KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: Mit einer Art innerer Flamme - Emmanuel Bove Autor : Bettina Augustin Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 31.01.2012 Besetzung : Sprecherin : Bove : Zitator : Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: : Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zweckengenutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig Mit einer Art innerer Flamme Die Erzählungen des Emmanuel Bove Ein Feature von Bettina Augustin Emmanuel Bove: Am Morgen sagt er sich: Ich bin glücklich. Ich habe ein Haus, eine Frau, eine Katze. Am Abend sagt er sich: Ich habe nichts. (Übersetzung: Thomas Laux) MUSIK: CD Vitold Rek Nr. 4 / 0:00 - 0:54 Sprecherin: Die Nachmittagssonne spielt in den Platanenblättern und wirft tanzende Lichtflecke auf den gestampften Erdboden. Ab und zu ist auf der anderen Seite der Friedhofs- mauer ein Auto zu hören. Kein Mensch zu sehen. Die schmiedeeiserne Tür des schmalbrüstigen Grabhäuschens steht offen. Auf dem Steinboden liegen verstreut ein paar Kerzenstummel, leere Weinflaschen und ein Lumpenbündel. In der Ecke blitzt ein nagelneues Taschenmesser neben einem Stück Weißbrot, das noch weich ist: Emmanuel Boves letzte Ruhestätte auf dem Friedhof Montparnasse, jüdische Sektion Nr. 25, Linie 27 Ost, Nr. 1 Süd. Ein Clochard, der in einem Grab Unterschlupf findet - eine Geschichte, die Bove hätte schreiben können. MUSIK: CD Vitold Rek Nr. 8 / 0:00 - 0:45 drauf: Sprecherin: Der Vater: Emmanuel Bobovnikoff, russischer Emigrant aus dem jüdischen Ghetto von Kiew, ohne feste Einkünfte. Die Mutter: Henriette Michels, aus Luxemburg, arbeitet als Dienstmädchen in Paris. Die Eltern lernen sich in einer schäbigen Mansardenwohnung in der Rue Soufflot kennen. Am 20. April 1898 wird ihr erster Sohn Emmanuel geboren, vier Jahre später der Bruder Léon. Weil ihr Mann, genannt "der Prusco", in den Tag hinein lebt, ist Boves Mutter gezwungen, das Geld zu verdienen. Immer wieder muss die Familie die Wohnung wechseln, weil sie die Miete nicht bezahlen kann. Jahre später erinnert sich Léon: Zitator: Meistens stand Henriette mit ihren zwei Bälgern auf der Straße, das erbärmliche Mobiliar im Treppenhaus, ohne einen Sou in der Tasche, und lief wie eine Verrückte hin und her, ohne zu wissen, wohin oder an wen sie sich wenden sollte. Unter diesen fürchterlichen Umständen hatte sich der Prusco aus dem Staub gemacht - keiner wußte, wohin. Eines Tages wurde mittags an die Tür geklopft. Es waren jene Herren von der Polizei, die kamen, um Henriette und ihre Kinder kraft eines Papiers, das sie ihr hinhielten, aus der Wohnung zu werfen. Der Rauswurf erfolgte auf der Stelle und wurde auch unverzüglich durchgeführt. In zehn Minuten hatte man alles irgendwie aufeinandergestapelt; die Inspektoren rafften alles, so wie es gerade kam, zusammen: die Petroleumlampe mit den Bettüchern, die Kochtöpfe mit den Decken, die Matratze mit der Bratpfanne usw. Es gab keinen Protest. (Übersetzung: Thomas Laux) Sprecherin: Als Bove zwölf Jahre alt ist, lernt er eine neue Welt kennen. Sein Vater lebt inzwischen mit der reichen Engländerin Emily Overweg, einer weltoffenen und vielseitig interessierten Malerin, zusammen. Bove zieht mit dem Paar nach Genf und besucht dort das Collège Calvin. Er lernt Golf, Schach und Tennis spielen - doch das Trauma seiner Kindheit, die finanzielle und moralische Misere der Vergangenheit, holt ihn immer wieder ein. Hin- und hergerissen zwischen dem luxuriösen Genfer Leben und dem Elend der Mutter, mit dem er bei seinen Besuchen in Paris konfrontiert wird, beginnt er, sich eine eigene Welt zu erschaffen - eine Welt, die, wie es später in der Erzählung "Monsieur Thorpe" heißt, nur er allein betreten kann: Emmanuel Bove: Oft stellte ich mich ans Fenster und verharrte dort manchmal eine geschlagene Stunde lang, wobei ich dem Kommen und Gehen zusah, über meine Zukunft nachdachte und mir das Leben vorstellte, das ich führen würde, wenn ich einmal verheiratet wäre ... Kaum eingetreten, schloß ich mich immer sogleich ein. Mein erster Gedanke war, den Schlüssel abzuziehen, damit die zurückfallende Metallscheibe das Schlüsselloch bedecken konnte. Denn es war einer meiner lebhaftesten Wünsche, mich in Sicherheit zu fühlen an einem Ort, zu dem allein ich Zugang hatte, ein Wunsch nach Abkapselung, vergleichbar jenem anderen, den ich ebenfalls hatte, nämlich ein winziges Stück Land zu besitzen, das dennoch sehr ausgedehnt war, weil es mir bis zur Unendlichkeit in seiner Tiefe gehörte, ein Stück Land, in dessen Untergrund ich einen Palast gegraben hätte ... (Übersetzung: Thomas Laux) Sprecherin: Aus der Tiefe des eigenen Inneren wird Bove ein Werk von insgesamt 23 Romanen und über 30 Erzählungen erschaffen. Mit 14 Jahren weiß er, dass er Schriftsteller werden will. MUSIK: CD Vitold Rek Nr. 12 / 0:00 - 0:35 Sprecherin: Als der Erste Weltkrieg ausbricht, verliert Emily Overweg ihr Vermögen, das in England blockiert ist. Zwei Jahre lang schlägt sich Bove in Paris als Straßenbahn- schaffner, Kellner und Taxifahrer durch. Nach der Absolvierung eines dreijährigen Militärdienstes zieht er 1921 mit seiner ersten Frau Suzanne nach Tulln bei Wien. Er beginnt zu schreiben. Als er 1922 wieder nach Paris zurückkehrt, hat er ein Konvolut mit Manuskripten im Gepäck. Wenig später wird seine Erzählung "Nuit de Noël", die er an eine Zeitschrift geschickt hat, von Colette entdeckt. Sie bietet ihm an, in der Reihe, die sie im Ferenczi Verlag herausgibt, ein Buch zu veröffentlichen. Im Juni 1924 erscheint dort Boves erster Roman "Mes Amis" - "Meine Freunde". Emmanuel Bove: Wenn ich aufwache, steht mir der Mund offen. Meine Zähne sind belegt: Es wäre besser, sie am Abend zu putzen, aber das bringe ich nie über mich. In meinen Augenwinkeln eingetrocknete Tränen. Die Schultern tun mir nicht mehr weh. Ein Haarschwall bedeckt meine Stirn. Mit gespreizten Fingern streiche ich ihn zurück. Ohne Erfolg: wie die Seiten eines neuen Buches richtet er sich auf und fällt mir wieder über die Augen. Den Kopf senkend, merke ich, daß mir der Bart gewachsen ist: er sticht am Hals. Ein Wärmegefühl im Nacken, bleibe ich auf dem Rücken liegen, die Augen offen, die Leintücher bis zum Kinn, damit das Bett nicht auskühlt. Der Plafond ist bedeckt mit Feuchtigkeitsflecken: er ist so nah am Dach. Die Papiertapete wirft sich hier und da. Meine Einrichtungsgegenstände gleichen jenen der Trödler auf den Trottoirs. Das Rohr meines kleinen Ofens ist umwickelt mit Lappen wie ein Knie. Am oberen Rand des Fensters hängt schief ein Rollvorhang, außer Funktion ... Wenn es regnet, ist das Zimmer kalt. Es ist, als hätte niemand da gelegen. Das Wasser, das durch alle Fensterkaros eindringt, nagt am Kitt und bildet eine Lache auf dem Boden ... Einmal gewaschen, fühle ich mich besser. Ich atme durch die Nase. Meine Zähne können sich sehen lassen. Meine Hände werden sauber bleiben, bis zum Mittag ... Bevor ich gehe, ein kurzer Blick auf das Zimmer. Mein Bett ist schon kalt. Ein paar Federn schauen halb aus der Decke. In den Beinen meines Stuhls Löcher für Querstäbe. Die zwei Segmente eines Rundtisches hängen herab. Dieses Mobiliar gehört mir. Ein Freund hat es mir geschenkt, vor seinem Tod. Ich habe es persönlich desinfiziert, mit Schwefel, denn ich fürchte die ansteckenden Krankheiten. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme habe ich lange Zeit Angst gehabt. Ich hänge am Leben. (Übersetzung: Peter Handke) Sprecherin: Mit "Mes Amis", der Geschichte des Kriegsinvaliden Victor Bâton, der sich nach einem wahren Freund sehnt, gelingt Bove der literarische Durchbruch: Ein Meisterwerk, das einen ganz eigenen Ton anschlägt und keinem Vorbild, keiner Richtung zugeordnet werden kann. In seinem Vorwort zur französischen Neuausgabe des Romans erinnert sich der Schriftsteller Jean Cassou: Zitator: Was den Leser von "Mes Amis" an, seinem ersten Buch, so getroffen hat, das ist der vollendet-friedlich objektive Tonfall, den der Autor anwendet, um die Geschichte zu erzählen, deren Autor er ist. Der Tonfall eines Schriftstellers, und eines großen Schriftstellers ... Eine Kunst, die nicht zurückschreckt vor dem Schock und dem Unbehagen, ausgelöst von einer solchen Präzision. Dieser Schock und dieses Unbehagen werden schließlich gar zu einer Art von Horror; denn all diese minutiösen Details von der Misère rufen nicht das Mitleid hervor, sondern den Horror. (Übersetzung: Peter Handke) Sprecherin: Auch 50 Jahre später hat Bove nichts von seiner Originalität eingebüßt. Peter Handke, der Bove übersetzt und im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht hat, beschreibt seinen Eindruck, als er "Mes Amis" zum ersten Mal las: Zitator: Das war eine absolute Überraschung. Seine Schreibweise war so rein und bescheiden, andererseits aber war sie überhaupt nicht bescheiden. Eine Schreibweise, die es vor ihm nicht gab und auch nicht nach ihm, wie eine Zeichnung mit sehr klaren, zuvor nicht existierenden Linien; er war es, der danach suchte und der diese Linien aufspürte. Sprecherin: Nach dem Erscheinen von "Mes Amis" beginnt für Bove eine Phase schier unglaublicher Produktivität. In den kommenden sechs Jahren veröffentlicht er nicht weniger als acht Romane, vier Erzählungen und zwei Erzählbände. Seine Bücher werden in den wichtigen Literaturzeitschriften besprochen, doch Bove kümmert sich nicht um die Kritiker und setzt nie einen Fuß ins Rampenlicht der literarischen Öffentlichkeit. Eines der wenigen Zeugnisse, in denen er über sich selber Auskunft gibt, findet sich in einem Interview, das 1928 in der Zeitschrift "Candide" abgedruckt wird. Emmanuel Bove: Im Bereich Roman träume ich von etwas, das viel größer, viel tiefer ist als das, was ich bislang gemacht habe. Und ich bin mir auch bewußt, was mir dazu noch alles fehlt: eine Erfahrung, die ich nicht habe - Erfahrung im weitesten Sinne - , eine umfassendere und ausgeprägtere Kenntnis sowohl der Menschen als auch der Welt ... Im übrigen scheint es mir, daß man nicht einen Roman nach dem anderen schreiben kann, wie man es bei anderen Büchern tun könnte, ohne daß irgendeine Verbindung zwischen ihnen bestünde ... Ein Roman darf nicht eine vollendete, eine in sich gelungene Sache sein: Das heißt, man dürfte einen Roman nicht vom Werk seines Autors isolieren können, ebensowenig, wie man einen schönen Vers von einem Gedicht lösen kann. Es darf nicht den Eindruck einer in sich geschlossenen Arbeit machen, sondern muß Teil eines Ganzen sein. Balzac und Proust ist es gelungen, diesen Eindruck entstehen zu lassen, indem sie dieselben Figuren in ihrem ganzen Werk zirkulieren lassen. Kann man - um sich nicht beschränken zu müssen - nicht auch dahin gelangen, ohne daß dieselben Figuren wiederkehren, oder indem man sie nur zufällig wiederkehren läßt? Das ist es, was ich machen wollte, wenn es mir gelänge, die Bücher zu schreiben, die ich schreiben will. (Übersetzung: Thomas Laux) MUSIK: CD Vitold Rek Nr. 2 / 0:00 - 0:22 Emmanuel Bove: An den Häuserfassaden waren bereits breite graue Flecken zu sehen. Seit dem Morgen fiel ununterbrochen ein feiner Regen. Die Feuchtigkeit hatte nach und nach die geschützten Stellen erreicht: die Unterseite der Gewölbe, die Portale, die Parkettböden in den Geschäften und die immerhin noch von Markisen oder Balkonen überdachten Mauervorsprünge. Max Brissaut trat an ein Fenster des Salons und sah auf die trostlose Straße ... Der Nachmittag ging zu Ende. Madeleine, die versprochen hatte, zwischen fünf und sieben Uhr zu kommen, sollte also jeden Augenblick eintreffen ... Madeleine hatte der junge Mann tags zuvor zufällig kennengelernt, und zwar in der Avenue de l'Opéra, in der er gern herumflanierte. Dort war er auf sie getroffen, und sie war ihm aufgefallen. Während er seine Handschuhe, die er aus Koketterie trug, übergestreift hatte - den unteren Teil am Handgelenk zu den Fingern hin hochgekrempelt -, war er lässig hinter ihr her gegangen. Ab und zu wurde sie von Passanten verdeckt, was ihn zwang, einen Schritt zuzulegen, denn er hatte Angst, sie aus den Augen zu verlieren. Eine Art Schamgefühl hinderte ihn daran, sie zu überholen und sich ihr zu zeigen, ihr auf diese Weise zu verstehen zu geben, daß er vorhatte, sie anzusprechen - obwohl er sicher war, daß sie genau wußte, daß er hinter ihr herging ... In der Rue Auber wagte es Max immerhin, an der jungen Frau vorbeizugehen. Doch kaum war das vollbracht, blieb er wie zerstreut vor einem Geschäft stehen. Dieses Manöver hatte etwas von einer Präsentation. So als hätte er sich gezeigt, um der Unbekannten die Möglichkeit zu geben, ihn in Augenschein zu nehmen. Später könnte er es wiederum wagen, ihr ins Gesicht zu sehen, so daß sie für den Fall, er gefiele ihr nicht, nur den Kopf abzuwenden brauchte. Dies waren Feinsinnigkeiten, die nur von ihnen beiden verstanden wurden und die sie im Strom der gleichgültigen Masse bereits miteinander verbanden. An einem Kiosk kaufte Max sich eine Zeitung, um zu beweisen, daß er zu lesen pflegte, was ihn, weil es ihn aus dem Nichts und all dem möglichen Wahnsinn innerhalb der Menge, in der er sich vor Madeleines Augen, ohne zu lesen, bewegte hatte, heraushob, sogleich einem Mann ähneln ließ, den sie in einem Salon hätte antreffen können. Er ließ seinen Blick über ein paar Schlagzeilen gleiten, und als er meinte, dies genügte, um sich als normalen Menschen zu zeigen, glaubte er den Moment gekommen, um eine gewisse Teilnahmslosigkeit an den Tag zu legen, die ihm eine elegante Haltung verleihen und zugleich das, was an zu großer Ernsthaftigkeit im Kauf einer Zeitung zum Ausdruck kommen konnte, korrigieren sollte ... Diese kleinen Manöver folgten ohne Ordnung und vollkommen sinnlos aufeinander ... Als sein Blick sich unversehens mit dem der jungen Frau kreuzte, machte er, statt abzubrechen, mit diesem Manöver weiter ... Madeleine wiederum tat so, als bekäme sie nichts mit ... Sie leugnete die vorangegangenen Blickwechsel in so unverfrorener Weise, daß Max einen Augenblick lang den Eindruck hatte, all seine Annäherungsversuche wären tatsächlich unbemerkt geblieben ... Er nutzte ein Gedränge, um sich endlich der Unbekannten zu nähern ... "Ich weiß gar nicht, Madame, wie ich mich entschuldigen soll, Sie auf diese Weise anzusprechen!" (Übersetzung: Thomas Laux) Sprecherin: Was die Figuren von Boves Comédie humaine im Innersten zusammenhält, ist ein Gefühl existentieller Einsamkeit, Heimatlosigkeit und Entwurzelung: Außenseiter, Randfiguren, die keinen Platz in der Gesellschaft finden, Wartende, Enttäuschte und Betrogene, die von einem besseren Leben träumen. Mit messerscharfer Aufmerksamkeit beobachten sie sich selbst und ihre Umgebung - jede Geste, jedes Wimpernzucken hat eine eminente Bedeutung. Denn nicht das gesprochene Wort, sondern die Mimik und Gebärde ist es, die in ihr Inneres schauen lässt. Emmanue Bove: Victor Méril überquerte die Porte Maillot und bog in die Allee ein, die den Boulevard Maurice Barrès entlangführt. Es war halb zehn Uhr morgens. Es herrschte frisches, leichtes Märzwetter. Am Himmel war ein buntes Durcheinander von Azurblau, Wolken in grau-schwarz und anderen mit Schnee ... Am Haus Nr. 8 blieb Méril stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er ging weiter und behielt das erloschene Streichholz in seiner Hand. Mehrere Male ging Méril an dem klotzigen und altertümlichen Portalvorbau vorbei, an dessen rechter Seite sich auf der angestrichenen Mauer die Buchstaben des Städtischen Leihamtes aneinanderreihten: Crédit Municipal. Dieser schmutzige Winkel der Verwaltung unter dem einstmals luxuriösen Gewölbe zog Mérils Blicke an, als handele es sich um den Bühneneingang eines Theaters. Es würde reichen, diese Tür zu öffnen, um hinter die Wahrheit der Dinge zu kommen. Und dann empfand er Scham, durch diese Tür zu gehen angesichts der Mieter des Hauses, die ohne stehenzubleiben vorübergingen und nach hinten auf die mit Velours belegte Treppe zusteuerten. Es war wirklich mangelndes Taktgefühl seitens der Verwaltung, daß jeder Unglückliche derart dem verachtenden Blick eines Concierge ausgesetzt war, der es mit zwei so unterschiedlichen Arten von Klientel zu tun hatte. Er saß einfach da. Und er hatte es nicht versäumt, sich seiner Stellung zu bedienen. Hier, an diesem Ort, kam seinen Funktionen eine unerwartete Bedeutung zu. Am Ende entschloß sich Méril einzutreten. Er war froh, daß der Pfandgegenstand nicht sichtbar war. Wie jämmerlich wäre es erst gewesen, wenn er statt einiger Juwelen einen Packen Bettwäsche hergetragen hätte. Sowie er eingetreten war, legte sich seine Unruhe. Jetzt hätte er sogar der elegantesten Frau gegenübertreten können. An den Wänden klebten die Vorschriften. Da es sich hier um eine gemeinnützige Anstalt handelte, ging etwas Tolerantes von ihnen aus, und derjenige, der sich ihnen nicht unterworfen hätte, hätte allgemeine Mißbilligung hervorgerufen, so wie in solchen Situationen, in denen die Menschen fürchten, daß man der Gutherzigkeit überdrüssig werden könnte. Zur Rechten befand sich ein kleiner Schalter, wo das Pfand geschätzt wurde. Glücklicherweise waren Leute im Raum. Er konnte zusehen, wie die Dinge abgewickelt wurden. Ohne die Hand an seine Tasche zu legen, so als ob er nur um eine Auskunft bitten wollte, stellte sich Méril hinter einige Leute, die gerade da waren. Es überraschte ihn, daß niemand ihn beachtete. Jedoch ließ ihn diese Feststellung nicht ruhiger werden. Weiterhin kontrollierte er seine Gesten, änderte sie in einem fort, nahm ungeniert, da er ja wußte, daß ihn niemand beachtete, neue Posen ein - was aber wiederum gerade deshalb recht sonderbar wirkte. Vor dem Schalter war noch ein anderer Schalter, der zuvor wohl geöffnet hatte, jetzt aber geschlossen war. Dort stützte er sich mit dem Ellbogen auf. Mit einem Mal wurde dieser Schalter aufgemacht, und ein Angestellter wandte sich an ihn mit der Direktheit und dem Elan eines Mannes, der nunmehr seinen Dienst aufnimmt. Anderthalb Stunden später verließ Méril das Leihamt mit achthundert Francs. (Übersetzung: Thomas Laux) MUSIK: CD Jazz for Meditation Nr. 3 / 0:00 - 0:36 Sprecherin: In den 30er Jahren zieht sich Bove immer mehr ins Schreiben zurück. Er versucht, so Philippe Soupault, "übersehen zu werden, so wie andere versuchen, bekannt zu werden." Als die Pétain-Regierung im Oktober 1940 antisemitische Gesetze erlässt, flieht Bove zusammen mit seiner zweiten Frau Louise in den noch nicht besetzten Teil des Landes. Simone Monnier erinnert sich an eine Begegnung in einer Schule in Dieulefit, einem der Zentren der Résistance-Bewegung: Zitator: Ich sehe ihn genau vor mir in den Gängen der Schule. Er bewegte sich wie ein Schatten, ein wenig gebeugt ... Obwohl er gut aussah, fiel er nicht auf. Er war davon überzeugt, dass das, was er schrieb, nichts wert war, dass keiner ihn jemals lesen würde. Seine Frau Louise war sehr extrovertiert. So, wie sie extrovertiert war, war er introvertiert ... , mit einer Art innerer Flamme ... (Übersetzung: Thomas Laux) Sprecherin: Im November 1942, eine Woche vor der Landung der alliierten Truppen, erreichen Bove und seine Frau Nordafrika. Zwei Jahre leben sie im Exil in Algier. Bove engagiert sich im "Comité national des écrivains", der Résistance-Organisation der Schriftsteller, und schreibt Artikel für verschiedene Widerstandszeitungen. In Algier entstehen die drei letzten Romane "Flucht in der Nacht", "Einstellung des Verfahrens" und "Die Falle" - eine psychologische Studie über das von der Kollaboration zerrissene Frankreich zur Zeit des Vichy-Regimes. Als Bove den Roman in die Maschine diktiert, ist er bereits schwer krank. Im Oktober 1944 kehrt er mit Louise nach Paris zurück und stirbt dort am 13. Juli 1945 an den Folgen einer schweren Malaria, die er sich in Algerien zugezogen hat. Wenige Tage nach seinem Tod erscheint in den "Lettres Françaises" ein Nachruf von Pierre Bost, einem der engsten Freunde Emmanuel Boves: Zitator: Emmanuel Bove starb im Alter von gerade 47 Jahren. Er war der geborene Romancier, einer der ganz wenigen Romanciers seiner Generation. Seine Kindheit und Jugend waren schwierig. Er hatte viele Berufe ausgeübt, aber eines Tages, das konnte gar nicht anders kommen, da veröffentlichte er einen Roman: "Mes Amis". Der Erfolg kam schlagartig. Irrtum ausgeschlossen ... Er wußte ganz genau, was er zu tun hatte. Er besaß die Gradlinigkeit, diese Sicherheit, die ihn daran hinderte, jemals abzuschweifen... Mag sein, daß er sich armselige Helden ausgesucht hat, aber er hat sie nie "verachtet", und darin steckt vielleicht das große Geheimnis ... Man soll auch nicht glauben, wie einige Gemeinplätze es nahelegen, daß es sich hier um einen Schriftsteller der Schwäche und des Mittelmaßes handelt. Lesen Sie, und Sie werden unter der scheinbaren Ruhe eine plötzliche Leidenschaft entdecken, eine Heftigkeit, ja eine Grausamkeit, die es erlaubt, selbst einen Gemeinplatz zu riskieren und daran zu erinnern, daß in seinen Adern russisches Blut floß. (Übersetzung: Thomas Laux) Sprecherin: Nach seinem Tod geriet Bove in vollständige Vergessenheit. Erst 1977 begann man in Frankreich, seine Bücher wieder aufzulegen. Den Hauptgrund für dieses lange Verschwinden sieht sein Biograph Raymond Cousse darin, dass sich Bove, anders als Sartre und Camus, von keiner Partei vereinnahmen lässt. Weil seine Bedeutung "nur" in der Originalität seines Schreibens liegt, kann ihn niemand für sich nutzbar machen. Das ist seine Stärke, aber auch ein Handikap, der eigentliche Grund dafür, dass er immer eine Randfigur gewesen ist. Als Samuel Beckett in den 50er Jahren gefragt wurde, welchen Autor er am meisten zu lesen empfehle, antwortete er: Zitator: Emmanuel Bove. Wie niemand sonst verfügt er über das treffende Detail. Sprecherin: In Boves Nachlass findet sich ein Notizbuch aus dem Jahr 1944, in das eine - offensichtlich einer Zeitschrift entnommene - Karikatur eingeklebt ist. Darauf sieht man zwei ärmlich gekleidete Frauen, Mutter und Tochter, die am Bett eines alten kranken Mannes stehen. Ihnen gegenüber der wutschnaubende Vermieter, der gerade die Kündigung gebracht hat, weil die Familie die Miete nicht mehr bezahlen kann. In diesem Bild ist das ganze Trauma von Boves Kindheit enthalten: die unzähligen Wohnungswechsel und Vertreibungen, die finanzielle und moralische Misere der Eltern, die Heimatlosigkeit und Verbitterung. Noch wenige Monate vor seinem Tod schreibt Bove in sein Tagebuch: Emmanuel Bove: Merkwürdig, noch nie in meinem Leben habe ich einen Menschen getroffen, der wirklich verbittert ist, einen Menschen, dem ich mein Herz ausschütten könnte, dem ich all das sagen könnte, was ich über die Welt denke, einen Menschen, der so tief verletzt ist wie ich. Sprecherin: Das Schlüsselloch in der Tür ist verschlossen geblieben. Vielleicht hat Bove von seiner eigenen Geschichte deshalb so wenig preisgegeben, weil er in ihr ein unerschöpfliches Reservoir für seine Erzählungen fand. In "Aftalion, Alexandre" heißt es einmal: Emmanuel Bove: Er hätte so gerne alles gesagt, alles gestanden und sich beim Erzählen aller Einzelheiten seines Lebens Erleichterung verschafft. (Übersetzung: Ursula Dörrenbächer) MUSIK: CD Vitold Rek Nr. 17 / 0:00 - 1:00 1