Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 10. Juli 2010 - 11.05 - 12.00 Uhr Wanderer zwischen den Welten: Russlanddeutsche in Kaliningrad mit Reportagen von Henning von Loewis Redakteurin am Mikrophon: Susanne El-Khafif Musikauswahl : Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Design MUSIK Mod. Die in Kasachstan geborene Hochschul-Dozentin Tamara Lukaschowa über ihr Selbstverständnis: O-Ton "Ich habe keine russlanddeutsche Familie - ich bin Deutsche ... Meine Familie Beyerle. Ich stamme aus echte deutsche Familie." Mod. ... und Viktor Hoffmann, Präsident des Deutsch-Russischen Hauses in Kaliningrad, über sein Verhältnis zu Deutschland: O-Ton "Deutschland - Deutschland ist wie ein Großvater ... ich komme gerne, ich mag Deutschland gerne, aber Heimat ist Kaliningrad." Mod. Gesichter Europas - Heute: Wanderer zwischen den Welten - Russlanddeutsche in Kaliningrad. Eine Sendung von Henning von Löwis. Am Mikrophon ist Susanne El Khafif. Musik Mod. Die Geschichte der Russlanddeutschen ist bewegt und sie ist bewegend zugleich. Sie zeugt von Mut und Hoffnung, von Willkür und Leid. Es ist die Geschichte von Menschen, die über Generationen hinweg immer wieder neu anfangen mussten - allen Realitäten zum Trotz. Einst waren sie gerufen worden, von der russischen Zarin Katharina der Großen, sie kamen und siedelten an der Wolga. Dann wurden sie verstoßen, vom Machthaber Stalin, der sie nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion deportieren ließ - wie Vieh - irgendwohin, nach Zentralasien, nach Sibirien. Am Ende war es Michail Gorbatschow, der auch ihnen die Wende brachte. Die meisten Russlanddeutschen kehrten dem zerfallenden Sowjetreich den Rücken, sie kamen nach Deutschland, wollten Wurzeln schlagen, im Land der Vorfahren. Vielen ist das gelungen, anderen fällt es bis heute schwer, und manch einer hat sich erneut auf die Suche begeben nach einem Ort, der Heimat ist. Musik Etwa 10.000 Russlanddeutsche leben heute in der russischen Exklave Kaliningrad, in direkter Nachbarschaft von Polen und Litauen. Kaliningrad, das frühere Königsberg, war einst preußisch, 1945 kam es unter sowjetische Herrschaft, heute weht hier die russische Fahne. Die Bewohner der "Oblast Kaliningrad" sind heute stolz auf die vielen Kulturen, die die Region geprägt haben ... Reportage 1 VON KASACHSTAN VIA DEUTSCHLAND NACH CRANZ - HOCHSCHULLEHEREIN TAMARA LUKASCHOWA ATMO - Militärkapelle Cranz 9. Mai 2010 in Zelenogradsk - im Ostseebad Cranz. Ein Schauspiel, das sich alle Jahre wiederholt: Der Demonstrationszug zum Tag des Sieges unterwegs zum Ehrenmal des Rotarmisten. An der Spitze junge Leute, die Fahnen schwenken. Gleich dahinter die Stadtoberen und die Veteranen, die mitsiegten - damals 1945 als die Rote Armee Ostpreußen eroberte. Alte - uralte - Männer, die Brust voller Orden. Auch Frauen, besonders festlich angezogen an diesem Tag, mit dem so viele Erinnerungen verbunden sind. An die untergegangene Sowjetunion, an den schweren Anfang in der neuen Heimat Ostpreußen Halb Zelenogradsk scheint auf den Beinen, zieht vorbei am frisch renovierten "KURHAUS KRANZ" - mit dem ebenfalls instandgesetzten Lenin-Denkmal, am roten Hydranten in der Moskauer Strasse, den einige scherzhaft "den letzten Cranzer" nennen, und schließlich an der alten deutschen Kirche, deren Glocken heute russisch- orthodoxe Christen zum Gebet rufen. ATMO Glocken Der Gefallenen des Krieges zu gedenken, das ist für viele in Russland keine lästige Pflichtübung, das ist Ehrensache. Auch für Gennadi Lukaschow und seine Frau Tamara. Sie gehören zu den Neubürgern von Zelenogradsk, leben seit fünf Jahren hier und fühlen sich offenbar ausgesprochen wohl an der Ostseeküste. O-T "Zelenogradsk gefällt uns sehr. Das ist eine sehr gute Kleinstadt, eine Kurstadt. Ich denke diese Stadt hat eine gute Zukunft." Zelenogradsk ist ein russischer Kurort, der stolz ist auf seine Vergangenheit als einstiges "Königlich-Preußisches See- und Moorbad" - und nicht zuletzt auf den historischen Namen. An der Uhr am Beginn der Fußgängerzone prangt er in schmiedeeisernen Lettern: CRANZ. O-T "Die alten deutschen Häuser sind sehr interessant. Zum Beispiel, als ich hergekommen bin, ging ich spazieren und beobachtete viele deutsche Gebäude. Das ist ein besonderes Gesicht, die Architektur in diesem Gebiet. Und das ist sehr interessant. Dieses Gebiet ist anders als viele Gebiete in Russland." ATMO - Ehrenmal Dass dieses Land heute Russland ist - und mehrere Jahrzehnte lang Sowjetunion war, wird am 9. Mai besonders deutlich, wenn der Pope am Ehrenmal seinen Segen spendet. Tamara Lukaschowa nimmt mit gemischten Gefühlen an der Zeremonie teil. Ihr Ehemann ist Russe, sie selbst aber legt Wert darauf, Deutsche zu sein - nicht etwa Russland-Deutsche. O-T "Ich habe keine russlanddeutsche Familie - ich bin Deutsche. Meine Familie Beyerle. Und mein Mann ist Russe. Ich stamme aus einer echten deutschen Familie. Mein Großvater und Urgroßvater, Großmutter und Urgroßmutter - sie waren alle deutsche Leute: Familie Beyerle aus Ewpatorija/Krim. Und im Jahre 1941 wurden sie deportiert nach Nord-Kasachstan, weil Zweiter Weltkrieg war. Und da bin ich 1952 geboren in Nord-Kasachstan." Mehr als vier Jahrzehnte lang lebten und arbeiteten die Lukaschows in Zentralasien. Bis 1995 harrten sie aus in Kasachstan, dann machten sie sich so wie hunderttausende von Russen und Russlanddeutschen auf den weiten Weg nach Westen. O-T "Weil wir da keine Perspektive haben. Alle Russisch sprechenden Leute in dieser Zeit haben keine Perspektive, zum Beispiel Karriere zu machen. Besonders haben wir Angst um unsere Kinder und Enkel." Als Tamaras einziger Bruder mit seiner Familie von Kasachstan nach Deutschland übersiedelt, erwogen die Lukaschows, sich ebenfalls in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen. O-T "Ich und mein Mann, wir haben auch zwei Jahre in Deutschland gewohnt. Aber da konnten wir keine Arbeit für uns finden, weil ich nur ein bisschen Deutsch spreche. Wir sind beide intelligente Leute, ich und mein Mann, und unsere Arbeit war immer mit dem Kopf. Deswegen können wir nicht weiter in Deutschland wohnen, weil wir für uns keine Arbeit gefunden haben." Als Sozialhilfeempfänger wollten Gennadi und Tamara Lukaschow in Deutschland nicht leben. Und so entschlossen sie sich denn zur Rückkehr nach Russland. Was beide keinen Augenblick bereuten. Gennadi fand eine interessante Aufgabe als Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Zelenogradsk, Tamara ist als Hochschuldozentin in Kaliningrad tätig. Im Cranzer Westend bauten sie sich - so wie nicht wenige betuchte Moskowiter - ein hübsches Häuschen, um nicht zu sagen: eine prächtige Villa mit rund 200 Quadratmeter Wohnfläche und einem vom Ehepaar liebevoll gepflegten Garten. Hier fühlen sie sich - endlich - wieder zu Hause. Aber ist das Zuhause auch Heimat? O-T "Oh, das ist sehr schwierig. Ich kann das nicht sagen, aber es gibt ein Lied: "Hier sind wir fremd und dort auch nicht zu Hause". Aber ich kann nicht sagen, dass wir hier fremd sind. Nein, ich habe eine gute Arbeit und habe Autorität und mein Mann auch. Ich fühle mich hier sicherer als in Kasachstan." Kasachstan ist zu einem fernen Land geworden für die Lukaschows. O-T "Ja, heute leben alle Verwandten in Deutschland, in Kasachstan sind nur die Gräber unserer Eltern. Unsere Großeltern sind begraben in Ewpatorija und Solowki, wo mein Großvater gestorben ist. Der Vater meiner Mutter wurde in Ewpatorija erschossen. Ja, das war ein sehr tragisches Familienschicksal." ATMO - Russische Hymne Doch Tamara und Gennadi Lukaschow - sie klagen nicht über ihr Schicksal. Sie sind froh darüber, dass es ihnen vergönnt ist, unter demselben Himmel zu leben wie ihre Kinder und Enkelkinder. Unter russischem Himmel. Und was die Zukunft angeht, so haben sie vor allem einen Wunsch: O-T "Zwischen Deutschland und Russland nur Freundschaft, das ist mein echter Traum: zwischen Deutschland und Russland immer Freundschaft." ATMO - Russische Hymne MUSIK Rudolf Jacquemien Gemeinsamkeit der Völkerfreundschaft Gemeinsam haben wir die Last getragen, die unverdiente Schuld, das "Feinde"-sein, geächtet und beschimpft, doch ohne Klagen, die Deutschen von der Wolga, der vom Rhein. Gemeinsam wollen wir, dass unsere Sprache den fernsten Nachkommen erhalten bleibt, dass sie nicht wird zur ungenutzten Brache, und nichts sie je aus Herz und Sinn vertreibt. Die Völkerfreundschaft ist die hehre Fahne, die uns voran auf allen Wegen geht und die bei allem, was wir tun und planen, sieghaft und stolz zu unsern Häupten weht. MUSIK Mod. Am 30. November 1948 meldete der sowjetische Innenminister in Moskau Vollzug: "Die Übersiedlung der deutschen Bevölkerung aus dem Gebiet Kaliningrad ist abgeschlossen!" Mit dieser Zwangsmaßnahme schien die Geschichte der Deutschen im nördlichen Ostpreußen und in Königsberg beendet - ausgelöscht mit ihr 750 Jahre deutscher Kultur. Aus dem Königsberg der Verlierer war das Kaliningrad der Sieger geworden, ein sowjetisches Sperrgebiet, unzugänglich für jeden Besucher aus dem Westen. Bis 1991. Der Geschäftsmann Viktor Hoffmann war einer der ersten Russlanddeutschen am Pregel. Viktor Hoffmann, heute Präsident des Deutsch-Russischen Hauses in Kaliningrad ... Reportage 2 "DEUTSCHLAND IST EIN GROSSVATER" - VIKTOR HOFFMANN, PRÄSIDENT DES DEUTSCH-RUSSISCHEN HAUSES IN KALININGRAD ATMO Büro DRH O-T "Kennst Du ihn nicht? In der Mitte unser Gouverneur. Und rechts, wer ist das?... Und der Georgij spricht kein Deutsch, spricht Englisch...Gerhard." Begegnung mit Viktor Hoffmann im Deutsch-Russischen Haus in Kaliningrad. Eigentlich wollte ich ihm Fragen stellen, aber erst einmal zeigt er mir sein Lieblingsfoto an der Wand. Natürlich kenne ich den, dem Viktor da die Hand schüttelt, war doch Gerhard Schröder der einzige deutsche Kanzler, der nach Kaliningrad reiste. Schröder war auch zugegen, als man 2005 das Stadtjubiläum 750 Jahre Königsberg feierte und die Universität den Namen Staatliche Russische Immanuel Kant Universität erhielt. Viktor Hoffmann, Präsident des Deutsch-Russischen Hauses, hat so manchen deutschen Politiker am Pregel kommen und gehen sehen. Kann viele Geschichten erzählen über die Irrungen und Wirrungen deutscher Königsberg-Politik - wenn man denn von einer solchen Politik überhaupt sprechen kann. ATMO Park Viel lieber als in seinem Büro erzählt er die Geschichten unter den hohen alten Bäumen im Park des Deutsch-Russischen Hauses, von denen einige leider gerade gefällt werden mussten. ATMO Park Viktor Hoffmann gehört zu den ersten Russland-Deutschen, die nach Kaliningrad kamen - ist in gewisser Hinsicht ihr Vater, Anwalt und Beschützer. Seit 1989. O-T "Oh, das ist eine große Geschichte. Das fing an 89. 1989 gab es in Kaliningrad schon eine jüdische und eine armenische Gemeinde. Ich war Direktor in einem Kulturhaus, und da habe ich versucht, eine Gemeinde von Russlanddeutschen zu gründen. Ich habe Reklame gemacht und die Russlanddeutschen eingeladen in mein Kulturhaus. In drei Tagen war das Haus voll: 400 Leute. Aber das waren nicht allein Russlanddeutsche, sondern auch Russen, ein paar Kasachen dabei. Die Familien waren immer zusammen mit den Russlanddeutschen in Kasachstan und Mittelasien. Jetzt haben sie Bekannte gesucht. Aber sowieso habe ich die "EINTRACHT" gegründet, die Gemeinde "EINTRACHT" der Russlanddeutschen. 1989 haben wir zusammen Weihnachten gefeiert. Und so haben wir angefangen. So war das." Was ist eine Gemeinschaft, die kein Dach über dem Kopf hat! So wird denn die Idee von einem Deutsch-Russischen Haus geboren. O-T "91 haben wir angefangen dieses Projekt mit dem Deutsch-Russischen Haus, 92 haben wir angefangen zu bauen, 93 haben wir das Haus eingeweiht. 92 hat es schon funktioniert - es war schnell - in diesem Park." Deutsche - Russlanddeutsche - im jahrzehntelang für Deutsche gesperrten Königsberg, daran müssen sich die Russen erst einmal gewöhnen. O-T "Deutsche, das war wie eine Bombe! Wieso, von wo kommen die Deutschen? Die Geschichte der Russlanddeutschen hat niemand gekannt. Und sie wollten das auch nicht wissen. Deutsch war verboten. Aber so langsam, langsam - wie mein Vater hat gesagt: Dem bösen Hund musst du zwei Stück Brot geben - so war das auch. Wir waren immer offen, und jetzt hat das Haus schon seit 17 Jahren einen guten Ruf. Wir sind überall bekannt, und da befinden sich auch andere Nationalitäten, weil das Haus der erste Stützpunkt der Russlanddeutschen war, aber immer und bis jetzt kümmern wir uns gerne um andere Nationalitäten." Längst ist das DRH eine Art Multi-Kulti-Treff in einem Gebiet mit mehr als 100 Nationalitäten. Und - nicht nur nach Meinung Viktor Hoffmanns - Deutschlands erste Adresse am Pregel. O-T "Heute haben wir hier eine Handelskammer und ein deutsches Generalkonsulat, aber der Ruf des Deutsch-Russischen Hauses als erste Vertretung Deutschlands bleibt sowieso. Die Leute kommen zuerst zu uns. Dann werden sie geschickt zur Handelskammer oder zum Generalkonsulat, aber das Haus ist heute vielleicht viel wichtiger auch für Deutschland, nicht nur für Russlanddeutsche, extra für Deutschland." Viktor Hoffmann, einst in der Sowjetunion umtriebiger Kulturfunktionär, ist ein Tausendsassa, der Typ "Macher", der, wenn es sein muss Bäume ausreißt, und dem es immer wieder gelungen ist, Stolpersteine aus dem Weg zu räumen. Doch auf die Zukunft "seines" Hauses angesprochen, vermag er die Sorgenfalten auf der Stirn kaum zu verbergen. O-T "Oh, das größte Problem heute ist die Finanzierung, die Finanzierung des Deutsch-Russischen Hauses, weil sie seit 17 Jahren fast aus einer Tasche erfolgt: Das kommt alles vom BMI - Projekte zwischen Russland und Deutschland zur Unterstützung der Russlanddeutschen. Aber das macht voll Deutschland, und ein Viertel machen wir - Russlanddeutsche, die ein bisschen reich sind. Wir haben so ein Komitee russlanddeutscher Unternehmer, das mithilft, solche Leute wie Arbach, Viktor, Hirsekorn, Alexander, Pinneker, Viktor. Die sind gut in Ordnung, die Kerle, so wie Alexander Baumann, und meine Firma auch dabei." Schon heute hat das Deutsch-Russische Haus keinen deutschen Direktor mehr. Sollte auch die finanzielle Förderung von deutscher Seite weiter drastisch reduziert werden, könnte aus dem Deutsch- Russischen über kurz oder lang ein Russisches Haus werden, befürchtet Viktor Hoffmann. O-T "Ja, könnte sein, dass wir zusammen mit den Russen das machen, aber das Haus kann man dann vergessen. Das wird ein Kulturhäuschen und in ein paar Jahren ist es weg. Denn die Russen haben auch kein Geld und wir verlieren unsere Freiheit." Als Viktor Hoffmann 1989 begann die Russlanddeutschen um sich zu scharen, da lebten so um die 250 am Pregel, ebenso viele alte Ostpreußen. Heute mehr als 10.000 Russlanddeutsche - und praktisch keine Ostpreußen mehr. Für einige war Kaliningrad nur Sprungbrett. Doch die meisten sind geblieben, wie Viktor Hoffmann, der als Vorreiter schon 1980 nach Kaliningrad kam - aus einem Dorf mit dem schönen Namen Hoffnungsdorf. Spricht man ihn darauf an, so wird er fast ein fast ein wenig melancholisch. O-T "Meine erste Heimat ist mein Hoffnungsdorf in Kasachstan, im Gebiet Kustanai, von wo kommt mein Stamm, meine große Familie - wir waren neun Kinder, ich bin der jüngste - wo waren 5.000 Russlanddeutsche in einem Dorf. Das ist meine Heimat, aber zweite Heimat ist Kaliningrad / Königsberg. Da wohne ich schon die Hälfte meiner Jahre, da sind meine Kinder geboren. Und da befindet sich mein Haus - das Deutsch-Russische Haus. Das ist meine zweite Heimat." Und Deutschland? O-T "Deutschland - Deutschland wie ein Großvater. Ich bin oft in Deutschland, alle Verwandten sind in Deutschland, oder mehrere, eine Schwester ist in Kasachstan geblieben und der Rest ist voll in Deutschland. Das ist wie mein Großvater: Ich komme gerne, ich mag Deutschland gerne, aber Heimat ist Kaliningrad." MUSIK ________________________________________________ Apollinaria Sujewa Großmutter Vera Großmutter Vera, zerstört ist dein Mezzanin-Wohnhaus. Der Revolutionswirbel breitete über die Welt seine Schwingen. Und um die Stadt Klin kreisen einsam die Seelen der Schwestern, des heimischen Nestes beraubt. Mein Moskauer Clan und mein uraltes Adelsgeschlecht... In zerstörten Nestern überleben junge Vögel nicht. Und es flogen fort in ferne Winkel und in Dörfer die Vogelmütter, und es verschwanden auch die Vatervögel. Mit einem Beigeschmack von Dornen empfing sie das andere Land. An verlassene Nester klebten sie gramvoll die eigenen an. Heranwachsende Junge zurücklassend, zogen sie fort zu preußischer Erde in traurigem Schwarm. Über mir, mit ihren Flügeln mein Gesicht berührend, kreisen durch die Jahre, mich vor bösem Wort bewahrend Vögel, das sind meine Großmütter Lina und Manja, Großmutter Sanja und Großmutter Vera. Hier ist mein Leid und die Liebe, ist meine Feder und Sorge und unter den Händen die flaumigen Köpfchen der Kinder. Aber im Frühling verfolg ich voll Spannung den Flug der Vögel zur Erde, die einst sie die ihre genannt. Über die Grenzen, eilig die Jungen herbeirufend, zieht zu der Heimat die silberne Kette der Vögel. Ich kenne ihre Sprache nicht. Doch ich verstehe sie. In jedem Frühling öffne ich mein Fenster weit. Ich möchte, daß die Vögel ihre Nester nicht verlieren. MUSIK Moderation Reportage 3 Das nördliche Ostpreußen - die 1946 nach Stalins treuem Gefolgsmann Michail Kalinin benannte "Oblast Kaliningrad" - sollte völlig frei von Deutschen sein. So die Marschroute der sowjetischen Siegermacht. Alle Ostpreußen, denen es nicht gelungen war, irgendwie "unterzutauchen", hatten die Region verlassen müssen, planmäßig angesiedelt wurden Angehörige von Völkern der Sowjetunion. Wer in dieser Zeit - in der Zeit bis zur Wende also - studieren und beruflich etwas erreichen wollte, tat gut daran, in Kaliningrad als Sowjetbürger aufzutreten. So auch Waldemar Biss, der seine deutsche Herkunft verbarg, um sich seinen Traum verwirklichen zu können: Er wollte Geschichte studieren. Heute gilt der Historiker vielen als "wandelndes Lexikon" und er ist ein Kenner der Geschichte Ostpreußens. Waldemar Biss möchte nicht in Deutschland leben, er möchte Deutscher in Russland sein ... Reportage 3 ARBEITSPLATZ KÖNIGSBERGER DOM - HISTORIKER WALDEMAR BISS ATMO - Evangelische Kapelle Wenn deutsche Touristen in den Königsberger Dom kommen, hat Waldemar Biss alle Hände voll zu tun - strömen sie doch zumeist scharenweise in die Kathedrale auf dem Kneiphof - auf der Kant- Insel, wie der im Kriege völlig zerstörte Stadtteil Königsbergs heute oft genannt wird. Allein der Dom ist aus Ruinen auferstanden und heute Besuchermagnet par excellence, gleichermaßen Wahrzeichen von Königsberg und von Kaliningrad. ATMO - Russische Touristen Nicht allein alte Ostpreußen, die Königsberg noch aus der Vorkriegszeit kennen, zieht es mit magischer Kraft in das Gotteshaus am Pregel. Mindestens ebenso fasziniert vom Dom sind die Kaliningrader und Touristen aus dem russischen Mutter- und Hinterland. O-T "Alte Königsberger haben nicht soviel Zeit für uns, und sie gucken - nur gucken... Aber Russen gehen zu uns gern und stellen viele Fragen über Geschichte, über unser Leben hier. Ich erzähle besonders gern. Ich bin selbst Historiker von Beruf und war lange Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter vom Kaliningrader Gebietsmuseum. Ich erzähle über Geschichte besonders gern. Mir gefällt das sehr." Waldemar Biss verkauft Ansichtskarten, Broschüren, Bücher, CDs und deutschsprachige Königsberger Zeitungen in der Evangelischen Kapelle des Doms. Ein hochqualifizierter Historiker als Souvenirverkäufer. Das ist ein Segen für den Dom und Touristen, die mehr wissen wollen über die Historie der Kathedrale und der Stadt. Waldemar Biss fühlt sich keinesfalls unterfordert - im Gegenteil, ist begeistert von seinem Arbeitsplatz, lässt sich immer wieder etwas Neues einfallen. O-T "Und wir können auch improvisieren. Ich hab' schon eine Kleidung von Immanuel Kant, ich präsentiere Mini-Konzerte, Orgelkonzerte von Artjom Chatschaturow in Kleidung von Immanuel Kant mit großem Erfolg." Zugegeben, Waldemar Biss sieht mitnichten aus wie Immanuel Kant, hat viel weniger Haare, und ist auch alles andere als zierlich gebaut... Wen kümmert's! Der Mann im Dom versteht etwas von seinem Handwerk - der Historie, und weiß fast alles über den Dom, über die Dichterin Agnes Miegel, die den "greisen Ordensmann" so eindrucksvoll besungen hat und über die jüngsten Aktivitäten des russischen Dombaumeisters Igor Odinzow, der unermüdlich weiter arbeitet an seinem Lebenswerk: der vollständigen Restaurierung des Königsberger Domes. O-T "Ich bin Mitarbeiter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in erster Linie, aber wir helfen auch bei der Renovierung vom Königsberger Dom... Das ist sehr wichtig." Die Ansichtskarten, die Waldemar Biss verkauft, sie zeigen vor allem das alte Königsberg, und das, was davon heute noch in Kaliningrad zu finden ist. Mehr als manche glauben! ATMO "Ja, ein Gruß von Königsberg, besonders schöne Postkarte mit alter Albertina....Jubiläum 1944... Waldemar Biss hat viel zu bieten an seinem Verkaufsstand, noch mehr zu erzählen. Nur eine Geschichte, die hat er hier an diesem Ort noch nie erzählt: seine eigene. Es ist sozusagen eine Enthüllungs-Geschichte. In der Sowjetunion konnte er nicht darüber sprechen. O-T "Das war Geheimnis, dass mein Vater Russland-Deutscher war. Immer war eine Angst, nach Sibirien zu fahren. Zum Glück ich bekam eine Möglichkeit, an der Uni zu studieren. Ich absolvierte die Historische Fakultät." Mit dem russischen Namen Fjodorow. O-T "Ja, ja, wenn ich war Biss - keine Möglichkeit an der Uni zu studieren, besonders Geschichte. Das war ein Verbot. Ein Russland- Deutscher kann z.B. Ingenieur sein, nicht z.B. Historiker oder Jurist. Das war ausgeschlossen." Waldemar Biss hat lange gekämpft, musste zahlreiche bürokratische Hürden überwinden, ehe er 1995 seinen deutschen Namen erhielt. Geboren 1966 im früheren Wehlau, in Znamensk, wuchs er in einer deutsch geprägten Welt ohne Deutsche auf. O-T "Ich hatte im ehemaligen deutschen Haus gewohnt... Sachen, die von ehemaligen Bewohnern geblieben waren, hatten auch einen großen Einfluss auf mich gemacht. Ich war auch in einem ehemaligen Gebäude von Deutschen in die Schule gegangen. Und alles war wie früher in Ostpreußen." Waldemar Biss ist fest verwurzelt in diesem Land. Er hat Kaliningrad zu keinem Zeitpunkt als mögliches Sprungbrett nach Deutschland betrachtet, sich nie um einen deutschen Pass bemüht. O-T "Das ist unmöglich für Russlanddeutsche in Russland, einen deutschen Pass zu bekommen. Ich bin Russland-Deutscher in Russland. Aber wir haben unsere Geschichte. Und diese Geschichte ist sehr berühmt. Wir hatten im Russischen Kaiserreich viel gemacht, z.B. die Wissenschafts-Akademie wurde auch von Russland- Deutschen gegründet. Auch berühmte Militärleute, Landwirtschaftsleute, und andere. Wir haben das Russische Reich sehr stark modernisiert." Da spricht der Historiker. Der Historiker Waldemar Biss hofft, dass - so wie der Dom - auch das gesprengte und völlig vom Erdboden verschwundene Königsberger Schloss wieder aufgebaut wird. Und er ist sich ziemlich sicher, dass Kaliningrad nicht Kaliningrad bleiben wird. O-T "Der Name Königsberg kommt wieder, unbedingt kommt. Aber es braucht noch Zeit." MUSIK _________________________________________ Tamara Ehlert So war der Frühling So war der Frühling in meiner Stadt - die Spatzen hockten am Weg und froren wie Wollknäuel, die jemand verloren und dann nicht aufgelesen hat. Der Frost saß nachts noch am Straßensaum und legte Glasscherben auf die Pfützen doch schon betupften wie grüne Mützen die ganz ersten Knospen jeden Baum. Die alten Häuser spürten die Gicht vom Winter her in krummen Wänden und fassten mit roten Ziegelhänden begierig ins weiße Mittagslicht. Sie ließen willig den warmen Strom der Sonne an ihre Schwellen branden und ihre buckligen Schatten standen wie schwarze Katzen rings um den Dom. Die Abende glänzten blau und matt. Wie Seidentücher an jungen Frauen wehten die zärtlichen schleierblauen Abende hin über meine Stadt. MUSIK Moderation Reportage 4 Jahrzehntelang versuchten sowjetische Behörden alle Spuren der deutschen Vergangenheit auszulöschen. Denkmäler wurden vernichtet, Friedhöfe verwüstet, Gotteshäuser zerstört oder umfunktioniert, in Kinos und Theater, in Getreidespeicher und Garagen. Bereits 1947 meldeten die Behörden einen weiteren Vollzug: Das Kaliningrader Gebiet, so hieß es, sei die erste atheistische Region in der Sowjetunion! Das Ende des Kommunismus brachte den Wandel. Die deutsche Kultur wird heute geschätzt und gewürdigt. Historische Bauwerke werden restauriert oder originalgetreu nachgebaut; an vielen Orten entstehen neue Kirchen und Gotteshäuser. Und so erlebt gerade der russisch-orthodoxe Glaube eine wahre Renaissance. Auch die Lutheraner erfahren wieder Zulauf. In Kaliningrad und auf dem Land ... Reportage 4 VOM ATHEISTEN ZUM PASTOR VON PATERSWALDE - ALEXANDER MAIBACH ATMO - Hunde Begrüßung im Dorf. Das Dorf heißt Bolschaja Poljana, bis 1945 Paterswalde. Es liegt vor den Toren der im Krieg fast völlig zerstörten Stadt Wehlau. Am Haus, das von zwei Hunden gut bewacht wird, ein Straßenschild: Uliza Puschkina Nr. 7. O-T "Wohnen drei Familien, zwei, die schlechte Alkoholiker, und eine Frau ohne Mann mit zwei Kindern. Haus ganz kaputt, aber die Frau macht nichts und die Alkoholikerin, sie braucht nichts machen. Ne alte deutsche Haus, hast schon gelesen? Da steht, wer wohnt da: Er macht Tapezierer und dieses für Pferde - Sättel, und Tapezierer, aber jetzt wohnen drei russische Familien." Das Haus in der Puschkin-Strasse Nr. 7 - ist in jeder Hinsicht - sehenswert. Ein Fotomotiv mit Aussagekraft. Bolschaja Poljana ist - salopp formuliert - buchstäblich auf den Hund gekommen. Dabei sah es hier einmal ganz anders aus. Und das ist noch gar nicht so lange her. O-T "Die neunziger Jahre haben ganz kaputt gemacht alles - Friedhöfe und Kirche, alle schönen Steine sind nach Litauen gekommen." Die Kirche von Paterswalde ist - rein äußerlich - in vergleichsweise gutem Zustand. Sie wird heute von der orthodoxen Gemeinde genutzt. ATMO - Gemeinderaum Treffpunkt der evangelischen Christen ist das Haus in der Puschkinstrasse Nr. 8. Hier schaltet und waltet und predigt Alexander Maibach. O-T "Bei der Arbeit... Alles da, was hat Gemeinde. Nu, jetzt nicht groß - 25 Personen. Jeden Sonntag haben wir Gottesdienst und jeden Montag haben wir Bibelstunde." Alexander Maibach blättert im Fotoalbum, und erzählt weiter.. O-T "Machen wir Musik bisschen mit meiner Frau und noch Menschen von Gemeinde. Christliche Pop-Musik, mehr natürlich in russischer Sprache und einige Lieder natürlich in Deutsch. Wir sind Russland- Deutsche." Ohne die Russlanddeutschen gäbe es keine evangelische Gemeinde in Bolschaja Poljana. Doch ihre Zahl ist rückläufig. O-T "Ein Drittel. Jetzt haben wir nur ein Drittel. Mehr Leute kommen von diesem Dorf. Wir haben jetzt 12 Personen, russische Leute aus Kasachstan, Kirgisien. Sie kommen mit uns 1994. Und kommen Leute, die hier geboren nach dem Krieg - Russen, Weißrussen. Jetzt kommen sie auch zu unserer Gemeinde." Worüber die Russisch-Orthodoxe Kirche alles andere als begeistert ist. O-T "Hm, sie sind ein bisschen böse natürlich. Aber es geht wie es geht. Das ist nicht unsere Sache. Das ist Gottes Sache." Mit Gott hatte der Gottesmann Alexander Maibach gar nichts im Sinn, als er 1994 aus Kasachstan nach Kaliningrad kam. Und das gibt er auch ganz offen zu. O-T "Ich bin gekommen als Atheist nach Russland und sie haben mich eingeladen, ein bisschen zu helfen mit Musik, und ich spiele weiter." Heute ist Alexander Maibach Mitarbeiter der Propstei Kaliningrad - Diakoniekoordinator. Und an manchen Sonntagen vertritt er in der Auferstehungskirche sogar den Propst - als Prediger wohlgemerkt, nicht als Propst. Doch ganz in der Stadt leben möchte er nicht. Das Dorf war und ist seine Welt. O-T "Ich hab' schon 23 Jahre leben in einem Dorf, wann ich soll wegfahren nur darum, dass, wo ich arbeite in Schule sagt mein Direktor: Sascha, Du sollst kasachische Sprache sprechen. 23 Jahre nur ich russische Sprache sprechen, und dann wo ich nehme die kasachische Sprache? Und was machen meine Kinder danach? Dann sagen wir gut, wir fahren nach Russland. Es ist besser. Wir lernen immer in Russisch. Aber hier in Kaliningrad ich habe keine Probleme." Keine Probleme - sieht man einmal ab von den Volksseuchen, die sich bis ins entlegene Bolschaja Poljana ausgebreitet haben. O-T "Drogen. Drogen. Zigeuner verkaufen Drogen. Das ist das größere Problem. Und Alkohol, wie immer in Russland." Alexander Maibach zeigt auf ein Bild an der Wand des Gemeindehauses. O-T "Dieses Bild hat ein Junge gemacht, 33 Jahre alt - Alkoholiker. Er macht Keramik, er macht alles. Seine Hände: ein Gottesgeschenk, aber Kopf keiner. Und wir arbeiten mit ihm schon 7 Jahre." Die Dorf-Bilanz ist ernüchternd - trostlos: O-T "Ungefähr 30 Prozent der Männer sind Alkoholiker. Und sie arbeiten nicht, versorgen Familie nicht." Die Folgen der Volksseuche sind spürbar, sind nicht zu übersehen: O-T "Besuchen Sie unseren Friedhof, jede drei, vier Tage eine Beerdigung. Und die alle arme Menschen. Und ohne richtigen Traum, ohne Gottesdienst und ohne alles. Was machen sie weiter? (...) Wenn sie keinen Christus haben, was machen sie dann?" Alexander Maibach ist ratlos. Der Geistliche, der weltlicher kaum aussehen könnte - Drei-Tage-Bart, legerer Pullover mit deutlichen Gebrauchsspuren - der Landmann aus Kasachstan, der erst im russischen Ostpreußen zum Glauben fand und theologisch geschult wurde, er setzt auf die Jugend, veranstaltet jedes Jahr Kinder- und Jugendlager in Bolschaja Poljana. ATMO Schritte auf Kies O-T "Das ist ein neues Gebäude, noch nicht fertig. Und jetzt habe ich schon vier Betten neu gekauft, in anderen Zimmern stehen die alten Betten - das sind deutsche Bundeswehrbetten. Ein Mann aus Bonn - Herr Klein - hat die besorgt. (...) Dieses Jahr haben wir für 30 Kinder gut Platz." ATMO Schritte Gleich hinter dem Haus: der Sportplatz. O-T "Das ist der Spielplatz für Volleyball, für Fußball - nicht groß, aber genug für 30 Personen, und schöner Blick. Wollen sie nach Wald gehen - in zwei Kilometer Wald, in 700 Meter einen Fluss haben wir, und schöne Luft." Alexander Maibach gerät ins Schwärmen, engagiert sich mit Leib und Seele für seine Projekte hier im Dorf, wo wenigstens die Natur noch in Ordnung ist. ATMO - Vogelkonzert / Kuckuck Besonders stolz ist er auf den Glockenstuhl im Garten vor dem Gemeindehaus. O-T "Da steht 1705 - ganz alte Glocken, schönes Geschenk von unserem Freundeskreis. Und jeden Sonntag er läutet. Und Sonnabend 6 Uhr, drei-, viermal, und die Leute sagen: Sascha, schon 6 Uhr?" (Lachen) ATMO - Glocken Und das alles in der Uliza Puschkina Nr. 8... O-T "...Ganz historisches Haus, Paterswalde Gemeinde, Puschkina Uliza und Glocken von Johanniter - ein Museum." ATMO - Glocken MUSIK Alexander N. Wertinskij Bete, mein Freund Bete, mein Freund im fernen Land, bete, mein Freund, fürs Heimatland. Bete für die dem Herzen nah, dass sie der Herr bewahren mag. Verloren wir auch, was uns lieb, dass uns nicht Herd noch Heimat blieb. Wir glaubten fest, einst kehrt das Glück mit seinem Licht zu uns zurück. Bitte zu Gott in dem Gebet um Kraft, die alles übersteht, damit in unsrem Land aufs neu wie einst Friede und Liebe sei. MUSIK _________________________________________ Moderation Reportage 5 Nach der Wende kam erst der wirtschaftliche Niedergang. Dann die "Sonderwirtschaftszone", versehen mit zahlreichen Anreizen für Unternehmer und Investoren. Die russische Exklave Kaliningrad - jene Insel innerhalb der Europäischen Union - verzeichnet seitdem Wachstumsraten von jährlich mehr als 40 Prozent. Doch der Aufschwung, so heißt es, sei nicht nachhaltig. Und er lasse die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergehen. Die Stadt Kaliningrad hat heute viele Gesichter: Da gibt es die gut Betuchten, die in modernen Einkaufszentren shoppen gehen. Und da gibt es die Rentner, die am Straßenrand Radieschen verkaufen, die vielen Kinder aus zerrütteten Familien. Ein Lichtblick in diesen Zeiten ist das erste Kinderdorf vor den Toren Kaliningrads ... Reportage 5 EIN HERZ FÜR KALININGRADS KINDER - ANNA ENGEL, LEITERIN DES KINDERDORFES "RADUGA" ATMO Kinder - Sonja auf der Schaukel O-T "Unsere Kinder. Das ist Eduard, Daniel, Roman, Pavelik, Arina, da ist meine Enkelin Sonja..." Anna Engel ist da, wo sie sich am liebsten aufhält: bei ihren Kindern. Den eigenen und den anderen, die im SALEM-Kinderdorf "Raduga" - "Regenbogen" eine Heimstatt gefunden haben. Angeschoben von ihren Spielkameraden, bereitet es Enkelin Sonja, 4 Jahre alt, ein diebisches Vergnügen, ihre Füße in der Pfütze unter der Schaukel abzukühlen. Das Wasser spritzt nur so auf bei jeder Schaukeltour. ATMO - Schaukel Der Spielplatz, der Sportplatz befindet sich gleich neben einem Haus, das es nur einmal gibt im ganzen Kaliningrader Gebiet. O-T "Ja, das ist innen aus Holz und von außen mit Stroh und Lehm. Oben dieses Glas ist besonders schön." Das zentrale Versammlungshaus des Kinderdorfes mit Gästezimmern, Küche, Bibliothek und einem alten Klavier aus Insterburg ist ein Öko-Haus, gestrichen - wie es sich gehört - mit Öko-Farbe. Das Dach: ein Grasdach, das von den Kindern regelmäßig gemäht wird. Ein spezielles Gitter soll die Hausbewohner vor Ratten und Mäusen schützen. Das Öko-Haus liegt auf einer kleinen Anhöhe. Von hier oben hat man einen guten Überblick, guten Ausblick auf die anderen Häuser des Kinderdorfes. O-T "Ja, das erste Haus, da wohnen wir. Und das nächste Haus ist jetzt die Familie, die drei Kinder aus Kasachstan aufnehmen möchte, aus Kustanai. Und das Gelbe ist die Tischlerei, wo die Kinder, die Jugendlichen die Arbeit machen. Das weiter ist die Remise, wo unsere Landmaschinen stehen. Und da ist ein wunderschöner Keller, wo unsere ganzen Kartoffeln - bis 30 Tonnen - könnten wir da behalten im Winter gut, und im Frühling verkaufen wir sie teurer, weil der Preis ist im Frühling teuer. Richtig gute Kartoffeln: Santana, Frühkartoffeln und Spätkartoffeln. Und das hier, gleich sieht man diese Kläranlage, diese Pflanzenkläranlage." ATMO - Kuckuck Dorfbeschreibung mit passender Begleitmusik - und einem guten Tipp von Anna Engel. O-T "Früh am Morgen um 5 Uhr, da singen die Vögel alle... Hörste das?" Anna Engel, Russlanddeutsche, geboren 1957 in Pawlodar in Kasachstan, verliebte sich spontan in Ostpreußen, als sie 1986 mit ihrem Mann einen Urlaub verbrachte im Militärsanatorium von Georgenswalde an der Ostseeküste. "Hier möchte ich leben!", sagte sie sich und setzte 1993 ihren Wunsch in die Tat um. Sie hat schon an vielen Orten gearbeitet im nördlichen Ostpreußen: in Hotels und Restaurants in Insterburg, Rauschen und Georgenburg. Sie war Mitarbeiterin der Propstei Kaliningrad. Doch jetzt und hier als Leiterin des Kinderdorfes "Raduga", fühlt sich Anna Engel so richtig wohl, sprüht vor Engagement. ATMO - Schritte O-T "Und hier der professionelle Ofen, den haben wir vom Altenheim aus Angerapp bekommen. Und das wird unsere Backstube jetzt sein. Mühle, Mischer, Backofen - alles ist da. Vorgestern haben wir das Brot gebacken, aber das Brot haben wir noch hier gebacken in diesem Ofen - vier Laib." Die Backstube befindet sich im Heizungsraum des "8-Kind er- Hauses". O-T "Viele Kinder, immer riecht's nach frischem Brot, und die sind immer so glücklich. Der Vater arbeitet bei uns als Traktorist - die Mutter ist zu Hause mit den Kindern. Acht Kinder!" Anna Engel würde gerne viel mehr kinderreiche Familien in "ihrem" Dorf aufnehmen. Doch das scheitert zur Zeit an der russischen Bürokratie. Ist doch das Kinderdorf "Raduga" bis heute nicht ordnungsgemäß registriert, weil es nicht auf Bauland errichtet wurde. Es hängt sozusagen in der Luft, gehört zu keiner russischen Gemeinde. O-T "Nein, wir sollten eigentlich Logvino angeschlossen sein. Aber das ist noch ein Generalplan. So heißt unser Dorf Raduga/SALEM - Regenbogen. Aber offiziell ist das noch nicht im Register drin. Das kommt erst." ATMO - Schritte übers Feld O-T "Hier sollte eigentlich dieses Gästehaus stehen, und das Seniorenheim in der Nähe, hier auf diesem höchsten Platz. Das finde ich wunderschön!" Das Gelände ist unwegsam. Und der Acker unter unseren Füßen birgt Gefahren. Anna warnt: O-T "Dass wir nicht Zecken bekommen! (...) Aber hier sind nur so schwarze, keine Angst. Und Schnecken." Schnecken und Zecken auf verbrannter Erde. Abenteuer Ostpreußen. O-T "Hier hat viel gebrannt im Frühling, das alte Gras. Die Leute stecken das Gras einfach an, und der Brand kommt von da, und wir haben das richtig gestoppt hier, dass das nicht so dicht zu den Häusern kommt. Noch höher, höher..." Gipfelstürmer unterwegs im Flachland. Im Vorland von Königsberg. O-T "Schau mal, da sieht man schon die Stadt von hier. Hier sind wir jetzt auf dem höchsten Punkt. Da ist Kaliningrad, da ist Svetlyj. Und da sieht man das ganze Dorf. Sehr schön. Und hier sollte das Gästehaus sein." Die Russlanddeutsche Anna Engel, die in Alma-Ata, Karaganda und Moskau lebte, bevor sie nach Kaliningrad kam, hat tausend Ideen und Pläne, ist voller Tatendrang. Aber eines hat sie nicht: Heimweh. O-T "Nein hab' ich nicht, hab' ich nie gehabt. Bei so einer schönen Natur hat man kein Heimweh nach Kasachstan. Kennst Du Kasachstan? Kasachstan ist nur eine Steppe, im Juni-Monat ist schon alles ausgebrannt - nix. Ich fühl mich hier so schön und so gut, ich möchte nie nach Kasachstan - und nach Deutschland auch nicht, zu Besuch aber nicht mehr." Anna Engels Mutter ist 2005 in Deutschland gestorben, ihre Schwester lebt in Kanada, ihr Sohn Juri in Belgien. Doch sie ist fest entschlossen zu bleiben in ihrem kleinen Paradies - im Kinderdorf "Regenbogen". O-T "Heimat - Heimat ist für mich das Kaliningrader Gebiet. Das ist meine Heimat. Auf jeden Fall, ich fühl mich hier wie in der Heimat. Ich denke immer, Heimat ist da, wo es dem Menschen gut geht - und mir geht's hier gut." MUSIK Moderation Sie hörten die Sendung "Gesichter Europas". "Wanderer zwischen den Welten - Russlanddeutsche in Kaliningrad." Mit Reportagen von Henning von Löwis. Musik und Regie: Babette Michel. Sprecher der Literatur: Ilse Strambowski und Richard Hucke. Am Mikrophon: Susanne El Khafif. MUSIK E n d e 2