COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Deutschlandrundfahrt 7.7.2012, 15.05 Uhr Schönheit im Verfall Vom morbiden Charme stillgelegter Industrielandschaften von Susanne von Schenck Ton: Ralf Perz Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Sendung: 07. Juli 2012, 15.05 Uhr Kennmelodie 1 Carla Zimmer Ha, das ist ja irre. - Da steht ein richtiger Stuhl davor, den wollte ich Dir zeigen, weil du es gerade angesprochen hast. Atmo Klick Autorin Das ist ihr Geräusch: der Auslöser der Kamera. Carla Eglau hat ihn heute schon oft betätigt. - in der ehemaligen Fleischfabrik im Berliner Stadtteil Lichtenberg. Mit Andreas Böttger steht sie in einem Büroraum, in dem schon lange kein Mensch mehr gearbeitet hat. Von der Decke hängt der Putz herunter wie alte Hautfetzen, das Fenster ist kaputt, in der Ecke steht ein verstaubter Armstuhl. Aus dem Boden sprießt Grünzeug, an den Wänden hat Moos ein Graffiti überzogen. Das ganze Zimmer ist zugewachsen. Atmo Klick 2 Andreas Zimmer Im Hochsommer, da kommt der Farn schon aus dem Boden, da ist es hier ein richtiger Garten und man muss sich mit der Machete durchschlagen. Atmo Klick Kennmelodie Sprecher vom Dienst: Schönheit im Verfall Vom morbiden Charme stillgelegter Industrielandschaften Eine Deutschlandrundfahrt von Susanne von Schenck Atmo Schritte Autorin Sonntagnachmittag, gegen 16 Uhr. Es ist kühl, zuweilen nieselt es. Carla Eglau verlässt das zugewachsene Zimmer. Seit drei Stunden ist sie auf dem stillgelegten Berliner Fabrikgelände umhergelaufen. Leicht ermüdet lässt sie sich auf einem wackeligen Stuhl vor der düsteren Eingangshalle nieder und bläst den Rauch einer Zigarette in die Berliner Nachmittagsluft. 3 Carla Dokumentation Ich bin schon seit 1 1/2 Jahren in diesen verfallenen, vergessenen Orten unterwegs. Das ist ne Faszination, und ich denke, das ist auch eine Dokumentation, weil irgendwann kommen die Investoren und machen chice Lofts, und dann ist von all dem nichts mehr übrig, und dann hab ich es wenigstens photographiert. Autorin Die pensionierte Hobbyphotographin war schon häufig mit ihrer Kamera an sogenannten Lost Places unterwegs - meist illegal. Aber Carla Eglau liebt den Nervenkitzel und klettert auch mal über rostige Zäune oder zwängt sich durch zugewachsene Eingangstore. 4 Carla morbide Ich hab's sowieso immer mit der Morbidität, ja es ist auch geschichtlich. Ich find's einfach schade, dass so gut Bausubstanzen wie Beelitz zum Beispiel oder Wünsdorf oder VEB Bärenquell in Schönhausen, dass das einfach so verkommt. Das finde ich total schade. Aber das sind natürlich Riesengelände. In Wünsdorf, wo die Offiziere gelebt haben - das Gelände kostet 10 Millionen Euro, da muss man ich weiß nicht wie viel noch mal reinstecken. Das sind einfach Riesengebäude und Riesengelände - das ist schwierig. Musik 1, kurzer Akzent Interpret: Nils Petter Molvaer Titel: Exhumation Komponist Nils Petter Molvaer LC-Nr.: 00699 Verlag: EAN-Nr. Emarcy Records 602527020419 Autorin Heute muss Carla Eglau nicht fürchten, dem Wachschutz in die Hände zu fallen. Heute hat sie eine offizielle Tour gebucht: bei go2know. 5 Carla go to know Ich bin froh, dass ich hier die Jungs gefunden habe, die in solche Sachen reinkommen. Die Informationen kriegt man durchs Internet, dann kann man sich schlau machen. Autorin Begonnen hatte an diesem Sonntag alles um 13 Uhr. Mit gut zwanzig anderen Hobbyphotographen hatte sich Carla Eglau in der stillgelegten Fabrik in Berlin - Lichtenberg eingefunden. Go2know, etwa: geh, um zu wissen, entstand vor zwei Jahren und bietet Phototouren durch stillgelegte Fabriken, verlassene Sanatorien oder ausrangierte Spionagestationen in und um Berlin an. Wo genau sich die Orte befinden, erfährt nur, wer sich angemeldet und vorab zwischen 30 und 40 Euro bezahlt hat. 6a Thilo Sicherheit Jeder Teilnehmer geht auf eigene Gefahr auf die Orte rauf. Autorin sagt Thilo Wiebes, einer der Gründer von go2Know. 6b Thilo Sicherheit Wir versuchen den Leuten schon klar zu machen, wo sind die Gefahren, welche Gefahren hat der Ort und versuchen, die Leute zu sensibilisieren, dass sie mit offenen Augen rumlaufen. Wir sperren natürlich Bereiche ab, die nicht betreten werden können oder dürfen. Autorin Treffpunkt für alle Teilnehmer ist heute in der großen Eingangshalle der einstigen Fleischfabrik. Dort erwartet sie Andreas Böttger von go2know. 7 An Details Bei dieser Phototour ist die Besonderheit, dass wir hier die vielen kleinen Details erleben werden aus der DDR-Zeit. Denn nach der Wende ist dieser Betrieb mehr oder weniger abgewickelt worden, er wurde für eine symbolische Mark aufgekauft von einem Investor. Aber dieser Investor hatte wahrscheinlich nichts weiter vor, als diesen Betrieb mit seinen Inhalten zu verkaufen und da auch noch Geld rauszuholen. Am Ende war's dann so, dass die ganzen Kündigungen einflogen. Man sieht oben in den Personalbüros noch die ganzen Schreiben liegen, die Kündigungsschreiben, die an die Leute gegangen sind. Auch das sind sehr interessante Photomotive. Autorin Andreas Böttger ist ein kleiner Mittdreißiger mit einer auffallend großen Nase und einem Dreitagebart. Er redet viel und gern. Um ihn herum stehen leicht fröstelnd Menschen aller Altersgruppen, ausgerüstet mit solidem Schuhwerk, dicken Anoraks, mit Taschenlampen und Rucksäcken, aus denen Stative hervorragen. Bald geht es los: in ein dunkles Treppenhaus. Atmo alle gehen Treppe hoch Autorin Die stillgelegte Fleischfabrik ist Teil der ehemaligen Konsumgenossenschaft Berlin. Ein 1910 im neoklassizistischen Stil erbautes repräsentatives Verwaltungsgebäude gehört ebenso dazu wie eine Backfabrik. Die Gebäude überstanden die Kriege und wurden gut achtzig Jahre genutzt, bis sie 1990 verschiedene Investoren kauften. Das ganze Ensemble steht heute unter Denkmalschutz. ff Atmo alle gehen Treppe hoch Autorin Der Duft von geräuchertem Fleisch liegt noch in der Luft. Der Weg führt durch gekachelte Hallen und in ölige Werkstätten. Seit mehr als fünfzehn Jahren sind die Öfen und Kessel erkaltet. Hin und wieder liegt Arbeitskleidung auf dem Boden verstreut: Jacken oder vereinzelt Gummistiefel. Als habe sie gerade jemand abgelegt. Als sei die Zeit stehen geblieben. 8 An Schuhe Toll, oder. Die alten Schuhe, da stehen sie. Man findet hin und wieder auch noch Gasmasken und auch Ponchos. Weil wenn diese Räucheröfen, es war halt extrem heiß darin und wenn du die Tür aufmachst, da schlägt einem dieser heiße und fettige Dampf entgegen. Dafür war diese Schutzbekleidung gedacht, und die liegen hier überall noch so rum. Auch sehr interessante Motive. Autorin Andreas Böttger führt alle bis in die dritte Etage. Dann überlässt er die Teilnehmer sich selbst. Mit Taschenlampen ausgerüstet machen sie sich auf den Weg, die riesigen Räume in den Hallen zu erforschen. Peter hat schon ein Motiv gefunden - ein Graffiti in der Nähe eines Räucherofens. 8b Peter Graffiti Es ist ein bisschen gruselig, weil es ist eine menschliche Figur, fast lebensgroß, die kein Gesicht hat, unten die Füße stehen in einem schwarzen Aufspritzer, davor liegt ein umgegossener Teereimer. Mich beeindruckt es, weil es nur mit diesen Grautönen dargestellt ist, aber sehr realistisch aussieht und man weiß nicht genau, ob die Person verletzt ist oder die Hände zeigt, weil sie unschuldig ist. Ich photographiere gern Graffiti, und das ist auch eins, was irgendwas ausstrahlt. Autorin Die ehemalige Fleischfabrik ist ein Labyrinth. Wenn man hier verschwindet - es würde keinem auffallen. Atmo allein gehen geht über in Musik 2 Interpret: Massive Attack Titel: Sly Komponist Massive Attack LC-Nr.: 03098 Verlag: Virgin EAN-Nr. 724383988327 Atmo Schritte kommen dann Musik 3 Interpret: Ry Cooder Titel: Define Violonce Komponist: Ry Cooder Label: Outpost Recordings LC-Nr.: 07266 Hoecker Töne immer so einbetten: Schritte Musik Schritte Musik 9 Hoe Beelitz 1.58 Das für mich faszinierendste, allein was die Gebäude angeht und die Räumlichkeiten, das waren für mich Beelitz Heilstätten. Unter Lost Places ist das insofern nichts Besonderes mehr, weil jeder da war, weil es so etwas Besonderes ist. Autorin so Bernhard Hoecker, Komiker und Autor des Buches: "Hoeckers Entdeckungen. Ein merkwürdiges Bilderbuch längst vergessener Orte". 9 Hoe Beelitz 1.58 ff Das ist einfach ein riesengroßes Krankenhausgelände mit vier Quadranten, in denen mehrere Gebäude stehen mit mehreren Flügeln. Und jeder Flügel ist 50 bis 100 Meter lang. Und das ist so was von unfassbar groß. Wenn man da einmal lang gelaufen ist, sind alle anderen Lost Places eigentlich nur noch Ausschnitte dessen. Wenn man dann in so einem Gebäude drin ist, hat erstmal einen hundert Meter langen Flur, den man entlang geht, wo der Putz von der Wand fällt, aber so gleichmäßig, weil er natürlich einmal gleich gestrichen war, dass das Ganze wie ein vorbereitetes, fast wie ein Kunstwerk wirkt. Die Gebäude sind aus den 1920er Jahren, nee, sogar noch aus dem ersten Weltkrieg und ist die Architektur an sich schon sehr mit Backstein in verschiedenen Farben, dann Kuppeln innerhalb des Gebäudes, Stuck an der Decke, extrem faszinierend. Dann gibt es große Räume, riesige Hallen bis zur Decke mit Kacheln verfließt sind. Entweder war da die alte Küche, wo man die Abzugshaube noch sieht. Man kann dann über das Dachgebälk oben in den Bereich gehen, wo die Abzugshaube raus kam und sich das Ganze noch mal von oben ansehen, hat eine komplett neue Perspektive. Teilweise findet man noch Gerätschaften in den Gebäuden, es gibt da irgendeine Operationslampe mit fünf, sechs großen Birnen drin, die in der Zwischenzeit natürlich alle kaputt sind, es gibt einen Stuhl, der, glaube ich, sieben Milliarden Mal photographiert worden ist, und niemand weiß, warum mitten auf der Sitzfläche ein großes Loch befindlich ist. Und das Schöne ist, wenn man dieses Gelände verlässt und dann mit dem Auto wieder rausfährt aus dem Gebiet und dann die alten Mauern wieder sieht, die das früher eingefriedet haben, und die so langsam zerbrechen und dann irgendwann in Wald übergehen. Atmo Schritte, weggehen Autorin Sie sind in keinem Reiseführer beschrieben, sie sind vergessen: stillgelegte Fabriken, Sanatorien, Kraftwerke, Kasernen. Von diesen Orten fühlen sich urban explorer, Stadterkunder, magisch angezogen und steigen in verfallene Gebäude ein. In den meisten Fällen ist das verboten und zuweilen auch gefährlich. Nicht viele Grundstücksverwalter bringen Verständnis für diese "urbexer" auf - so die Abkürzung -, und Genehmigungen, das Gelände zu betreten, sind schwer zu bekommen. Viele betreiben ihr Hobby daher ohne die nötige Erlaubnis, und urban exploration wird oft mit Hausfriedensbruch verbunden. Aber die Stadterkunder zerstören nichts, sie machen nur Photos, die sie meist hinterher ins Internet stellen. Take nothing but pictures, leave nothing but footprints heißt ihre Regel. Mache nur Bilder, hinterlasse nichts als Fußabdrücke. Atmo Klick klick geht über in 10 Atmo Eingang mit kurzem OT: So, wir müssen uns erst mal unsichtbar machen.... Autorin Ein prüfender Blick die Straße hinunter. Kein Auto in Sicht, kein Mensch unterwegs an diesem sonnigen Juninachmittag im Osten Halles an der Saale. Marc Mielzarjewicz und Sven Hermann zwängen sich an einem halb zugewachsenen Pförtnerhäuschen vorbei. Schon lange sitzt hier kein Mensch mehr und kontrolliert, wer kommt und geht. Der Blick öffnet sich auf ein gut fünf Hektar großes Gelände. Es ist der ehemalige Schlachthof der Stadt. Rechts vom Pförtnerhäuschen steht eine große Halle. Sie ist sieben Meter lang, wirkt in ihrer Architektur mit Bögen, Portalen und alten Eisenträgern fast filigran, aber auch wie ein Skelett. Denn die Tore fehlen, die Dächer sind voller Löcher, die Fenster zerschlagen. Nur die Außenmauern stehen noch. 11 Marc erbaut Ganz zufällig weiß ich auch, wann das erbaut wurde. Das war zwischen 1891 und 1893. Das ist der städtische Schlacht- und Viehhof. Damals gab es so einen Erlass in den Städten, dass man privat nicht mehr schlachten darf, wegen der Hygienebedingungen, und da wurden in den Städten solche Schlacht- und Viehhöfe errichtet. Und genau hier befinden wir uns. Und das ist eine Verbindungshalle zwischen den Kühlhäusern auf der rechten Seite und den Schlachthäusern auf der anderen Seite. Atmo Photoklick Autorin Seit zwanzig Jahren photographiert Marc Mielzarjewicz alte, leer stehende Gebäude vor allem in seiner Heimatstadt Halle, aber auch in Leipzig oder Magdeburg. Vier Bücher, alle mit stimmungsvollen Schwarz-Weiß Photographien hat der Wirtschaftsinformatiker schon gemacht: "Lost Places" heißen sie. Aus den Bildern spricht leise Melancholie. Die Bücher dokumentieren, was bleibt, wenn der Mensch verschwunden ist. 11b. Marc Kühlhaus Hier auf der rechten Seite der ganze Kühltrakt. Da gibt's einen Wasserturm, der sieht von außen aus wie ein Burg, architektonisch schön. Daneben ist ein Maschinenhaus, ein Eishaus und dann ist hier diese ganze Kühlstrecke. Und dann ist hier dieser VerladeLKW reingefahren, auf dieser Seite sind die ganzen Schlachtanlagen. Hier wurde Kleinvieh geschlachtet und spiegelversetzt Rinder und das große Viehzeug. Und hier sieht es schon mächtig verfallen aus, was hier so rumliegt. Da muss man auch ein bisschen gucken, wo man hintritt. Musik 4, kurzer Akzent Interpret: Nils Petter Molvaer Titel: Sabkah Komponist Nils Petter Molvaer LC-Nr.: 00699 Verlag: EAN-Nr. Emarcy Records 602527020419 Autorin Nach der Wende entstanden im Osten Deutschlands zahllose lost places, die über die Jahre ihres langsamen Verfalls einen ganz eigenen Charme entwickelt haben. Die neuen Bundesländer mit ihren Industriebrachen sind das El Dorado der Urban Explorer. In München beispielsweise finden sich kaum leerstehende Gebäude. München ist ein hartes Pflaster, denn in der Stadt mit den teuren Mieten lässt man nichts ungenutzt, und stillgelegte Fabrikareale werden schnell wieder verplant. Anders im Osten. Dort zeugen zahlreiche verfallene Gebäude noch von Glanzzeiten und vom schnellen Niedergang der DDR-Industrie. Manche finden einen Investor, viele verkommen. Atmo Gehen Scherben Autorin Das Areal des Schlachthofs ist riesig. Auf dem Boden verstreut liegen Scherben, rostige Nägel, verschmutze Kleidungsreste, die Wände sind besprüht mit Graffiti und überall klaffen Löcher im Boden. Gutes Schuhwerk ist eine der Grundvoraussetzungen beim Urban exploring. Über die passende Ausrüstung sind die Meinungen geteilt. 13 Marc übertrieben Ach ich denke, viele urban explorer übertreiben ein bisschen. Wenn man sich mal die Photos anguckt, wo dann die Leute mit Gasmaske rumrennen und speziellem Geschirr. Das sind alles Industriebauten mit Schwerlastdecken etc. Ich denke, wenn man ganz normal die Vernunft walten lässt, sollte da nichts passieren. Was man nicht machen sollte beim Photographieren ist rückwärts laufen. Macht man ja doch mal. Weil es gibt viele Löcher, gerade hier auf dem Schlachthof. Ein anderes Thema sind nämlich die Schrottdiebe, die hier alles, was Metall ist, mitnehmen. Und diese Gullydeckel sind ja aus Gusseisen. Da liegt überall so provisorisch was drüber. Da muss man aufpassen, dass man da nicht reinplumpst. Aber ansonsten wird es ein bisschen überbewertet, das Thema. Autorin Das zugewachsene Gelände scheint jedes Geräusch der Außenwelt zu schlucken. Schnell vergehen die Stunden, ohne dass man es merkt. Der Wasserturm wird besichtigt, das Maschinenhaus, die ehemaligen Ställe. Überall bröckelt es, vieles ist mutwillig zerstört worden, immer wieder hat sich die Natur ihren Raum zurückerobert. Wo einst das Vieh per Bahn auf das Schlachthofgelände gebracht wurde, sind die Gleise längst überwachsen. 14 M Hektar und Größe Das sind hier fünf Hektar, und zwei sind richtig bebaut. Und hier wurde früher geschlachtet: 8000 Rinder pro Jahr, 15.500 Kälber, 15.000 Schafe und 25.000 Schweine und 800 Pferde. Also das ist schon eine Hausnummer. Atmo Photoklick Autorin Immer wieder zücken Marc Mielzarjewicz und Sven Hermann ihre Photoapparate, lichten einen verwitterten Prospekt ab, der auf dem Boden liegt, nehmen die Boxen in den ehemaligen Ställen auf, photographieren die Bäume, die sich den Weg durch das Mauerwerk gebahnt haben, die eleganten Schwünge der rostigen Metallbögen, die in der Halle freigelegt sind. 15 Sven Spaß 'nen Schwerpunkt gibt's nicht wirklich. Ein bisschen Abenteuerlust ist sicher dabei, weil man weiß ja nicht, wovor man steht und der Spaß an der Photographie hauptsächlich. Autorin sagt Sven Hermann, der Marc Mielzarjewicz seit vielen Jahren auf seinen Touren begleitet. 16 M Schönheit des Verfalls Die Schönheit des Verfalls, irgendwie hat es was faszinierendes, gerade wenn die Sonne jetzt hier so reinfällt. Also ist halt ein Mix. Zum einen, wenn man sich vorstellt, was mal hier war im täglichen Geschäft, dass mal ganz viele Leute hier gearbeitet haben, und jetzt ist hier die absolute Stille und wie sich die Natur halt dies Gebäude zurückerobert. Atmo Kühlhaus Autorin Eines der neueren Gebäude auf dem Areal des Schlachthofs ist das Kühlhaus. Im Treppenhaus ist es dunkel, die Türen sind dick, vier Etagen muss man hinaufsteigen und kommt dann auf das Dach, das teilweise morsch und löchrig ist. Der Blick von hier ist phantastisch. Die vier Zinnen des gegenüberliegenden Wasserturms lassen an eine mittelalterliche Burg denken. 17 Marc Blick Von hier oben sieht man nicht nur wunderschön über das ganze Gebiet des Schlacht- und Viehhofs, sondern man kann auch die ganzen Gleisanlagen sehen von dem Güterbahnhof, der hier früher war. Das war zu DDR Zeiten einer der größten Europas, wurde auch kräftig zurückgebaut. Aber ich glaube, jetzt gibt es den Zuschlag, dass es hier wieder als großes Drehkreuz in Angriff genommen wird und hier wieder gebaut wird. Da kann man wunderbar nach Halle reingucken. Autorin Auf dem Dach sitzen zwei Studenten und unterhalten sich. Sie sind fasziniert von hier aus einen ganz neuen Blick auf die Stadt zu haben. 18 Stud. Mich interessiert das mehr als jetzt irgendwelche schicken Einkaufsstraßen, die saniert werden. Weil die einfach tot sind, die gibt es überall, die ganzen Geschäfte sind überall. Da macht so was ne Stadt schon viel lebendiger. Das macht ne Stadt einfach zu 'ner Stadt und nicht zu einem Platz, wo nur Menschen rumlaufen und einkaufen und konsumieren. Ich find's auch sehr schön, wie die Natur sich die Stadt zurückerobert, ist auch faszinierend, wie die Bäume aus den Mauern wachsen. Ich versteh gar nicht, wie das funktionieren kann, wo die ihre Energie rausziehen, weil sie ja gar keine Wurzeln in der Erde haben. geht über in Musik 5 Interpret: Tom Waits Titel: Cold cold ground Komponist Tom Waits LC-Nr.: 00407 Verlag: Islands Records Schritte kommen dann Musik 3: Ry Cooder "Define Violonce" 19 Hoe NVA Hotel , 1.51 Hotels kennt man natürlich. Man geht rein, man wird empfangen, es klingt eine schöne Melodie, auf dem Boden ein schöner Teppich, vertäfelte Decken, und dann hat man ein schönes Zimmer, das einen einlädt, sich niederzulegen und die Zeit zu genießen. Autorin sagt Bernhard Hoecker, Komiker und Buchautor. 19 Hoe NVA Hotel , 1.51 Wenn man jetzt in ein Hotel geht, was seit mehreren Jahren verlassen ist, hat sich die Servicedienstleistungsqualität und auch das Gesamtambiente etwas verändert. Nichts desto trotz passiert genau das, was man immer macht. Also, wir waren in einem alten Hotel, das die NVA früher benutzt hat, um ihre Offiziere einfach ein bisschen zu unterhalten. Wir gehen durch die Tür, und das erste, das wir gemacht haben, war, wir schauen uns um und gehen dann zu Rezeption. Wir haben uns da hingestellt, dann guckt man erstmal, natürlich kommt keiner, aber trotzdem hat man das Gefühl: Mal sehen, was passiert, wie man das eben so macht, wenn kein Rezeptionist da ist, man schaut: ach, da ist das Schlüsselbrett, da ist der Raum, wo die ihre Unterlagen haben, hier links geht's zu den Fahrstühlen, da hinten sind die Freizeitbereiche. Und genauso läuft's dann auch. Wir haben uns das Hotel angeguckt wie man sich ein Hotel anguckt. Ach, hier wurde gegessen, da wahrscheinlich nur gefrühstückt, hier ist ein Freizeitbereich, das sind Büroräume, die sehen nicht so schön aus, erkennt man direkt am Teppich und an der Wand, hier waren wahrscheinlich die Mitarbeiter untergebracht. Dann gehen wir uns jetzt einmal die Zimmer anschauen. Die Zimmer: genau dasselbe. Die waren auch in der Zwischenzeit hässlich. Weil genau die Toiletten alle zertreten waren. Merkwürdigerweise eine Geschichte, die ich immer faszinierend finde, die man aber nicht gerne hört, ist: sämtliche Toiletten in diesen Lost places sind benutzt. Ich habe keine Ahnung warum, aber es ist mir mal als Phänomen aufgefallen. Vielleicht kann mir das mal einer von den anderen Explorer Profis erklären: die sind benutzt, wenn sie nicht zertreten sind. Man denkt sich dann auch: ok, die Zimmer sind ein bisschen klein, die ein bisschen groß, die waren wahrscheinlich teuer, denn hier hat man einen tollen Ausblick oder sogar einen Balkon. Atmo Schritte, weggehen Autorin Manche Orte werden in der urbexer Szene geheim gehandelt. 20 Seb Ort geheim halten Man möchte ungern Leuten, denen man nicht vertraut irgendwie ne location bekannt geben, weil es sonst ansonsten sehr schnell um die location geschehen sein kann. Es wird sehr viel Schaden angerichtet von Jugendlichen, im Raum von Berlin ist es ganz stark zu beobachten. Deshalb schützt man die locations so gut es geht. Autorin Daher wird dieser Ort, eine leer stehende Getreidemühle im tiefsten Brandenburg, auch nicht näher lokalisiert. Und der junge urbexer, der sich mit einem Freund auf Entdeckungstour dorthin begeben hat, möchte ebenfalls anonym bleiben. 21 Seb. urbexen Das, was ich am urbexen schön finde ist, dass man in Ruhe Photos machen kann, dass man wirklich sich auf Motive einlassen kann, anders als bei der Straßenphotographie, wo man immer genau den richtigen Moment erwischen muss, weil ansonsten sind die Menschen weitergegangen. Beim urbexen kann man sich wirklich erstmal in den Raum begeben und ein Gefühl dafür kriegen, wie der Raum atmet. Man kann sich wirklich auf das Motiv einlassen, mehrere Anläufe versuchen, etwas experimentieren, was in vielen anderen Bereichen eingeschränkt möglich ist. Atmo Autofahrt Autorin Gerade sind sie in den kleinen Ort hinein gefahren. Dort fällt die Mühle gleich auf: Lagergebäude, Mehlspeicher und Wohnhaus des Müllers liegen direkt an der Straße. "Zu verkaufen" steht am Hauptportal. Atmo gehen im Gras Autorin Aber die beiden urbexer schleichen sich zum Hintereingang. Der Weg dorthin führt vorbei an einer Pferdekoppel, gesäumt von Pappeln, Kiefern, Disteln und Brennnesseln. Bald taucht das Gebäude auf. Weithin sichtbar prangt der Name der Firmengründer in rotem Backstein auf dem gelblichen Klinker. Baujahr: 1906. "Betreten verboten" warnt ein Schild an einer Absperrung. Der urbexer, der ungenannt bleiben möchte, und Stefan Bär, sein Freund, gehen auf ein großes Holztor zu. 22 Atmo Gehen und reinzwängen, und OT Stefan So, das Tor ist also offen, und wenn ich mich kleinmache, passe ich auch durch. Das ist so ein klassischer Fall, wo man nicht einbrechen muss, sondern einfach die Tür aufmacht und durch die Tür durchgeht. Autorin Licht fällt vom Deckenfenster in die Eingangshalle. Das Gebäude ist noch relativ intakt, allerdings sehr sanierungsbedürftig. Aber was für eine Wohltat: hier haben sich bisher weder Kabel- noch Schrottmarder, wie die Metalldiebe im Jargon der Urbexer heißen, ausgetobt, und die Wände sind frei von Graffiti. Rechts führt eine Treppe in die oberen Stockwerke. 23 St. Vorsicht Immer schön gucken, wo man hintritt. Gerade da, wo so Sachen drübergelegt sind, sollte man meistens einen Bogen drum rum machen. Treppen gehen wir immer allein, weil zwei Leute, da könnte einer zu schwer sein für die Treppe. Und dann immer mal gucken von unten an die Decke. Weil spätestens eine halbe Stunde ist man eine Etage höher. Und wenn man weiß, wie die Decke aussieht, weiß man auch, wo man hintreten sollte. Atmo Phototasche, Schritte Autorin Stefan Bär und sein Freund packen ihre Photoapparate aus, klemmen sich das Stativ unter den Arm und steigen in die erste Etage. Ein großer Raum, ausgefegt. In der Ecke hinten rechts befand sich früher die Werksatt. 23 b Stefan Werkstatt Da sieht man halt noch alte Gläser, da liegt noch ne Flasche Politur rum, hat mal 1,25 Mark gekostet, vom VEB Hydrierwerke Zeitz. Das sind dann so die kleinen Schätze, wenn man so was findet. Wenn man überlegt: den VEB gibt es sicher seit gut zwanzig Jahren nicht mehr, dann sieht das schon ganz lustig aus. Das kommt aus dem gleichen VEB, das ist Wasserpumpenfett, hat 1,65 Mark gekostet. Als würden morgen die Leute wieder zur Arbeit kommen. Das ist ja das Reizvolle an diesen Objekten, obwohl: wenn man hier sieht an die Decken, ist wahrscheinlich einiges montiert, verkauft worden. Aber es ist noch genug da, um gute Photomotive abzuliefern. Autorin An der Wand stehen noch graue Spinde, an die jemand einen großen Sack gelehnt hat. Alles wirkt, als wäre gerade Feierabend. Es hat etwas Magisches: wer durch das Tor eines verlassenen Ortes gegangen ist, begibt sich auf eine Zeitreise. 24 Seb. Müller noch da Man spürt fast noch, wie die Mühle funktioniert, man hört fast noch die Mühle mahlen, man kann sich noch plastisch vorstellen, wie der Müller hier mit dem Schraubenschlüssel durchgewetzt ist, weil ein Zahnrad blockiert ist. Man sieht zum Beispiel das Arbeitshemd vom Müller noch hängen und solche Sachen. Die ist noch gut in Schuss, und das ist halt der Reiz dieses Objekts. Musik 6 Interpret: Joel Harrison, Norah Jones Titel: I walk the line Komponist Johnny Cash LC-Nr.: 07644 Verlag: Black Angel Music Autorin Urahn der Urban Explorer soll der Franzose Philibert Aspairt sein, einst Pförtner des Pariser Krankenhauses Val de Grâce. 1793, während der Unruhen der Französischen Revolution, brach er immer wieder auf, um die Katakomben seiner Stadt zu erforschen. Eines Tages verlor er sich im Labyrinth der kilometerlangen Gänge. Erst elf Jahre später fand man seine Gebeine. Heute erinnert eine Gedenktafel im Pariser Quartier Latin an ihn. Musik 7 darauf Zitator Interpret: Nils Petter Molvaer Titel: Monocline revisited Komponist Nils Petter Molvaer LC-Nr.: 00699 Verlag: EAN-Nr. Emarcy Records 602527020419 Zitator "Zum Gedenken an Philibert Aspairt, in den Steinbrüchen verirrt am 3. November 1793, elf Jahre später gefunden, dank seiner Schlüssel identifiziert und an gleicher Stelle am 30. April 1804 begraben." Musikakzent hoch Autorin Die größten und ältesten "explorer communities" gibt es laut Internet in den USA - und in Australien. Dort gründeten 1985 mehrere Freunde den "caveclan", um die Kanalisation in Melbourne zu erforschen. Den Begriff "urban explorer" hingegen prägte 1996 ein Kanadier, Jeff Chapman, in seinem Magazin "Infiltration". Sein Ausspruch - "We're designed to explore and to play" bringt die Absicht auf den Punkt: nämlich den kindlichen Drang, unbekanntes Terrain zu erforschen, die Lust an der Grenzüberschreitung, auf ein Leben hinter dem Schild "Betreten verboten" 25 St. weltweit Also es gibt's weltweit umspannend, von den USA bis nach Japan, man findet Bildmaterial, man findet Leute. In den Foren, in denen ich aktiv bin, bei Facebook etc, da kommen die Leute aus der ganzen Welt. Es gibt halt überall Objekte, die dem Verfall preisgegeben sind, in Italien, in Belgien, in Frankreich, in den Niederlanden massenhaft Objekte, und so einen gewissen Dokumentationscharakter hat das Ganze ja. Es bleibt Bildmaterial von den Objekten, veröffentlicht im Internet, nicht nur von außen, auch von innen, die im Prinzip darstellen, wie es mal aussah. Atmo Schritte Autorin Stefan Bär ist jedes Wochenende mit Stativ und Kamera in stillgelegten Gebäuden unterwegs. Leer stehen sie, weil sie keinen Profit mehr versprechen. Und deshalb sind sie attraktiv: in einer erforschten Welt, in der alles markiert und ausgezeichnet ist, werden die einst vergessenen lost places plötzlich entdeckt. Sie dienen mal als Kulisse für Photoshooting, mal als Location für Modeschauen und sind das Paradies einer wachsenden Zahl von urban explorern. Bradley L. Garrett, Geograph und selbst urbexer aus London, hat die These aufgestellt, dass urban exploring eine Reaktion sei auf die - Zitat: "zunehmende Überwachung und Kontrolle des öffentlichen Raums". Stefan Bär widerspricht. 26 St. Überwachung Wir haben in Deutschland momentan noch nicht das Problem, dass zuviel überwacht wird, dass man es aus Anarchiegründen oder dass es Kampf gegen das System ist, nur weil man überwacht wird. Wir sehen das doch als Hobby an. Der dokumentarische oder der photographische Aspekt, der überwiegt doch größtenteils. Atmo Photoklick Autorin Und wieder zurück in die brandenburgische Mühle. Deren letzter Inhaber wohnt noch im Dorf. Ins Mikrophon möchte er nicht sprechen, es wühle ihn zu sehr auf. Aber er erzählt: seine Vorfahren, deren Namen noch an der Mühle prangen, erbauten die Anlage vor über hundert Jahren. Bis 1972 war die Familie selbständig, dann wurde der Betrieb zum VEB umgewandelt, und ging 1990, nach der Wende, wieder in den Besitz der Familie über. Noch neun Jahre versuchten der Müller und seine Mitarbeiter, den Konkurs aufzuhalten. Aber vergeblich. Ein Rumäne kaufte 1999 die Mühle, schaffte die Maschinen nach Rumänien und versucht seitdem, das Gebäude zu verkaufen, in dem er es als zukünftiges Hotel anpreist. Was einst der Stolz seiner Besitzer war, liegt nun danieder. Welch ein Einschnitt in Biographien, welch ein Verlust an Bausubstanz! 27 St. Geschichte Wehmut Die Geschichte ist immer ein besonderer Bestandteil des Ganzen. Man möchte schon immer wissen, wie alt ist es etwa, was ist hier früher vorgegangen. Das macht ja die Atmosphäre von den Objekten aus. Wenn man es meistens nicht gleich weiß, weil es Spontanobjektbesuche waren, dann recherchiert man gern im Nachhinein darüber und ist doch sehr erstaunt. Was dann meistens so mitkommt, ist eine Art Wehmut, wenn man sieht, dass diese Gebäude oder Zeugnisse der Geschichte verfallen oder vom Erdboden getilgt werden. Autorin Stefan Bär und sein Freund sind gut fünf Stunden in der Mühle unterwegs. In Gedanken versunken geht jeder seiner Wege. Der eine photographiert verstaubte Siebe, auf die ein Sonnenstrahl fällt, der andere hat in der Werkstatt alte Gläser, Polituren und Ersatzriemen entdeckt, lichtet ab, arrangiert die Einzelteile neu wie für ein Stillleben. Außer dem Klicken der Photoapparate, dem Rauschen des Windes, der vor der Mühle durch die Linden weht, und gelegentlichen Schritten auf dem Holzboden ist nichts zu hören. 28 St Urlaub Es ist ein kleiner Urlaub, absolut. Also man fährt irgendwo anders hin, man guckt sich was anderes an, man entdeckt was, also ein bisschen Spannung ist dabei. Man macht ja üblicherweise am Anfang so einen kleinen Rundgang, guckt sich das an und dann hat man meistens die Bilder im Kopf, die man so ablichten will. Und dann sitzt man meistens davor, es dauert ja so eine Minute, bis so eine Belichtungsreihe durch ist, manchmal ein bisschen länger und dann sortiert man schon die neuen Motive so im Kopf, was man noch machen könnte. Man beschäftigt sich einfach mal mit was ganz anderem Atmo Photoklick geht über in geht über in Musik 8 Interpret: Beoga Titel: Mary danced with soldiers Komponist Paul Kennerley LC-Nr.: 10335 Verlag: Aviva Records Schritte kommen, dann Musik 3: Ry Cooder "Define Violonce" 29 Hoe Kummersdorf Atom, 2.06 Für mich historisch einer der faszinierendsten Lost Places ist die Heeresversuchsanstalt in Kummersdorf. Autorin so der Komiker und Buchautor Bernhard Hoecker. 29 Hoe Kummersdorf Atom, 2.06 Das ist ein Gelände, auf dem schon zu Kaisers Zeiten - ich will mich da nicht festlegen, welcher Kaiser das genau war, - die ersten Kanonen getestet wurden. Die ist auf jeden Fall erhalten geblieben bis Anfang der neunziger Jahre, als die Russen gegangen sind und wurde immer militärisch genutzt. Da gibt es zwei Dinge, die ich gesehen habe, die mich im Innersten packten. Das eine ist eine Stelle, wo Wernher von Braun seine ersten Raketentriebwerke getestet hat, bevor er dann nach Peenemünde gegangen ist. Ebenfalls in Kummersdorf haben wir, ja, wir sagen immer, das erste Atomkraftwerk der Welt gesehen. Das stimmt natürlich nicht ganz. Es war die erste Anlage, bei der mehr Neutronen bei einer atomaren Kettenreaktion herausgekommen sind als man reinstecken musste. Das klingt sehr physikalisch, ist aber im Wald nur noch ein kleiner Hügel mit einem würfelförmigen Betonbecken, was man da findet. Und wenn man sich überlegt, dass sich hier so etwas ähnliches wie eine atomare Kettenreaktion wie in einem Atomkraftwerk angebahnt hat, ist das sehr faszinierend, vor allem wenn man sich überlegt, wie lange Radioaktivität hält. Wir haben uns natürlich im Vorfeld informiert. Das ist alles durchgemessen, man ist da relativ ungefährdet, man soll nur nicht die Erde essen, was wir natürlich nicht gemacht haben. Und das besondere war: wir drehen uns dann um und dahinter liegt ein kleiner See, einfach nur eine Wasseransammlung. Es war so faszinierendes Licht, wo ein leichter Nebel über diesem See liegt, und wir hatten für einen kurzen Moment so das Gefühl, eine atomar radioaktiv mutierte Monsterfigur kommt jetzt gleich aus diesem See heraus. Man sieht dann erst die Augen, dann den Kopf und am Schluss diese Hand, die das letzte ist, was man sieht, weil sie einen natürlich greift und dann in die Fluten zieht. Atmo Schritte, weggehen Atmo Photo 30 M Waschbecken Oh, hier noch komplett mit diesen Plastikwasserhähnen. Das ist halt selten. Meistens wird so was zuerst zerschlagen, weil es aus Porzellan ist, aber hier ist noch komplett alles dran. Aber das Wasser ist abgestellt. Schade. Autorin Vor kurzem hat Marc Mielzarjewicz ein stillgelegtes Azethylenwerk in Halle besucht. Eine Tafel am Eingang verkündet: "Null Unfälle - ein Ziel, dass sich lohnt. Unser Werk ist unfallfrei seit .... Tagen". Die Uhr in der zentralen Empfangshalle ist um 15.50 Uhr stehen geblieben, kurz vor Feierabend. Ins Bürogebäude, einen nüchternen Flachdachbau, ist der Photograph durch das halb geöffnete Fenster eingestiegen. Alles wirkt, als sei es gerade verlassen worden, wären da nicht die Staubschicht, die über allem liegt, und die vertrockneten Blumen auf den Fensterbänken. 31 Marc Fundstücke Hier hängt ein Kalender aus dem Jahre 1998. Uns kann man nicht entlassen. Sklaven müssen verkauft werden. Auch ein interessanter Spruch. Und hier viele Aufkleber: Achtung. Enthält Asbest. Gesundheitsgefährdung bei Einatmung von Asbest. Steinstaub. Autorin Auf dem Tisch liegt ein deutsches Boulevardblatt vom 29. November 1995. Die Schlagzeilen: "Thoelke so müde, Matthäus: Lolita zog aus, Tragödie in Leipzig: Wiener an Schnitzel erstickt". Hier ist die Vergangenheit noch allgegenwärtig, und wenn das Telefon plötzlich klingeln würde - verwunderlich wäre es nicht. Aber ein wenig gruselig. Das sind die Touren zu den verlassenen Orten hin und wieder, gibt auch urbexer Stefan Bär zu. 32 St Tote Wovor ich wirklich mal Angst habe ist, dass ich irgendwo einen Toten finde, jemand der sich irgendwo im Dachstuhl erhängt hat und da noch hängt. Also tote Mäuse, ne tote Ratte oder 'nen toten Fuchs, der schon mumifiziert ist, findet man in den Gebäuden. Da gruselt man sich. Andererseits gibt es wieder ein cooles Motiv. Aber einen toten Menschen möchte ich nicht finden. Da hat man schon Geschichten gehört von anderen. Es gibt ja das besagte Kasernengelände, wo sich schon mal einer erhängt hat, ist reingegangen, hat sich seinen Strick gebastelt, ist auf 'nen Stuhl gestiegen und hat sich da erhängt. Der hing halt noch und wurde von urbexern entdeckt. Autorin Auch bei den Teilnehmern der Phototouren von go2know kommen manchmal mulmige Gefühle auf. 33 Jan/Peer Unheimlich Auf jeden Fall, wenn man einen trifft, der dann so steht, wenn man reinkommt und man hört dann die Schritte, dann ist das ein bisschen unheimlich, gerade da, wo es so dunkel ist. Allein würde ich jetzt auch sein, ich bin ganz froh, dass sie dabei ist. Weil ganz oben sind so zwei Stiefel angeordnet, was ich jetzt nicht photographiert habe, aber was am spannendsten ist, wo ne Decke drüber liegt und man sich sagt: Da liegt doch einer. Musik 9 Titel: Don't even know she got one Interpret: Ry Cooder Komponist: Ry Cooder Label: Outpost Records LC-Nr.: 07266 Atmo Photo Autorin Auf der go2know Tour durch die Berliner Fleischfabrik sind zwar alle Teilnehmer als Gruppe auf dem Gelände gestartet. Aber das ist so weitläufig, dass man schnell die Orientierung verliert und sich bald allein in den Gängen oder Treppenhäusern wiederfindet. go2know: das ist wie urban exploring light. Wer sich aufmacht, stillgelegte Areale aufzusuchen, sollte, so eine der Faustregeln, nie allein unterwegs sein. Zu schnell kann man ein Loch im Boden übersehen und stürzen. Bei go2know aber spüren Andreas Böttger und seine Crew verlorene Teilnehmer schnell wieder auf. 34 An Labyrinth Wir haben ja schon solche Mechanismen entwickelt, dass ich meine Leute wiederfinde. Das hat halt viel mit Rennerei zu tun. Autorin Die Phototour in der Fleischfabrik neigt sich dem Ende. Nach und nach kommen alle aus irgendwelchen Toren und Türen hervor. Jan, für die Tour extra aus Hannover angereist, ist sichtlich müde. 35 Jan 300 Photos Es ist wahnsinnig groß. Ich hab nicht damit gerechnet, dass noch so viel Innenleben ist, dass so viel rum steht. Wahnsinn. Dreihundert Photos werden das wohl werden. Autorin Auch Edith aus dem Fränkischen ist mit dem Tag zufrieden. 36 Edith London Ich spür's auch schon in den Beinchen. Aber der Einsatz lohnt sich, es ist wirklich toll. Ich hab ein paar Jahre in London gelebt, und da habe ich das auch gemacht. Da gab es eine Fernsehserie: "Disappearing London". Und der ist dann jede Woche in irgendeine Ecke und hat dann solche Sachen ausgegraben. Und da bin ich dem hinterher und hab mir das angesehen. Und da hab ich so viele Bilder gemacht, und ein Jahr später war alles weg. Aber man hat es noch gebannt. Autorin Der Komiker und Buchautor Bernhard Hoecker hat inzwischen auch viele Lost Places aufgespürt und gebannt. Bei einem holte ihn seine Familiengeschichte ein. Schritte kommen dann Musik 3: Ry Cooder "Define Violonce" 6 Maginot kurz 1.38 Ein Großteil der Lost Places sind natürlich militärische Anlagen, was eigentlich ein gutes Zeichen ist, weil es heißt, sie werden nicht mehr benutzt. Gerade auf französischer Seite gibt es diese legendäre Maginotlinie, eine große Verteidigungslinie gegen die damals bösen Deutschen. Da sind die Bunkeranlagen teilweise noch erhalten, wenn auch nicht so ohne weiteres zugänglich. Und da bin ich auf eine gestoßen, das war eine Verteidigungsstellung, wo 400 französische Soldaten etwa sieben bis acht Geschütztürme bedient haben. Diese Anlage liegt acht Stockwerke unter der Erde. Man geht erst ein langes Treppenhaus nach unten und stellt dann fest, dass man zwanzig Minuten gehen kann, ohne dieses Gebiet zu verlassen, weil man immer noch in dieser großen Bunkeranlage ist, die sich über mehrere Kilometer erstreckt. Wir haben das Glück gehabt, in einen der Geschütztürme zu treffen, wo man noch rein kann, wo man auch mal einem Hebel zieht und denkt, das war wahrscheinlich der Auslöser für die Kanone. Irgendwann kam dann in mir die Vorstellung, dass mein eigener Opa, der war an der Frankreichfront stationiert. Und die Vorstellung, dass mein eigener Opa auf der anderen Seite dieses Bunkers stand und von diesem Bunker aus beschossen wurde und den dann, die Franzosen werden sich nicht so gern daran erinnern, aber überrannt hat. Und weil diese Bunkeranlagen so schwer einzunehmen waren, die haben die einfach liegengelassen, gar nicht eingenommen und die nicht rausgelassen, bis sie sich dann irgendwann selber ergeben haben. Aber dass mein Opa Teil dieser andere Seite war, lässt einen doch recht nachdenklich werden. Atmo Schritte, weggehen Autorin Urban exploring: die meisten lässt es nicht mehr los. go2know bereitet neue Touren zu verlassenen Orten vor, Marc Mielzarjewicz klettert für sein nächstes Photobuch über wackelige Zäune und recherchiert, und Stefan Bär verrät nur Insidern, wo sie am besten eine Zeitreise in die Vergangenheit machen können. Auch Bernhard Hoecker wird seinem Entdeckerdrang treu bleiben. Die Orte werden verschwinden. Was bleibt, sind die Bilder. Und die Erinnerungen. Sprecher über Kennmusik Schönheit im Verfall Vom morbiden Charme stillgelegter Industrielandschaften Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Susanne von Schenck Ton: Ralf Perz Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012 Manuskript und eine Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de