COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. DeutschlandRadio Kultur Redaktion: Dorothea Westphal Lolita - meine Sünde, meine Seele Nabokovs Meisterwerk erschien vor 50 Jahren in New York Besetzung Sprecherin Nabokov-Sprecher Zitat-Sprecher Zitat-Sprecherin (für 1 Zitat ggf. Poolsprecherin) Musik Zitat (Nabokov-Sprecher) Ich liebte dich. Ich war ein fünfbeiniges Ungeheuer, aber ich liebte dich. Ich war verabscheuungswürdig und brutal und verworfen und vieles mehr, mais je t´aimais, je t´aimais! Und es gab Zeiten, in denen ich wusste, wie dir zumute war, und es war die Hölle, es zu wissen, meine Kleine. Lolita, Kind, tapfere Dolly Schiller. (Zitate aus "Lolita" von Vladimir Nabokov, Rowohlt TB, Hamburg 2001, übersetzt von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg u.a.) Musik (kurz hoch) Sprecher: Lolita - meine Sünde, meine Seele Nabokovs Meisterwerk "Lolita" erschien vor 50 Jahren in New York 1 O-Ton CBC-Interview Lionel Trilling: I think the book is shocking, I am glad, that it is shocking and been a lot of shoking books, I think we need to be shocked by this absurd quality of debased dependance usw. Sprecherin: (O-Ton unter Text weiterlaufen lassen) Drei Monate, nachdem Lolita endlich auch in Amerika erschienen war und sich den ganzen Herbst über auf Platz eins der Bestsellerlisten behauptet hatte, trat Vladimir Nabokov zum ersten Mal im Fernsehen in Erscheinung. In einer Interview-Sendung des kanadischen Fernsehsenders CBC, gedreht im November 1958 im Rockefeller Center in New York: 2 O-Ton CBC-Interview Pierre Berton: Mr. Nabokov was also saying, that he has no message at all in his book Nabokov: No, I don´t feel I have any special message, well, if you ask me for instance, wheather my own idea is those, of which Humbert Humbert ... usw. Sprecherin ( über Nabokov nach "message") Im Studio hatte man die filmreife Kulisse des Wohnzimmers eines russischen Literaturprofessors aufgebaut, mit Bücherregalen und dicken Wälzern auf eleganten Mahagonitischchen, Säulen, Couchlampen und brennenden Kandelabern à la Ben Hur. Nabokov sitzt mit Hornbrille und verrutschter Krawatte etwas verlegen neben dem smarten New Yorker Literaturkritiker Lionel Trilling auf der Couch. Ein nicht mehr ganz schlanker Gentleman von 59, der seine Antworten mit scheuem Lächeln von Karteikarten abliest. Der Akzent: very british. Hatte er nicht schon als Kind in St. Petersburg eine englische Gouvernante gehabt? Und später in Cambridge studiert? Vor der Aufzeichnung hatte Nabokov die Teetassen auf der Studiobühne mit Cognac aus einem mitgebrachten Fläschchen gefüllt, der ihn allerdings nicht dazu verführte, irgendetwas über Lolita preiszugeben. 3 O-Ton CBC Pierre Berton: Let´s get out the more specific point: Why did you choose this rather odd, and, something that has never been done before, this curious and debased love? Sprecherin (über Berton) Weshalb, fragt ihn der Moderator, Pierre Berton, haben Sie diese höchst seltsame, vor ihnen noch nie beschriebene, merkwürdige und entwürdigende Liebe gewählt? Nabokov: Well, on the whole, it flooded me all kinds of interesting possibilities I am not so much interested in the philosophy of the book, as I am in weaving the thing in a certain way, in those intergradation and interweavings of certain themes and subthemes, for instance the systematic line of Mr. Quilty, whom Humbert will kill, does kill ... Zitat (Nabokov-Sprecher) Insgesamt schwirrte mir eine Vielzahl von interessanten Möglichkeiten durch den Kopf. Eigentlich interessiert mich weniger die Philosophie eines Buches als die Aufbereitung, die Abstufungen und das Verweben bestimmter Themen und Unterthemen. Zum Beispiel die systematisch durchgezogene Spur von Mr. Quilty, den Humbert töten will und den er auch tatsächlich tötet... Sprecherin: Interessanter als Mr. Quilty, der Verfolger und Nebenbuhler, aber wäre doch der Protagonist Humbert Humbert selbst. Ein älterer hochgebildeter Europäer, wie der Autor, der sich an einem sehr jungen Mädchen vergreift... 5 O-Ton Nabokov: ... well, if you ask me for instance, wheather my own idea is those, of which Humbert Humbert ... Berton: Is he your Character? Sprecherin: Hat er etwas von Ihrem Charakter? hakt der Moderator blitzschnell nach. Nabokov: No, I would say, no, of course he is an european and a man of letters as I am, but I`ve been very careful, I've taken rich care to separate myself from him. For instance a good reader notices that Humbert Humbert confuses, just to take an instance, hummingbirds with hawkmoths, now I would never do that, being an entomologist. Nabokov-Sprecher: Nein, ich würde sagen, nein. Natürlich ist Humbert Europäer und ein "homme de lettres", wie ich. Aber ich habe sehr darauf geachtet, mein Ich von ihm zu trennen. Ein aufmerksamer Leser wird feststellen, dass Humbert Humbert, um nur ein Beispiel zu nennen, Kolibris mit Nachfaltern verwechselt. Also, das würde mir nie passieren, da ich ja Entomologe bin... 7 O-Ton Berton: You are an expert in butterflies? Nabokov: I am, I am, to a certan extent, I would never do that and many other things, many other matters, which I leave to him ... Sprecherin: Sie sind Schmetterlingsforscher? Und schon sind wir wieder weg vom Wüstling Humbert Humbert und seiner wüsten Neigung für kleine zarte Mädchen. So geht das den ganzen Abend. Der Moderator fragt nach Inspirationen, Vorbildern und Absichten, und der Autor antwortet mit Allgemeinem und Nebensächlichem, um möglichst schnell beim Ungefährlichen zu landen. Aber natürlich wusste Nabokov, dass das Thema und der "plot" seines Romans harter Stoff waren - nicht nur für amerikanische Spießer und nicht nur in den fünfziger Jahren: die pädophile Obsession eines 40jährigen für ein 12jähriges Mädchen, das er durch Heirat der Mutter und gnädige Unterstützung durch das Schicksal in seinen Alleinbesitz bringt. Mit dem er zwei Jahre lang im Auto von Motel zu Motel durch die amerikanischen Staaten fährt, bis ihm ein noch wüsteres Ungetüm seine Beute abjagt - an dem er sich am Ende blutig rächt. 8 O-Ton Nabokov, Lesung aus Szene mit Quilty Quilty, I said, do you recall a little girl, called Dolores Haze, Dolly Haze, Dolly, called Dolores Colorado? Musik Zitat (Nabokov-Sprecher): Dies also ist meine Geschichte. Ich habe sie nochmals durchgelesen. Mark klebt dran und Blut und schöne, grünschillernde Fliegen. Bei dieser und jener Wegbiegung fühle ich, wie mein schlüpfriges Ich sich mir entzieht und in tiefere, dunklere Wasser hinabtaucht. Sprecherin: 1948, während seiner Lehrtätigkeit als Literaturprofessor an der Cornell University in Ithaca, New York, begann Nabokov mit der Geschichte von Lolita auf Englisch. Es war sein dreizehnter Roman. Das meiste entstand in den Semesterferien auf Autoreisen in den Westen der USA, morgens Schmetterlingsjagd, dann Schreiben. Zweimal war er drauf und dran, das unfertige Manuskript zu verbrennen, was seine Frau Véra verhindern konnte. 1953 dann die Suche nach einem Verleger in New York - der Roman sollte unbedingt anonym erscheinen. Aber fünf Verleger lehnten ab. Zu schockierend, zu gefährlich. Keiner wollte es riskieren, ins Gefängnis zu wandern. Musik Sprecherin: Also reiste Lolita nach Paris zum Verlag Olympia Press, der englischsprachige, erotische Literatur herausgab, hauptsächlich für britische und amerikanische Touristen. Im Programm waren Werke von Beckett, Bataille, Burroughs oder Henry Miller, aber auch Titel, wie: Weiße Schenkel oder Das sexuelle Leben von Robinson Crusoe. Die Titel für seine "d. b.s" "dirty Books", kreierte der Verleger Maurice Girodias selbst. Sobald die ersten Bestellungen eingingen, ließ er seine schriftstellernden Freunde unter Pseudonym die Manuskripte dazu schreiben. Von Nabokovs 400-Seiten-Manuskript war er auf Anhieb begeistert. Schon die ersten Absätze mit ihrer spielerisch sinnlich eleganten Sprache ließen erkennen, dass dieses Buch anders war als die üblichen "Schmutzigen Bücher". Musik 9 O-Ton Hör-CD, Jeremy Irons Lolita. Light of my life, fire of my loins. My sin. My soul. Lo-lee-ta: the tip of the tongue taking a trip of three steps down the palate to tap at three, on the Teeths. Lo. Lee.Ta. She was Lo, plain Lo, in the morning, standing four feet ten in one sock. She was Lola in slacks. She was Dolly at school. She was Dolores on the dotted line. But in my arms she was always Lolita. Zitat (Nabokov-Sprecher) Lolita. Licht meines Lebens. Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta. Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß Zeh groß in einem Söckchen dastand. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita. Sprecherin: Im Herbst 1955 erschien Lolita in Paris: zwei Paperback-Bände in schlichter olivgrüner Aufmachung. Niemand rechnete mit einem kommerziellen Erfolg, am wenigsten der Verleger. Girodias war davon überzeugt, der Roman sei viel zu schön und subtil, um sich gut zu verkaufen. Aber genau das tat er, gegründet auf ein Donnerwetter in London und falsche Erwartungen. Ein Skandalerfolg, der Nabokov schon 1959 erlaubte, sich von seinem Dozentenberuf zu verabschieden und mit seiner Frau ins Palace Hotel in Montreux an den Genfer See zu ziehen, wo er den Rest seines Lebens verbrachte - immerhin noch 18 Jahre. 10 O- Ton Michael Maar Dieser Erfolg verdankt sich ja einem Missverständnis, weil eben die Leserschaft glaubte, durch diesen Streit, den es gab in der englischen Presse, es sei wirklich ein sozusagen deftiger, saftiger pornographischer Roman - was es nicht ist. Es ist von einer stark vibrierenden Erotik, aber der Leser kommt sprachlich nicht auf seine Kosten, sondern es ist eben alles ungeheuer elegant, kühl und klug in Metaphern gefasst, was da passiert. Sprecherin: 1955 war Graham Greene zu einem ähnlichen Urteil wie der Philologe Michael Maar gekommen. In der Weihnachtsausgabe der Sunday Times zählte er Lolita zu den drei besten Büchern des Jahres. Ohne weiteren Kommentar. Das aber genügte John Gordon, Chefredakteur des Sunday Express und ein aufrechter Schotte, um in seiner Boulevardzeitung eine empörte Replik losgelassen: Zitat-Sprecher: Das ist zweifellos das dreckigste Buch, das ich je gelesen habe. Reine, hemmungslose Pornographie. Seine Hauptfigur ist ein perverser Kerl, der eine Leidenschaft für "Nymphetten" hat, wie er sie nennt. Das, erklärt er, sind Mädchen zwischen 11 und 14. Das ganze Buch ist einer erschöpfenden, hemmungslosen und absolut widerlichen Beschreibung seiner Machenschaften und Erfolge gewidmet. Sprecherin: Greene reagierte darauf satirisch, mit der Gründung einer John- Gordon-Gesellschaft, die England hinfort vor der "heimtückischen Bedrohung durch Pornographie" schützen sollte. Die Kontroverse Greene/Gordon brachte die Erfolgsgeschichte Lolitas in Schwung, eine Geschichte voller Zufälle, wie sie Dieter E. Zimmer in seinem jüngsten Buch Wirbelsturm Lolita beschreibt. Bald darauf fand Lolita angesehene Verleger in Italien, Frankreich und Deutschland, Mondadori, Gallimard, Rowohlt, während der Roman in Frankreich, auf Betreiben des britischen Home Office, verboten wurde. In England mussten die jungen Verleger Weidenfeld & Nicolson bis 1959 auf ein neues Gesetz über die Verbreitung von Unzucht warten. Dafür gelang es Walter Minton von G.P. Putnam´s Sons, das skandalöse Werk in New York herauszubringen: am 18. August 1958. Zitat-Sprecher: Es steht kein einziger obszöner Ausdruck darin und Liebhaber von Erotica werden den Roman für einen Blindgänger halten. Sprecherin: schrieb der Kritiker des Atlantic Monthly, Zitat-Sprecher: Lolita lodert durch eine ganz andere, höchst originelle Art von Perversität. Denn Mr. Nabokov hat aus seinem schockierenden Material eine hundertprozentige intellektuelle Farce gewonnen. Sprecherin: Und welch eine Überraschung: Nicht nur, dass Lolita die Bestsellerliste stürmte, wie zuletzt nur Vom Winde verweht im Jahr 1936 - 100000 verkaufte Exemplare in den ersten drei Wochen - der Roman wurde auch von Zensoren, Kirchengruppen und Frauenclubs in Ruhe gelassen. Natürlich gab es Verrisse, aber die meisten Kritiker, darunter sogar der Rezensent der Jesuitenzeitung "America - National Catholic Weekly", feierten Lolita als große Literatur. Charles J. Rolo vom Atlantic Monthly: Zitat-Sprecher: Mr. Nabokov, ein russischer Emigré, der mittlerweile in seiner zweiten Sprache arbeitet, hat wenig vergleichbare Zeitgenossen, die so virtuos mit der englischen Sprache umgehen wie er. Es ist ein Stil, der, wild, phantastisch und wundervoll einfallsreich, alles, was er berührt, parodiert. Er gibt, zumindest teilweise, all den Kritikern recht, die in Lolita eine Satire sehen (...) Es ist einer der komischsten, ernstesten Romane, die ich je gelesen habe. 11 O-Ton CBC Pierre Berton: The critics, as Mr. Nabokov knows, have said a great deal of things. I quote some of them to you, I like to see if you agree to them. One critic called it a satire on sex and mirror of human frialties. Another said: it was a joke on our national cant about youth. A third: that it was a cutting exposé of chronic american adolescenceand shabby materialisms. Is this so ? Sprecher: ( über O-Ton ) Die Kritiker haben bekanntlich eine ganze Menge über Lolita gesagt. Ich zitiere mal ein paar Stimmen. Da heißt es einmal: Lolita sei eine Satire über Sex und menschliche Schwächen, dann: eine Verspottung unseres nationales Geschwätzes über die Jugend, oder: eine beißende Darstellung von Amerikas chronischem Zustand der Pubertät und schäbigem Materialismus. Sprecherin: Stimmt das so? Nein, nein, sagt Nabokov 12 O-Ton Vladimir Nabokov: I don't think so, I don´t think so, first of all, I do not wish to touch hearts and I don´t even mind to affect minds very much. What I want is, to produce is really that little sob in the spine of the oddest reader, well I leave this field of ideas to Dr. Schweitzer and to Dr. Shivago ... Nabokov-Sprecher: Ich will keine Herzen rühren und nicht einmal den Geist anregen. Aber ich möchte erreichen, dass selbst dem seltsamsten Leser dieser kleine Schauer über den Rücken läuft. Das mit den Herzen überlass ich lieber Doktor Schweitzer und Doktor Schiwago... Sprecherin: Zu dieser Zeit hatte Doktor Schiwago Lolita gerade von Platz eins auf der Bestsellerliste verdrängt, nachdem Boris Pasternak im Oktober 58 der Literatur-Nobelpreis zugesprochen worden war. Für einen, nach Meinung Nabokovs, absolut zweitklassigen Roman, "total dröges, konventionelles Zeug" schrieb er an seinen Freund Edmund Wilson. Wir müssen einem Schriftsteller nicht immer alles glauben, was er sagt, wirft an dieser Stelle der Kritiker und Dozent Lionel Trilling ein, und Nabokov grinst dazu wie ertappter Schuljunge. Und dann folgt mit lässiger Eleganz eine Eloge auf das Buch als großer Liebesroman, frei nach Lionel Trillings Essay: Der letzte Liebhaber, der kurz zuvor erschienen war. Darin hatte Trilling Humberts verzehrende Leidenschaft für Lolita auf die Höhe der "amour-passion" der mittelalterlichen höfischen Minne gehoben. 13 O-Ton Trilling: ... although it is indeed a very erotic book, a very sexual book, it is not a book so much about elaboration, as about an actual love, and a love that makes all the terrible demands that almost any love makes, certainly that every sexual love makes, but that is very full of tenderness, is very full of compassion, as well as passion. Zitat-Sprecher: ...obwohl es wirklich ein sehr erotisches, ein sehr sexuelles Buch ist, geht es weniger um sexuelle Einzelheiten als um eine tatsächliche Liebe mit den schrecklichen Forderungen jeder Liebe, jeder sexuellen Liebe auch, aber um eine, die sehr reich ist an Zärtlichkeit, an Hingabe, an Passion. Sprecherin: Erzählt wird über 500 Seiten lang nur aus einer einzigen Perspektive, nämlich aus der des intelligenten Verbrechers Humbert. Aber Vorsicht vor Humberts rhetorischen Überredungskünsten! warnt der Literaturwissenschaftler Michael Maar. Denn der Wüstling ist ein Gentleman aus bester französisch-schweizer Familie, der seine Begierden und Taten mit soviel Intelligenz, Witz, Ironie und delikaten Sinneseindrücken umkreist, mit soviel Ehrlichkeit und aufrichtiger Qual, dass er die Sympathien des Lesers leicht gewinnt. 14 O-Ton Michael Maar Sind wir nun auf der Seite von Humbert? Aber der ist gerade beim dritten Mal Lesen noch viel fieser, als wir eigentlich am Anfang merken, das ist auch so eine raffinierte Geschichte. Natürlich ist er ein übler Wüstling, und er schändet ein Mädchen und beutet sie aus, als der Pseudovater, das ist alles furchtbar... Dann andererseits hat er wieder was Gewinnendes durch die Ehrlichkeit und durch seinen Witz und er hat ja auch einen gewissen Charme, einen gewissen wölfischen Charme... Musik Zitat (Nabokov-Sprecher) "Oh, ein plattgefahrenes Eichhörnchen", sagte sie . "Wie schade." "Ja, nicht wahr?" ( der gierige, hoffnungsvolle Hum) Können wir an der nächsten Haltestelle halten?" fuhr Lo fort. "Ich muss aufs Klo." "Wir halten, wo immer du willst", sagte ich. Und als ein herrliches, einsames, hochvornehmes Wäldchen (Eichen dachte ich; mit amerikanischen Bäumen kannte ich mich damals noch gar nicht aus) uns ein grünes Echo der Geschwindigkeit unseres Wagens zurückzuwerfen begann, wandte zu unserer Rechten eine rote, farnbestandene Straße den Kopf, ehe sie sich schräg ins Dickicht verzog, und ich schlug vor, dass wir vielleicht... Fahr weiter, schrie meine Lo schrill. Alles klar. Reg dich nicht auf (Kusch, armes Biest, kusch) Ich spähte zu ihr hinüber. Gottseidank, das Kind lächelte. "Du Trottel", sagte sie und lächelte mich süß an. "Du widerliches Scheusal. Ich war ein frisches Gänseblümchen, und nun sieh, was du aus mir gemacht hast. Ich müsste die Polizei anrufen und sagen, dass du mich vergewaltigt hast. O du schmutziger, schmutziger alter Kerl." Sprecherin: Und Lolita auf der anderen Seite ist eben gleichzeitig das verführte arme Mädchen, dann aber auch wieder ein ziemlich raffiniertes Biest auf ihre Weise... Sprecherin: Ein sommerprossiger, "fohlenhafter Beinahe-Teenager", wie Humbert sie nennt, mit umgeschlagenen Wollsöckchen aus der Bobbysoxer- Generation. Verrückt nach Kino, Reklame und Comics und stolz auf die Pettingerfahrungen, mit denen sie Humbert zu Beginn der Affaire entgegenkommt. Und ein zum Erbarmen hilfloses, verzweifeltes Kind hinter der Fassade der Frechheit und Lässigkeit, hinter die Humbert den Leser ab und zu blicken lässt. Musik Zitat (Nabokov-Sprecher) Und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass unsere lange Reise nur das herrliche vertrauensvolle Land mit einer gewundenen Schleimspur besudelt hat, das Land, das rückblickend, uns nicht mehr bedeutete, als eine Sammlung abgenutzter Landkarten, zerfledderter Reiseführer und alter Autoreifen und ihrer Schluchzer in der Nacht - jeder Nacht, jeder Nacht, sobald ich mich schlafend stellte... 16 O-Ton Michael Maar Lolita ist ein Roman von einer Komplexität, die man vielleicht beim ersten Mal gar nicht so genau bemerkt. Aber er ist mindestens bestimmt genauso kompliziert und raffiniert wie etwa Ulysses oder eines dieser anderen berühmten Meisterwerke der modernen Literatur. Man liest es leichter, und beim vierten Mal Lesen oder beim fünften Mal merkt man dann, dass eigentlich nichts sicher ist und gegeben ist in diesem Roman. Sprecherin: Was aber hat es mit der Entdeckung einer zweiten Lolita auf sich, die Michael Maar 2004 in der FAZ und dann in einem kleinen Buch vorstellte und die für höchste Aufregung in der Presse sorgte? 17 O-Ton Michael Maar Ich bin durch Zufall darauf gekommen, dass es eine Erzählung gibt mit dem Titel Lolita, die 1916 veröffentlicht wurde und die merkwürdigerweise davon handelt, dass ein Mann einem sehr, sehr jungen Mädchen verfällt, das am Ende stirbt. Ich sagte mir: na ja das ist vielleicht ein bisschen viel des Zufalls, brauchte dann erst lange, um herauszufinden, wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt. Sprecherin: ... ein vergessener Dichter, Feuilletonist und Rundfunkreporter namens Heinz von Eschwege. Pseudonym: Heinz von Lichberg. Seine Kurznovelle Lolita war in einem Band mit Schauererzählungen versteckt mit dem Titel "Die verfluchte Gioconda". 18 O-Ton Michael Maar Heinz von Lichberg, stellte sich raus, wurde später ein glühender Nazi. und lebte noch nach dem Krieg ... Andererseits stieß ich dann darauf, dass dieser Erzählband noch andere Erzählungen enthielt, auf die dann wiederum angespielt wird. Nun lebte er in Berlin wie auch Nabokov 15 Jahre lang, und es legte sich dann doch der Verdacht nahe, dass der eine von dem anderen was mitbekommen hätte. Sprecherin: Ein interessantes philologisches Spiel, das ohne Gewissheiten endete, mit vielen offenen Fragen. Und das, aufgebläht durch die Medien, für höchste Verärgerung unter den Nabokovianern sorgte (((19 O-Ton Michael Maar Es ging dann sehr durch die Presse unter dem falschen Label des Plagiatsvorwurfs, den ich natürlich nie gemacht habe, weil zwischen einer künstlerisch relativ wenig bedeutenden, um nicht zu sagen, sehr schwachen Erzählung, und einem der größten Romane des 20. Jahrhunderts natürlich Welten liegen. Das war völlig klar. Ein Teil dieser skandalösen Wirkung lag wohl daran, dass die Nabokovianer, die ja eine sehr verschworene Gemeinschaft bilden, sich wohl schwer anfreunden konnten mit der Idee, dass ihr Idol ausgerechnet einem deutschen Nazi was verdanken sollte, Sprecherin: Aber hatte Nabokov nicht selbst eine schöne Geschichte parat, was die Inspiration zu Lolita betraf, und die er dem CBC - Interviewer schließlich offenbart: 20 O-Ton CBC-Interview Nabokov: Yes, Yes, in a little after-Piece, which I have to my book, I talk about a certain ape, who was total used a chargoed to sketch ... And the first thing, that the poor animal did, was to sketch the bars of his own cage. (voice over) Nabokov-Sprecher: In einem kurzen Nachwort in meinem Buch erzähle ich von einem Affen, der dazu gebracht wurde, mit Kohle zu zeichnen. Und das erste, was das arme Tier zeichnete, waren die Gitterstäbe seines Käfigs... Sprecherin: Eine Analogie? fragt der Moderator. O-Ton Nabokov Yes, I read that story in a newspaper and if I'd try to rationalise the impact of that image, I would say, that my baboon Humbert Humbert - because after all Humbert Humbert is a genius perhaps, but a baboon, - he is doing exactly that: he is drawing and shading and erasing and redrawing the bars of his cage. The bars between him and what he terms is the "human herd?. Nabokov-Sprecher: Ja, ich habe die Geschichte in der Zeitung gelesen und versucht, die Bedeutung des Bildes umzusetzen. Ich würde sagen, dass mein Wüstling Humbert, der vielleicht ein Genie ist aber auch ein Wüstling, genau das tut: er zeichnet und radiert wieder aus und zeichnet aufs Neue die Stäbe seines Käfigs. Die Gitterstäbe zwischen ihm und dem, was er als die menschliche Herde bezeichnet. O-Ton Berton: And this cage, I take, is this obsessive and rather frightening love for this girl. Nabokov: It is his passion, the pattern of his passion (Voice over ) Sprecherin: Und der Käfig, sagt Berton, ist dann diese obsessive und ziemlich erschreckende Liebe zu diesem Mädchen? O-Ton Nabokov: It is his passion, the pattern of his passion. Nabokov-Sprecher: Seine Leidenschaft, das Muster seiner Leidenschaft. 21 O-Ton Michael Maar Ja, das ist eine phantastische Geschichte, die ich sehr sympathisch finde, weil sie so unglaubwürdig ist. Das ist eine von den vielen kleinen Deckgeschichten von Nabokov, die er gerne gestreut hat. Das ist alles wunderschön, ein schönes poetisches Bild. Nur ist die Frage: Wie komme ich von einem Affen auf das begehrenswerte Mädchen, wenn ich´s nicht schon vorher im Kopf hatte. Sprecherin: Denn spuken die Nymphchen nicht schon in Nabokovs früherem Werk herum, und taucht darin nicht schon die eine oder andere Lolita- Vorläuferin auf? In den sechsundsechzig russischen Erzählungen beispielsweise, die zur Zeit des CBC-Interviews alle noch auf ihre Übersetzung warteten? In der Erzählung "Rache" von 1922 oder zwei Jahre später in "Märchen", wo ein kleines Mädchen von 14 Jahren in einem tief dekolletierten Kleid neben einem einen alten Dichter geht, mit "ganz, ganz leicht wiegenden Hüften" und "seltsam flatterhaftem Blick" aus "viel zu glänzenden Augen". 23 O-Ton Michael Maar Es ist sehr interessant, wie er sich da langsam herantastet und wie langsam die Schleier der Camouflage fallen. Es gibt da sehr interessante Stellen schon in "Der Gabe", dem größten und letzten russischen Roman. Dort findet sich schon die Fixierung des Helden Fjodor auf einen bestimmten Typus, es ist ein knabenhafter, jungmädchenhafter, gerade noch in der Pubertät stehender Typus, Schulmädchen auch immer, die wird da immer beobachtet. Es gibt da eine Szene im Grunewald, die kennen alle Nabokovianer... Auch der plot von Lolita ist übrigens dort schon enthalten, die Grundidee, dass jemand die Mutter heiratet, um sich an das Mädchen heranzumachen, die wird schon dort entworfen. Sprecherin: In der russischen Erzählung Der Zauberer wird sie dann ausgeführt. Eine kurze Novelle, geschrieben 1939, kurz vor der Flucht in die Staaten, von der Nabokov dachte, er hätte sie vernichtet: Zitat (Nabokov-Sprecher): Der Mann war Mitteleuropäer, das anonyme Nymphchen Französin und die Orte der Handlung waren Paris und die Provence. Ich ließ ihn die kranke Mutter des Mädchens heiraten, die bald darauf starb, und nach einem missglückten Versuch, die Waise in einem Hotelzimmer zu missbrauchen, warf sich Arthur ( das war sein Name) unter die Räder eines Lastwagens. 24 O-Ton Michael Maar Fast genauso interessant, wenn nicht interessanter, fand ich, dass Lolita nicht nur Vorläuferinnen hat, sondern, dass sie auch Nachfolgerinnen hat. Das heißt, das Thema ist noch nicht beendet mit diesem Roman. Man könnte ja denken, ja klar, jeder große Roman hat seine Vorläufer, schon künstlerisch gesehen arbeitet alles auf das Hauptwerk hin, und dann ist es aber auch gut. So war's aber nicht. Das Thema des jungen begehrenswerten Mädchens, das zieht sich bis in Ada und bis in den allerletzten Roman hinein. Das hat schon eine Spur von Obsession. Sprecherin: Und so ist es auch erlaubt, darüber nachzudenken, ob ein so obsessives Thema nicht doch eines war, das sich der Autor von der Seele schreiben musste - auch wenn er alle Spekulationen darüber weit von sich wies, von seiner Frau Vera und dem Sohn Dimitri darin eisern unterstützt. Musik Sprecherin: 45 Jahre nach Lolitas erstem Auftritt in Amerika, im Jahr 2003, gelangte ein Buch mit dem Titel Lolita lesen in Teheran auf die Bestsellerliste der New York Times und behauptete sich dort ganze zwei Jahre. Die Autorin Azar Nafisi, Emigrantin und Literatur- professorin, so wie einst Nabokov, unterrichtet an der Johns Hopkins University in Washington. Während der Ära Khomeinis lehrte sie englische Literatur in Teheran - 18 Jahre lang. Dann verließ sie den Iran. Musik Sprecherin A Memoir in Books, eine Erinnerung durch Bücher, so der zweite Teil des Titels im Original, handelt von einem verbotenen geistigen Abenteuer mit den großen Klassikern des Westens im Gottesstaat der Mullahs in den 90er Jahren. Zwei Jahre lang treffen sich sieben Studentinnen heimlich im Haus der Professorin, um Romane von Nabokov, Flaubert und Fitzgerald, Austen und James zu lesen und zu diskutieren. 26 O-Ton Charlie Rose-Interview Tell me then, which goes right to the point, how Nabokov and others, came to define your life in Iran? Azar Nafisi: Well, first of all, if you live under a totalitarian regime, where every single right, including your individual rights, is taken away from you and you feel kind of orphaned, reading these books, not taking refuge, but taking another look at art and literature and creates spaces and windows for you that you don´t have in reality. The second thing is: that Nabokov is all about exile, is all about the unexpectiveness of Life and the gaps that life creates for us ... ( Voice Over ) Zitat-Sprecher: Inwiefern hat Nabokov Ihr Leben im Iran definiert? Zitat-Sprecherin (Nafisi): Wenn man unter einem totalitären Regime lebt, wo einem jedes Recht entzogen wird, inklusive der individuellen Rechte und man sich wie ein Waisenkind fühlt, dann hat das Lesen dieser Bücher nicht die Bedeutung von Zuflucht, sondern ermöglicht es einem, einen neuen Blick auf Kunst und Literatur zu gewinnen, schafft Räume und Fenster, die man in der Wirklichkeit nicht hat . Und zum anderen: Nabokov steht für alles, was Exil heißt, für all das Unerwartete im Leben und die Nischen, die das Leben für uns schafft. Sprecherin: Übersetzt in über 30 Sprachen, hat Azar Nafisis Buch vor allem als politisches Zeitdokument Berühmtheit erlangt. Was aber bewahrt ein Werk vor dem Verblassen? 27 O-Ton Michael Maar ...es ist der Stil, wenn man so will. Ohne diesen Stil ist nie ein Autor von Bedeutung. Nabokov hatte eben ganz bestimmte Fähigkeiten, die sonst kein anderer Autor auf der Welt hat. Er schafft es, bestimmte Sätze so zubauen, wie sonst niemand kann. Und das sind die Reize, die ich bezeichne, als die Reize der Oberfläche. Was er eigentlich kann ist: die eine Metapher oder die Landschaftsschilderung in Lolita oder die eine Wendung - das macht ihn zu dem großen Autor der er eben ist: es sind die größten Natur-und Landschaftsschilderungen überhaupt. Die Amerikaner können froh sein, dass sie ihn hatten, der es so geschildert hat, mit dem Blick des gebildeten Europäers ... Musik Zitat (Nabokov-Sprecher) Jenseits der bestellten Felder, jenseits der Spielzeugdächer breitete sich langsam eine nutzlose Lieblichkeit aus, eine tiefstehende Sonne in einem Platindunst mit einem warmen Ton wie von geschälten Pfirsichen, die den oberen Rand einer zweidimensionalen taubengrauen Wolke durchdrang und sich im fernen romantischen Nebel verlor. Vielleicht hob sich eine Baumreihe als Silhouette gegen den Horizont, hingen stille Mittage über weiten Feldern vol blühenden Klees, waren in ein verschwimmendes Azurblau ferne Claude-Lorrain-Wolken gezeichnet, von denen nur der Cumulusteil sich von dem unbestimmten und ohnmächtigen Hintergrund abhob. Oder vielleicht war es auch ein strenger El-Creco Horizont, trächtig von tintigem regen, und ein flüchtiger Blick auf einen Farmer mit Schrumpelnacken und ringsumher abwechselnd Streifen von Quecksilberwasser und grellgrünem Mais, und das ganze Ensemble öffnete sich wie ein Fächer, irgendwo in Kansas. 1