Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 04. Oktober 2014, 11.05 - 12.00 Uhr When I´m Sixty Four - Draufgänger in Großbritannien mit Reportagen von Ruth Rach Redaktion und Moderation: Katrin Michaelsen Musikauswahl : Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - In meiner Familie spielt die ältere Generation die wichtigste Rolle. Vor allem meine Oma. Sie hab ich ungemein bewundert. Männer tun sich schwer, nach dem Ruhestand ein neues Leben aufzubauen, weil sie außerhalb der Arbeit kaum Kontakte gepflegt haben. Andrerseits werden soziale Einrichtungen für Senioren vor allem von Frauen genutzt und von Frauen organisiert. Aber Männer ticken anders. Ex Akademikerinnen, Bildungsbürgerinnen, Alteingesessen. Zäh bis zum Geht-Nicht-Mehr. Und wild entschlossen, sich persönlich weiterzuentwickeln. Bis zum letzten Schnaufer. (lacht) When I´m Sixty Four - Draufgänger in Großbritannien. Gesichter Europas mit Reportagen von Ruth Rach. Am Mikrofon Katrin Michaelsen War man so jung, wie man sich fühlt, oder so alt, wie man aussah? Der Schaffner, oder Fahrkartenkontrolleur, oder Zugbegleiter oder wie die sich jetzt nannten, hatte ihn keines Blickes gewürdigt. Der sah nur ein Seniorenticket zu ermäßigtem Preis und hielt ihn für einen problemlosen und uninteressierten Alten, einen Geizkragen, der seinen eigenen Kaffee mitbrachte, um Geld zu sparen. (...) Er stellte die Thermoskanne auf dem Tischchen ab und wickelte das Päckchen aus der Folie. Schokikeksi. Jackos Schokikeksi. Insgeheim nannte er sie immer noch so. War das richtig oder falsch? War man so jung wie man sich fühlte oder so alt wie man aussah? Das war heutzutage die große Frage, wie ihm schien. Vielleicht die einzige Frage. Er schenkte sich Kaffee ein und aß einen Keks. Wenn es um das Alter und das Altwerden geht, dann tauchen jede Menge Klischees auf: Alt zu sein, das bedeutet Krankheit, Abhängigkeit, und Einsamkeit, Jung zu sein dagegen Freiheit und Autonomie. Was zwar stimmen kann, aber nicht zwangsläufig ist. Auch in Großbritannien ist der demografische Wandel ein großes Thema, obwohl die britische Bevölkerung nicht ganz so schnell altert wie die anderen Nationen Europas. Und bislang dominierten die negativen Aspekte des Älterwerdens. Schließlich lebt ein Drittel der britischen Rentner in Armut. Doch das Blatt beginnt sich zu wenden: Es gibt immer mehr Männer und Frauen, die traditionelle Klischees über den Haufen werfen wollen, die bereit sind, andere Wege zu gehen und Neues auszuprobieren. Auch jenseits der 64. Draufgänger eben. Getreu dem Motto "Es ist nie zu spät". In der "Company of Elders", einem modernen Londoner Tanztheater, wird die Frage nach den körperlichen Grenzen im Alter ganz neu bewertet. Die 25 Mitglieder der Truppe sind über 60 Jahre alt, sie sind keine Profis, führen aber choreografisch anspruchsvolle Stücke auf. Im britischen Parlament, auf großen Tanzfestivals, auf Tourneen durch ganz Europa. Die "Company of Elders" ist Teil des renommierten Sadler´s Wells Theaters in London. Theoretisch kann jeder mittanzen, der ein entsprechendes Alter vorzuweisen hat, doch die Warteliste für neue Mitglieder ist lang. Allerdings sind inzwischen auch in anderen britischen Städten moderne Tanztheater entstanden, nach dem Vorbild der "Company of Elders". Reportage 1 Tanzen ist ihr Leben - Probenbesuch bei der "Company of Elders". Ballettstangen, Spiegelwände, Schwingboden, ein typischer Übungssaal im Sadler's Wells Theater in London. Aber die Tänzer, die hier proben, sind weniger typisch. Sie besitzen keine perfekten, durchtrainierten Körper. Einige haben künstliche Hüft- und Kniegelenke, zwei tanzen mit Herzschrittmacher. Rechnen sie ihr Alter zusammen, dann kommen sie auf fast zweitausend Jahre. Die Company of Elders besteht aus 25 Mitgliedern zwischen 60 und 91, viele sind seit der Gründung des Tanztrupps dabei. Das war im Jahr 1989. Keiner war als Tänzer ausgebildet. Das neue Stück, das sie proben, ist sehr modern und sehr kompliziert. ''In Your Rooms", wurde von Hofesh Shechter kreiert, einem jungen israelischen Choreographen. Seine Werke sind für ihre dunkle Intensität bekannt. "Viel zarter auftreten, und vor allen Dingen im Rhytmus bleiben", wiederholt Ballettmeister Sam, ein junger Mann mit unerbittlicher Geduld. Die Tänzer bitten um mehr Lautstärke, einer rückt sein Hörgerät zurecht; dann beginnen sie wieder von vorne. Zum fünften Mal. "Total verwackelt" findet Sam. "Haltet euch doch an die Orientierungszeichen auf dem Boden. Und achtet auf die Musik. Mehr Konzentration bitte. Dabei ist die Truppe total bei der Sache. Und beginnt wieder von vorne. In sechs Wochen ist die Aufführung. Bis dahin muss jede Abfolge stimmen. Das gröβte Problem ist, sich an alle Bewegungsabläufe zu erinnern, sagt Sybil in der kurzen Pause. Sybil tanzt wie die meisten barfuss, und ist schlabbrig bequem gekleidet. Gerade eben hatte ich einen totalen Aussetzer. Aber ich freue mich, dass ich überhaupt tanzen kann, in meinem Alter. Ich bin 84 aber noch lange nicht die Älteste... Als Kind hatte Sybil ein paar Ballettstunden, war aber nicht sonderlich gut. Jetzt tanzt sie im Sadlers Wells - auf der Hauptbühne. Darauf ist sie wahnsinnig stolz. Damien wiederum ist erst 70, und damit praktisch das Nesthäkchen in der Truppe. Das Tanzen habe sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Als ich zu tanzen anfing, dachte ich, das ist total verrückt. Ich war ein typischer Fuβballprolo, und drückte mich vor allen Dingen in den Sportkneipen herum. Jetzt gehe ich mit der Company of Elders auf Tournee! Wir waren schon in Holland, in Österreich, in Venedig, um den Leuten zu zeigen, was wir Alten alles können. Viele Briten, gerade die Männer, sind viel zu scheu fürs Tanzen. Aber seit ich tanze, bin ich ein neuer Mensch. Ein neuer Mann. Damien schiebt einer zierlichen Frau mit einem gekrümmten Rücken einen Stuhl hin, Und einen Stock. Pam, 84, hat zwei Wirbelsäulenoperationen hinter sich. Ab und zu muss ich mich ausruhen. Wenn ich gehe oder stehe, brauche ich einen Stock, aber niemals zum Tanzen. "Tanzen ist besser als jede Physiotherapie", findet Pam. "Und das beste Gedächtnistraining". Pam ist Ärztin. 40 Jahre lang hat sie der Beruf aufgefressen. Vor 14 Jahren trat sie der Company of Elders bei. . Für ihre Mitglieder ist die Company of Elders ein wichtiger Fixpunkt geworden, sagt Pam, eine Art Wahlfamilie Gerade für Leute, die sonst keine Angehörigen mehr haben, ist Kontakt, auch der physische unglaublich wichtig: das-Einander-in-Freundschaft-begegnen und sich berühren. Die Pause ist vorbei. Die Männer schlieβen sich zu einer Phalanx zusammen, gehen langsam zu Boden. Jetzt bilden sich Dreiergruppen, und schlieβlich Paare: die sich unendlich kurz berühren, wie im Schock betrachten. Dann gehen sie auseinander. Nicht schlecht fürs erste, sagt Phil, ein junger Berufstänzer mit Rasta-Locken. Phil zeigt, wie die Bewegungen aussehen können: geschmeidig dreht er sich um sich selbst, geht wie in Zeitlupe zu Boden. Seine Elèven sind hin und weg. Diese Leute haben mehr Enthusiasmus, und mehr Fragen als professionelle Tänzer, sagen Phil und Sam in der Pause am Theatereingang. Beide gehören zur Hofesh Shechter Dance-Company. Natürlich wurde der Tanz für die Company of Elders angepasst, sagt Phil. Und natürlich muss er mehr Geduld aufbringen, weil sich die Elders die Schritte lange nicht so gut merken könnten. Andrerseits geht es gerade in diesem Stück darum, Emotionen zu mobilisieren, ergänzt Sam. Und da sei die Company of Elders im Vorteil: ihre Mitglieder können auf viel mehr Lebenserfahrung zurückgreifen. Sie sehen nicht aus wie Tänzer, die ein Stück aufführen. Sondern wie Menschen, die tanzen. Drinnen im Übungssaal wärmt sich Geoff unterdessen schon für die nächste Session auf. Geoff, grasgrünes Hemd, barfuβ, dreht mühelos ein paar Pirouetten. Ich hab mein ganzes Leben lang getanzt, Ballroom, Square. Im Jahr 1990 suchte die Company of Elders dringend mehr Männer. Ich war der Mann Nummer zwei. Seitdem bin ich dabei. Tanzen ist mein Ein und Alles. Tanzen ist mein Leben. Und ich bin 91. Herrlich ist für alte Leute Ofen und Burgunder rot Und zuletzt ein sanfter Tod - Aber später, noch nicht heute. aus "Altwerden" von Herrmann Hesse Wer heute 64, der blickt auf eine Jugend in den 1960er Jahren zurück, dem Jahrzehnt der Rebellion, in dem konventionelle Gesellschafts-Muster auf den Kopf gestellt wurden. Angesagt waren ausgefallene Kleidung, der Drang nach kultureller und politischer Freiheit, immer mit dem Ziel, Spießertum und vorgegebene Verhaltensmuster zu durchkreuzen. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet diese Generation heute mehr denn je bereit ist, mit herkömmlichen Alters-Klischees zu brechen. Heißt: Sich nicht zur Ruhe setzen, aktiv bleiben, Dinge ausprobieren, Neues lernen. An der University oft the Third Age geht das. Der britischen Universität für ältere Semester: Keine Hausaufgaben, keine Prüfungen und nur minimale Studiengebühren. Lernen an der "U3A" soll reines Vergnügen sein. Und das basiert auf dem Prinzip der Selbsthilfe, was bedeutet, jedes Seminar wird von einem Mitglied angeboten, das über Expertenwissen verfügt, ganz gleich ob emeritierter Professor oder passionierter Laie. Alles Unentgeltlich. Ein Erfolgsmodell in ganz Großbritannien. 900 "U3As" wurden allein im Jahr 2013 gezählt, und es werden immer mehr. Reportage 2 Weiterbildung bis zum letzten Schnaufer - Großer Andrang bei der University oft he Third Age. Dienstagmorgen in Lewes, einer südenglischen Kleinstadt in der Grafschaft Sussex. Müde Mütter, quengelige Kleinkinder, schläfriger Verkehr. Hellwach hingegen die Senioren im Rathaussaal. 70 Frauen und 10 Männer sitzen erwartungsvoll auf roten Polsterstühlen. Perlenohrringe, vernünftiges Schuhwerk, graues Haar. Alle sind in der U3A eingeschrieben, der University of the Third Age, der britischen Universität für reifere Semester. Das Programm für diesen Vormittag: der Surrealismus in Literatur und Kunst, eine zweistündige Vorlesung mit dem emeritierten Universitätsdozenten Terry Hodgson. Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Sein Wochenend-Kolloquium über Virginia Woolf war ausgezeichnet, schwärmt Bronwyn, 71. Aber sein Seminar über Thomas Mann war fast noch besser, trumpft ihre Sitznachbarin auf. An die vielen anderen Autoren aber können sich die beiden nicht mehr erinnern. Ach, das Gedächtnis! Die University of the Third Age ist die ideale Einrichtung für Leute, die ein gewisses Alter erreicht haben, viel freie Zeit haben, geistig aktiv bleiben und neue Sachen voneinander lernen wollen, sagt Janet Hammond. Janet ist um die 70. Lebhaft, freundlich, resolut. Janet trägt eine modische Hornbrille, einen roten Pulli, und eine schicke dunkelblaue Hose. Sie hat sich die Vorlesungsserie 'Art Matters' ausgedacht. Die U3A Gruppe 'Art Matters' besteht nun schon im zehnten Jahr. Allerdings bieten wir keinen vollständigen Abriss der Kunstgeschichte an, sondern eklektische Themen, die von verschiedenen Dozenten behandelt werden. Manche sind Experten, andere Amateure. Niemand wird bezahlt. Alles geschieht auf freiwilliger Basis. Insgesamt besteht die Serie aus zehn Vorlesungen die alle zwei Wochen stattfinden und über zwei Semester im Jahr verteilt sind. Ein Konzept, das den Leuten ausgesprochen gut gefällt.. Die U3A ist eigentlich eine französische Erfindung, die Anfang der 80er Jahre auch im Vereinigten Königreich Fuβ fasste, und in dem Universitätsstädtchen Lewes begeistert aufgegriffen wurde. Manche U3A Gruppen sind viel kleiner, 8 oder 10, 12 Leute, die sich oft im Wohnzimmer treffen, um zum Beispiel Deutsch zu lernen. Das Angebot ist riesig: Aktuelle Politik. Kreatives Schreiben. Badminton. Croquet. Vogelkunde. 'St Petersburg: Literatur und Politik'. Sowie 'Osteuropa' und jede Menge Sprachkurse. Die beliebteste Vorlesung neben 'Art Matters' ist 'Science Matters' : eine Serie für Profi- und Hobbywissenschaftler. Die meisten U3A-Mitglieder in Lewes kennen sich schon seit Jahren. Heather Nicholas, 76, eine ehemalige Bibliothekarin, hat für ihre Freundinnen Plätze reserviert: Dorothy Harrison, pensionierte Lehrerin ist 80, und Giglia Sprigg, eine Kunstmalerin, 82. Heathers Woche ist proppenvoll: russische Literatur, Chormusik. Ein Lesezirkel. Geologische Seminare, Exkursionen zum Thema Architektur und Landschaftsgeschichte. Dennoch findet sie noch Zeit, um daheim im Garten Gemüse zu ziehen, die Katzen und Hühner ihrer Nachbarn zu versorgen, sowie den wachsenden Kreis von schwächelnden Bekannten. Auch Heathers Freundin Dorothy muss sich heute schonen. Sie hat sich beim U3A workshop über den Tanz des 17. Jahrhunderts einen Muskel gezerrt. Frauen wie Heather, Dorothy und Giglia gehören zum harten U3A-Kern von Lewes, sagt einer der wenigen Herren im Publikum. Er will lieber anonym bleiben. Das sind Ex Akademikerinnen, Bildungsbürgerinnen, Alteingesessene. Zäh bis zum Geht-Nicht-Mehr. Und wild entschlossen, sich persönlich weiterzuentwickeln. bis zum letzten Schnaufer. U3A Dozent Terry Hodgson. Er ist schlank, wirkt locker und topfit. Dennoch will er seine Vorlesung lieber im Sitzen geben. Schlieβlich ist er dieses Jahr 80 geworden. Ob es nun um Dada, Freud, und Beckett geht. Oder um Grünwald, Wölfli, und Fuseli. Die Zuhörer sind mit höchster Konzentration dabei. Mit müheloser Eleganz spannt Terry Hodgson seine Gedankenbögen, Vom Automatismus bis zum Theater der Grausamkeit, Französische Zitate? Kein Problem. Schlieβlich hat diese Generation in der Schule noch Fremdsprachen gelernt. Auβerdem wird in Lewes ein U3A Kurs angeboten, bei dem die Teilnehmer Ausflüge in umliegende Dörfer veranstalten und dabei Französisch sprechen. Kein Zweifel: Fragen nach dem ' Vergehen der Zeit' haben für ältere Semester eine ganz besondere Brisanz. Vergessen ist der Gehstock unter dem Stuhl, der Rollator am Ausgang, und die Schmerztablette in der Handtasche. Nur zwei Damen in der ersten Reihe nicken ein. Sie hätten einen erbaulichen Lichtbildvortrag erwartet, mosern sie in der Pause, und keine Zitate über 'amour fou'. Nach genau 60 Minuten wird eine riesengroβe rundbäuchige Teekanne durch den Raum getragen und links auf dem Tisch abgestellt, dort thront sie neben einer Schale Biscuits , so zeremoniell wie die Monstranz in der Kirche. Im Nu bilden sich zwei lange, ordentliche Schlangen. Dozent Terry Hodgson wird währenddessen von seinem Fan Club umlagert. Dennoch fällt der Vergleich mit den Studenten, die er früher an der Universität von Sussex unterrichtete, eher zu Ungunsten der reiferen Semester aus. Die Vorbereitung meiner U3A Studenten lässt manchmal etwas zu wünschen übrig, Sie machen kaum Hausaufgaben oder picken sie sich in den Texten nur die Rosinen heraus. Außerdem nehmen sie wahrscheinlich mehr legale Drogen ein, als die Jungen. Der zweite Teil der Vorlesung beginnt mit dem 'Garten der Lüste' von Hieronymus Bosch. Terry Hodgson spricht von Visionen, Phobien und surrealistischen Delirien. Die Visionen der Hölle kommen bei den Senioren besonders gut an. Die zwei Damen in der ersten Reihe sind jetzt hellwach. Zur Anerkennung bekommt Terry Hodgson von Janet eine Flasche Wein. Die wird aus den Mitgliedsbeiträgen finanziert: Zehn Vorlesungen kosten zehn Pfund. Nur schade, dass nicht mehr Männer kommen, meint Janet. Aber die gehen lieber in den Kurs: Science Matters. Die Wissenschaft zählt. Auch der ist ein heiβer Renner. Genauso vielfältig und bunt wie 'Art Matters'. Nächste Woche steht bei den Hobbywissenschaftlern das zweite Gesetz der Thermodynamik auf dem Stundenplan. Und das Thema danach: "Vögel und ihr Gefieder. Eigentlich hatte sich Mike Jenn auf seinen Ruhestand gefreut. Eigentlich wollte er sich nur noch um seinen Garten kümmern. Schließlich hatte er den größten Teil seines Lebens der Sozialarbeit gewidmet, mit einem besonderen Augenmerk auf Teenager, die Eltern und Institutionen längst aufgegeben hatten. Doch dann kam alles anders. Sein Sohn erzählte ihm von der australischen Men´s Shed-Bewegung - den Werkzeug-Schuppen nur für Männer - und mit Mike Jenns Ruhestand war es aus und vorbei. Er beantragte eine staatliche Starthilfe von 3 einhalb tausend Euro, organisierte einen Internet-Auftritt und mobilisierte Privatspender. Das war im Jahr 2011. Inzwischen gibt es in England über 70 Männer-Schuppen. Reportage 3 Mittwochs nur für Männer - Heimwerken im Camden Shed Auf der nördlichen Straβenseite, elegante Stadtvillen,. Auf der Südseite schäbige Sozialwohnungen. Die Camden Road in Nordlondon - nicht unbedingt die feinste Adresse. Eine Sackgasse, eine Ladenzeile. Wettbüro, Minimarkt, künstliche Blumen. In einer zugigen Ecke, das Gemeindezentrum.: ein niedriger Bau , in einem Labyrinth von Wohnblöcken. Der Camdenshed, ein dunkler Raum, ist ganz hinten im Erdgeschoβ. 4 mal 3 Meter groβ, proppenvoll mit Holz, Schrauben, Farbtöpfen, Nägeln, Handwerkszeug. Es riecht nach Leim, frischem Sägemehl und Lack. Der 'Schuppen' ist zwei Tage in der Woche geöffnet.. Am Dienstag nur für Männer, am Mittwoch auch für Frauen. Zumindest theoretisch. Aber Frauen sind im Camdenshed nur ganz selten zu sehen. An diesem Vormittag machen sich acht Männer in ihrem Refugium zu schaffen. Sie drechseln, schrauben, sägen, schmirgeln. Hingebungsvoll. Konzentriert. An der offenen Tür begutachtet ein Mann eine klapprige Bank. Fenshaw, Mitte 60. Afrokarribischer Herkunft, gelernter Sattler, im Ruhestand. Schau mal, die Form, eigentlich recht hübsch. Das war mal ein Telefonbänkchen, original 60er Jahre, vom Sperrmüll. Wenn ich das Bänkchen neu polstere und anmale kann ich es einem trendigen Friseurladen in Camden verkaufen, die reiβen sich um Sachen im Retrolook. Früher haben die Leute noch selbst Möbel gezimmert, heute weiß niemand mehr wie das geht, sagt Fernsah. Für ihn ist der Camdenshed eine tolle Sache. Denn so viel Handwerkszeug könne er sich nie leisten. Und eine Werkstatt erst recht nicht. Eigentlich sollte jede Stadt so einen Shed haben. Windspiele, Liegestühle, Spielzeug, die 'Camden Shedders' sind höchst produktiv. Manche Sachen bieten sie zum Verkauf an, auf Messen, auf Ausstellungen. Andere verschenken sie an Schulen, an soziale Einrichtungen. Und manche Dinge behalten sie für sich selbst. Besonders hoch im Kurs: die zwei Drechselbänke. Die eine Bank haben die Shedders in einer alten Werkstatt gefunden, die andere über ebay ersteigert. Ray, Ende 50, drechselt sein erstes Stuhlbein. Von Beruf ist Ray Zahnarzt, ging aber nach einem schweren Unfall in Frührente. Der Shed ist für ihn ganz neu. Und Drechseln auch. Aber irgendwie ist immer jemand da, der ihm weiterhilft. Überhaupt sind Stühle bei den Camdenshedders heute schwer im Trend: Ich werde alt und meine Beine werden schwach, sagt Mick Mitte 70. Mick trägt einen knallroten Pulli, spitze Rock n'Roll Schuhe, und hat ein Gesicht, dem man ansieht, dass er intensiv gelebt hat. Der Camdenshed hat für ihn eine wichtige Aufgabe. Ich hab keine Familie und lebte früher praktisch im Pub. Jetzt bin ich ein 'Teatotaller'. Ich hab mir geschworen, keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren. In die Kneipe kann ich natürlich nicht mehr gehen - dafür bringt mich der Shed jetzt unter die Leute. Das heiβt aber noch lange nicht, dass die 'Shedders' vor allem mit der Absicht kommen, Small Talk zu betreiben oder womöglich gar tiefschürfende Gespräche zu führen. Im Gegenteil. Sie werkeln lieber in stummer Gemeinschaftlichkeit vor sich hin. Diskussionen ergeben sich von selbst. Wenn zum Beispiel ein Stuhlbein nicht in den Sitz passen will. Oder zu kurz geraten ist. Dann hilft nur noch eines: ein handfester Ratschlag von Terry, dem gelernten Zimmermann, gefolgt von einer Tasse Tee. Und ganz nebenbei formiert sich in der Küche plötzlich doch eine Männerrunde, die kleine und groβe Probleme zur Sprache bringt. Sie reden über Sport, und Politik und darüber, wie teuer das Leben geworden ist, für manche Männer ist der camdenshed wirklich eine Art von Therapie, sagt Mike Jenn, Gründer und Vorsitzender der englischen Shed bewegung. Mike Jenn, ein ehemaliger Sozialarbeiter, hat geduldige blaue Augen, und strahlt endlos viel Zuversicht aus. Gerade Männer tun sich schwer, nach dem Ruhestand ein neues Leben aufzubauen, weil sie auβerhalb der Arbeit kaum Kontakte gepflegt haben. Andrerseits werden soziale Einrichtungen für Senioren vor allem von Frauen genutzt und von Frauen organisiert. Aber Männer ticken anders. Sie wollen nicht unbedingt um punkt zehn auf der Matte stehen. Sie wollen autark bleiben. Und sie hassen es, im Kreis zu sitzen und sich über ihr Seelenleben auszutauschen. Männer gehen am ehesten aus sich heraus, wenn sie eigentlich mit etwas ganz anderem beschäftigt sind, Gegen drei machen die Männer Feierabend. Bevor sie aufräumen, stärken sie sich noch einmal mit einer Tasse Tee und Keksen. Das hier ist unsere Chill-Zone, sagt Terry, der Zimmermann. Hier planen die Männer ihre neuen Projekte: ein Tor für einen Schulhof, neue Parkbänke für einen Kommunalen Garten. Ein paar Puzzles für einen Kindergarten. Mick steht am Spültisch und wäscht ab. Ganz langsam und sorgfältig. Einer muss es ja tun, murmelt er zufrieden vor sich hin. "Warnung" von Jenny Joseph Wenn ich eine alte Frau bin, werde ich lila tragen, mit einem roten Hut, der nicht dazu passt und mir nicht steht. Und ich werde meine Rente für Weinbrand und Sommerhandschuhe und Sandalen aus Satin ausgeben und sagen: Für Butter haben wir kein Geld. Wenn ich müde bin, werde ich mich einfach auf den Bürgersteig setzen und Kostproben in Geschäften vernaschen und auf Alarmknöpfe drücken und meinen Stock an öffentlichen Geländern entlangschleifen und mich für die Nüchternheit meiner Jugend entschädigen. Ich werde in Pantoffeln in den Regen hinausgehen Und in anderer Leute Gärten Blumen pflücken, Und ich werde spucken lernen. (...) Aber jetzt müssen wir Kleidung haben, die uns trocken hält, und die Miete bezahlen und wir dürfen nicht auf der Straße fluchen und müssen den Kindern ein gutes Vorbild sein. Wir laden Freunde zum Essen ein und lesen die Zeitung. Aber vielleicht sollte ich jetzt schon ein bisschen üben? Damit die Leute, die mich kennen nicht zu schockiert und überrascht sind wenn ich plötzlich alt bin und anfange, lila zu tragen! Faltenrock und Strickjacke müssen nicht mehr sein. Aber auch bauchfreie Tops, Minirock und Stöckelschuhe sind nicht für jede Frau geschaffen. Das eigenartige aber ist, die Mode-Industrie setzt hauptsächlich auf die jungen Konsumentinnen, mit Kleidergrößen zwischen 36 und 40. Dabei wächst die Zahl der kaufkräftigen Seniorinnen und Senioren. Auch in Großbritannien. Schon jetzt ist in ein Drittel der britischen Bevölkerung über 50 Jahre alt, Tendenz steigend. Die Werbeindustrie spricht bereits von den "Best Agers" oder auch von den "Silver Agers". Doch wenn es darum geht, Mode für diese Zielgruppe zu entwerfen, herrscht in der Branche so etwas wie Kreativität-Stau. Aber das ändert sich. Ganz allmählich kommt Bewegung in die Mode-Szene. Als Pionierin gilt die Designerin Fanny Karst mit ihrem Label "oldladiesrebellion". Einer Mode, die vor allem eines will: Die Schönheit und die Besonderheit älterer Frauen sichtbar machen. Reportage 4 Beige und Pastellfarben waren gestern - Das Modelabel "Oldladiesrebellion" Sie schleppt zwei riesige Koffer quer durch London. Fanny Karst, Ende 20, groβ, schmal, Modeschöpferin. Braune Augen, keinerlei Make up. Und betont schlicht gekleidet: gerade geschnittener Jeansrock , grauweiss gestreifte Hemdbluse. Nur ihre Schuhe - knallgrüne Sneakers- setzen einen rebellischen Akzent. Und genau dieser Mix ist ihr Markenzeichen: klassisches Understatement plus Rock n Roll. Fanny Karst, Gründerin des Labels "oldladiesrebellion", macht ausschlieβlich Mode für alte Damen, simpel, witzig und ziemlich cool.. Wir treffen uns im Café hinter der Royal Academy. Schräg gegenüber ist die Savile Row, die Goldene Meile der Londoner Herrenschneider. Eigentlich hat Fanny fast keine Zeit. Gestern ist sie aus New York eingeflogen, abends reist sie nach Frankreich weiter, davor will sie noch schnell in die Savile Row... Fanny entschuldigt sich, dass sie sich um 5 Minuten verspätet hat, schaut auf die Uhr, will gerade von den Anfängen ihrer Karriere erzählen. Dann springt sie auf, weil sie einen Familienfreund entdeckt hat: Bill Nighie, der bekannte britische Schauspieler - und Schwarm älteren Frauen, sitzt am Nebentisch. Küβchen, Küβchen, ein kurzer Schwatz, und dann setzt sich Fanny Karst mit einer weiteren Entschuldigung hin, entspannt sich, und erzählt, warum sie alte Damen so faszinierend findet. In meiner Familie spielt die ältere Generation die wichtigste Rolle. Vor allem meine Oma . Sie hab ich ungemein bewundert. Eigentlich hatte meine Groβmutter überhaupt nichts für Mode übrig - dennoch war sie ausgesprochen elegant. Die Art, wie sie sich bewegte. Wie sie sich ausdrückte. Wer ein gewisses Alter erreicht hat ist ungemein frei. Wie sagte schon Jean Cocteau: "die Jugend kommt erst mit dem Alter". Fanny zieht ihr ipad heraus und klickt auf ihre website: oldladiesrebellion.com. Ihre Kollektionen tragen Parolen wie "Great Escape", und "Freedom" "Große Flucht" und "Freiheit". Fanny deutet auf ihr Lieblingsfoto: eine elegante weißhaarige Dame in einem schlichten silberschimmernden Anzug und einem T Shirt mit dem Aufdruck: Not at your Age. Dies war meine erste Modeschau. Der Text: "nicht in deinem Alter" ist durchaus politisch gemeint. Eine kleine Provokation: "Du kannst meine Sachen erst tragen, wenn du ein gewisses Alter erreicht hast." Denn meine 'oldladies' gehören zu einem ganz besonders exklusiven Club. Die Frau auf dem Foto, Monique, arbeitete schon in den 60er Jahren als Model. Und wird mit jedem Jahr noch schöner. Fanny Karst studierte Mode und Digital-Druck am angesagten Central St Martins College, das schon Modedesigner wie John Galliano, Alexander McQueen und Stella McCartney auf den Weg brachte. Ihr einjähriges Praktikum machte sie dann bei Chiddleborough and Morgan, dem legendären Herrenschneider in der Savile Row, bei dem sich schon die Beatles und Mick Jagger einkleideten und dem Fanny Karst, wie sie sagt, 'alles' verdankt. Ich brauchte vier Monate, um zu lernen, wie man ein Knopfloch näht. Ich lernte, wie man eine richtige Tasse Tee braut. Und ich lernte, wie man sehr langsam, sehr sorgfältig und sehr gewissenhaft arbeitet, und sich völlig auf seinen Kunden einstellt. Wenn ich ein Kleid für eine alte Dame nähe, dann habe ich sie genau vor Augen, ich stelle mir ihr Leben vor, die Party, auf der sie das Kleid tragen wird. Eigentlich träume ich von ihr, bis das Kleid fertig ist. Und genau das macht mir die gröβte Freude. Ein Kleid von Fanny Karst kostet um die 800 Euro. Nicht gerade billig, aber auch nicht übermäβig teuer, meint Fanny, wenn man bedenke, dass jedes Stück individuell für eine Kundin gemacht wird. Alte Damen wissen, was Qualität ist: ihre Kollektion ziele darauf ab, sie zu verführen. Mit einem raffinierten Schnitt, einem guten Stoff, und einer erstklassigen Verarbeitung. Die Kleider müssen perfekt fallen und dürfen niemals zu eng anliegen. Oft haben sie einen witzigen Print in der Mitte, um den Blick von den Konturen wegzulenken. Ärmel gehören unbedingt dazu, aber sie dürfen nicht zu lang sein, schlieβlich will ich zeigen, dass alte Frauen schöne Handgelenke haben. Und schöne Beine. Deswegen enden meine Röcke nur knapp unter dem Knie. Am wichtigsten sind mir eigentlich die kleinen Details, so kann ich den Blick auf die schönsten Körperpartien meiner Kundinnen lenken: mit einem winzigen Schlitz zB, oder einem eleganten Ärmelsaum. Nach Fannys Erfahrung können Frauen in Paris am wenigsten gut mit dem Alter umgehen. Die Vorstellung, ein label mit dem Begriff 'oldladies' zu tragen, habe manche von ihnen regelrecht empört. Und als Fanny Karst auf einem Pariser catwalk gar Hip Hop einspielte, war es mit ihnen ganz aus. Vielleicht hätten sie einfach keinen Sinn für Ironie: Ihre Kundinnen in Groβbritannien und den USA seien viel offener. Fanny geht wieder auf ihre Webseite und klickt ein neues Bild an. Eine elegante Afroamerikanerin im gelb schimmernden Kleid, mit schwarzen Accessoires, weißer Sonnenbrille, und einen riesigen Hut in Form eines Schmetterlings. Lana Turner, 81, die "Queen of Harlem". Erst wollte ich etwas Exzentrisches für sie schneidern, schlieβlich ist sie eine Swing Tänzerin. Und sehr extrovertiert. Aber dann wählte ich diesen betont einfachen Schnitt. Und die schwere Seide. Perfekt. Auf diesem Bild ist Lana mit Bill Cunningham zu sehen: einem bekannten Fotografen, der durch die Straβen von New York streift, um elegante alte Frauen zu fotografieren. Ich kenne ein paar alte Ladies, die sich extra schön kleiden, in der Hoffnung, von ihm entdeckt zu werden. Aber auch 'oldladies' mit schmalem Portemonnaie können sich kühn und cool kleiden, meint Fanny Karst: Sie sollten alte Klischees über den Haufen werfen, Beigetöne und Pastellfarben vermeiden, und vor allen Dingen selbstsicher auftreten. Eine Lady im klassisch eleganten Kleid, aber in weiβen trendigen Sneakers, sieht einfach gut aus. Sie wirkt aktiv und sportlich, und zielstrebig, als wäre sie auf einer Mission. Für ihre Modeschauen engagiert Fanny Karst immer dieselben Models, die meisten sind keine Profis. Dafür haben sie umso gröβere Persönlichkeiten, erzählt Fanny. Sie strahlt vor Besitzerstolz. Ihre Models seien wahnsinnig ungezogen. Bei meiner Show in der Savile Row sagte ich: ihr müsst die Sache jetzt mal wirklich ernst nehmen, aber sobald sie auf dem Catwalk standen, zog jede ihre eigene Schau ab, die eine drehte Pirouetten, die andere flirtete mit dem Publikum. Ach, meine Models. Sie machen mir groβe Sorgen, aber ich liebe sie, gerade weil sie so ungehorsam sind und zeigen, was ihnen steckt. Ich will alte Frauen auf einen Sockel stellen, damit sie jeder sieht und bewundert. Zu einer immer älter werdenden Gesellschaft gehören auch diejenigen, die sich nicht mehr zurechtfinden, denen die heutige Welt ein Rätsel ist, die mehr und mehr die Kontrolle verlieren. Demenz kann jeden treffen. Die Statistik ist schonungslos: Jeder dritte Brite über 65 wird an Demenz sterben. Weltweit steigt die Zahl der Erkrankten. Der britische Premierminister David Cameron sprach von einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, als er im letzten Jahr zum ersten Demenzgipfel führender Industrienationen eingeladen hat. Medikamente können die Erkrankung bislang kaum aufhalten, weswegen die Betroffenen auf die Unterstützung im Alltag und die Hilfe Angehöriger angewiesen sind. Über die Erinnerung kann es gelingen, die Menschen aus der Isolation zu holen. Über die Erinnerungen an Vertrautes und Gelerntes. Und mit der Heilkraft der Musik. Nach diesem Prinzip funktioniert das Projekt "Raise your voice" an der Glyndebourne Opera, einem privaten Opernhaus im Südosten Englands, in der Nähe von Lewes. Demenzkranke Patienten und ihre Pfleger proben nicht nur gemeinsam für eine klassische Oper, sie führen sie am Ende auch vor Publikum auf, begleitet von einem professionellen Ensemble der Royal Academy of Music aus London. In diesem Jahr steht Mozarts "Don Giovanni" auf dem Programm. Noch wird geübt. Reportage 5 Raus aus der Isolation - Demenzkranke singen Don Giovanni Der Raum ist hell und luftig. Unter den hohen Fenstern wartet ein Klavier. Gleich neben der Eingangstür, eine kleine Bar, mit Tee, Kaffee, und Biscuits. Chris Stones ist eigentlich der Projektmanager für Bildungsprogramme von Glyndebourne, aber an diesem Vormittag serviert er die Erfrischungen. Auch eine wichtige Aufgabe, die Leute sollen sich wohl und willkommen fühlen. Der Raum füllt sich mit 30 Leuten. Jeder Demenzkranke wird von einem Betreuer oder einem Familienmitglied begleitet. Cynthia verteilt Namensschilder und führt sie zu den Tischen. Die Kaffeepausen vor und nach der Session sind ganz besonders wichtig: wir haben ein kleines Team von Helfern, die mit den Demenzkranken plaudern. Das entlastet die Betreuer, sie werden oft vergessen, obwohl sie unter enormem Druck stehen. Hier haben sie Gelegenheit, sich mit den anderen Betreuern auszutauschen. Cynthia Heymanson ist um die 60, eine Frau mit Herz und viel Energie. Früher war sie Sozialarbeiterin, mit Schwerpunkt Demenz. Das Projekt "Raise Your Voice hat sie von Anfang an begleitet." 20 Minuten später. Die Tische sind weggeräumt, die Teilnehmer sitzen im Kreis und wärmen unter Anleitung von Chorleiterin Jane Haughton ihre Stimmen auf. Jane ist eine professionelle Sängerin. Dunkle Haare, Grüne Augen, Klunkerohrringe. Quicklebendig, witzig, und äuβerst konzentriert. Zuerst ein Kanon, dann ein Rap, zwischendurch eine komische Anekdote über ihren Dackel. Die Teilnehmer reagieren erst zögerlich, aber sind bald mit Leib und Seele dabei. Unter ihnen Bill, ein ehemaliger Rechtsanwalt. Ich liebe diese Sessions. Die Musik, das Singen. Und die Leute, die hierherkommen. Manche sagen, sie hätten seit einer ganzen Woche mit keiner Menschenseele geredet. Ist das nicht schrecklich? Ich habe Glück, ich habe meine Familie und meine Angehörigen Bill ist Anfang 60, schlank, charmant und topfit. Kaum zu glauben, dass er an Demenz leidet. Neben ihm sitzt Sarah, seine Tochter. Sarah liebt es, gemeinsam etwas mit ihrem Vater zu unternehmen, etwas Regelmäβiges, das beiden Freude macht. Bei meinem Vater wurde Ende vergangenen Jahres Demenz diagnostiziert. Keine Ahnung, was da auf uns zukommt. Das macht mir ziemlich Angst. Aber die Sessions hier tun uns wirklich gut. Atemübungen, Visualisierungen: "Stellen Sie sich den Duft einer Rose vor", sagt Jane. "Denken Sie an einen besonders schönen Spaziergang durch den Garten". Jane arbeitet am Wortrhythmus, an der Aussprache, und weckt Erinnerungen. Am Klavier gibt Repetiteurin Nancy Cooley den Ton an. Erst nach einer halben Stunde stellt sich jeder vor. Die Atmosphäre ist inzwischen locker und entspannt. Nina, eine junge Frau ganz in Lila, hat ihr trauriges Lächeln verloren. Doris, eine adrette ältere Dame tappt begeistert mit den Füβen. Nur Sadie, schmächtig wie ein zerzaustes Vögelchen, schaut weiterhin ins Leere. Sie wird früher oder später auch mitmachen, meint Pat, eine adrette ältere Dame, die besonders begeistert mitsingt. Was erzählst du denn, meine Liebe, fragt der Gentleman neben ihr: Pats Ehemann Tony. Er hat Alzheimer, sie betreut ihn rund um die Uhr. Wir kommen schon seit 4 bis 5 Jahren zu den Workshops. Eine wunderbare Sache. Sein Arzt in Newhaven hat sie empfohlen. Wie sollten wir uns Don Giovanni vorstellen? Und wie Zerlina? Jetzt nehmen die Charaktere Gestalt an, nachdem Jane die Hauptmelodien vorgestellt hat. Welche Eigenschaften haben Don Giovanni und Zerlina? Mit welchem Tier könnten wir sie vergleichen? Jane sammelt Wörter, schreibt sie an die Tafel, lobt und erklärt. "Was ist das nochmal, eine Taube", fragt ein Mann. Wie schreibt man 'naiv'? Die Anderen helfen, raten. Und jeder mischt mit. Bei diesem Opernworkshop geht es um weit mehr als Musik, sagt Projektleiter Chris Stones: Es geht darum Gefühle auszudrücken, Geschichten zu erzählen, Charaktere dazustellen. Und vor allem: den Teilnehmern ihre Stimme wiederzugeben., ihre physische Präsenz Zur Abwechslung schlägt Jane ein paar Schlager aus dem Musical South Pacific vor. Die Texte können viele noch auswendig, sagt eine Frau in einem knallbunten Kleid, mit langen indischen Ohrringen. Maggie, eine freiwillige Helferin. Früher kam ich mit meinem Mann her, er ist vor drei Jahren an Demenz gestorben. Ich war am Boden zerstört. Aber inzwischen genieβe ich es alleine zu leben. Das ist fast so, als würde ich meine ureigene Person neuentdecken. Ich kann's kaum fassen, dass ich 74 bin, aber eigentlich sind wir nur in den Augen der Anderen alt. Nach zwei Stunden packt Jane Haughton ihre Sachen zusammen. Und verspricht: bei der nächsten Session werden auch führende Sänger aus Glyndebourne mitmachen. Demenzkranke haben so viel kreative Ideen. Und doch bekommen sie das Gefühl vermittelt, dass sie nichts mehr können. Letztes Mal sprachen wir kurz über Shakespeare, und plötzlich stand ein Gentleman auf und rezitierte ein ganzes Sonnett. Das war wunderschön. Und sein groβer Auftritt. Die Teilnehmer plaudern. Währenddessen sammelt Maggie die Blätter mit den Texten ein. Wenn wir mitten im Singen sind, sieht niemand mehr, wer ein Demenzkranker ist und wer ein Betreuer. Die Musik schafft es, dass jeder aus sich herausgeht. Selbst jemand, der den ganzen Tag still und stumm war, singt plötzlich ein ganzes Lied. When I´m Sixty Four - Draufgänger in Großbritannien. Das waren Gesichter Europas mit Reportagen von Ruth Rach. Nicole Engeln und Gregor Höppner haben Lyrik- und Literaturauszüge gelesen. Sie stammen von Hermann Hesse, von Jenny Joseph und aus der Erzählung "Hygiene" von Julian Barnes. Musikauswahl und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Beate Braun Am Mikrofon war Katrin Michaelsen . 1