DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature Menschen ohne Gesicht Ein Kapitel aus dem Ersten Weltkrieg Von Thomas Zenke Sprecher REGIE: Thomas Zenke Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 21.März 2014, 20:10 - 21:00 Uhr 3. Sprecher: Von den tiefliegenden Augen ging der Blick zu der zugleich zierlichen und kräftigen Nase, zu den Lippen, den fest gepressten; 1. Sprecher: Sehet: welch ein Mensch! 3. Sprecher: ... leicht stand die Unterlippe vor, gab dem Mund die herbe Entschlossenheit und leitete abwärts zum Kinn, in dessen mächtigem Vorsprung der Anspruch und das Recht des Herrschers gesammelt schien. 1. Sprecher: Ein Charakter! ein Herr! ein Gebieter sei dieser Mann! Ergriffen, ja überwältigt blickt Edgar Salin, einer seiner Jünger, zu ihm auf. 3. Sprecher: Wie schön und groß geformt war das Ohr, - es deuchte uns weiter entfernt von Auge und Nase als bei anderen Menschen, so als sei jeder Teil dieses Kopfes für sich und im Ganzen vollkommen. 1.Sprecher: Edgar Salin blickt zu Stefan George auf, dem Dichter, dem Denker, dem "Seher" - und modelliert ihn so, wie er ihm erscheint. 1912 war das. *** 2. Sprecher: "Vergessen! Die Kriegszermalmten in Berliner Lazaretten" - unter diesem Titel berichtet Erich Kuttner am 8. September 1920 im ‚Vorwärts' über einen Besuch in einer Spezialklinik für Gesichts- und Kiefernverletzte in der Thüringer Allee in Westend. 4. Sprecher: In das kleine Geschäftszimmer tritt ein Mann, der quer über die Mitte des Gesichts eine Binde trägt. Der Mann nimmt die Binde ab... 2. Sprecher: Sehet: welch ein Mensch... 4. Sprecher: ...und ich starre in ein kreisförmiges Loch von der Größe eines Handtellers, das von der Nasenwurzel bis zum Unterkiefer reicht. Das rechte Auge ist zerstört, das linke halb geschlossen. Während ich mit dem Mann rede, sehe ich das ganze Innere seiner Mundhöhle offen vor mir liegen: Kehlkopf, Speiseröhre, Luftröhre wie bei einem anatomischen Präparat. 5. Sprecher: Menschen ohne Gesicht Ein Kapitel aus dem Ersten Weltkrieg Feature von Thomas Zenke 1. Sprecher: Edgar Salin ist durchglüht von ihm; er imaginiert Stefan George leidenschaftlich, preist sein Vorbild, für ihn Inbegriff der Vollkommenheit. 3. Sprecher: Der Blick folgte dem Haar zur Stirn, die hart und gewaltig über dem Haupt thronte, - sie war fast ohne Furchen, die geistige Stirn eines Denkers und war zugleich, an der Seite leicht gebuckelt und über dem Auge leicht gewulstet, die willensgeladene Stirn eines Täters, - sie war steinern und wie von einem harten Meissel geformt und sie war im Zusammenklang mit dem reichen, gewellten Haar, in dessen Braun sich die ersten weissen Strähnen mischten, von jener anmutigen Würde überflutet, für die sich uns das Wort Charis unentziehbar aufdrängte. 1. Sprecher: Ein Begnadeter sei dieser Stefan George! Ein Auserwählter! Berufener! Einer, der Persönlichkeit ausstrahlt, Größe, ja Genie! Edgar Salin spricht wie ein Nostalgiker. Es ist, als fürchte er einen allgemeinen Verfall, einen allgemeinen Gesichtsverlust in der Masse Mensch. *** 4. Sprecher: Aber was ist das für ein seltsam behaarter Klumpen... 2. Sprecher: ... fragt Erich Kuttner in seinem Bericht über die "Kriegszermalmten in Berliner Lazaretten". Kuttner hatte sich 1915 freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, wurde zuerst in Galizien eingesetzt, dann an der Westfront und wurde 1916 bei Verdun schwer verwundet. Der Sozialdemokrat ist Mitbegründer des "Reichsbunds der Kriegsbeschädigten und ehemaligen Kriegsteilnehmer", der Ende 1919 bereits eine halbe Million Mitglieder hat. 4. Sprecher: ...ein Klumpen, der lose an ein paar Sehnen und Bändern wie ein Glockenklöppel in dem Hohlraum pendelt? Man erklärt es mir: eine verunglückte Nase, die dem Unglücklichen eingesetzt werden sollte. Einstweilen hat der Mann seine achtzehnte Operation überstanden. Aber das ist noch kein Rekord. Bald darauf lerne ich Leute mit 30 und 36 überstandenen Operationen kennen. Sprecherin: Franz Damman, Zeichner, 44 Jahre. Verwundet Mai 1915. Durch Granatsplitter Ohr, Unterkiefer, Gaumen zerfetzt. Transplantation aus dem Oberschenkel. Bisher 30 Operationen. Otto Dorbritz, 27 Jahre alt, verwundet Oktober 1918 durch Minenwurf, Oberlippe und Nase weggerissen. Fleisch aus Stirn, Armen und Rippen für künstliche Nase und Lippe entnommen. 12 Operationen. Karl Marzahn, Eisenhobler, 37 Jahre. Verwundet 26. Oktober 1918. Unterkiefer, Zähne und Zunge abgerissen. Transplantationen aus Kopf und Brust. 1. Sprecher: Fotografien von Menschen ohne Gesicht aus der Berliner Charité. Der Pazifist Ernst Friedrich hat sie 1924 in seinem Plädoyer "Krieg dem Kriege" publiziert. *** 5. Sprecher: Wir hatten an den Krieg nicht geglaubt, unsere politische Einsicht hatte nicht ausgereicht, die Notwendigkeit der europäischen Katastrophe zu erkennen. Als sittliche Wesen aber - ja, als solche hatten wir die Heimsuchung kommen sehen, mehr noch: auf irgendeine Weise ersehnt; hatten im tiefsten Herzen gefühlt, dass es so mit der Welt, mit unserer Welt nicht mehr weitergehe. 2. Sprecher: "Gedanken im Kriege" von Thomas Mann, November 1914. 5. Sprecher: Es war der nie erhörte, der gewaltige und schwärmerische Zusammenschluß der Nation in der Bereitschaft zu tiefster Prüfung - einer Bereitschaft, einem Radikalismus der Entschlossenheit, wie die Geschichte der Völker sie vielleicht bisher nicht kannte. Aller innerer Hader, den der Komfort des Friedens hatte giftig werden lassen - wo war er nun? 4. Sprecher: Soldat-Werden, sein Jahr abdienen müssen, war für mich während der Gymnasialzeit immer eine peinliche, bedrohliche Vorstellung gewesen. Das bedeutete: Sich-Richten, Stillstehen, Maulhalten, Parieren, Subordination - den Verlust aller Freiheit. 2. Sprecher: ...erinnert sich Carl Zuckmayer in seiner Autobiographie "Als wär's ein Stück von mir". 4. Sprecher: Jetzt war es das genaue Gegenteil: Befreiung! Befreiung von bürgerlicher Enge und Kleinlichkeit, von Schulzwang und Büffelei, von den Zweifeln der Berufsentscheidung und von alledem, was wir - bewusst oder unbewußt - als Saturiertheit, Stickluft, Erstarrung unserer Welt empfunden, wogegen wir schon im ‚Wandervogel' revoltiert hatten. (...) es war Ernst geworden, blutiger, heiliger Ernst, und zugleich ein gewaltiges, berauschendes Abenteuer, für das man das bisschen Zucht und Kommißkram gern in Kauf nahm. Wir schrien ‚Freiheit', als wir uns in die Zwangsjacke der preußischen Uniform stürzten. Es klingt absurd. Aber man war, mit einem Schlag, ein ‚Mann' geworden. *** 1. Sprecher: Auch wenn die Zahl der Freiwilligen, die "zu den Waffen" drängten, aus Gründen der Propaganda stark übertrieben war, der "Geist von 1914", der patriotische Taumel, aktivierte Köpfe und Herzen - aber weit eher im städtischen Bürgertum als bei den Arbeitern und der Landbevölkerung. Noch bis in den Juli hinein hatten Antikriegsdemonstrationen der Arbeiterparteien stattgefunden. 5. Sprecher: Am 1. August ist es uns zum erstenmal erschienen, das wahre Deutschland... 2. Sprecher: ...jubelte der Schriftsteller Hermann Bahr. 5. Sprecher: Wir haben uns wieder, nun sind wir nichts als deutsch. 2. Sprecher: Die Einheit der Nation wurde beschworen; ein "Burgfrieden" geschlossen, eine "Notgemeinschaft"; alle inneren Streitigkeiten bis zum, wie man glaubte, schnellen Ende des Krieges vertagt. Auch die Parteien der Sozialistischen Internationale, auch die Gewerkschaften unterstützten die Mobilmachung, und die deutsche Sozialdemokratie stimmte aus nationalem Verantwortungsbewußtsein geschlossen für die Kriegskredite. 1. Sprecher: Der deutsche Vormarsch im Westen war als Bewegungskrieg geplant, als kurzer Krieg. Aber bereits im September 1914 wurde die bis dahin erfolgreiche, indes auch mit massiven Verlusten bezahlte militärische Offensive an der Marne gestoppt. 2. Sprecher: Es begann ein Stellungs- und Abnutzungskrieg. Man baute auf beiden Seiten ein System aus Schützengräben und Stacheldrahtverhauen von der Kanalküste bis zur Schweizer Grenze. Die feindlichen Stellungen lagen sich unmittelbar gegenüber; das ungeschützte "Niemandsland" zwischen ihnen wurde zur Todeszone; jeder Vorstoß forderte unkalkulierbare Opfer. Die Soldaten mussten damit rechnen, von Granatsplittern zerrissen oder verstümmelt oder durch die Druckwellen der Geschosse verschüttet zu werden. 1. Sprecher: Die Gegner verwickelten sich in "Materialschlachten", die das Gefechtsfeld in eine Trichterlandschaft verwandelten, aber keine weitreichenden Geländegewinne oder gar einen entscheidenden Durchbruch erbrachten. Artilleriefeuer, Maschinengewehre ( 500 Schuß pro Minute ), hochexplosive Granaten, Minenwerfer, Flammenwerfer, bald auch Giftgas - unermessliche Verluste waren die Folge - Tote, Verwundete, Versehrte. 2. Sprecher: 48 lange Monate dauerte der Stellungskrieg. Über 9 Millionen Soldaten wurden getötet, davon zwei Millionen Deutsche. Mehr als vier Millionen Deutsche wurden verwundet oder zu Kriegsversehrten. 4. Sprecher: Wenn man von Ferne das Pfeifen hörte, so zog sich der ganze Körper zusammen, um der maßlosen Gewalt der Explosionswellen standzuhalten, und jede Wiederholung war ein neuer Angriff, eine neue Erschöpfung, ein neues Leiden. 2. Sprecher: Aus einem Feldpostbrief. 4. Sprecher: Dieser Belastung können auch die stärksten Nerven nicht lange widerstehen; es kommt der Augenblick, da das Blut zu Kopf steigt, wo der Körper vor Fieber glüht und die erschöpften Nerven zu jeder Reaktion unfähig werden... schließlich gibt man es auf, man hat kaum noch die Kraft, zu Gott zu beten... Durch die Kugel sterben, scheint nicht schwer; dabei bleiben die Teile unseres Wesens unversehrt; aber zerrissen, in Stücke gehackt, zu Brei zerstampft zu werden, ist eine Angst, die das Fleisch nicht ertragen kann. 5. Sprecher: Als ich die Kameraden hinfallen sah, kam mir der Gedanke, jetzt kriegst du auch deinen Teil... 2. Sprecher: Feldpostbrief eines Medizinstudenten. 5. Sprecher: In meiner größten Seelenangst rief ich Gott an: ‚O du lieber Gott, hilf bloß, hilf, rette mich, sei gnädig mit dem Schuß, den ich bekomme.' Einen Arm will ich opfern, ein Bein auch, einen Brustschuß nehme ich auch hin. Bei der Erwägung eines Bauchschusses kam mir der Gedanke, ob meine Gedärme voll waren, ob ich in letzter Zeit viel gegessen hatte. Bei der Erwägung eines Kopfschusses sagte ich mir wieder, dass solche meist tödlich sind. Wird die Halsschlagader getroffen, dann kannst du verbluten. Ganz plötzlich dachte ich an meine Augen. Nur nicht blind werden. Ein Auge vielleicht gibst du hin, am liebsten auch das nicht. Nur nicht blind werden. Jetzt kriegst du eins ab. Ich hebe beide Hände gegen meinen Kopf und drehe ihn nach links. In demselben Augenblick fühle ich einen fürchterlichen Schlag gegen mein rechtes Ohr. Mir ist, als ob jemand mit einem Gummiknüppel mir eins auf die rechte Backe versetzt. Ich spüre einen ordentlichen Ruck und empfinde ein deutliches Knochenknacken... Blut fließt nun auch auf meine Hände und den Mantel herab. Als ich es sehe, rufe ich aus: ich verblute, ich verblute... 2. Sprecher: Der Student hat durch ein Schrapnellgeschoß eine schwere Kieferverletzung erlitten. 3. Sprecher: Auf der Straße riesige Krater und Trichter, die die schweren Fußartilleriegeschosse ausgeworfen haben. Tote in Massen. Tornister, Hemden, Wäsche, Fleisch. Die Toten im Dorf meist den Kopf mit einem Tuch verhüllt. Nachher auch das nicht mehr. Im Chausseegraben einer neben dem anderen. Fürchterlich zugerichtet durch die Artilleriegeschosse. Einem das ganze Unterkinn weggerissen. Ein ganzer Schützengraben voller gefallener Franzosen. Dann tote Deutsche, die ihn gestürmt haben. An den Leichen sind schon die Fliegen. Eine Katze schleicht vorsichtig über die Schwelle des zu Trümmern geschossenen Hauses. Hühner. In einer Jauchelache ein stinkender, ersäufter Hund. Ein Kramladen. Die Soldaten wühlen in den Sachen... 1. Sprecher: ...notiert der Dichter und Literaturwissenschaftler Ernst Stadler am 22. August 1914 in seinem Tagebuch; bereits am 10. hat er mit seiner Einheit die Grenze zu Frankreich überschritten. Stadler stammte aus dem elsässischen Colmar, das seit dem Krieg von 1870/71 zum Deutschen Reich gehörte. Er war der deutschen wie der französischen Kultur verbunden. Und nun war "die süße Erde von Frankreich", wie er schrieb, Feindesland. Am 30. Oktober wurde Ernst Stadler in der Nähe von Ypern durch eine Granate getötet. 3. Sprecher: "Ich bin vergiftet, völlig fertig, innen ist alles kaputt", leiert ein Verwundeter. Er hat den Kopf in die Hände gestützt und spricht durch die Finger. "Doch bis zur vergangenen Woche war ich ein schmucker junger Bursche. Sie haben einen anderen aus mir gemacht. Jetzt bin ich nur noch ein ekelhafter alter Kadaver, der sich auflöst." 2. Sprecher: Szene im Lazarett. Aus dem Roman "Le Feu"/ "Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft" von Henri Barbusse. 3. Sprecher: "Gestern", sagt ein anderer, "war ich sechsundzwanzig. Und wie alt bin ich heute?" Er versucht den wackelnden Kopf zu heben, und wir sehen sein entstelltes, in einer Nacht zerstörtes und entfleischtes Gesicht mit den eingefallenen Wangen, den tiefen Augenhöhlen und dem Flämmchen einer Nachtlampe, das im tränenden Auge erlischt. 4. Sprecher: Das sind nicht Soldaten: 2. Sprecher: - so Henri Barbusse - 4. Sprecher: ... das sind Menschen. Es sind keine Abenteurer, keine Krieger, die gemacht sind zur Menschenschlächterei - als Schlächter oder als Schlachtvieh... es sind einfach Menschen. (...) Es sind nicht die Art Helden, wie man sie sich vorstellt, aber ihr Opfer hat mehr Wert, als es diejenigen, die sie nicht gesehen haben, jemals werden ermessen können. 1. Sprecher: Der Schriftsteller Henri Barbusse hatte sich mit 41 Jahren freiwillig zum Militär gemeldet. Er diente als Schanz-Soldat und Kranken- und Verwundetenträger - zuletzt an der Loretto-Höhe bei Souchez. Auch er war der Überzeugung, dass die Frontlinie nicht zwischen den deutschen und französichen Soldaten verlief. Er sah vielmehr bei den Sozialisten auf beiden Seiten "die einzige mögliche Hilfe gegen zukünftige Kriege". In "Le Feu" hat er dem kompromisslosen Kriegsgegner Karl Liebknecht ein Denkmal gesetzt. Sprecherin: Wir sehen ein Gesicht - geteilt, nein: gespalten... Ein Januskopf ist das: hier Frieden, dort tiefe Spuren des Krieges. Die eine Hälfte ebenmäßig, makellos. Die andere gewaltsam aufgebrochen von der Stirn bis zum Mund. Das rechte Auge zerstört. Das rechte Ohr abgerissen. Rohes Fleisch und Gewebe, offenbar quoll es heraus und schäumte, wie durch den Wolf gedreht... jetzt ist es zu ekliger, blutiger Masse erstarrt und drückt auf die Unterlippe. Das gesunde linke Auge, tieftraurig sein Ausdruck, es fleht ins Leere. Kein Echo, keine Antwort... Das Gesicht, das diesen Menschen einmal unverwechselbar gemacht hat, ist unwiederbringlich verloren. 2. Sprecher: "Kriegsverletzter", Aquarell über Bleistift von Otto Dix aus dem Jahre 1922. 5. Sprecher: Der Krieg ist eben etwas so Viehmäßiges: Hunger, Läuse, Schlamm, diese wahnsinnigen Geräusche. Ist eben alles ganz anders. Sehen Sie, ich habe vor den früheren Bildern das Gefühl gehabt, eine Seite der Wirklichkeit sei noch gar nicht dargestellt: das Hässliche. 2. Sprecher: Otto Dix im Rückblick 1961. 5. Sprecher: Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen. 2. Sprecher: Otto Dix hatte sich als Freiwilliger zum Militärdienst in Dresden gemeldet und wurde als Ersatzreservist eingezogen. Er wurde für Feldartillerie und als MG-Schütze ausgebildet. 5. Sprecher: Ich musste das alles selber sehen. Ich bin so ein Realist... Ich bin eben ein Wirklichkeitsmensch. 2. Sprecher: Am 1. November 1915 machte man ihn zum Unteroffizier. 1916 nahm er an der Schlacht an der Somme teil. Er meldete sich zu Kursen für Fliegerabwehr. Im November und Dezember 1917 kämpfte er in Weißrussland, ab Februar 1918 wieder in Nordfrankreich und Flandern. Er wurde am Hals durch Granatsplitter verletzt, noch zum Vizefeldwebel befördert und am erst 22. Dezember 1918 aus dem Kriegsdienst entlassen. *** 1. Sprecher: Die Kampfkraft und die Moral der Truppe zu erhalten war nicht zuletzt das Ziel der Militärmedizin. Sanitätsabteilungen, mobile Laboratorien, Hygiene- und Desinfektionsausrüstungen wurden eingerichtet. Motorisierte Krankenwagen, Eisenbahnzüge und Lastkähne transportierten die Verwundeten nach Erstversorgung und auch chirurgischen Eingriffen zu Militärstützpunkten und schließlich zu Hospitälern in der Heimat. 2. Sprecher: Auch auf Gesichtsverletzungen waren Medizin und Militär nicht ganz unvorbereitet. Entsprechend ausgebildete Zahnärzte und Kieferchirurgen wurden in Feldlazarette geschickt und Ambulatorien organisiert. Man operierte und dokumentierte und studierte die zerschossenen Gesichter anhand von Wachsmoulagen, Gipsmodellen, anatomischen Präparaten und Photographien vor und nach dem Eingriff. 1. Sprecher: Im Juni 1916 wurde sogar eine Abteilung für plastische Gesichtschirurgie in der Hals-, Nasen- und Ohren-Klinik der Berliner Charité eingerichtet. Sie hatte den Status eines Reservelazaretts und wurde von der Heeresleitung finanziert. Die Leitung der Abteilung übernahm Sanitätsoffizier der Reserve Dr. Jacques Joseph. Der Kaiser hatte dem "Chirurgen für Gesichtsplastik" 1915 sogar eine Professur angeboten. Daß er nicht habilitiert war, spielte keine Rolle, wohl aber sein jüdischer Glaube; er sollte konvertieren. Jacques Joseph lehnte ab. 2. Sprecher: Sein erster chirurgischer Erfolg war eine Korrektur der Ohren im Jahre 1896. Eine besorgte Mutter stellte ihm ihren zehnjähriges Sohn vor. Er litt unter seinen abstehenden "Eselsohren" und dem Hohngelächter und den Sticheleien seiner Spielkameraden und Mitschüler. Die seelische Not von Mutter und Kind war für Jacques Joseph entscheidend. Er operierte. Er verkleinerte die Ohren und legte sie an. Sein chirurgisches Verfahren brachte ihm bei der ‚Berliner Medizinischen Gesellschaft' hohe Anerkennung. 1. Sprecher: Ende Januar 1898 suchte ein 28-jähriger Gutsbesitzer Jacques Joseph auf. Er klagte über die Form seiner Nase. Ihr Rücken war zu lang, die Nasenspitze lag daher zu tief, und außerdem hatte die Nase einen auffälligen Höcker. Er sei zum Gespött geworden, klagte der Mann, stigmatisiert, vereinsamt! Jacques Joseph operierte. Er trug mit äußerer Schnittführung die Knorpel und die Knochen-Elemente des Nasenrückens ab, verkürzte die Nasenspitze und verkleinerte die Nasenlöcher. Der Eingriff gelang in gut einer Stunde. Und der Patient traute sich wieder unter die Leute. 2. Sprecher: Jacques Joseph konnte 1904 von 48 Nasenkorrekturen berichten, 1907 waren es schon über 200. Dabei entwickelte er seine Technik zu einer intranasalen Rhinoplastik weiter, wobei durch die Nasenlöcher operiert wurde, ohne Hautschnitt und also ohne äußere Narbenbildung. Auch konnte er, falls nötig, intranasal Knochenspäne aus Schienbein oder Rippe des Patienten transplantieren. Oder aus Elfenbein. Das lieferte ihm der Berliner Klavierbauer Bechstein. 1. Sprecher: Jacques Joseph hatte von Kriegsbeginn an Gesichtsverletzten in seiner Berliner privaten Praxis geholfen. Dadurch war die Heeresleitung auf ihn aufmerksam geworden. Nach seinem ersten Jahr in der Charité berichtete er: 4. Sprecher: In der Zeit vom 20. Juni 1916 bis 30. Juni 1917 führte ich 210 plastische Operationen des Gesichts durch. Überwiegend handelte es sich bei den Patienten um schwere Entstellungen des Gesichts, auch um solche, die bereits chirurgisch ohne oder mit mangelhaftem Erfolg operiert worden waren. 1. Sprecher: Dabei gab es, stellte er "zu seiner Freude" fest, keine tödlichen Komplikationen. Daß seine chirurgischen Eingriffe gelangen, hatte auch, wofür er dankbar war, mit der Hilfe der Nachbardisziplinen zu tun wie Hals-Nasen-Ohren- und Augenheilkunde, Zahnmedizin, Dermatologie, Radiologie und Labormedizin. *** 2. Sprecher: Der Stabsarzt steht im Gang bei den Blinden vor einem Soldaten, der kein Gesicht mehr hat. 3. Sprecher: Von der Stelle, wo das Kinn war, bis zum Haaransatz bei der Stirn: - eine Fläche. Oben verbreitert durch die Ohren. Kein Mund. Keine Zähne. Keine Augen. Alles ist weg. Zwei Löcher, wo die Nase war. Ein kleines, lippen- und formloses, narbiges, schiefes Loch, wo der Mund war. Die Augenlider, die Augenbrauen, die Augen sind ganz weg: eine grauenvolle Fläche, entstellt durch farbige Narben und Mißgewächse aus Haut. 2. Sprecher: Aus der Erzählung "Die Kriegskrüppel" von Leonhard Frank, geschrieben 1916. 3. Sprecher: Der Stabsarzt sieht die flache, leere Riesennarbe an und fragt: "Sagen Sie, Lieber, erkennen Sie Ihre Kameraden schon an der Stimme?" Der Soldat macht eine ungeheure Anstrengung, ein Wort zu formen. Die rote Zungenspitze durchstößt immer wieder das schiefe, lippenlose Loch. Er gestikuliert mit den Händen. Jetzt erst erinnert sich der Stabsarzt, dass der Mann nicht sprechen kann, weil er keinen Mund, keine Zähne mehr hat. Und drückt in grenzenloser Liebe die Narbe an seine Wange. Der Gefühlssturm, der den Soldaten durchfliegt, wird nicht sichtbar, da der Soldat kein Antlitz hat. In wilder Erregung tastet er nach der Menschenhand, presst sie. Und steht im Glücke, das nicht sichtbar werden kann. 2. Sprecher: Leonhard Franks Erzählung erschien 1917 unter dem Sammeltitel "Der Mensch ist gut" in der Schweiz, wohin der Gesellschaftskritiker und überzeugte Kriegsgegner emigriert war. In Deutschland verboten, konnte das Buch hier nur illegal verbreitet werden. 1. Sprecher: Die Schauspielerin Tilla Durieux veranstaltete kurz nach seinem Erscheinen in Berlin eine Lesung. Rund 300 Interessierte kamen, unter ihnen Käthe Kollwitz. Sie waren so erschüttert und außer sich, dass sie nur mit Mühe davon abgehalten werden konnten, auf dem Potsdamer Platz gegen den Krieg zu demonstrieren. 1918 vergab Heinrich Mann den Kleist-Preis zu gleichen Teilen an Leonhard Frank und den Schriftsteller Paul Zech. *** 2. Sprecher: Die Verstümmelungen waren häufig unvorstellbar groß. Da verhalfen Transplantationen und Korrekturen zwar zu einem Gesicht, nur war es so abstoßend, dass es in den Augen der Militärs den "Dienst am Vaterland" untergrub. 1. Sprecher: Die berühmteste, weil ungewöhnlich große Gesichtsplastik, dokumentierte Jacques Joseph in der ‚Deutschen Medizinischen Wochenschrift'. Es handelte sich bei dem Patienten um den türkischen Leutnant Mustafar Ipar, dem bei einer der Schlachten an den Dardanellen Granatsplitter beide Wangenknochen, den Oberkiefer, den Gaumen, die Lippen, die Zunge, das rechte Auge, die Augenlider zerschmettert hatten. Daß der Mann überlebt hatte, war ein Wunder. 2. Sprecher: Jacques Joseph riskiert den chirurgischen Eingriff. Er macht quer über den rasierten Schädel von Ohr zu Ohr einen Schnitt, löst die Haut ab und klappt den Hautlappen über die Stirn. In die Wundfläche des Hautlappens implantiert er Epidermis aus dem Gesäß, um später Mund- und Nasenschleimhaut aufbauen zu können. 1. Sprecher: Nach vier Wochen folgt der zweite Eingriff. Jacques Joseph löst den Kopfhautlappen von der Stirn, gewinnt, wie er berichtet, einen sogenannten "Visierlappen", den er bis in die Nähe der Mundöffnung zieht, wodurch "mit einem Zuge beide Wangen und die Nasenhaut geschaffen" werden. Die Nase bekommt Kontur mit Hilfe einer "Gaumen-Nasenbeinprothese", die er unter die Haut verpflanzt. Die Lippen passt er an. Eine dauerhafte Zahnprothese gelingt dem herbeigerufenen Zahnchirurgen aber nicht. 2. Sprecher: Nach weiteren vier Wochen durfte Mustafar Ipar die Charité verlassen. Er hatte einen Gesichtsersatz erhalten; aber der Leutnant von einst war nicht wiederzuerkennen. Immerhin konnte er wieder essen und lernte aufs neue, sich in seiner Muttersprache zu verständigen. 1. Sprecher: Das Gesicht als Emblem des Menschen? Dieser Glaube ist hinfällig. Mustafar Ipars sogenanntes "neues" Gesicht ähnelt nicht dem angeborenen. Es offenbart nicht das Ich, macht es nicht lesbar. Das bewegte Mienenspiel ist erstarrt, leblos, der Gesichtsausdruck entseelt, auf immer zur Maske eines lebenden Toten gehärtet. 3. Sprecher: Johann Bogdán tat einen tiefen, schweren Atemzug, fischte seinen winzigen runden Spiegel aus der Tasche, und besah sich noch ein letztes Mal vor dem Aussteigen sein Gesicht. Es schien ihm mit jeder Station hässlicher zu werden. Die rechte Hälfte ging ja noch an; da war noch ein wenig von seinem Schnurrbart übrig geblieben, und auch die Wange war leidlich glatt, bis auf den schlecht verheilten Riß neben dem Mundwinkel. 2. Sprecher: "Heimkehr", aus einer Erzählung von Andreas Latzko, geschrieben 1917. Sie stammt aus seinem Erzählungsband "Menschen im Krieg", veröffentlicht 1918. Das Buch war in allen kriegführenden Staaten verboten. 3. Sprecher: Links aber!... Über die linke Seite hatte er sich was aufschwätzen lassen von der verdammten Großstadtsippschaft, die im Krieg, genau wie in Friedenszeiten, doch nur darauf aus war, arme Bauersleute zum Narren zu halten. Schurken waren sie alle miteinander, der großartige Herr Professor sowohl wie die feinen Damen, mit den scheeweißen Mänteln und den albernen, geschraubten Redensarten. Es war, weiß Gott, kein Kunststück, einen einfältigen Kutscher, der mit Ach und Krach das bißchen Lesen und Schreiben erlernt hatte, in eine Falle zu locken. Da haben sie ihn angegrinst und ihm schön getan, und ihm das Blaue vom Himmel herunter versprochen, und nun saß er da, hilflos, sich selbst überlassen, - ein verlorener Mann. Mit einem wütenden Fluch riß er den Hut vom Kopfe und warf ihn neben sich auf die Bank. 1. Sprecher: Andreas Latzko wurde als Offizier der Reserve in die k.u.k. Armee eingezogen. Mit Beginn des Krieges zwischen Italien und Österreich-Ungarn kam er an die Isonzo-Front. Er erkrankte an Malaria, musste aber an der Front bleiben, bis er nach einem schweren italienischen Artillerieangriff in der Nähe von Gorizia einen Schock erlitt und als sogenannter traumatisierter "Kriegszitterer" für "dienstunbrauchbar" erklärt und nach acht Monaten im Lazarett Ende 1916 entlassen wurde. 3. Sprecher: War das ein menschliches Gesicht? 2. Sprecher: ...fragt Johann Bogdán. 3. Sprecher: War es erlaubt, einen Menschen so herzurichten? Die Nase wie aus kleinen, verschiedenartigen Würfeln zusammengestückelt, der Mund verzogen, die ganze linke Wange aufgedunsen, wie rohes Fleisch, so rot, und kreuz und quer von tiefen Narben durchzogen. Abscheulich! Dazu an Stelle des Backenknochens eine langgestreckte Höhle, so tief, dass ein Finger drin verschwand. Und dafür hatte er sich so quälen lassen? Dafür hatte er sich siebzehnmal, wie ein geduldiges Schaf, in das verfluchte Zimmer mit den Glaswänden und den vielen, blitzenden Messern hineinlocken lassen. Ein heißer Schauer lief ihm heute noch über den Rücken bei der Erinnerung an die Qualen, die er zähneknirschend ertragen hatte, nur um wieder ein menschliches Aussehen zu kriegen, und heimkehren zu können zu seiner Braut. 2. Sprecher: Und dann endlich sieht der Kriegsheimkehrer sie wieder, die schöne umschwärmte Marcsa, seine Verlobte. Aber Johann Bogdán ist nicht mehr der hübsche Junge von einst, der "vergnügt vor sich hin pfeifend" durchs Leben ging. Er ist für immer entstellt. Er haßt sein "Affengesicht". 3. Sprecher: ( Sie ) kam von der Ziegelei her, ein rotgetupftes, seidenes Tuch auf dem Kopfe, die pralle Büste hoch aufgerichtet, mit einem herausfordernden Wiegen in den Hüften, dass die weiten Röcke wie reife Halme wogten. Johann Bogdán stand starr, als hätte ihn jemand vor die Brust gestoßen. Das war die Marcsa! So ging kein zweites Mädel im ganzen Komitat. Er warf sein Gepäck auf die Erde und stürmte los. - Marcsa! Marcsa! - klang es schmetternd hell über den weiten Hof. Das Mädel wandte sich um und ließ ihn herankommen, neugierig, mit zusammengekniffenen Augen. Drei Schritt weit blieb Bogdán stehen. - Marcsa! - wiederholte er flüsternd, den Blick angstvoll auf ihr Gesicht geheftet. Er sah sie blaß werden, kreideweiß; sah ihre Augen unruhig hin und her hüpfen, von seiner linken Wange zur rechten hinüber und wieder zurück. Dann kam ein Grauen in ihre Augen, sie schlug die Hände vor' s Gesicht und lief davon, so schnell ihre Füße sie trugen. 1. Sprecher: Das verunstaltete, notdürftig korrigierte Gesicht bleibt ein unauslöschlicher Makel. Johann Bogdán kann diesen Makel vor den Blicken der Anderen nicht verbergen; er ist ihnen ausgeliefert - schutzlos, ohnmächtig. Er fühlt sich gesellschaftlich ausgegliedert wie ein Aussätziger. Das Wechselspiel mit der Welt, die ihn umgibt, ist außer Kraft. Marcsa, sein Mädel, sieht ihn an und prallt zurück, angeekelt. Sie flieht ihn, als könnte sein Anblick sie vergiften. 2. Sprecher: Sein Gesicht, ja es leuchtet nicht auf, belebt sich nicht. Er kann sein Selbstbild nicht zeigen und auch Marcsa, sein geliebtes Gegenüber, nicht spiegeln. Sein Mienenspiel ist in der Gesichtsmaske stillgelegt; die Bühne ist leer. 1. Sprecher: Sein "neues" Gesicht drückt nicht mehr aus, wer er ist, seine wesentliche Identität. Marcsa blickt ein Anderer an, nicht der, den sie einst kannte und liebte. Johann Bogdán erschüttert der Verlust an Leben, einem lebenswerten Leben. Der Kriegsveteran ist ein Krüppel für den elenden Rest seines Daseins. Er wird Amok laufen... 2. Sprecher: Allein in Deutschland waren am Ende mehr als 1,5 Millionen Männer kriegsversehrt. Das nationale Rentensystem fußte indes auf der Annahme, dass der Krieg ein kurzer sei und die Zahl der Opfer entsprechend begrenzt. Als durch die Kriegsinflation der reale Wert der Renten rapide sank, handelte das Reich nach dem Grundsatz, die Versorgung der Opfer erst dann zu garantieren, wenn der Krieg ( siegreich natürlich ) beendet war. 1. Sprecher: Gemeinden, Freiwilligenorganisationen, karitative Einrichtungen übernahmen die Verantwortung. In Berlin wurde zum Beispiel eine Blindenschule gegründet, in Dresden eine Schule für Einarmige, in Marburg ein Invalidenheim für zeitlebens Kriegsversehrte. 2. Sprecher: Das übergeordnete Ziel aller Verantwortlichen war die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß - wo immer möglich, in zivile Berufe. 1. Sprecher: "Verwendungsmöglichkeiten für Invalide" - Aus einer Liste von 1915: 4. Sprecher: Chemische Industrie: Leute ohne Arm oder Fuß können Kanzleidiener oder Torwächter sein. Beim Fehlen bestimmter Finger einer Hand sind sie verwendbar bei der Erzeugung von Soda, Chlorbarium, chlorsaurem Natron usf. sowie im Magazin, beim Transport, in Kammern und bei Hofarbeiten. Hilfsarbeiter: Verwendung möglich beim Fehlen eines Fußes, eines Auges, des Kieferapparates. Kartonagezuschneider: Ein Auge genügt. Fehlender linker Fuß müsste durch künstliches Bein ersetzt werden. Mechaniker: Beide Arme notwendig. Feinmechaniker können einarmig sein. 5. Sprecher: Es gibt kein Krüppeltum mehr, wenn der eiserne Wille vorhanden ist, es zu überwinden. 2. Sprecher: So der einflussreiche Orthopäde Konrad Biesalski den Betroffenen zum Trost, aber auch zur Mahnung. Den Lebensunterhalt zu erarbeiten, mache die Würde des Mannes aus, auch in den Augen seiner Umwelt. 1. Sprecher: Eine derartige Anpassung an den Alltag und eine ökonomische und soziale Eingliederung gelang den Menschen ohne Gesicht nicht. Es gebe "Geheimlazarette", in denen derartig Verunstaltete versteckt gehalten würden, ging das Gerücht. Sicher ist, dass sie den Kontakt mit den Angehörigen abbrachen, sich als Ausgegliederte, Erniedrigte verstanden und die Öffentlichkeit scheuten aus Scham. Sprecherin: Die Frau, eine Dirne, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihre Augen schwarz umrändert, die Lider bleiern, der Blick erloschen. Wir entdecken syphilitische Flecken auf ihren hohlen Wangen. Und starken Haarausfall. Auf den Schädel angeklebte einzelne Strähnen. Eine Strähne schlängelt sich noch kokett, als solle sie an das, was die Frau einmal war, erinnern. Abgelebt ist der Mund, den die Dirne noch einmal verführerisch spitzt. Und abgelebt ist ihre ausgezehrte knochendürre Brust. Hinter der linken Schulter der Dirne der Kriegsverletzte. Uns fixiert ein glasiges starres Auge; der Mann hat nur noch ein Auge. Sein Blick ist stechend und zugleich entgeistert, fassungslos. Wir sehen, dass sein Gesicht vom Ohr bis zum Mund aufgerissen ist. Die klaffende wulstige Spalte, sie erinnert an eine Vulva. Der durch den Krieg für´s Leben Gezeichnete ist ein verweichlichter, entmannter Mann geworden. 2. Sprecher: "Dirne und Kriegsverletzter", eine Tuschzeichnung des "Wirklichkeitsmenschen" Otto Dix, entstanden 1923. Er hat sie später in "Zwei Opfer des Kapitalismus" umbenannt. 1. Sprecher: Die Dirne und der Veteran ohne Gesicht sind Betrogene. Sie haben ihren Einsatz mit Entstellung bezahlt. Sie sind Ausschuß im "Walzwerk des Krieges", wie Ernst Jünger den industrialisierten Krieg genannt hat. 5. Sprecher: Es ist doch amüsant, wie das viel verfluchte und bestöhnte Leben des Friedens jetzt mit eiserner Logik zum Paradies aufrückt. 2. Sprecher: "Umwertung aller Werte". Ein beißend-ironisches Fazit. Zitiert aus einem Brief des Malers Max Beckmann an seine Frau vom 5. April 1915. 1. Sprecher: Beckmann war zunächst freiwilliger Krankenpfleger an der Ostfront, 1915 dann Sanitätssoldat in Belgien, arbeitete in einem Typhuslazarett, später in einem Operationssaal in Courtrai. Im Juli 1915... 5. Sprecher: Meine Seele ist in wüsten Wogen. 1. Sprecher: ... erlitt er offenbar einen seelisch-körperlichen Kollaps. 2. Sprecher: Beckmann ist gespalten. Einerseits spricht er, als Anfang August 1914 mobil gemacht wird, von einem "nationalen Unglück"... 1. Sprecher: ...andererseits schreibt er enthusiastisch, wenn auch etwas zu sarkastisch-schrill, seine Kunst kriege im Krieg "zu fressen". Ihn reizt das noch nie Gesehene, faszinieren "alle Formen des Lebens", "bis zu ihren äußersten Grenzen" - im Krieg an der Front. 2. Sprecher: Aber er erwähnt auch den Verlust an Individualität, fühlt sich von Dämonen bedrängt, von Angst-Visionen, und deutet "Verfolgungswahnsinnsanfälle" an. Es sei so, "als ob wir alle in einen bodenlosen Schlund gezogen werden". 5. Sprecher: Wir müssen teilnehmen an dem ganzen Elend (...). Unser Herz und unsere Nerven müssen wir preisgeben dem schaurigen Schmerzensgeschrei der armen getäuschten Menschen. Gerade jetzt müssen wir uns den Menschen so nah wie möglich stellen. Das ist das Einzige, was unsere recht überflüssige und selbstsüchtige Existenz motivieren kann. Daß wir den Menschen ein Bild ihres Schicksals geben, und das kann man nur, wenn man sie liebt. 1. Sprecher: 1919 entsteht Max Beckmanns Zyklus "Die Hölle". Das erste Blatt trägt den Titel "Der Nachhauseweg". Sprecherin: In verzerrter Perspektive eine nächtliche Straße. Die Häuserschlucht expressiv verkantet. In extremer Nahsicht zwei Männer. Rechts Beckmann, ein Selbstporträt im Halbprofil. Wir sehen einen eleganten Bürger mit Melone. Faustisch sein Gesichtsausdruck, wissbegierig. Seine Haltung fordernd, als wolle er sein Gegenüber stellen, und zugleich eingeknickt, betroffen, erschüttert. 5. Sprecher ( leise ): Du warst wie ich - bin ich wie Du? Sprecherin: Sein Gegenüber links ein Veteran des Krieges. Die Beckmann zugewandte Gesichtshälfte zerschossen, heillos entstellt. Das rechte Auge, das dem Veteran geblieben ist, blickt nur uns an, klagend, anklagend. Im Hintergrund wiegt sich eine Belle de Jour in den Hüften, hinter ihr her stelzen zwei Krüppel. Am unteren Bildrand die Kreatur: ein hechelnder zähnefletschender schwarzer Hund, angriffslustig aus Angst. Sprechend sind die Gebärden: Beckmanns linke Hand hält spielerisch eine Zigarre. Aber er versucht auch, den abweisend abgewinkelten Armstumpf des Veteranen zu ertasten. 5. Sprecher ( leise ): Du warst wie ich - bin ich wie Du? Sprecherin: Der Überlebende, körperlich unbeschädigt, sucht in dem Krüppel offenbar den Bruder, während der Zeigefinger seiner rechten Hand entschieden auf seine eigene Brust zeigt, als könne er oder müsste er zur Verantwortung gezogen werden. 2. Sprecher: So verdichtet sich die Lithographie "Der Nachhauseweg" aus Max Beckmanns Kriegs-Zyklus "Die Hölle" zu einem unlösbaren Dialog aus Schuld und Scham, aus Anklage - und Bekenntnis zum Menschen. *** 1. Sprecher: 22. Dezember 1918. Im Zentrum von Berlin. 10 000 Kriegsversehrte: eine "Schicksalsgemeinschaft". Sie ziehen durch das Brandenburger Tor zum Kriegsministerium in der Leipziger Straße. An der Spitze des Zuges die Blinden mit ihren einzig treuen Kameraden, den Blindenhunden... Dann in langen Reihen Männer ohne Arme... Und Beinamputierte... Und traumatisierte Kriegszitterer... Und Veteranen mit entstelltem Gesicht... Einige tragen noch ihre Uniform, die "preußische Zwangsjacke", wie Carl Zuckmayer sie genannt hat. Plakate werden hochgehalten. Auf ihnen steht "Des Vaterlandes Dank ist eine monatliche Rente von 87,70 Mark" und "Wir fordern unser Recht und wollen keine Gnade". 2. Sprecher: Es war "ein Bild des Elends, das manchen Vorübergehenden die Tränen in die Augen treten ließ," schrieb das ‚Leipziger Tageblatt' am nächsten Tag. Zum Protestmarsch aufgerufen hatte Erich Kuttners ‚Reichsbund'. *** 1. Sprecher: Epilog: Juni 1920. Otto Dix nimmt in Berlin an der Ersten Internationalen Dada-Messe teil. George Grosz, sein Dresdner Studienfreund aus der Zeit vor 1914, und John Heartfield haben ihn eingeladen. Dix zeigt seine "Skatspieler", Öl und Collage auf Leinwand. Sprecherin: "Die Lust am Grotesken" führt offensichtlich die Hand des Malers. Die Kulisse: ein Café. Wir sehen einen gusseisernen Garderobenständer, an der Wand Zeitungshalter mit dem ‚Dresdner Anzeiger' und dem ‚Berliner Tageblatt', eine Gaslampe als einzige Lichtquelle, in der Glaskugel schemenhaft eine Art Totenkopf. Wie in einer Schaubude ausgestellt drei Kriegskrüppel. Sie spielen mit Altenburger Karten ihre Trümpfe aus. Der Veteran in der Mitte hat Arme und Beine verloren: ein sogenannter "Korbmensch"; er gibt sein Blatt mit den Zähnen. Die aufgerissene Gesichtshälfte des beinamputierten Veteranen links ist mit transplantierten Hautlappen und mit Gewebe modelliert worden. Wo ein Auge war, ist nur noch eine vernarbte Höhle. Aus dem zerfetzten Ohr windet sich eine Schlauchspirale bis zu dem Trichter auf dem Marmortischchen; sie soll Schallwellen empfangen. Ein künstlicher Greifer hat die amputierte Hand des Kriegskrüppels ersetzt. Der Veteran rechts, Stehkragen, scharfer Mittelscheitel, Eisernes Kreuz Erster Klasse auf der Brust, wohl ein Rechtsnationaler - er trägt eine Unterkiefer-Prothese, aufgeklebt "Marke Dix". "Nur echt mit dem Bild des Erfinders" fügt der Satiriker Otto Dix hinzu. Auch dieser Veteran ist beinamputiert und hat eine eiserne Kunsthand. 2. Sprecher: Drei "rüstige Roboter", sie haben offensichtlich den Krieg überlebt. Es sind "neue" Menschen mit Hilfe von Ersatzteilen montiert und wieder funktionsfähig gemacht. 1. Sprecher: Es sind Unbelehrbare. Sie vertreiben sich die Zeit beim Skat. Bis zum nächsten Einsatz. Wie und wo auch immer... 2. Sprecher: Der französische Marschall Foche sagte übrigens gleich nach Ende des Ersten Weltkriegs: Dieser Friede sei wohl eher "ein zwanzig Jahre währender Waffenstillstand"... 5. Sprecher: Menschen ohne Gesicht Ein Kapitel aus dem Ersten Weltkrieg Feature von Thomas Zenke Es sprachen: Ton und Technik: Regie: Thomas Zenke Redaktion: Sabine Küchler Produktion: Deutschlandfunk 2014 2