COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Roh und doch romantisch - Jugendsexualität zwischen der Sehnsucht nach Familie und Pornografie Ein Feature von Julia Eikmann Redaktion: Kim Kindermann Produktion: 24.05.2011 Sendedatum: 26.05.2011 Sendeplatz: Forschung & Gesellschaft, Deutschlandradio Kultur Es ist jetzt 50 Jahre her, dass die Anti-Baby-Pille nach Deutschland kam und auch hierzulande das Sexualleben junger Menschen revolutionierte: 1961, rechtzeitig zum Jahrzehnt der sexuellen Emanzipation. Auf die prüden 50er folgten die wilden 60er, die eine etablierte Jugendsexualität erst möglich machten. Über dieses Sexualleben von jungen Menschen wird heute viel geredet. Mal gilt die Jugend, die mit großer Freizügigkeit und den Weiten des Internet aufgewachsen ist, als sexuell verroht. Dann wieder belegen Studien, dass Teenager heute besonders verantwortungsbewusst mit Liebe, Sex und Partnerschaft umgehen. Welchen Einfluss hat also die Sexualität, wie sie auf Porno-Kanälen im Internet praktiziert wird, auf die gelebte Sexualität von Jugendlichen? Was bedeutet Pornografie im Gesamt ihrer sexuellen Erfahrung? Können die Jugendlichen zwischen Fiktion und Realität unterscheiden? Und was für eine Realität wünschen sie sich? Roh und doch romantisch - Jugendsexualität zwischen der Sehnsucht nach Familie und Pornografie. Ein Feature von Julia Eikmann O-Ton1: Zeitfunk 1959 0'40 [schön altmodisch gesprochen mit flotter Tanzmusik drunter] Guten Abend, meine Damen und Herren. Hier ist der Zeitfunk mit seiner Sendung "Aktuelles zum Wochenende". Nutzen wir die wochenendliche Muße bei Ihnen zuhause und packen wir zwei heiße Eisen, zwei umstrittene Themen an. Erstes heißes Eisen: Nicht "Wie sag ich's meinem Kinde?", sondern "Wer sagt es meinem Kinde?". Wer soll es ihm sagen? Die sexuelle Aufklärung also im Schulunterricht. Doch zunächst ein Wort vorweg: Wir wenden uns hiermit ausgesprochen an die Eltern, meine Damen und Herren. Und sollten Sie jetzt Ihre Kinder bei sich im Radio haben, bitte entscheiden Sie selbst, ob Sie die Kinder zuhören lassen wollen. Sprecher: Berlin 1959. Die Gemüter sind erregt, weil eine Lehrerin im Stadtteil Steglitz eigenmächtig begonnen hat, ihre Schüler sexuell aufzuklären. Sie wurde daraufhin strafversetzt. Fast gleichzeitig verfügt das Schulamt aber, dass es die Pflicht eines jeden Lehrers ist, Sexualkunde zu unterrichten. So etwas gibt zu dieser Zeit in keinem anderen Land der Bundesrepublik. O-Ton2: Vox 1959 0'23 [Moderator:] Wir fragten einige Eltern, Väter und Mütter, wie sie es aufnehmen würden, wenn eines Tages ihr Sohn oder die Tochter nach Hause käme und berichtete: Wir haben heute gelernt, wo die Kinder wirklich herkommen. [Vater:] In meinem Falle würde ich sagen, man sollte es doch mir bzw. meiner Frau und mir, überlassen, wann ich meinem Kinde diese Dinge beibringe. Sprecherin: Fest steht: Zu der Zeit, Ende der 50er Jahre, haben die meisten Eltern nicht den Mut zur sexuellen Aufklärung. Atmo Musik Es soll noch zehn Jahre dauern, bis am Ende der 60er Jahre, des Jahrzehnts der sexuellen Emanzipation auch junger Menschen, ein anderer die drängenden Fragen der Jugend beantwortet. Sprecher: Dr. Sommer, seit 1969 Deutschlands Chefaufklärer im Dienste der Jugendzeitschrift "Bravo", gerät dabei des Öfteren in Konflikt mit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Im Jahr 1972 etwa kommt sein Bericht zum Thema Selbstbefriedigung auf den Index. Die Begründung: Forschung belege, dass Onanie zu "depressiven Stimmungen, paranoiden Redaktionen" und "Rückenmarkschwindsucht" führen kann. Die "Bravo" würde geradezu zu Selbstbefriedigung aufrufen. Sprecherin: Aus heutiger Sicht sind die Fragen der Teenager an das Beratungsteam mehr als harmlos. Achim, 13 Jahre alt, schreibt 1972: Zitator1: Meine Freundin und ich haben ein Problem. Wir wissen nicht, wie wir es anstellen sollen, wenn wir uns küssen möchten. Irgendwie haben wir beide Hemmungen. Wir gehen schon fast ein Jahr miteinander. Sprecherin: Vier Jahrzehnte und einen Jahrtausendwechsel später schreibt Alicia, 16: Zitatorin1: Wenn die Mädchen in meiner Klasse über Sex reden, werde ich immer ganz still. Alle haben sie schon mit einem Jungen geschlafen, nur ich nicht. Ich bin die letzte Jungfrau in der Klasse. Seit zwei Wochen bin ich zwar mit einem Jungen befreundet. Aber ich fühle mich einfach noch nicht so weit, mit ihm zu schlafen. Bitte sagt mir, was ich machen soll. Musik (späte 60er, frühe 70er) Sprecherin: Nach einem Jahr küssen? Nach zwei Wochen ins Bett? Musik (späte 60er, frühe 70er) Sprecherin: Seit den Anfängen der sexuellen Aufklärung hat sich viel getan. Eine etablierte Jugendsexualität ist damals im Grunde erst entstanden. Sprecher: Die Ehe hat ihr Monopol auf Sex verloren, nichtehelicher Geschlechtsverkehr ist nicht nur denkbar, er wird offen praktiziert. Das Durchschnittsalter des ersten Mals verlagert sich im Kontext der sexuellen Revolution nach vorne: von Anfang 20 auf etwa 17 Jahre. Sprecherin: Um Fragen zum eigenen oder dem anderen Geschlecht beantwortet zu bekommen, sind Jugendliche heute nicht mehr auf Dr. Sommer angewiesen, auf die Schule auch nicht, im Prinzip nicht einmal mehr auf die Eltern. Die Medien haben weite Teile dieses Feldes übernommen. Etwa der Kinderkanal Kika, mit Tipps, wie man eine ungewollte Erektion elegant verbergen kann. O-Ton3: Kika 0'24 [liegt Cartoon-artige-Musik drunter] Keine Panik, da lässt sich was machen: Verstecken mit Hilfe einer angepassten Körperhaltung. Wenn man im Sitzen von einer Erektion überrascht wird, ist das Beste was man tun kann: Sitzen bleiben! Ja, auch in der Schule. Gibt es keinen Tisch heißt die Devise: In Deckung gehen. Entspannt nach vorne lehnen. Jede peinliche Beule lässt sich so einfach verbergen. Sprecherin: Für etwas ältere Jugendliche beantwortet das Internet alle Fragen. Wann immer sie wollen. Aber es dient nicht nur als Wissenspool zum Informieren über Sexualität. Vor allem dient es zum Flirten, Chatten, Daten und in Kontakt sein mit anderen Jugendlichen über soziale Netzwerke. Sprecher: In einer aktuellen Studie über Jugendsexualität vom Institut für Sexualforschung der Universität Hamburg und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geben 96 Prozent der Teilnehmer an, einen Internetzugang zu haben. Mehr als zwei Drittel der 160 befragten Schülerinnen und Schüler hat bereits Erfahrungen mit Internet-Flirts gemacht. Sprecherin: Für eine gewisse Zeit in ihrer Pubertät, meistens aber auch schon früher, mit 12, 13, nutzen Teenager diese Möglichkeit, um über das Netz vermittelt erste Erfahrungen zu sammeln. Die Leiterin der Studie Silja Matthiesen: O-Ton4: SM Internet-Flirts 0'27 Wie mache ich denn das? Wie spreche ich jemanden an, den ich kennen lernen möchte? Wie flirte ich? Wie verabrede ich mich? Mit wem mache ich Dates, mit wem läuft es nicht gut, mit wem läuft es schlecht. Das machen fast alle eine gewisse Zeit lang und in der Altersspanne 16-19 nimmt das dann schon wieder ab und die realen Beziehungen, also die Beziehungen im Leben, die über die Schul oder Partys oder Freundeskreise entstehen, nehmen entsprechend mehr zu. Atmo1 Computer Tippen Mausklick Sprecherin: Bis dahin sind die Freundesnetzwerke SchülerVZ oder Jappy die Orte, an denen man sich trifft. Der 17-jährige Robert nutzt ausschließlich Jappy. Die Suchfunktion für potentielle Flirt- oder Beziehungspartner ist komfortabel. O-Ton5: Robert Jappy 2 Es gibt hier verschiedene Varianten, also wenn man jetzt ne Frau ist stellt man das ein, von wie vielen Jahren angefangen Du dir vorstellen könntest mit wem Du zusammen sein willst, also von 18 bis sagen wir mal 30. Und dann kannst Du Dir aussuchen: Single, Flirten, Foto, also kannst Du alles da einstellen, und dann klickst Du da und dann kommen die ganzen Singles. Geräusch: "Bing! Treffer!" Sprecher: Männer von 18 bis 30 Jahren, die Single sind, gerne flirten wollen und ein Foto von sich bei Jappy eingestellt haben, gibt es mehr als genug. Die Ergebnisliste zeigt über 1000 Treffer an, zum Beispiel den 18-jährigen Popmusik-Fan aus Niederkassel, der schon mehr als 40.000 Besucher auf seiner Seite hatte. Sucht man flirtwillige Single-Mädchen zwischen 14 und 16, mit langen blonden Haaren und blauen Augen, gibt es immer noch fast 600 Treffer. Musikakzent Sprecherin: Auch die 15-jährige Nessi hat hier ihren Freund kennen gelernt. O-Ton6: Nessi Kenne über Jappy 0'20 Wir kennen uns schon Jahre, durch Jappy halt so. Und dann haben wir immer geschrieben, was man halt so schreibt. Und dann hat er gefragt, ob wir uns mal treffen wollen. Und dann hab ich gesagt okay. Und dann haben wir uns halt paar Mal getroffen und jetzt sind wir halt zusammen. Musikakzent Sprecherin: Aber das Internet fungiert nicht nur als sozialer Treffpunkt und als Aufklärungsmedium Nummer eins. Auch als Fundgrube für Pornografie hat es das Igitt-Medium von gestern, das Fernsehen, längst abgelöst, wie diese Berliner Jungen bereitwillig erklären. O-Ton7: Porno2 0'03 [Thomas:] Pornos? Das Beste ist Pornhub [Bing:] Oder man googlet. [Piet:] Pornhub oder youporn ist das Beste. O-Ton 8: SM Fast alle haben schon geschaut 0'23: Wenn man so die Jugendlichen anschaut, die wir befragt haben, die ganz gut den Mainstream an Jugendlichen repräsentieren. Sprecherin: Die Soziologin Silja Matthiesen: Dann finden wir, dass fast alle 16-19-jährigen Jungen viele Pornos gucken. Und bei den Mädchen ist es sehr viel weniger, aber die haben auch schon alle mal Pornos gesehen und eine gewisse Erfahrung mit Pornografie. Sprecher: Ungefähr die Hälfte der 16-19-jährigen Jungen, so die Ergebnisse der Studie, schaut mindestens einmal die Woche Pornos. Für gewöhnlich in Form von Internetclips. Die meisten von ihnen nutzen Pornos alleine zu Hause zum Masturbieren. Dazu suchen sie die Szenen aus, die für sie erregend sind. Meistens klassischen Hetero-Sex. Sprecherin: Wie früher die Schmuddelhefte werden heute auch die Filmchen an Freunde weiter gegeben: über das Smartphone. Oder gleich mit Freunden zusammen konsumiert. Dann allerdings mit einem völlig anderen Hintergedanken. Silja Matthiesen, O-Ton 9: SM Handyclips2 0'41 Da geht es nicht um sexuelle Erregung, das ist in dem Kontext eher peinlich, und möchte man überhaupt nicht, sondern da geht es eher um so eine Art von modernen Mutproben und dass man sein Know-how austauscht. Und da werden auch andere Dinge verschickt, die eher nicht erotisch oder erregend sein sollen, sondern besonders abseitig oder bizarr. Und ich glaube, die Funktion für die Jugendlichen ist auf diese Weise Grenzen zu ziehen: Was ist eigentlich normal, in der weiten Welt des Sexuellen? Wo fühle ich mich zugehörig und was sind die Bereiche, die es sonst noch gibt, von denen ich mich aber abgrenze, indem ich sage iihhh, bäähh, kichere, oder sage "Das ist ja pervers, damit möchte ich nichts zu tun haben"? Musikakzent Sprecherin: Bleibt die Frage: Gucken die Jungen nur Pornos, oder wollen sie auch Porno-Sex haben? Wünschen sie sich das, was sie in den Erotik-Filmen sehen, auch für sich? Welchen Einfluss hat die Sexualität, wie sie auf Porno-Kanälen praktiziert wird, auf die gelebte Sexualität von Jugendlichen? Wenn man den Überschriften von Magazinen, den Titeln von Fernsehshows oder Büchern, die in den letzten Jahren auf den Markt kamen, Glauben schenkt, einen sehr großen. Sprecher: "Generation Porno" heißt es da, oder "Jugend ohne Jugend - Sie sehen Pornos mit 12, haben Sex mit 13, sind schwanger mit 14: Warum haben es unsere Kinder so eilig mit dem Erwachsenenwerden?". "Deutschlands sexuelle Tragödie", Untertitel: "Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist", ist eine Sammlung von Begegnungen, die Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher in der "Arche" in Berlin Hellersdorf hatten. Sprecherin: Die "Arche" ist eine renommierte christliche Hilfseinrichtung für bedürftige Kinder und Jugendliche, Berlin Hellersdorf ein Plattenbauviertel am Rande der Stadt. Pastor Bernd Siggelkow hat sie vor 16 Jahren gegründet, der Journalist Wolfgang Büscher ist der Sprecher der Einrichtung. Beide erleben in ihrer täglichen Arbeit mit Jugendlichen, wie diese mit Sexualität umgehen. Wolfgang Büscher: O-Ton 10: WB Sex wie Fußball 0'32 Für die meisten Kinder hier bei uns in den Archen ist Sexualität etwas ganz normales, das ist wie Sport, wie Fußballspielen. Mich hat einmal ein 15- Jähriger zu sich gerufen und hat gesagt, Wolfgang, guck mal, ich will dir was zeigen. Und dann hat er sein Handy rausgeholt, und dann hatten die da, drei, vier Jungs waren das, mit einem Mädchen Sex an einer Ecke des Schulhofes, also ein klassischer Gangbang. Und der Junge war sehr stolz, der rannte da mit erigiertem Glied rum und hat gesagt: Guck dir das mal an, bin ich nicht gut!? Sprecherin: Sexualität als Bestätigung, als Leistungsschau, für die man sich eine Bewertung, im besten Fall ein Lob, abholen kann. Tatsächlich, so Büscher, geht die Entfremdung noch weiter: Für viele Teenager ist Sex letztendlich eine Droge. Noch dazu eine, die man umsonst haben kann. So entdecken viele Arche-Kinder schon in jungen Jahren ihren Körper O-Ton 11: WB Droge2 0'19 Viele der Kinder wachsen mit einer gelebten Sexualität auf. Das heißt, sie sehen zu Hause Pornos, weil ihre Eltern sich zu Hause Pornos angucken. Und eine Mutter, wir haben mal mit ihr geredet, weil wir mitbekommen haben, dass ihr fünf-, sechsjähriger Junge schon hypersexualisiert war, da hat die Mutter gesagt, wieso, das ist doch eh nur Sex, da kann mein Kleiner doch zugucken, wo ist das Problem? Evtl. Musikakzent Sprecherin: Als Turbobeschleuniger für die Pornografisierung der Jugend hat Wolfgang Büscher das Internet und das Handy ausgemacht. Das Fernsehen spielt längst keine Rolle mehr. O-Ton 12: WB Sexy Clips 0'08 Wenn nachts auf dem Sportkanal irgendwelche Clips laufen von halbnackten Frauen dann halten sich unsere Jungs den Bauch vor Lachen. Sprecherin: Fast alle Jungen in der "Arche", so Wolfgang Büscher, treiben sich bei Porno-Anbietern im Internet rum. Der Zutritt ist meist gratis, die Hürden nicht hoch. Sprecher: Einfach die Warnung ignorieren, dass sich der präsentierte Inhalt ausschließlich an Erwachsene richtet, und per Mausklick bestätigen, älter als 18 Jahre zu sein. Schon wird der Zugang zu einer schier unendlichen Menge an Pornos jeden Genres eröffnet - mehr, als jede Erwachsenenvideothek jemals anbieten könnte. O-Ton 13: WB youporn2 0'12 Da gibt es Gangbang-Partys, da gibt es Sex mit Tieren, da gibt es alle möglichen Formen aller Gewaltexzesse und so weiter und für viele unserer Kinder ist eben das normal. Musikakzent Sprecherin: Aber Sex ist in Berlin-Hellersdorf nicht nur allgegenwärtig, er ist auch ein Art Statussymbol. Viele Mütter freuen sich, wenn ihre Töchter möglichst früh möglichst viele Sexualpartner haben. Sie sehen das als Zeichen, dass die Tochter schön und begehrenswert ist. O-Ton 14: WB Seele kommt nicht mit 0'05l Wir hatten hier mal ein 12-jähriges Mädchen, die hatte schon rund 40 Sexualpartner. Und ihre Mutter war sehr stolz drauf. Sprecherin: Mit Liebe hat Sex in dem Fall wenig zu tun. Trotzdem steckt oft ein Wunsch nach Liebe dahinter. Gerade bei den Mädchen: Der Junge will mich haben. Er achtet mich. Sprecher: Rein körperlich sind die Mädchen immer eher reif für den Geschlechtsverkehr. Lag der Zeitpunkt der ersten Periode zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch bei 14 Jahren, so hat er sich mittlerweile auf etwas über 10 Jahre vorgeschoben. Sprecherin: Aber wie weit kann man das Alter der ersten sexuellen Erfahrung drücken, ohne dass die Seele Schaden nimmt? O-Ton 15: WB Seele kommt nicht mit 0'25 1. Teil Hier ist das Problem, dass letztendlich die Sexualität, der Sport der Sexualität, eben die Seele überholt. Das heißt, die Kinder sind im Kopf noch gar nicht so weit. Mir hat mal ein Mädchen gesagt, ich würde viel lieber noch mit Puppen spielen, aber wenn ich die süßen Jungs sehe, dann bin ich sofort mit ihnen im Bett. Musikakzent Sprecherin: Welche Folgen hat es auf Dauer, wenn die Kluft zwischen körperlicher und geistig- psychischer Sexualreife immer größer wird? Die Verantwortung jedenfalls bleibt auf der Strecke. Viele Kinder und Jugendliche, die in die Arche kommen, seien überhaupt nicht aufgeklärt, berichtet Wolfgang Büscher. Kondome würden nicht benutzt. O-Ton 16: WB Untereinander miteinander 0'22 Also wir hören hier in Berlin Hellersdorf immer wieder den Spruch: Unsere Frauen sind sauber, unsere Typen sind sauber. Die denken halt, man schläft nur untereinander miteinander, da kann nichts passieren. Sprecherin: Nicht nur Geschlechtskrankheiten, auch ungewollte Schwangerschaften - mitunter bereits in jungen Jahren - sind die Folge. O-Ton 17: WB Bsp Brian 0'09 Wir haben hier einen 15-jährigen Jungen in der Arche, von dem sind drei Mädchen schwanger. Die sind 12,14 und 15. Und er hat mir gesagt, wieso, muss ich doch eh nicht bezahlen, ich bekomm doch später eh Hartz IV. Musikakzent Sprecherin: Teenager, die früh erste sexuelle Erfahrungen sammeln. Die früh schwanger werden. Für die Sex nicht Liebe bedeutet, sondern den kleinen Kick, eine Bestätigung, eine Selbstverständlichkeit. Sieht so die Jugendsexualität von heute aus? Nein, sagt Silja Matthiesen. Die Ergebnisse ihrer repräsentativen Studie über Jugendsexualität decken sich überhaupt nicht mit der Realität, die Büscher und Siggelkow in ihrem Buch "Deutschlands sexuelle Tragödie" beschreiben. Deren Existenz möchte die Wissenschaftlerin keinesfalls in Abrede stellen. Aber die Debatte, die losgetreten wurde, hält sie für viel zu undifferenziert. O-Ton 18: SM Kritik Sexuelle Tragödie kurz 0'29: Da wird aus den Fällen, die er da berichtet, ja geschlossen auf die Jugendlichen, mit Thesen wie "Kinder heute lernen nicht mehr was Liebe ist" oder "Liebe und Sexualität werden ganz entkoppelt" oder "alle Jugendlichen hatten mindestens schon 22 Sexpartner". Das stimmt so einfach nicht. Also, ich kritisiere an dem Buch, dass es ausgehend von einer sehr speziellen Gruppe Verallgemeinerungen macht, die nicht zulässig sind und nicht von empirischen Daten gestützt. Sprecherin: Diese empirischen Daten liefert Matthiesen nun selbst. Ergänzend zu der bereits seit 1980 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durchgeführten Studie, haben sie und ihr Team 160 Berufsschüler, Realschüler und Gymnasiasten in Hamburg und Leipzig befragt. Und sind zu dem Schluss gekommen, dass Jugendliche viel besser sind als ihr Ruf. Sprecher: Stichwort Teenagerschwangerschaft: Angebliche steigende Zahlen von schwangeren Jugendlichen werden immer wieder als Argument für sexuelle Verwahrlosung ins Feld geführt. Allerdings stimmen diese Zahlen nicht. O-Ton 19: Silja Matthiesen Jugendschwangerschaft 0'28 Da kann man klar sagen, es gibt Daten des statistischen Bundesamts, für Deutschland vergleichbar ab 1996, die zeigen dass wir keine Zunahme von Teenagerschwangerschaftsraten haben. Das gibt so eine Wellenbewegung, ein bisschen angestiegen, Anfang der 2000er Jahre war die Spitze, seit zehn Jahren fallen die Raten der Jugendschwangerschaften. Wir sind auf dem Niveau von 1996, es gibt keine Zunahmen. Sprecher: Von 1000 Mädchen im Alter von 15 bis 17 Jahren werden statistisch gesehen sieben schwanger. Fast alle ungewollt. Etwa zwei Drittel entscheiden sich gegen das Kind. Verglichen mit anderen westeuropäischen Ländern sind die Zahlen in Deutschland insgesamt auf einem sehr niedrigen Niveau. In den USA werden jedes Jahr fast viermal so viele Teenager schwanger. Und das obwohl es dort viel strengere Vorkehrungen gibt, Jugendliche von sexuellen Einflüssen fern zu halten. Sprecherin: Oder gerade deswegen? Offenbar haben der liberale Umgang und die generelle Akzeptanz von Sexualität unter Jugendlichen einen positiven Einfluss auf das verantwortliche Handeln der Teenager. Darüber hinaus ist das Niveau der sexuellen Aufklärung in Deutschland relativ hoch und es gibt ein flächendeckendes Netz an Beratungseinrichtungen - und sexuell sehr verantwortlich agierende Jugendliche. Musikakzent O-Ton 20: Robert, 17, Verhütung Ja, auf jeden Fall, mit Kondom. Ich will ja keine Krankheit dann haben. Das ist schlimm sowas. O-Ton 21: Lea, 14, Pille Wir haben als erstes am Anfang Kondome auch noch benutzt, aber da ich ja jetzt schon seit zwei Jahren die Pille auch nehme, regelmäßig, denken wir, dass da nichts passieren kann. Also wir nehmen nur die Pille. Also ich. O-Ton 22: Yves, 16, Verhütung 0'16 Weil ich mir meiner Meinung nach mit 16 schon das Leben versauen würde, hätte ich ein Kind. Weil ich mich dann drum kümmern müsste und die Schule im Hintergrund bleibt, und die Schule am wichtigsten ist im Moment. Und weil ich es auch noch nicht möchte. Kinder oder auch sexuell übertragbare Krankheiten wie Syphilis oder Tripper oder Aids. Das wär nicht so schön. O-Ton 23: Cindy Verhütung wichtig 0'11 Doch, Verhütung ist mir schon wichtig. Mit 17 will man ja nicht unbedingt ein Kind haben und alles, oder wenn der andere Krankheiten hat, will man die ja auch nicht haben. Sprecher: Verhütung spielt heute für junge Menschen eine wesentliche Rolle. Fast 70 Prozent der Mädchen und 60 Prozent der Jungen sprechen ausführlich mit ihren Eltern über das Thema. Das war vor dreißig Jahren noch ganz anders. Damals hat nur jedes dritte Mädchen und jeder vierte Junge mit seinen Eltern über Möglichkeiten des geschützten Geschlechtsverkehrs gesprochen. Der Anteil derer, die sich schon beim ersten Mal schützen, ist deutlich gestiegen. Auf die Frage, ob sie beim letzten Sex verhütet haben, antworten über 90 Prozent der befragten Jugendlichen mit ja - genau so viele wie bei einer Umfrage unter Erwachsenen. Die zentralen Verhütungsmittel sind nach wie vor Pille und Kondom. O-Ton 24: SM Verhütung 0'31 Der klassische Ansatz für heterosexuelle Jugendliche ist ungefähr so: Wenn man Sex außerhalb von festen Beziehungen hat oder die ersten Male: immer mit Kondom. Sex in festen Beziehungen lieber auf die Dauer das Kondom weglassen und die Pille nehmen. Das bedeutet auch, die Verhütungsverantwortung wechselt von den Jungen oder jungen Männern, die eben zentral für das Kondom verantwortlich sind, hin zu den Mädchen jungen Frauen, die die Pille nehmen. Sprecherin: Überhaupt: Das erste Mal. Auf Musik: O-Ton 25: Lennie, 17, Erstes Mal Das war mit 14. Ja, das war irgendwie nicht das Gelbe vom Ei. O-Ton 26: Nessi, 15, 1.Mal 0'12 Und es war draußen. Auf der Bank. Und nein, wir haben nicht verhütet. Wir haben einfach nicht drüber nach gedacht. Wir hatten mehr Angst, dass uns jemand erwischt. Sprecher: Bei ihrem ersten Geschlechtsverkehr sind die Jugendlichen im Durchschnitt zwischen 16 und 17 Jahren alt - eine Zahl, die seit den frühen 80er Jahren unverändert stabil geblieben ist. Allerdings streckt sich die Verteilung: Jeder vierte Teenager, davon etwas mehr Mädchen als Jungen, hat bereits vor seinem 15. Lebensjahr Sex. Sehr früh wäre mit 12 oder 13 Jahren. Wiederum ein Viertel erlebt sein erstes Mal nach dem 18. Geburtstag. Musikakzent Sprecherin: Im Schnitt haben die Jugendlichen heute also nicht eher Sex als die Generationen vor ihnen, sie verhüten besser als je zuvor und es gibt nicht mehr Teenager- Schwangerschaften als früher. Was ist also dran an dem Ruf einer verrohten Jugend, einer Generation Porno? Silja Matthiesen. O-Ton 27: SM Generation Porno 0'39: Also, ich finde das eine sehr unglückliche Art und Weise, die Generation der momentan 16-19-Jährigen zu charakterisieren, denn wenn man sich fragt, was die interessiert in Zusammenhang mit Sexualität in ihrem eigenen Leben, dann sind das Liebe und Beziehung, Treue, Eifersucht, ne Freundin finden, nen Freund finden, das sind für die ganz wichtige Themen, damit setzen sie sich auseinander. Und Pornos gucken kommt dazu, bei den Jungs mehr als bei den Mädchen, ist aber von dem, was sie dann konkret machen und erleben im Sexuellen, relativ getrennt. Sprecher: Pornos anschauen ist für die jungen Männer zu einer symbolischen Geste geworden: Mit ihrem zur Schau gestellten Interesse an den Filmen stützen sie ihre heterosexuelle Sexualität. Sprecherin: Und Mädchen wiederum zeigen ihre, indem sie demonstrativ ihr Missfallen an Pornos zum Ausdruck bringen. Der tatsächliche Einfluss von Pornografie auf die sexuelle Lebenswelt der Jugendlichen bleibt sehr moderat oder ist - abhängig von deren Erfahrungen - nicht vorhanden. Dass sich Jugendliche heute viel weniger von Medien beeinflussen lassen als häufig angenommen wird, bestätigt Petra Winkler, Sexualberaterin bei Pro Familia. O-Ton 28: PW Medien 0'28 Wir würden sagen, dass es bedingt für manche Jugendlichen ein Risiko ist, dass sie meinen, die Welt ist so wie das Internet ihnen das darstellt, dass es aber für das Gros der Jugendlichen keine Bedeutung. Weil was wir wissen ist, dass sie schon differenzieren können: Was ist Film und was ist Realität? Dass sie das durchaus auseinander halten können. Und das ist eine Qualität, die die jungen Menschen heutzutage haben. Sprecherin: Junge Menschen, die immerhin mit diesen Medien aufgewachsen sind, die sich - anders als ihre Eltern - ein Leben ohne Internet und Handy gar nicht mehr vorstellen können. Womöglich sind es die Erwachsenen, die mit den allgegenwärtigen Sex- Darstellungen nicht umgehen können und wollen. Und deswegen eine Verrohung der Jugend befürchten. O-Ton 29: PW nicht roh 0'32 Die jungen Leute sind nicht verroht und haben nicht mehr Sex als andere Generationen. Ich finde es ja interessant, dass es eher rückläufig ist. Das spiegelt sich in den Beratungen: Man wartet eher auf die richtige Person, mit der man Sex hat, das darf dauern. Es geht nicht um die Häufigkeit des Sex', es geht um die Qualität, es geht um die Liebe und es geht um die Gefühle. Und wenn wir hören von der verrohten Jugend, dann können wir dem einfach nicht entsprechen, weil sich das anders in den Gesprächen hier in der Beratung mit den jungen Menschen wiederspiegelt. Musikazent Sprecher: Es geht um Liebe, es geht um Gefühle. Ein Befund, der nicht nur in der Beratungsstelle festgestellt wird, sondern auch Ergebnis der Jugendsex-Studie ist: Liebe, Treue, eine feste Beziehung, das sind die Wünsche der Jugend von heute. Sex... O-Ton 30: Yves 16, Sex nicht das wichtigste 0'11 ...ist nicht das Wichtigste, auf jeden Fall nicht. Eher so Gefühle und Sinne wie Vertrauen und so. Ja, schlagkräftige Wörter halt O-Ton 31: Nessi Liebe 0'05 Gefühle, Leidenschaft, Vertrauen, Miteinander O-Ton 32: Cindy Liebe 0'08 Das der andere Vertrauen zueinander hat und immer für einen da ist und dass man viel miteinander unternimmt. O-Ton 33: Robert Sex ohne Liebe? 0'08 Also, für mich geht das eigentlich nur in der Beziehung. Also ich kann irgendwie nicht irgendwie mit jemand anderes dann so, ähm,"machen", wenn ich nicht weiß, dass ich sie liebe. O-Ton 34: Lea, 14, Sex Liebe, also, dass man - ich weiß nicht, wie ich das sagen soll - sich noch mehr spürt, als wenn man nur so auf der Straße Händchenhalten rum läuft. Sprecherin: Es sind einfache, traditionelle Werte, nach denen sich die jungen Menschen heute sehnen - einen Job, ein Haus, eine gute Beziehung, Kinder. O-Ton 35: Lennie, 17, Famile Also, Familie wär schon ganz cool. O-Ton 36: Jette, 16, Familie Ich wünsch mir eigentlich später einen Mann zu haben und verheiratet zu sein und Kinder zu haben. O-Ton 37: Lennie, 17, Kinder Auf jeden Fall einen Jungen mit dabei, dem man seinen ganzen Kram so vererben kann, seine Hobbys, das wär cool. Sprecher: Die Jugend, die zu Unrecht als "Generation Porno" stigmatisiert wird, hat ein ganz romantisches Liebesideal. Übrigens auch die Teenager, die sich an den Rändern der Gesellschaft behaupten müssen. Sie haben es allerdings schwerer als ihre Altersgenossen, dieses Ideal einzulösen. Denn sie haben nie gelernt, wie man eine Beziehung pflegt und Schwierigkeiten gemeinsam durchsteht. Sprecherin: Petra Winkler von Pro Familie ist jeden Tag mit sexuellen Konflikten Jugendlicher konfrontiert. Wenn man sie fragt, was diese Generation lernen sollte, was sie anders machen könnte, was besser, dann lautet ihre einfache Antwort an die Teenager: O-Ton 38: PW bleibt so2 0'27 Bleibt so wie ihr seid! Weil mir das gut gefällt, wie die jungen Leute heute sind. Dass sie wirklich sehr individuell sind, und das sie schon auch gucken auf ihre Grenzen und ihre Recht und dass sie viel informierter und reflektierter sind, als man ihnen allgemein zuschreibt. Und da freue ich mich wenn sie so bleiben, dass sie wirklich Beziehungen wollen und nicht sag ich mal permanent wechselnde Partnerschaften, also, das möchte ich nicht in Abrede stellen, das kann auch in Ordnung sein, aber die Jugendlichen wollen ganz viel Normales, es geht um Normalität. Sprecherin: Sie eifern damit nicht unbedingt ihren Eltern nach. Aber durchaus ihrer Großelterngeneration. Was nicht verwunderlich ist, sind doch die Teenager von heute in einer Zeit groß geworden, die von Unwägbarkeiten geprägt ist: Die Jobs sind genau so wenig sicher wie die Stabilität der Währung, der Regierung oder gar des Klimas. Es geht ihnen um das kleine Stück privates Glück, die Sicherheit einer Familie, ein Nest zum Geborgen fühlen. Normalität. Musikakzent 1