordhose, Weste und Janker gekleidet, steht vor seiner Werkbank. Wer braune Farben mag, ist hier im Paradies. In den Hölzern, die er bearbeitet, in den Möbeln, die zur Werkstatt gehören, in den Griffen seiner Werkzeuge finden sich alle Schattierungen von Braun. Die Tür steht offen, draußen auf der Gasse ist es kalt, aber hier drinnen sorgt schon der gedämpfte Widerschein der Hölzer für ein lebenswertes Raumklima. Ein bisschen mehr Heizung wäre trotzdem nicht schlecht. 31. Ot Gobsch Also so ein Kopf, wie er jetzt hier vor uns aufgespannt ist, dauert in etwa eine Woche. ... wobei das sehr verschieden sein kann: Die Rosina z.B. hat ja noch diese feine Augenmechanik, die kann mit ihren Augen klimpern und hat auch noch ein spezielles Halsgelenk und da bin ich auch länger dran, also anderthalb Wochen ungefähr. Erzähler Nach einem Praktikum am Dresdner Puppentheater hat Gobsch nach einigen Umwegen eine Ausbildung als Theaterplastiker in Erfurt gemacht und bei dem erfahrenen und berühmten Schnitzer Udo Schneeweiß gelernt. Warum, möchte ich wissen, wollte er unbedingt auf die Krämerbrücke? 32. Ot Gobsch Das ging damals eigentlich mit einer Wohnungssuche los. Ich hatte meine Werkstatt immer in die Wohnung integriert und ich musste leider umziehen und dachte, auf der Krämerbrücke ist so was wahrscheinlich noch am ehesten möglich, weil das hier so die Kunsthandwerkermeile ist und dann habe ich mit der Stiftung Krämerbrücke gemeinsam die Idee entwickelt, machen wir's eben gleich richtig - wir machen ne Schauwerkstatt. Erzähler Inzwischen weiß ich, dass die Krämerbrücke eine gute Verkaufslage ist, aber Martin Gobsch hat gar nicht vor, zu verkaufen. Die Kreationen aus seiner kaum 20 Quadratmeter großen Schauwerkstatt gehen an professionelle Theater, hier kann man von ihm nichts kaufen, nur schauen. Martin Gobsch will nicht, dass seine Arbeiten irgendwo als Deko an einer Wohnzimmergardine hängen oder als Kinderspielzeug enden. Seine Kunst zielt auf Höheres. Das kleine Schaufenster zum Beispiel, das zu seinem kleinen Laden gehört, ist ausgefüllt mit einem theatrum mundi. Musik 12 Titel: Bilder einer Ausstellung - Die Hütte der Baba Yaga - Catacombae weitere Angaben siehe Musik 4 Erzähler Raumfüllend groß steht dort die böse Königin aus dem Märchen Schneewittchen. Wenn man einen Euro einwirft, öffnet sie weit ihren Mantel und man sieht ein ganzes Theaterstück vor sich ablaufen, Schneewittchen und der Prinz spielen eine Rolle, dazu Zwerge, die in einem Bergwerk arbeiten und genau aufeinander abgestimmte Bewegungen ausführen - bis die böse Königin den Mantel wieder schließt. Eine komplizierte Mechanik aus Rollen und Lederstreifen sorgt dafür, dass alle Figuren synchronisierte Bewegungen ausführen. Dieser Art ist die Kunst des Martin Gobsch - und die Menschen, groß und klein, stehen vor seinem Laden. Nach und nach gewinne ich in der Tat den Eindruck, dass die Leute von Krämerbrücke besondere Menschen sind mit einer Neigung zu unkonventionellen Wünschen und Visionen. Oder, wenn man es mit einem leicht gequälten Anflug von Poesie sagen möchte - für etliche von ihnen war die Krämerbrücke der Übergang in ein anderes Leben. Musik 13 Titel: Chocolat - Minor Swing Interpret/Komponist: Django Reinhardt & Stephane Grapelli Label: Sony, LC-Nr. 06868 33. Ot Kühn Das ist ein einmaliges Projekt, es bekommt nicht derjenige den Laden, der das meiste Geld hat, sondern der die schönste Idee hat und das ist ein Projekt, das hab ich weltweit noch nie so kennen gelernt und das ist auszeichnungswürdig, weil da stand einfach mal ein Typ mit `nem Rucksack vor der Brückenstiftung und hat gefragt, kann ich hier Schokolade machen und die haben einfach Ja gesagt und das ist schon bemerkenswert gerade in der heutigen Zeit. Atmo Schokoladenmanufaktur Erzähler Alex Kühn trägt, eigentlich immer, eine Schirmmütze. Gerne kariert. Dazu T-Shirt, gestreiftes Halstuch, Schürze. Dreitage-Bart. Das Haus, in dem er seine Schokoladen verkauft, heißt aber Goldhelm. Das Geschäft läuft gut, er könnte sich einen Goldrand an die Mütze nähen. Zurück zu den Anfängen, zu dem Typen mit dem Rucksack. 34. Ot Kühn Ich bin ja Erfurter, bin mit one wayticket mit Bruder nach Australien gegangen, weil wir so rumgucken wollten und einfach nur mal die Welt kennenlernen wollten, das war sehr wichtig für uns, weil wir haben festgestellt, egal wo man ist, wie man wo ist, ist das Entscheidende und Erfurt ist so eine schöne Stadt und als wir wiedergekommen sind, haben wir festgestellt, wir brauchen keinen Strand und kein Mittelmeer, sondern wir brauchen hier unsere Gera und unsere Brücke .... Und das hat so gefehlt, dass uns keiner mehr wegkriegt. Erzähler Es war wichtig einmal rauszukommen, aber nun hat Erfurt die reuigen Brüder wieder. Sein Bruder eröffnete einen Weinladen, Axel Kühn wurde bei der Stiftung vorstellig und erzählte von seiner Idee, auf der Krämerbrücke Schokolade zu produzieren. Auf die Frage nach dem erlernten Beruf gibt er an: Grafiker. Tolle Voraussetzung, um mit Schokolade die Miete zu verdienen. Axel Kühn bekam das Haus zum Goldenen Helm. Und er fing mit gleichsam nichts an, Schokolade herzustellen. 35. Ot Kühn Das Herzstück einer Schokoladenmanufaktur ist die Marmorplatte. ... weil die Kälte speichert oder Wärme speichert, also kann man sozusagen diese flüssige Schokolade damit temperieren. Das ist sehr wichtig für den Geschmack und das ist das Erste, was ich damals da hinten stehen hatte und ich erinnere mich wie ich die damals bekommen habe, die hat mir ein Freund geschenkt, die lag auf dem Boden, wie wir alle da herumgesessen haben und das ist das Herzstück einer Schokoladenmanufaktur und das sollte auch was ganz Besonderes sein. Atmo Schokoladenmanufaktur Erzähler Man kann kaum so schnell zuhören, wie Alex Kühn spricht. Geduld ist definitiv nicht seine Stärke, er hat ein zupackendes Wesen - dabei sieht er mit der fülligen Kinnpartie und dem sanften Bäuchlein eigentlich aus wie jemand, der gut in der Ecke sitzen und genießen kann. 36. Ot Kühn Da habe ich dann angefangen, die Schokoladen auszuziehen, die Schokoladen-Klekse, die dann fest werden und jetzt hatte ich keine Schokoladenform, jetzt habe ich die einfach auf der Marmorplatte ausgezogen und hab die einfach trocknen lassen, dann ist sozusagen Goldhelmschokoladenform entstanden, weil ich keine Form mir leisten konnte. ... wird von der Industrie kopiert, dass die Form eine Nichtform ist, also das ist wirklich ein Schokoladenklecks. Erzähler Die Goldhelm Produkte des atemlosen Chocolatiers wurden ein Renner quer durch die Republik - für jemanden, der sich das Gewerbe selbst beigebracht hat, ein enormer Erfolg. Innerhalb von nur sechs Jahren wurde aus den Ein-Mann-Anfängen ein mittelständisches Unternehmen mit 30 Angestellten. Und aus dem Grafiker mit Fernweh ein zufriedener Chef. Dazu einer der wenigen Ausbilder von Chocolatiers. 37. Ot Kühn Ich wollte erst Illustrator werden, dann Musiker, jetzt bin ich Chocolatier geworden, und das beinhaltet alles, also ich illustriere die Verpackung selbst, mittlerweile mit meinen Leuten kreieren wir hier die Schokoladen und Kuchen, ich glaube, Schokolade verbindet alles und ist eine Riesenkombination an den schönen Dingen des Lebens und da bin ich also hier genau richtig angekommen. Erzähler Die schönen Dinge des Lebens, wie sie in der Küche auf den Blechen liegen: da ist eine Ganache, eine Creme, die ummantelt wird mit fester Schokolade. Oder eine weiße Schokolade mit Quitte und Krimsekt. Zwischendurch kommen die klassischen Haselnüsse, dann wieder so etwas Ausgefallenes wie eine Spargelpraline. Und dann auch noch dieses: 38. Ot Kühn Und wir haben jetzt die Stiftungsschokolade gemacht und 50 Cent gehen immer an die Stiftung, um die Krämerbrücke zu unterstützen. Erzähler Eines Tages rief das Bundesgesundheitsamt an und fragte, ob er die Beifügung "Liebe" nicht aus der Liste der Zutaten streichen könne. Offenbar hatten die Chemiker Probleme, diese Zutat in eine EU-Norm- fähige Größenordnung umzuwandeln. Letztlich beugten sie sich aber der Macht ebenjener Liebe und beließen die Angabe auf der Verpackung. 39. Ot Klein Die Krämerbrücke ist da natürlich mit dieser ganzen Atmosphäre, das Künstlerische, am Anfang als Chocolatier habe ich allein gestanden und die Künstler und die Brückenbewohner haben mir da wahnsinnig viel Mut gemacht und das ist halt das feeling von der Krämerbrücke und das ist wirklich einmalig. Musik 14 Titel: I'm back in town Interpret/Komponist: Melanie Label: Prima Musik, LC-Nr. 05225 Erzähler Weil er gelernter Grafiker ist, gestaltet Alex Kühn seine Verpackungen selbst, nachdem er schon ihren Inhalt selbst zusammengerührt hat. Aber dann spielt er auch noch Gitarre und singt dazu. Allein oder mit anderen: 40. Ot Klein (im Hintergrund Geräusche und Radio) Ja also die vielen Schokoladengeschichten und die vielen Dinge, die man erlebt haben unmittelbar mit der Schokolade zu tun, bei der Pflaume von Argon gibt's die schöne Geschichte von der Sängerin Melanie, die in Woodstock gesungen, die auf einmal im Laden stand, eil die totaler Schokoladenfan ist und hat dann angefangen total zu schwärmen und wir haben Schokolade verkostet und haben dann irgendwie da gegessen und Musik gemacht und haben völlig die Zeit vergessen und seitdem liebt sie mich und ich lieb sie auf ne ganz süße Art und Weise und immer wenn sie hier ist, kommt sie mich besuchen und dann kommt sie hier mit ganz großen Autos und security angefahren und ich krieg... Musik 15 siehe Musik 14 41. Ot Vick Ich bin Diplomingenieur für Werkstofftechnik, meine Arbeit dann an den Nagel gehangen. Habe dann was völlig anderes gemacht, was mir Spaß macht. Erzähler Wieder so eine Biografie, die anders verlaufen ist, als geplant. Im Schatten der Ägidiuskirche liegt das Geschäft von Bettina Vick. Ihr langes, dunkles Haar hat sie lässig aufgesteckt, als hätte sie Wichtigeres und Eiligeres zu tun, als sich mit einer aufwändigen Frisur herumzuschlagen. 42. Ot Vick ... dann hat sich das so ergeben, dass ich für das Landwirtschaftministerium hier in Thüringen gearbeitet habe als Werbeagentur und der Laden hat sich immer weiterentwickelt, d.h. seit 2007 habe ich das erste Mal die Kasse selber angeschaut und es war immer das Marketing, was dahinter stand und eigentlich noch mehr, es war die Liebe zu Regionalen Produkten. Erzähler Sie hatte sich bei der Stiftung mit einem Verkaufsraum für Thüringer Spezialitäten beworben und man war der Meinung, dass passe zur Krämerbrücke, damit bekannt wird,... 43. Ot Vick ... dass es eben schöne, schmackhafte Sachen gibt, die nur Thüringen hat und andere Länder haben eben andere Sachen. Erzähler Es gibt sie sogar als Schlüsselanhänger: die Puffbohne. In anderen Regionen ist sie bekannt als Weiße Bohne oder Pferdebohne. Nicht eben ein edles Gemüse, für Erfurt aber eine wichtige Spezialität. 44. Ot Vick Also die Puffbohne ist ein Wahrzeichen von Erfurt, und die Geschichte, die mir bekannt ist, ist dass die Männer an den Puffbohnenfeldern vorbeigelaufen sind, in Thüringen waren die um Erfurt herum angebaut und helfen eben, die schlechten Zeiten zu überwinden. Und immer wenn man schlechte Zeiten mit Puffbohnenbrei und Puffbohnensuppe überwinden konnte und man satt wurde, wusste man, was man an der Puffbohne zu finden hatte und man ist satt geworden und hat sich deswegen vor den Puffbohnenfeldern verneigt und den Hut abgenommen. Erzähler Das ist die eine Geschichte, und die andere besagt, dass niemand der Bohne entrinnen kann. Nicht in Erfurt. 45. Ot Vick Jedes Kind, das in Erfurt geboren wird, bekommt, da es ein kleines Erfurter Wahrzeichen ist, eine Puffbohne ans Bett gelegt. Erzähler Der Reisende versichert an dieser Stelle, dass ihm keine unangenehmen Erlebnisse widerfahren sind aus dieser Tradition, die ja doch mit gasbildenden Risiken verbunden ist. Unter den vielen Thüringischen Spezialitäten aus Bier, Brot und Wurst wird vom Reisenden eine besonders empfohlen - es ist der regionale Eierlikör, direkt vom Bauern: Cremig, weich, zähfließend, aber leicht zu schlucken, mild im Abgang, ein Genuss. Allerdings, wenn es zu kalt ist, legen die Hühner keine Eier und es gibt keinen Likör. Der Reisende hat sich einen Vorrat zugelegt. Musik 16 Titel: La Valse d'Amelie Komponist : Yann Tiersen Interpret : Trio Macchiato Label : Herzog Records, LC-Nr. 10101 Erzähler Dirk Fromberger steht in seiner Küche auf schwankendem Boden, man spürt, wie die Bohlen unter den Holzdielen arbeiten. Der Blick auf die Waschmaschine ist eher besorgniserregend - 1600 Schleuderumdrehungen möchte man dem alten Bau eigentlich nicht zumuten. Doch Fromberger beruhigt: Das geht schon. 46. Ot Fromberger Ja ich habe hier in Erfurt Landschaftsarchitektur studiert, da fragte mich n Freund, der hier auf der Brücke wohnt, "Mensch willste vielleicht in meine Wohnung rein? Mir ist das zu lebendig hier." Für ihn war das Brückenleben nichts. Und ich muss zugeben, am Anfang dacht ich so: na ja auf die Krämerbrücke, es ist so ne kleine Welt, vielleicht ist es auch spießig und ich hab 3 Monate überlegt, bevor ich gesagt habe: ja ich mach das! Erzähler Das war 1999. Dirk Fromberger habe ich in der Schokoladenmanufaktur kennen gelernt, er ist dort eine Art Geschäftsführer und Eventmanager. Eigentlich - und allmählich wäre es erstaunlich, wenn mal jemand mit einem gradlinigen Lebenslauf käme - eigentlich ist er Landschaftsplaner. Dann lief er aber eines Tages am Goldhelm-Laden vorbei, bekam ganz nachbarschaftlich einen Teller mit Schokoladenmandelkucken zugesteckt und hing wenig später am Haken: er heuerte bei Axel Kühn an. 47. Ot Fromberger Für mich war es schön, neben der Kopfarbeit, die ich im Büro ja ausschließlich hatte und die Isolation, dort im Laden zu stehen und Schokolade zu verkaufen und Leute glücklich zu machen. Das ist das Schöne an Schokolade - es geht so wunderbar schnell! Musik 17 siehe Musik 16 Erzähler Als Landschaftsplaner muss er länger auf seine Erfolgserlebnisse warten - bis ein Baum so aussieht, wie es sich der Planer ausgedacht hat, braucht es gerne achtzig Jahre. Wir sitzen am Küchentisch, können aber nicht aus den Fenstern sehen, weil sie im historischen Gebäude zu hoch angebracht sind. Im Stehen schaue ich auf die Gera unter uns und auf dem linken Ufer auf die Säule über der historischen Mikwe. Das mittelalterliche Ritualbad der Juden wurde 2007 nach einem Erdrutsch am Geraufer entdeckt und restauriert. Später werfen wir noch einen Blick in das Wohnzimmer, das auf die Brückengasse hinausgeht. Die Decke ist der Blickfang: Ein Rechteck von Stuckleisten ziert die Zimmerdecke. Erst vor kurzem wurde das Zimmer saniert, 28 Lagen Farbe mussten aus den Leisten herausgewaschen werden, bevor man die hervorstehenden und die abgesenkten Teile erkennen konnte. Dann die Fensterwand - an der linken Seite gute zehn Zentimeter höher als an der rechten. Der Raum ist erschreckend schief, hält sich aber stabil. 48. Ot Fromberger Wenn man hier aus dem Fenster schaut auf die Brückengasse, ich wohne auf der Nordseite, auf Nordseite Park, auf Südseite Brückengasse, und das Nachbarhaus gegenüber, da wohnen Leute, die gute Freunde geworden sind, ein Pärchen, er ist Fotograf, sie ist Kunsthistorikerin und bis zu den Fenstern darüber sind`s grade mal 5 Meter. Also man sieht immer mal gut, was der andre grad macht und das ist ne lockere Art Erzähler Nebenan im Schlafzimmer ist das Bett auf höhenverstellbare Füße gestellt. Jeder der Füße hat eine andere Höhe, damit die Matratze waagerecht liegt und man flach und gerade schlafen kann. 49. Ot Fromberger Und wenn ich manchmal leicht bekleidet in der Wohnung unterwegs bin, ich mach deswegen die Fenster nicht zu, man kennt sich, man schaut auch nicht ständig rüber. Erzähler Entweder man wird paranoid und öffnet die Vorhänge nie mehr, oder man wird gelassen und verlässt sich darauf, dass die Nachbarn etwas besseres zu tun haben, als den ganzen Tag wie die Spießer am Fenster zu lungern, die Arme auf ein Kissen gelegt und mit dem Auge des Blockwarts die Straße fest im Blick. Musik 18 Titel: Bilder einer Ausstellung - Die Tuilerien - Der Marktplatz von Limoges weitere Angaben siehe Musik 4 Erzähler Man muss, wenn man sich dazu entscheidet, auf der Krämerbrücke zu wohnen, schon eine sehr eigene Einstellung mitbringen. Die Brücke ist der vermutlich bekannteste Touristenmagnet in Erfurt - es kommen wahrscheinlich noch der Dom hinzu, die Zitadelle Petersberg und das ehemalige Hotel Erfurter Hof, wo Bundeskanzler Willy Brandt 1970 von den Rufen der Erfurter ans Fenster geholt wurde. Das heißt - wer zwischen 10 und 19 Uhr aus dem Haus tritt, steckt - im Winter weniger, im Sommer mehr - in einem Strom von schlendernden Touristen. Mal schnell irgendwo hin - das geht nicht. Touristenströme sind ein zäher Brei. Für die Touristen wiederum ist ein Krämerbrückenbewohner ein lebendes Bestandteil eines Flächendenkmals - und daher ein Hingucker. Mit klebriger Neugierde wird der Brückenbewohner gemustert und bewertet, auch das hält auf, den Termin, zu dem er nicht zeitig genug aufgebrochen ist, kann er wohl vergessen. Selbst Dirk Fromberger denkt mit hassgetränkter Liebe an zwei Termine: Weihnachten und das Krämerstraßenfest am dritten Wochenende im Juni - gut für`s Geschäft, aber schrecklich für die Bewohner der Brücke. 50. Ot Fromberger Wenn man hier unten die Haustür öffnet, steht man schon gleich in der Menge. Es beginnt schon früh nach dem Aufstehen mit dem Öffnen des Fensters, man guckt hinaus und hat in der Regel schon gerade an Wochenenden die ersten Kameras auf sich gerichtet... und ich schau dann früh raus und hab gleich das erste Blitzlicht im Gesicht, das passiert, aber ...wenn man hier auf der Brücke wohnen will, muss man damit leben, man ist in der Öffentlichkeit, sobald man die Tür aufmacht und Zeitung holt. Erzähler Die Krämerbrücke in Erfurt ist eine offenbar besondere alte Brücke - auf der Menschen leben mit einer besonderen Offenheit und besonderen Vorstellungen davon, wie sie ihr Leben schön und spannend gestalten. 51. Ot Kister Es ist ne kleine Oase inmitten der Großstadt. Die Menschen sich auch einander sehr zugewandt auf der Brücke. Es ist ein bisschen wie ein kleines Dorf. Man kennt sich, man hilft sich, man macht Scherze über die Brücke und trifft sich im Sommer auch oft aufn Glas Wein zusammen ... man teilt sehr viel, es ist was Besonderes. Erzähler Die Balken in den Häusern sind schief, und das sind auch manche Biografien, aber alle zusammen, Brücke und Häuser und Menschen, ergeben ein einmaliges, sehr liebenswertes Ensemble. 52. Ot Fromberger Das Leben hat sich in den letzten zehn Jahren unglaublich entwickelt auf der Brücke, als ich begonnen habe, gab es noch einige Häuser auf der Brücke, die standen leer, und es sind in den letzten Jahren sehr viele junge Leute auf die Brücke gekommen mit ganz neuen Konzepten, die vor allem auch in Richtung von Genuss und Essen und Trinken, Schokolade was entwickelt haben. ... Die Brücke ist jetzt wirklich lebendig wie sie fast nicht lebendiger sein kann. Kennmelodie Spr. v. Dienst Das Dorf auf dem Fluss Die Krämerbrücke im thüringischen Erfurt Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Paul Stänner. Es sprachen: Tonio Arango und Barbara Becker Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012 Manuskript und eine Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1