COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. DeutschlandRadio Kultur ? Literatur Warum Hunde Henry James lesen Zum 70. Geburtstag von Thomas Pynchon Redaktion: Dorothea Westphal Autor: Sven Ahnert [O-Ton Stimme von Lisa Simpson] What do you think, Thomas Pynchon? [O-Ton Stingl, 0:18] An einem Ende der Gondel lag, ohne das Hin und Her auf Deck groß zu beachten, mit dann und wann ausdrucksvoll auf die Planken klopfendem Schwanz und die Nase zwischen die Seiten eines Werkes von Mr. Henry James gesteckt, ein Hund von unbestimmter Rasse, allem Anschein nach von dem Text vor ihm ganz und gar gefangen genommen. [Sprecher 1] Nikolaus Stingl, der Übersetzer von Against the Day, dem neuen Roman von Thomas Pynchon, liest erste Entwürfe der deutschen Übertragung, die im Frühjahr 2008 veröffentlicht wird. [Sprecher 1] Wer ist Thomas Pynchon? [O-Ton Heepe] Er ist ja persönlich ein sehr ansehnlicher Mann. Jetzt nicht mehr, aber vor ein paar Jahren hätte man ihn als Rhett Butler für die Verfilmung engagiert. [Sprecher 1] Hans Georg Heepe, Lektor beim Rowohlt-Verlag ist mit Pynchon seit über 30 Jahren persönlich bekannt. [Zitator] Thomas Pynchon wurde 1937 in Long Island geboren. Sein einziger öffentlicher Auftritt fand 1953 an der Oyster Bay High School in Long Island statt, anschließend studierte er Physik und Englisch an der Cornell University. Seit Erscheinen seines Romans Die Enden der Parabel gilt Thomas Pynchon als einer der bedeutendsten englischsprachigen Schriftsteller der Gegenwart und soll in Manhattan leben. [Sprecher 1] Wenig mehr als diese offizielle Kurzbiographie des Rowohlt-Verlages lässt sich über das Leben von Thomas Pynchon nicht sagen. Oder doch? Es gibt zwei Fotos von ihm. Das eine zeigt ihn als jungen Matrosen mit schlechten Zähnen, auf dem anderen sieht man ihn durch die Straßen von Manhattan bummeln. In der linken Hand trägt er eine Einkaufstasche, rechts hält er seinen kleinen Sohn Jackson an der Hand. Unter einer schwarzen Kapuze blickt er ernst und misstrauisch in die Kamera. Fotos von ihm sind Tabu. Selbst der Rowohlt-Verlag darf das bekannte Matrosen-Foto aus den späten 1950er Jahren nicht publizieren. Wegen des New Yorker Schnappschusses machte er dem verantwortlichen Fernsehsender und dem Fotografen die Hölle heiß. Bekannt und berüchtigt ist noch seine Nichte mit Künstlernamen Tristan Taormino. Sie dreht bizarre Pornofilme und hat sich als Sexratgeberin einen Namen gemacht. Klingt verdächtigt nach einer Nebenfigur aus einem Pynchon-Roman. [Musikakzent Frank Zappa] [Sprecher 1] Auch wenn Thomas Pynchon nicht Undercover in einer Holzhütte fernab der Metropolen lebt wie sein Schriftstellerkollege J.D. Salinger, ist er ein Sonderling, ein wichtiger amerikanischer Autor, der öffentliche Auftritte und jede Form von Medienpräsenz kategorisch ablehnt. Er will einfach seine Ruhe haben. Jedes Jahr steht er auf der Liste der Nobelpreiskandidaten; vielen gilt er als der bedeutendste Romanautor unserer Tage. Solche Ehrbezeugungen scheinen ihn jedoch kalt zu lassen: Schon frühzeitig verabschiedete er sich vom Literaturbetrieb. Geschickt hat er biographische Spuren verwischt, er gibt keine Interviews und will nicht fotografiert werden. Seit Jahrzehnten spricht Pynchon nur aus seinen Romanen und Essays zu uns, nicht ohne mit der Aura des Geheimnisvollen, die ihn umgibt, ironische Späße zu treiben: Bei einer Preisverleihung ließ er sich beispielsweise durch einen Komiker vertreten, der statt freundlicher Dankesworte eine halbe Stunde Unsinn von sich gab. [O-Ton Stimme Pynchon als Gast bei den Simpsons] Thomas Pynchon loves this book [Sprecher 1] Mit einer braunen Einkaufstüte auf dem Kopf wagte er sich als Comic-Figur in die TV-Welt der buntgesichtigen Simpsons, eine Welt die Pynchon offenkundig genauso lustig findet, wie den Mythos um seine Unsichtbarkeit im öffentlichen Leben. Er ist kein Menschenfeind, kein Zivilisationshasser. Ganz im Gegenteil: Er amüsiert sich über schräge Kunst und Musik wie zum Beispiel über die Klassik-Slapsticks eines Spike Jones, für dessen Platten er unter Pseudonym Cover-Texte schrieb. Einige Menschen aus dem Verlagswesen schätzt er sehr und trifft sich regelmäßig mit ihnen in einem New Yorker Restaurant, darunter Ex-Kulturstaatsminister Michael Naumann und Rowohlt-Lektor Hans Georg Heepe, der ihn einmal pro Jahr in Manhattan besucht. Im Rowohlt-Verlag sind bisher alle veröffentlichten Romane und Erzählungen Pynchons erschienen. Hans Georg Heepe beschreibt den Autor als einen freundlichen, anregenden Menschen mit guten Manieren und ohne äußerliche Auffälligkeiten. Pynchon führt sein Privatleben fernab jeder Kamera und beteiligt sich nicht an öffentlichen Debatten. [O-Ton Heepe] Nein er macht es nicht und hat sich auch nicht zurückgezogen, sondern er ist ja von Anfang an in diesem Zustand gewesen. Das ist eine Entscheidung. Finde ich sehr gut. Es gibt auch von anderen Autoren die Meinung, die Leute sollen über meine Bücher reden und nicht über mich. [Zitator] Thomas Pynchon gilt als ein schwieriger Autor. Lassen Sie sich nicht abschrecken! Und schenken Sie den Kritikern keinen Glauben! [Sprecher 1] Seine Bücher sind sperrig, sein Roman Die Enden der Parabel gilt immer noch im Prinzip als unlesbar. Diese künstlerische Kategorie trifft auf den Menschen Pynchon keineswegs zu. Er lebt ein beschauliches Leben in Manhattan mit seiner Frau, der Literaturagentin Melanie Jackson, hat einen Sohn und geht wie jeder andere New Yorker in den Laden um die Ecke zum Einkaufen. Sein Arbeitsstil ist konventionell: Pynchon ist ein disziplinierter Handwerker, der sich morgens an den Schreibtisch setzt. [O-Ton Heepe] So ist das auch bei ihm, wie ein Tischler, der in die Werkstatt kommt und den Leimtopf aufsetzt, geht er an seinen Schreibtisch und arbeitet. Ich empfinde das als nichts Unnormales. [Sprecher 1] Anfang der 1970er Jahre, in der Zeit als der Roman Gravity´s Rainbow herauskam, traf Hand Georg Heepe Thomas Pynchon in London. [O-Ton Heepe] Ich war zufällig in London ? zufällig, weil es eine Dienstreise war ? im Büro einer Agentin dort. Wir haben gut miteinander geredet und sie sagte, ach warte mal, da kommt jemand, der dich vielleicht interessieren könnte: Ja, guten Tag, ein freundlicher junger Mann, Das ist Tom Pynchon. So haben wir uns kennen gelernt. Wir haben nur ganz kurz miteinander geredet. Er wurde rausgerufen und telefonierte draußen. Dann kam er wieder rein mit großen, glühenden Augen und sagte: ?My voice has been bounced from a Satellite? . Weil er mit Amerika gesprochen hatte, da fand er das toll. [Musikakzent Ubu] [Sprecher 1] Sechs Romane und ein Band mit frühen Erzählungen sind bisher von Pynchon veröffentlicht worden. Der vierundzwanzigjährige Autor debütiert 1961 mit einem Roman, der in einem Atemzug mit James Joyces Ulysses genannt wird: V. Hinter dem lapidaren Titel verbirgt sich ein grandioser Erzählstrom, halb Abenteuerroman, halb surreales Sprachdelirium, der die Leser in eine weltumspannende Verschwörungsgeschichte hineinzieht. Benny Profane und Herbert Stencil, die Helden des Buches, werden von einem Ort zum nächsten getrieben. Von New York aus geht die Reise über Libyen nach Ägypten, später ans Mittelmeer, genauer nach Malta, wo Anarchisten Aufstände planen. Blitzartig springt die Handlung von Szene zu Szene, immer überschattet vom Buchstaben V, dem Symbol für eine globale Struktur, die Macht, Gewalt und totale Kontrolle ausübt. Hier die Übersicht zu behalten, fällt dem ungeübten Leser schwer. Daher empfiehlt eines der zahlreichen Internetforen, das sich der Entzifferung des Pynchon-Universums widmet: [Sprecher 2] Lies es rasch und zügig durch, ohne nachzudenken. Dann lies es noch einmal von vorne! [Sprecher 1] Das kunstvolle und fast schon atemberaubende Verknüpfen von Metaphern, enzyklopädischem Wissen und geschichtlichen Verweisen, so wie es Pynchon in seinem Hauptwerk Die Enden der Parabel virtuos auf die Spitze getrieben hat, ist schon in seinem zweiten und bisher kürzesten Roman Die Versteigerung von Nr. 49 prägendes Stilprinzip. Es ist sicherlich das zugänglichste Buch des geheimnisvollen Romanciers: [Sprecher 2] Dieses Buch ist reinstes Vergnügen. Es ist ein Pynchon für Einsteiger. [Musikakzent Pere Ubu oder Zappa] [Sprecher 1] Einsteigen kann man bei diesem Buch auch in das philosophische Vexierspiel von Original und Fälschung, von Wahrheit und Lüge. Die scheinbar banale Geschichte der kalifornischen Hausfrau Oedipa Maas, die als Testamentsvollstreckerin quer durchs Land fährt und dabei auf ein verschwörerisches Botensystem mit Namen Tristero stößt, entwickelt sich zu einem philosophischen Road Movie. [Sprecher 2] Wie verhält sich das Reale zur Fiktion? Wie wird Sinn konstituiert und vermittelt? Und wer kontrolliert die Systeme, die unsere Gesellschaft strukturieren? [Sprecher 1] Pynchon beantwortet diese Frage, indem er seine Leser durch eine burleske Szenerie scheucht, in der mediale Stereotypen, purer Klamauk und Versatzstücke amerikanischer Geschichte eine eigene Wirklichkeit bilden. Sie ist Spiegel einer paranoiden, von Konsumwahn und medialer Zerstreuung entstellten amerikanischen Gesellschaft. Eine Welt der Widersprüche randvoll mit Müll und Sehnsüchten. [Zitator] Im Inneren stank es hoffnungslos nach Kindern, nach Supermarkt- Schnaps, nach zwei, nach drei Generationen von Zigarettenrauchern oder einfach nur nach Staub ? und wenn die Wagen dann ausgeräumt waren, musste man sich ansehen, was von diesen Menschen nun tatsächlich übrig geblieben war, und dabei konnte man unmöglich sagen, welche Dinge sie absichtlich hatten loswerden wollen und welche sie einfach nur verloren hatten: ausgeschnittene Coupons, die Einsparungen von fünf oder zehn Cent versprachen, Zigarettenkippen, Kämme mit ausgebrochenen Zinken, Fetzen alter Unterwäsche, benutzte Monatsbinden zum Abwischen der vom eigenen Atem innen beschlagenen Windschutzscheibe, um, was es auch gewesen sein mochte, sehen zu können, einen Film, eine Frau oder ein Auto, auf das man scharf war, oder einen Polizisten, der einen heranwinken konnte, bloß um einen mal auf den Zahn zu fühlen, all das Zeugs und Gelump, wie ein Salat aus Verzweiflung, mariniert mit grauer Aschensoße. [Musikakzent, Pere Ubu/Zappa] [O-Ton Ickstadt] Es gibt ja eine Entwicklung bei Pynchon.? V? schien mir ein intellektuell verspieltes Buch zu sein von einem Mann, der damals 25 Jahre alt war und offensichtlich mit dem Existentialismus groß geworden ist, aber auch mit dem Blick für Aufklärung, Kolonialismus und die Skepsis gegenüber abendländischer Zivilisation, dem Wissen um die Konzentrationslager und die Konsequenz für die Definition unserer Kulturgeschichte, aber im Wesentlichen doch ein intellektuelles Spiel, was ein Maß an Unverbindlichkeit hatte. Mit? Crying of Lot No. 49? tritt ein Moment der Dringlichkeit in seine Bücher, das in ?Gravity´s Rainbow? noch viel stärker wird. In demselben Maße wird der Autor, das Schreiben von Fiktionen immer mehr in die Geschichte einbezogen, nicht als intellektuelles Spiel, sondern als Teil eines geschichtlichen Prozesses, dem sich der Schriftsteller nicht entziehen kann. [Sprecher 2] Heinz Ickstadt, Amerikanist und Literaturwissenschaftler [Sprecher 1 ] Pynchons Bücher erscheinen dem Leser wie riesige Gefäße, in die er alles reinschüttet, was ihm Spaß bereitet: Kalauer, Technische Exkurse, Literaturgeschichte, Politik, TV-Trash, Nonsensgedichte, Sauflieder und popkulturell gespeiste Alltagsepisoden, in denen gekifft, geliebt und geschossen wird. Dieses Sammelsurium der Stile und Texte hat auch eine imaginäre Tonspur, einen knirschenden Soundtrack aus Explosionen, Straßenlärm und Kriegsgetöse. Berüchtigt aber sind die singenden Seemänner: [O-Ton Ickstadt] Songs gibt es immer. Diese Nummern sind seit? V? Teil des Repertoires. [Zitator ] Auf der alten East Main ist Heiligabend jede Nacht, Matrosen wie Matrosenliebchen stimmen darin überein. [Sprecher 1] Gleich zu Anfang von Pynchons V ist der Matrose Benny Profane auf dem Weg ins Sailors Grave, eine einschlägige Spelunke für Marinesoldaten. [Zitator ] Neonlichter, rote grüne, Zwinkern auf die frohe Szene Und winken dich von See herein. Mit seinem Sack der Weihnachtsmann hat deine Träume wahr- gemacht: Billige Biere schäumend wie Champagnerwein, Bar-Mädchen, die gerne bumsen Und dir ins Gedächtnis sumsen: Auf der East Main ist Heiligabend heute Nacht. [O-Ton Heepe, 0:37] Er ist einfach jemand, der keine äußeren Konstruktionen fabriziert, der eine Geschichte anlaufen lässt, eine Figur einführt und die dann für dreihundert Seiten vergisst oder beiseite stellt und dann wieder rausholt ? wer zum Teufel war denn das ? ? Und dann geht es mit der Geschichte weiter. Leicht zu lesen ist das nicht ? das ist keine Werbung für die Bücher ? Es ist eine unglaubliche Menge von Material für den Kopf. Also so aus der Tradition von ?Tristram Shandy?. Voll Voll Voll, alles rein: Man darf ja. [O-Ton Stingl] Raff Raff, Wuff Wuff [Sprecher 1] Kein Buch von Pynchon wäre ein echter Pynchon, kämen darin nicht mindestens eine mathematische Abhandlung, ein naturwissenschaftlicher Exkurs oder die Beschreibung von Präzisionsinstrumenten vor. Pynchon ist, wie man weiß, ein leidenschaftlicher Sammler von mechanischen Geräten und ausgefallenen Messinstrumenten. Als junger Ingenieur hat er bei Boeing gearbeitet. [O-Ton Heepe, 0:15] Er war technischer Texter. Er hat für die Leute, die eine ?Boeing? gekauft haben, geschrieben: links oben der Knopf mit der roten Lampe, das ist wenn das Licht ausgeht oder was sonst so drinsteht in diesen Handmanuals. Ich hab keine Ahnung. [Sprecher 1] Diese Lust des Autors auf enzyklopädisches Wissen wird zur Last für den deutschen Übersetzer. Nikolaus Stingl, der sich mit seinem Kollegen Dirk van Gunsteren durch die knapp 1100 Originalseiten von Against the Day arbeitet, hatte bereits mit dem historischen Roman Mason & Dixon seine Mühe. Für den in altertümlichem Englisch geschriebenen Roman über den Astronomen Mason und den Landvermesser Dixon arbeitete sich Stingl durch viele Meter Fachliteratur, worin die Vermessungskunst des 18. Jahrhunderts beschrieben wird. [O-Ton Stingl, 0:25] Ich habe das Buch aufgeschlagen und habe diese Sprache gesehen und habe gesehen, was da alles behandelt wird, von dem ich keine Ahnung habe; dann hat sich das zunächst alles als ein unglaublicher Berg dargestellt. Da habe ich einen gelinden Schrecken bekommen und gedacht, wie soll das alles funktionieren. [Sprecher 2] Mason & Dixon liest man sich am besten laut vor. [O-Ton Stingl, 0:25] Bücher von Thomas Pynchon versammeln meistens Realien auch aus den entlegensten Wissensgebieten, und da Thomas Pynchon Naturwissenschaftler, Ingenieur ist, kann man ziemlich sicher sein, dass das, was da wiedergegeben ist, auch korrekt ist, d.h. da muss man sehr genau recherchieren, damit einem da keine Fehler unterlaufen. [Sprecher 2] Warum ist Thomas Pynchon so klug? [O-Ton Heepe, 0:30] Ich habe ihn damals bei ?Gravitys Rainbow? gefragt. Woher wissen sie das alles? Das kann man doch nicht alles wissen? Da hat er gesagt: Ich habe mich einmal 14 Tage in Berlin in eine Bibliothek gesetzt und mir die täglichen Nummern von ?Stars and Stripes?, der Zeitschrift für die amerikanischen Besatzungssoldaten durchgelesen, und da wusste ich alles, was ich über das Ende von 1945 in Berlin wissen wollte. [Musikakzent Pere Ubu] [Zitator] Die Enden der Parabel [Sprecher 2] Das ist Pynchons Meisterwerk. Macht nichts, wenn Sie das Buch nicht bis zum Ende lesen. Die Handlung ist nicht so wichtig. Allein die ersten 50 Seiten sind ein großes geistiges Geschenk! [O-Ton Heepe, 0:20] Dass es überhaupt bei Rowohlt erschienen war, hat eine lustige Vorgeschichte, Es kam in Amerika heraus. Es hatte dort Zulauf bei den Studenten. Es wurde hier angepriesen, als ein in Anführungszeichen Kultbuch. Was bedeutet, dass der Vertrieb eines kommerziellen Verlages die Hände hob und sagte, das verkaufen wir nie. Das hat gar keinen Sinn. So dick. So eine schwierige Übersetzung. Nee, das geht wirklich nicht. [Sprecher 1] Mit dem damaligen Übersetzer Thomas Piltz grübelte Lektor Hans Georg Heepe über eine angemessene Übertragung des Titels: Gravity´s Rainbow. Auch Elfriede Jelinek war an der Übersetzung des Buches mit beteiligt, möchte aber heute darauf nicht mehr angesprochen werden. [O-Ton Heepe, 0:25] Wir haben dann darüber geredet, wie das Buch auf Deutsch heißen könnte, ?Die Schwerkraft des Regenbogens? ist kein so toller Titel wie ?Gravity´s Rainbow?. Wir sind dann auf ?Die Enden der Parabel? gekommen. Aus dem doppelten Sinn: Die Geschichte ist zu Ende, und die Parabel des Raketenfluges ist zu Ende, denn das Buch handelt ja zu großen Teilen von der V 2. [Sprecher 2] Gravity?s Rainbow leistet eine der umfassendsten Bestandsaufnahmen zum Zusammenbruch des Newtonschen Weltgebäudes, welche die abendländische Literatur bis heute vorzuweisen hat [Sprecher 1] Klaus Poenicke in seinem Essay Die Rückkehr des Dionysos, Freiheit und Regression. [Zitator] ?Hallo Kamerad, brauchst´n Opiat?? Winzige rote Augen in einem winzigen rosa Wackelpeter von Gesicht, darunter ein habgieriges Grinsen. Es ist Albert Krypton, Lazaretthelfer an Bord der USS John E. Badass, der jetzt aus seiner Geheimtasche in seinem Jumper eine Glasphiole voller weißer Pille zieht, ?Kodein, Kamerad, schön isses ? hier!? [Sprecher 1] In diesem Buch werden nicht die konkreten Schrecken des Zweiten Weltkrieges abgebildet. Die Enden der Parabel ist kein Buch in der Tradition von Remarques Im Westen nichts Neues sondern literarisch überzeichnet, ins Groteske verdreht. Pynchon verarbeitet faschistische Gewaltrituale und Zerstörungsfantasien zu einem makabren Reigen bizarrer Geschöpfe aus Film, Geschichte und Politik. Wie ein Tanz um das Goldene Kalb steht im Mittelpunkt der kaum nacherzählbaren Handlung Hitlers Vergeltungswaffe V 2. Die Parabel der Rakete ist zugleich Flugbahn einer Massenvernichtungswaffe und monströse Geschichte. Pynchons Roman spielt nicht nur in London, Berlin und Los Angeles sondern auch in einem surreal aufbereiteten Peenemünde, der nach 1945 offiziell und euphemistisch als Wiege der Raumfahrt bezeichneten Raketenschmiede auf der Ostseeinsel Usedom. [O-Ton Mühldorfer- Vogt, 0:24] Das Aggregat 4 schlägt ein in London. Es kommt zu einer Explosion, und dann erst hört man die Rakete, also eine Umkehrung von all dem, was man eigentlich als militärische Erfahrung gespeichert hat. Man hörte die Granate sich nähern, dann gab es den Einschlag und die Explosion, so dass viele sagen, das war praktisch der Beginn der Postmoderne. [Sprecher 1] Christian Mühldorfer-Vogt, Leiter des Historisch-Technischen Informationszentrums in Peenemünde auf Usedom über ein Buch, das er gerade unter Mühen aber mit viel Gewinn gelesen hat. Die Besucher seines Museums werden es wohl eher nicht lesen, aber der Geist der Enden der Parabel scheint über dem gespenstischen Areal zu schweben wie ein böser Spuk. [O-Ton Mühldorfer- Vogt, 0:20] Es ist sehr konkret. Zum Beispiel kommt die Hauptfigur mit so einem Fischkutter in den Hafen von Peenemünde, wird dann von der Roten Armee begrüßt, und dann ist da noch so eine halbe Zirkusmannschaft mit Schimpansen dabei. Es ist zum Teil einfach sehr lustig. [Zitator] ?Hasde schon gehört, was da oben in ?Peenismunde? passiert ist? N´paar Arschlöcher haben sich den Springer direkt unter der Nase vom Oberst untern Nagel gerissen. Yeah. Kennsde den Springer? Ein schweres Kaliber, Kamerad. Der Scheißer hat seine Finger in so vieln Sachn drin, dass für freie Unternehmer wie mich und ´n altn Bloody Chiclitz nich mehr viel übrig bleibt!? [Sprecher 2] Rocketman was Here [Historischer O-Ton Hans Fritzsche] Die Engländer haben von dieser neuen Waffe zweifellos mehr wahrgenommen als ein Geräusch oder den Widerschein von Bränden. [Sprecher 1] Hans Fritzsche, Generalbevollmächtigter für die politische Gestaltung des Großdeutschen Rundfunks, spricht vor dem geplanten Großeinsatz der V 2 im März 1943. [Atmo V 2 ] [Sprecher 2] Die Enden der Parabel [Zitator] Eine riesige weiße Fliege: ein erigierter Penis, summend in weißer Spitze, verkrustet von Blut oder Sperma. Todesspitze ist des Knaben Brautkleid. Seine zarten Füße, aneinandergefesselt, stecken in weißen Slippers aus Satin mit weißen Schleifen. Seine roten Brustwarzen sind hart aufgerichtet. [O-Ton Heepe, 0:19] Wenn die V 2 mit dem Jungen an Bord in der Parabel in die Luft geht am Schluss. Das ist unglaublich diese Mischung aus Technik, Masochismus und äußerster Verzweiflung. Das ist unglaublich. Das hängt bei mir zum Beispiel fest im Kopf. [Zitator] Einen Teil des verdampften Sauerstoffs wird durch Gottfrieds Totenkleid aus Imoplex geleitet. In eines seiner Ohren hat man einen kleinen Lautsprecher chirurgisch implantiert. [Atmo V 2] [Zitator] Telephonstimmen dröhnen in sein verdrahtetes Ohr, metallisch und drastisch gefiltert. Sie summen wie die Stimmen von Chirurgen, während man langsam im Ätherschlaf versinkt. [Atmo V 2] [Zitator] Jetzt ist die Zeit des Erwachens gekommen, hinein in den Atem dessen, was schon immer wirklich war. Komm, wach auf! Es ist alles gut. [Musikakzent kurz] [Sprecher 2] Es könne sich bei diesem Buch wie bei Joyces Ulysses in Wirklichkeit um ein Meisterwerk handeln, dessen wahre Bedeutung erst die Zukunft oder auch eine nicht durch den Rezensionsdruck bestimmte Lektüre enthüllen werde. [Sprecher 1] Der Rezensent der Zeitung Newsday spricht von Pynchons jüngstem Roman Against the Day, der vielen amerikanischen Rezensenten nicht gefiel; er sei zu lang, zu schwerfällig und zu blutleer, hieß es. Pynchons 1085 Seiten starker Abenteuerroman um eine kauzige Crew von Ballonfahrern, die über politische, fantastische und geographische Landschaften des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gondeln, hat die englischsprachige Kritikerwelt - bis auf wenige Ausnahmen - überwiegend gelangweilt. Selbst der versierte Übersetzer Nikolaus Stingl muss lange überlegen, wie er die Handlung bündig wiedergeben soll: [O-Ton Stingl, 0:30] Es ist insofern ein ungewöhnlicher Pynchon-Roman, weil alle Romane von Pynchon ungewöhnliche Romane sind. Nein. Es ist auf einer bestimmten Ebene ein Abenteuerroman. Es passiert unglaublich viel. Es treten unglaublich viele Personen auf. Das ist aber eben auch nur eine Verkleidung, eine Maske hinter der sich Pynchon versteckt, um die vielfältigsten Dinge zu transportieren. Der Inhalt lässt sich unmöglich nacherzählen. [Sprecher 1] Auf gut und gerne 2000 Seiten wird das Manuskript der deutschen Übertragung anwachsen. Erste Kapitel der Übersetzung sind bereits fertig, darunter die Beschreibung der Ballonfahrer-Truppe, die sich Chums of Chance, auf Deutsch Freunde der Fairness nennen, nebst ihrem Hund Pugnax. [Zitator] Mittlerweile selbst ein alter Hase der Luftschifffahrt, hatte Pugnax wie der Rest der Mannschaft gelernt, einem menschlichen Rühren dergestalt nachzugeben, dass er sich an die dem Wind abgekehrte Seite der Gondel verfügte, was Überraschungen unter der Bevölkerung am Boden zur Folge hatte, freilich nicht oft, oder auch nur auffällig genug, als dass irgendwer auch nur den Versuch unternommen hätte, Berichte über diese urinalen Angriffe aus der Luft aufzuzeichnen oder gar zu koordinieren. [Sprecher 1] Rowohlt-Lektor Heepe, der bereits den im Hippie-Milieu Kaliforniens angesiedelten Roman Vineland sowie Mason & Dixon betreut hat, ist überzeugt von dem neuen Pynchon-Roman, der sich seitenweise liest wie eine Mischung aus Jules Verne-Geschichten und Comic-Strips für Erwachsene. [O-Ton Heepe] Er redet von der Chicagoer Ausstellung. Um die Zeit herum fängt das ungefähr an. Er beschreibt, wie oben drüber ein Luftschiff fliegt. Das wird in dem Buch noch sehr oft vorkommen. Die schütten ein bisschen Sand raus, weil sie steigen wollen. Dieser Sand trifft nun gerade dieses Aktmodell eines Fotografen, der unten ist und ein paar Pornos machen will. So sind die Geschichten ineinander verwoben. [Sprecher 1] Für Heinz Ickstadt, der übrigens annahm, dass Pynchon nach Fertigstellung von Mason & Dixon aufgehört hätte zu schreiben, erkennt in Against the Day so etwas wie eine Hommage an die dunkle dichterische Einbildungskraft als Gegengewicht zur Banalität des hellen Tages. Pynchon schreibt weiter an seiner turbulenten Endlosgeschichte über die Mythen amerikanischer Geschichte, eingebettet in einen Kosmos, der mit Legionen wundersamer Figuren bevölkert ist, die den Gesetzen von Raum und Zeit spotten und in ihrer pynchonesken Flatterhaftigkeit der Wirklichkeit ein Schnippchen schlagen. [O-Ton Ickstadt] Ich denke an eine Metapher, die er möglicherweise von Donald Barthelme genommen hat, eine Geschichte, die heißt ?The Balloon? und geht über das Schreiben. Dieses Luftschiff wird immer gewichtiger und eigentlich immer unverbindlicher, ist nicht eingebunden in größere Strukturen, es wird eine Welt, die vielleicht Bezug hat zu anderen Welten, so hört es auch auf in diesem Ballon, in dem Hoffnung steckt. [Sprecher 1] Gegen den Tag wird das Buch auf Deutsch heißen. [O-Ton Heepe] Für mich ist es so, dass ?Against the Day? heißt: Das ist der Tag, klar, hell, deutlich, und das ist ein Buch, das ist ein bisschen anders. Das ist Realität in Form von Literatur. Es ist gegen den Tag, den hellen, den klaren, wo die Sonne scheint. [O-Ton Stingl] Der Schlusssatz ist so schön...weil sie dann...das nimmt dann so eine Wendung ins Religiöse: They Fly Toward Grace. Ja. Also (Atmo Seiten-Geraschel) [O-Ton Lisa Simpson] What do you think, Thomas Pynchon? [O-Ton Thomas Pynchon] These wings are V-licious. I put his recipe from the Gravity´s Rainbow Cookbook right next to The frying of Lot No. 49. [O-Ton Hans Georg Heepe] Das ist seine Stimme. Just the fun of it! 30