COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 15. August 2011, 19.30 Uhr Mitmachen. Die Bürger wollen mehr politische Teilhabe. Von Adolf Stock Atmo: Demo Take 1: (Wolfgang Gessenharter) "Diese Situation, die wir im Augenblick haben, der Wutbürger und so weiter, das ist natürlich genau die Reaktion darauf, dass eben in den letzten Jahren viel schief gelaufen ist, und dass eben insgesamt nach wie vor noch nicht verstanden wird, wie Bürgerbeteiligung eigentlich wirklich laufen sollte." Sprecher vom Dienst: Mitmachen. Die Bürger wollen mehr politische Teilhabe. Eine Sendung von Adolf Stock Atmo: Demo Sprecher: Berlin, 26. März 2011. Einen Tag vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sind in Berlin 120 000 Menschen auf der Straße, um für den Atomausstieg zu demonstrieren. Angesichts der Reaktor-Katastrophe in Japan protestieren die Atomkraftgegner. Den vielen Demonstranten geht es nicht nur um eine Sachentscheidung - Atomkraft?Ja! oder Atomkraft? Nein danke! - es geht ihnen auch um die politische Kultur in Deutschland. Die Aktion zeigt, wie tief der Graben zwischen Volk und Politik geworden ist. Am Potsdamer Platz ist das ganze bürgerliche Spektrum auf den Beinen, und so spürt auch SPD-Chef Sigmar Gabriel den rauen Gegenwind aufgebrachter Bürger. Take 2: (Sigmar Gabriel) "Sie haben eine Distanz zur Partei, das glaube ich darf man nicht übersehen. Das Misstrauen gegenüber den politischen Parteien auch hier auf der Demonstration ist ja groß, nach dem Motto: Macht Ihr eigentlich auch das, was Ihr versprecht? Und Sie erleben ja, dass selbst im Spiegel in einem Bericht geschrieben wird: Frau Merkel erklärt die Wende in der Atompolitik, und das Parlament nimmt es unkritisch zur Kenntnis, obwohl im Parlament die Hälfte des Parlamentes ganz anderer Meinung war. Also die Leute unterscheiden nicht mehr zwischen den Parteien, sondern sagen generell die Politik, das ist ein Problem, glaube ich." Sprecher: Einen Tag später sprechen die Wahlergebnisse in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz eine ganz andere Sprache. Da können die Bürger sehr wohl zwischen den Parteien unterscheiden, und sie haben mit ihrer Wahl nachhaltig Noten verteilt. Im Stuttgarter Landtag gibt es nun den ersten grünen Ministerpräsidenten der Republik. Bürgerprotest stößt bei der etablierten Politik oft auf wenig Gegenliebe. Viele Parlamentarier können es nicht verstehen, dass Menschen die repräsentative Demokratie lautstark kritisieren, weil sie sich von den gewählten Volksvertretern nicht genügend vertreten fühlen. Zumal die Verwaltungen, die Beschlüsse der Politik umsetzen müssen, häufig unzugänglich sind und mit betroffenen Bürgern nicht diskutieren wollen. Der Berliner Heiner Funken ist seit zehn Jahren in Bürgerbewegungen aktiv. Als eine verkehrsberuhigte Straße im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg für den Kundenverkehr eines Supermarkts geöffnet werden sollte, fing er an sich zu wehren. Heute engagiert sich Heiner Funken in einer Bürgerinitiative für den Mauerpark auf der ehemaligen Grenze zwischen Ost- und West-Berlin. Take 3: (Heiner Funken) "Meine Erfahrungen mit den Verwaltungen sind, dass man unser Engagement nicht schätzt, sondern es fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Es ist nicht beliebt, und es liegt in aller erster Linie daran, dass es ein Alleinstellungsmerkmal gibt, dass es zu verteidigen gilt. Die Verwaltung und die Politik möchten diejenigen sein, die entscheiden und umsetzen. Und wir möchten ja nicht nur irgendetwas umsetzen, wie zum Beispiel einen Baum pflanzen, sondern wir möchten auch entscheiden. Und das ist nicht gefragt." Effekt Sprecher: Doch die Zeiten ändern sich. Wir leben in einer Zeit, in der die Politik der nützlichen Entpolitisierung des Volkes vor dem Scheitern steht, schreibt der Philosoph Peter Sloterdijk in seinem Essay Letzte Ausfahrt Empörung Zitator: "In der repräsentativen Demokratie werden Bürger in erster Linie als Lieferanten von Legitimität für Regierungen gebraucht. Deswegen werden sie in weitmaschigen Abständen zur Ausübung ihres Wahlrechts eingeladen. In der Zwischenzeit können sie sich vor allem durch Passivität nützlich machen. Ihre vornehmste Aufgabe besteht darin, durch Schweigen Systemvertrauen auszudrücken. Warum nur können die Leute mit einem Mal nicht auf den ihnen zugedachten Plätzen ruhig halten? Wieso ist auf ihre systemrelevante Lethargie kein Verlass mehr?" Sprecher: Die Bürger geben keine Ruhe mehr, und in ihrem Aufbegehren drückt sich ein tief empfundenes Misstrauen aus. Sie vermissen Transparenz und sie hegen den Verdacht, die politischen Entscheidungen werden nicht im Parlament getroffen, sondern ganz woanders, in Expertenkommissionen, in den Chefetagen der großen Unternehmen oder im Konsens mit fleißigen Lobbyisten, die die Parlamentarier immer mehr bedrängen. Effekt Wie man es nicht machen sollte, lässt sich an Stuttgart 21 studieren. Die jahrzehntelange Planung eines unterirdischen Bahnhofs geriet zum Desaster, weil sich die Bürger der baden-württembergischen Landeshauptstadt am Ende von der Politik übergangen fühlten. Ulrich Bielefeld von Hamburger Institut für Sozialforschung staunt bis heute, dass der Bürgerzorn in Stuttgart so massiv werden konnte. Take 4: (Ulrich Bielefeld) "Warum denn eigentlich ein Bahnhof? Warum denn an diesem Punkt und nicht an diesem? Da muss man dann immer sehr genau hinschauen, und dann wird das auch mit dem Bahnhof ganz gut verständlich, weil da die Verschwendung von Geldern kam, dann die unterschiedlichen Interessen, die Bodenspekulation kamen. Wer gewinnt denn da eigentlich? Wo bleibt dieses Ganze? Und da war dann das Misstrauen groß, und dann konnte man das verallgemeinern auf ein Demokratieproblem." Sprecher: Als sich Ulrich Bielefeld mit Stuttgart 21 zu beschäftigen begann, hat er eine interessante Entdeckung gemacht. Take 5: (Ulrich Bielefeld) "Man ist vor allen Dingen auf Literatur gestoßen, die entweder romantisierende Bahnhofsvorstellungen macht oder aber eine bestimmte Kritik der Gesellschaft betreibt, die eine bestimmte Kritik der Formen der Beteiligung in demokratischen Gesellschaften betreibt. Und ich war überrascht, dass ich doch den deutlichen Eindruck hatte, hier wird um einen Bahnhof gekämpft und um ein bestimmtes Konzept des Bahnhofs, aber es geht in Wirklichkeit um mehr, es geht um die Verhandlung dessen, wie wir uns als demokratische Gesellschaft verstehen wollen." Sprecher: Bei Bürgerprotesten, so Heiner Funken, geht es nie nur um Sachthemen, die Bürger wollen auch ernst genommen werden, sie wollen mitreden und mitentscheiden. Take 6: (Heiner Funken) "Dieses Nicht-gefragt-werden, dieses Nicht-gehört-werden, das ist das, was sozusagen die Anfangsmunition ist, die so was überhaupt erst ins Rollen bringt. Was ein weiterer Punkt ist, wenn man bei diesen Gesprächen herausfindet, dass es am Ende ein schönes buntes Faltblatt gibt, in dem drinsteht, danke für die rege Beteiligung und was weiß ich was alles, leider konnten wir nichts davon gebrauchen. Das ist, was ebenfalls großen Ärger gibt." Take 7: "Uns geht es auch um ein Verständnis von Basisdemokratie ..." Sprecher: ..., sagte einer der Demonstranten vor dem Bauzaun in Stuttgart. Die erbosten Bürger verlangten, mit dem Bahnhof und den Gleisen oben zu bleiben. Die Demonstranten sehen sich moralisch im Recht. Solche Befindlichkeiten lassen sich nicht verkehrstechnisch lösen. Zornig waren nicht nur die Aktivisten, zornig waren auch die vielen Zuschauer, die den Verlauf der Proteste und das Verhalten von Bahn und Politik landesweit aufmerksam begleiteten. Es ist ein wacher, emanzipierter Zuschauer, sagt der Soziologe Ulrich Bielefeld, ein Zuschauer, der sich bei der erstbesten Gelegenheit als Mitglied einer Bürgerinitiative, als Demonstrant oder als Wähler auf der politischen Bühne zeigt. Take 8: (Ulrich Bielefeld) "..., der die Fähigkeit hat, zu reflektieren, der aber nicht, das gibt es ja auch, es gibt den Engagierten, der selber Bahnhofsexperte wird, der weiß genauso viel wie der Beauftragte der Bundesbahn und sagt: Du hast falsche Zahlen. Das sind Ausnahmeerscheinungen, das sind Expertengespräche. Der engagierte und emanzipierte Zuschauer ist kein Experte, aber er bildet sich dennoch eine Meinung, und diese Meinung ist auch nicht falsch, aber sie ist keine nur zum Bahnhof, sondern die ist auch eine zu Verfahren, Beteiligung, Wahlen und davon zu sagen, wir müssen wie auch immer gehört werden." Sprecher: Diese Bürger wollen verstehen, wie politische Entscheidungen zustande kommen. Sie fordern Offenheit und Transparenz und sie registrieren genau, was die Debatte um einen Bahnhof über den Zustand unserer Gesellschaft erzählen kann. Schon in den 1970er Jahren hat der Kölner Soziologe Helmut Klages, die Figur des aktiven Realisten beschrieben. Für Konfliktforscher Wolfgang Gessenharter ist der aktive Realist nach wie vor ein Vorbild mit einem großen Zukunftspotential. Take 9: (Wolfgang Gessenharter) "Dieser aktive Realist, das ist kein Himmelsstürmer, das ist einer, der in der Tat ein Realist ist, der mitmachen möchte, der sich einbinden lassen möchte, aber eben nur kurzfristig; der kein Parteifunktionär sein will, und der zum Beispiel auch für seine Mitwirkung ein Setting braucht, in dem es ihm Spaß macht. Und was jetzt das Bedeutsame ist, bei den Jugendlichen wie bei den Erwachsenen stellen wir fest, dass das durchaus ein gutes Drittel der Bevölkerung ist." Sprecher: Die Berlinerin Rita Rottger gehört zu dieser Gruppe, die wenn es darauf ankommt in ganz unterschiedlichen Rollen ihre Meinung öffentlich vertritt. Take 10: (Rita Rottger) "Alles zu seiner Zeit ist richtig, denke ich. Gutbürger ist manchmal richtig, Chaot ist auch manchmal richtig und Wutbürger auch. Es kommt auf die Situation an." Atmo Sprecher: Manchmal braucht es auch einen langen Atem und eine gehörige Portion Durchsetzungsvermögen, um das Ziel zu erreichen. Mit dem Reaktorunfall in Japan stand die Atomkraftdebatte plötzlich wieder ganz oben auf der Tagesordnung. Fukushima hat auch Theo Schutt wieder auf die Straße getrieben. Take 11: (Theo Schutt) "Vorhin in der S-Bahn hab ich gesagt, ich hätte mir nicht glauben trauen, dass ich heute noch kurz vor der Rente genauso gegen Atomkraft demonstrierte wie vor 35 Jahren. Ich habe gedacht, das wäre schon vorbei." Sprecher: Die Frage Atomkraft ja oder nein lässt sich nicht moderieren. Anders als bei einem Bahnhof geht es bei Atomkraftwerken um eine existenzielle Frage, die das Verhältnis von Leben und Tod betrifft. Ganz allgemein ist Heiner Funken bei Moderationen eher skeptisch. Take 13: (Heiner Funken) "Es ist sehr häufig nur ein rhetorischer Trick, und das ist das, was uns dann auch nervt, wenn wir erkennen, dass es Augenwischerei ist. Aber manchmal hat man trotzdem die Möglichkeit, diese Augenwischerei doch noch in was Besseres umzuwandeln, das ist aber selten." Effekt Sprecher: Nicht jeder Konflikt ist verallgemeinerbar. Oft sind es partikulare Interessen, die sich als Bürgerwillen tarnen. Knut-Bürger statt Wutbürger. Was soll man davon halten, wenn aufgebrachte Tierfreunde auf die Straße gehen, weil sie nicht wollen, dass Knuddel-Eisbär Knut ausgestopft wird? "Ausstopfen? - Nein danke!", war auf einem Plakat einer entrüsteten Demonstrantin zu lesen. Statt Knut solle man doch lieber den Zoo-Direktor ausstopfen. Es ist wichtig, zwischen subjektiven Befindlichkeiten, dem Gemeinwohl und Partikularinteressen zu unterscheiden. Der Soziologe Ulrich Bielefeld erinnert sich noch an einen Bürgerprotest im Hamburger Stadtteil Blankenese. Take 14: (Ulrich Bielefeld) "In Hamburg gab es zum Beispiel die Flugbahn von Airbus, die gebaut wurde auf der anderen Seite der Elbe, wo in Blankenese die reichen Hamburger wohnen. Und auf einmal haben die reichen Hamburger eine Bürgerinitiative gemacht, die ansonsten nichts damit zu tun haben, weil sie fürchteten, dass ihre Villen einen Verlust, einen Vermögensverlust hatten durch den Fluglärm. Und das sind Betroffenengeschichten, das war aber nicht verallgemeinerbar. Kein Mensch hat sich diesem Protest, außer einigen Bürgern dort, angeschlossen, und man muss immer die Verallgemeinerbarkeit suchen." Sprecher: Wer meldet sich wann zu Wort? Und wer ist überhaupt berechtigt, die Meinung der Bevölkerung zu repräsentieren? Wolfgang Gessenharter sieht das pragmatisch. Take 15: (Wolfgang Gessenharter) "Immer dann, wenn irgendwelche Vorhaben laufen, die über, was weiß ich, jetzt über Begradigung irgendeiner krummen Straße hinausgehen, dann wird ja das Umfeld von Bürgerinnen und Bürgern in irgendeiner Weise tangiert. Und wer ist Experte für dieses Umfeld? Das sind ausschließlich diejenigen, die mit diesem Stück Erde zu tun haben. Sprecher: Heiner Funken sieht das auch so und fordert deshalb den direkten Dialog zwischen Bürgern und Verwaltung. Take 16: (Heiner Funken) "Gerade Verwaltung und Bürger müssen miteinander reden können, denn auch die Verwaltung, die Leute, die das im jeden Detail geplant haben oder mit den Ingenieurbüros zusammenarbeiten, die das in jedem Detail planen, die sind genauso dicht an dem Projekt dran, wie der Bürger, der da wohnt. Deshalb ist das viel besser, wenn die miteinander reden, als wenn da irgendwelche Moderationsbespaßungsfirmen zwischengeschaltet werden. Die müssen ja erst einmal ins Thema kommen, wir haben es schon erlebt, dass die nicht mal die Straßennamen kannten." Sprecher: In unserer Demokratie entscheiden die gewählten Volksvertreter. Doch wie und unter wessen Einflussnahme ihre Entscheidungen zustande kommen, wird immer dringlicher hinterfragt. Oft entsteht der Eindruck von Klüngelei, sagt Ulrich Bielefeld. Take 17: (Ulrich Bielefeld) Die komplexen Verfahren sind schwer durchschaubar, auch wenn sie legitim, rechtlich eindeutig laufen. Die rein numerische Mehrheit, die bei Wahlen immer wieder festgestellt wird, sind einfach nur Formen, Entscheidungen zu finden, also ja oder nein zu sagen, und das reicht nicht mehr aus und das ist erst einmal die Struktur, die die Sache heute hat." Sprecher: Moderationen sind oft der letzte Ausweg. Sie finden erst statt, wenn das Kind längst in den Brunnen gefallen ist. Take 18: (Heiner Funken) "Oftmals schlägt es bei uns ja erst in allerletzter Sekunde auf, eigentlich schon zu spät, wenn alle Messen gelesen sind, wenn es heißt von der normalen stadtplanerischen Abfolge: Hier geht sowieso nichts mehr. Dann klingelt bei mir auf einmal das Telefon, und die Leute sagen, da müssen wir doch was machen, und dann muss man eben mit den asymmetrischen Auseinandersetzungsformen versuchen, das doch noch zu verhindern." Atmo Stuttgart/Polizei-Demonstranten Sprecher: Um sich Gehör zu verschaffen, blieb den Stuttgarter Bürgern gar nichts weiter übrig, als zu unkonventionellen Mitteln des Protests zu greifen. Ihre Wut wurde so groß, dass Heiner Geißler als Schlichter gerufen wurde. Atmo Schlichtung Sprecher: Nach dem Schiedsspruch gab der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus zu Protokoll. Zitator: "Das Land, wir alle verdanken Heiner Geißler, dass man wieder normal und anhand von Fakten sachlich diskutieren kann." Sprecher: Heiner Geißler war ein ehrlicher Makler, doch das Ergebnis der Schlichtung geriet nicht zur Freude der Bahnhofsgegner. Aber auch die Streiter für das Bahnhofsprojekt mussten insoweit Federn lassen, als sie zu öffentlicher Kommunikation und Transparenz gezwungen wurden. Für Ulrich Bielefeld ist Stuttgart 21 das Paradebeispiel für einen moderierten Kompromiss. Take 19: (Ulrich Bielefeld) "An sich geht es gar nicht so sehr darum, diese Entscheidung zu treffen, sondern es geht darum, wie wir uns das gesellschaftliche Ganze vorstellen und ob wir glauben, dass es richtig dargestellt wird und ob wir uns darin wiederfinden. Und wir wollen jetzt auch daran mitwirken. Und der Bahnhof muss am Ende wenigstens verändert gebaut werden. Er muss wenigstens anders aussehen, nicht so wie er geplant war, aber auch nicht so, wie die Bewegung das wollte. So ähnlich wird ein demokratischer Prozess laufen, so teuer ist die Demokratisierung der Demokratie." Sprecher: Das klingt reichlich abstrakt und abgeklärt. Wolfgang Gessenharter ist näher dran. Er hat mehrfach Konflikte moderiert und er hat eine klare Vorstellung, was ein Vermittler leisten muss. Auf jeden Fall ist es wichtig, dass sich die Kontrahenten auf Augenhöhe begegnen können. Take 20: (Wolfgang Gessenharter) "Es kann doch nicht angehen, dass der Statiker plötzlich herabschaut auf den Verkehrsexperten oder so. Es kann nicht angehen, dass da irgendein, was weiß ich, ein Ökologe anders angesehen wird als einer, der Architekt ist oder sonst irgendetwas. Und genauso kann es nicht angehen, dass diejenigen, die als einzige das Recht haben, wirklich aufgrund ihrer Gegebenheit, aufgrund ihrer Rolle als Bürger hier, dass die plötzlich anders angesehen werden sollen. Und deren Wissen wird gebraucht, denn letztlich sind es ja immer Gelder, wenn es nicht private Gelder sind, dann sind es ja immer Gelder, die eben auch von den Bürgern erarbeitet worden sind, und da wollen sie natürlich selbstverständlich mitreden." Sprecher: Doch nicht nur der Diskussionsrahmen muss stimmen, auch die Ergebnisse der Gespräche müssen am Ende nachhaltig und konsensbildend sein. Take 21: (Wolfgang Gessenharter) "Als die Messe in Hamburg, die innerstädtische Messe modernisiert werden sollte, da ist durch diesen sehr unruhigen und eher linken Stadtteil St. Pauli und so weiter, Sternschanze, ist ein Aufschrei der Entrüstung gegangen. So einen kapitalistischen Scheiß wollen wir nicht haben, weg mit der Messe nach außen." Sprecher: Im Jahr 2000 wurde Wolfgang Gessenharter gebeten, den Konflikt mit den Anwohnern zu moderieren. Take 22: (Wolfgang Gessenharter) "Ich kann mich noch sehr genau erinnern, dass ich damals den Wirtschaftssenator gefragt habe, wieso er mich eigentlich engagieren will, und da hat er mir ganz schlicht und ergreifend gesagt, eine zweite Finkenwerder-Landebahn, wie bei Airbus, so etwas können wir uns nicht mehr erlauben. Ich habe ihm damals gesagt, für mich ist wichtig, dass ich mich gegebenenfalls gegen eine widerständige Verwaltung mit seiner Hilfe durchsetzen kann, und dass ich nicht die Bürgerinnen und Bürger auf eine demokratische Spielwiese führe, denn das ist etwas, was ich auf gar keinen Fall zulassen würde, und wenn es dazu käme und ich auch nur den Ansatz sehen würde, würde ich und da habe ich ihm gesagt, da kann ich einen Aufstand machen, dann würde ich mit Aplomb diese Geschichte beenden für meinen Teil." Sprecher: Nicht alle Gespräche werden entsprechend ernsthaft geführt. Heiner Funken kennt auch ganz jämmerliche Moderationen. Take 23: (Heiner Funken) "Dann kommt eine Moderationsfirma, die wird dem Bürger im schlechtesten aller Fälle auch noch vorgesetzt, nicht mit ihnen gefunden. Die hat einen Auftrag und in diesem Auftrag muss die sich bewegen, in diesem Auftrag können die Gespräche stattfinden. Rechts und links davon können gar keine Gespräche stattfinden. Das heißt, den Radius der Gespräche bestimmt der Auftraggeber, in diesem Fall immer die öffentliche Hand. Und darin kannst du dann deine Sandkastenspiele machen, das führt zu Wut und Zorn." Effekt Sprecher: Unsere kleineren Nachbarn, Dänemark, Schweden, die Niederlande oder die Schweiz, gehen seit langem andere Wege. Sie wissen, dass ihre Bürger rechtzeitig gefragt werden wollen, und sie wissen auch, dass Bürgerbeteiligung nicht am Ende, sondern am Anfang der Planung stehen muss. Volker Roscher, Geschäftsführer des Hamburger Bunds Deutscher Architekten, lenkt den Blick auf mentale Unterschiede zwischen Deutschland und Schweden. Take 24: (Volker Roscher) "Ich habe ja mal den Chefplaner von Stockholm gefragt, wieso ist das eigentlich so, dass ihr erst einmal gemeinsam reden wollt? Und hat das vielleicht damit zu tun, dass ihr von den Wikingern abstammt, dass ihr alle in einem Ruderboot sitzt, und ihr müsst einfach rudern, sonst geht ihr unter? Und da hat er gesagt, so ganz falsch sei das wohl nicht. Die denken wirklich gesellschaftlicher, also gar nicht in dem hehren Sinne, sondern die denken einfach, wenn wir das nicht gemeinsam machen, geht's sowieso nicht." Sprecher: Wie die Verständigung klappen könnte, hat Volker Roscher auch in Dänemark beobachten können, wo mit architektonischen Großprojekten schon aus pragmatischen Gründen viel offener umgegangen wird als bei uns. Take 25: (Volker Roscher) "Die sagen gleich zu den Investoren: Wollt ihr es schnell fertig haben, dann macht ihr das mit Partizipation, und wenn ihr es nie fertig haben wollt, dann macht ihr es ohne." Sprecher: Die Region um Kopenhagen und das benachbarte Malmö - das schon auf dem schwedischen Festland liegt - boomt seit einigen Jahren. Mehrere Großprojekte wurden am Öresund verwirklicht oder planerisch auf den Weg gebracht. Kopenhagen bekam ein kühn konstruiertes Opernhaus, und zwischen Flughafen und Stadt entsteht ein ganz neues Quartier mit Universitätsbauten, Wohnungen, Büros und Geschäften. Malmö liegt nur einen Katzensprung entfernt, der schwedische Nachbar wurde durch eine spektakuläre Brücke mit der dänischen Hauptstadt verbunden, und demnächst wird ein Tunnel die beiden Städte noch besser vernetzen. Die Großprojekte in der Region konnten ohne eskalierende Konflikte mit Beteiligung der Bevölkerung geplant und gebaut werden, denn Kopenhagen hat eine äußerst effektive Gesprächs- und Entscheidungskultur. Take 26: (Volker Roscher) "Ich habe den Eindruck, die haben eine Planungsphase mehr als wir. Sie haben eine Idee, und diese Idee werfen sie wie einen Stein ins Wasser, und sagen, guckt mal, das wollen wir tun, habt ihr dazu auch eine Idee? Und dann reden die miteinander, und daraus wird eine Gesamtidee geformt, und dann geht das ans Eingemachte, dann wird das räumlich, physisch entworfen, und das wird wieder debattiert, und dann fangen die erst an mit dem Planen." Sprecher: Auf Einladung von Volker Roscher berichtete im Frühjahr dieses Jahres Anne Skovbro, Stadtplanerin aus Kopenhagen, vor Fachpublikum von ihrer Arbeit in einem traditionellen Wohngebiet, wo Hochhäuser gebaut werden sollten. Take 27: (Anne Skovbro) "We were a bit in a hurry because we needed to work with this vision ... ... You must be crazy, we stopped discussion on high-rise last year. " Sprecherin: "Wir waren da etwas in Eile, weil wir gleichzeitig dieses Konzept weiterentwickeln und mit der Arbeit am konkreten Projekt beginnen mussten. Was wir also bei diesem Projekt gemacht haben, war eine frühe Einbeziehung der Öffentlichkeit: Jetzt steht das Projekt an, wir wissen, dass der Staat an dieser Stelle bauen will, wir wissen, dass man möglicherweise Hochhäuser bauen muss, um die notwendige Quadratmeterzahl an diesem Standort unterbringen zu können. Und natürlich, als wir erstmals den Begriff Hochhäuser ins Spiel brachten, sagten alle: Was, Hochhäuser an dieser Stelle? Ihr müsst verrückt sein, wir haben die Diskussion um Hochhäuser in Kopenhagen doch grade erst letztes Jahr beendet." Sprecher: Über den Standort der Hochhäuser wurde mit den Bürgern vor Ort noch einmal gründlich diskutiert. Die Argumente wurden ausgetauscht, und zum Schluss konnten alle den gefundenen Kompromiss akzeptieren. Take 28: (Anne Skovbro) "And they said 'Why don't you build high-rise over here in the park? ... new green sites on this plot, they are actually quite fond of the project." Sprecherin: Und sie sagten: Warum baut Ihr keine Hochhäuser hier drüben im Park? Und wir sagten: Okay, reden wir also über Hochhäuser hier im Park. Vor zwei Jahren hatten wir uns darauf verständigt, dass dieser Park niemals angetastet werden sollte. Okay, also keine Hochhäuser im Park, also vielleicht, vielleicht sagten sie, können wir sie ja nach Ø. verschieben? Das ist eine andere Möglichkeit, weil dieser Teil der Universität Forschung und Gesundheit ist, und das ist das Reichskrankenhaus, unsere wichtigste Gesundheitseinrichtung. Und am Ende des Tages, nach langen Sitzungen unter öffentlicher Beteiligung, als sie das Ergebnis des Architekturwettbewerbs sahen - wir hatten Fahrradwege integriert, neue Grünflächen hier in dieser Zeichnung -, dann hat ihnen das Projekt ziemlich gut gefallen. Take 29: (Volker Roscher) "Ob das alles so funktioniert, weiß ich nicht, aber sie hat ja auch gesagt, wir haben verschiedene Methoden für verschiedene Situationen, wir gehen differenziert vor. Und das müssen wir glaube ich auch lernen, differenziert vorzugehen. Was ist denn das Thema? Wir können es ja jetzt lernen, in Hamburg haben wir gerade ein Innenstadtkonzept zu entwickeln, was ich finde, was wunderbar aufgeschrieben ist, und da steht am Ende unter jedem Kapitel immer, so haben wir uns das vorgestellt, wir würden das gerne debattieren." Sprecher: Volker Roscher ist optimistisch, aber Bürgerbeteiligung lässt sich auch wieder verlernen. In Berlin wird zurzeit beklagt, dass die Diskussion über die architektonische Zukunft der Stadt, die gleich nach der Wende mit viel Herzblut geführt wurde, wieder eingeschlafen ist. Atmo: Demo Sprecher: Anfang des Jahres zog der dreiundneunzigjährigen Stéphane Hessel mit einer kleinen Schrift die politische Bilanz seines Lebens. Als ehemaliger KZ-Häftling in Buchenwald, als Mitglied der französischen Résistance und als Mitautor der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen rät er den Bürgern, wach zu bleiben. Sie sollen genau hinschauen, um all jene Dinge zu finden, die zur Empörung Anlass geben. Empört Euch! heißt seine unmissverständliche Botschaft, und trifft damit einen Nerv der Gesellschaft. Für Peter Sloterdijk sind Empörung und Bürgerzorn die Kraftquellen eines neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins. Zitator: "Mit einem Mal steht er wieder auf der Bühne, der selbstbewusste, informierte, mitdenkende und mitentscheidungswillige Bürger, männlich und weiblich, und klagt vor dem Gericht der öffentlichen Meinung gegen die misslungene Repräsentation seiner Anliegen und seiner Erkenntnisse im aktuellen politischen System. Wie über Nacht ist er wieder unter uns, der unbequeme Bürger, der sich weigert, ein politischer Allesfresser zu sein, duldsam und fern von nicht hilfreichen Meinungen." Sprecher: Doch Partizipation und Bürgerbeteiligung haben ihren Preis. Aktivist Heiner Funken mahnt: Der Wunsch nach Partizipation darf keine Einbahnstraße sein. Take 30: (Heiner Funken) "Nur immer fordern und nur immer dagegen sein, und nur immer alles schlecht finden, ist kein Weg der Partizipation. Das heißt, man muss auch bereit sein, Dinge mit umzusetzen, sei es dass man Bäume mit pflanzt, sei es dass man Geld sammelt, um Grundstücke zu kaufen für Parks. Es gibt viel Gelegenheit, wo der Bürger sich einbringen kann und auch tatsächlich eine Möglichkeit hat, dann Teil des Stadtgeschehens zu werden. Aber das verlangt immer auch und in allererster Linie, kontinuierliche Verantwortung zu übernehmen. Auf der Seite der Bürger Strukturen zu schaffen, Ansprechpartner zu schaffen und Zuverlässigkeit zu schaffen." Sprecher: Bleibt die Frage nach dem großen Rest, nach den Politmuffeln und nach den Zuschauern des Politspektakels. Auch sie sind längst keine homogene Gruppe mehr, die alles duldet, was man ihr vorsetzt. Der Hamburger Soziologe Ulrich Bielefeld hat unter ihnen den aktiven Zuschauer dingfest gemacht. Take 31: (Ulrich Bielefeld) "Es gibt den Politiker, es gibt den Experten, es gibt die Aktivisten. Alles engagierte Leute, aber keine Zuschauer. Aber die Bühne kann nur stattfinden, wenn es Zuschauer gibt, und die Zuschauer sind eine eigene Rolle, nicht das Passive, sondern Akzeptanz des emanzipierten Zuschauers, der zuhört, der zuschaut und sich eine begründete Meinung bildet und diese auch äußern will, und wenn er das nicht kann, dann eben auch dann doch zu Demonstrationen geht. Es kommt quasi nicht der Wutbürger zurück, sondern der emanzipierte Zuschauer, der nicht zum Aktivisten und nicht zum Experten wird, sondern Beteiligung als Zuschauer will." Sprecher: Nicht jeder hat Lust, auf der politischen Bühne in vorderster Reihe mitzuspielen. Doch das, sagt Wolfgang Gessenharter, ist am Ende auch kein Problem. Take 32: (Wolfgang Gessenharter) "Es kommt gar nicht so sehr darauf an, dass wir da unbedingt den citoyen par excellence nur brauchen können, den kriegen wir nicht. Ja, das bin ich nicht, das sind Sie wahrscheinlich auch nicht. Wir haben alle unsere Ecken und Kanten, unsere Egoismen, unsere Gemeinheiten, aber wir haben eben auch etwas in uns, dass wir uns glaube ich auch ganz gerne mal mit Leuten verständig unterhalten. Und wenn dieses gewährt ist durch ein Format, in dem - und das ist jetzt ganz entscheidend - derjenige, der dieses Format vorhält, wenn der darauf achtet, dass diese Leute, die dort sind, immer auf gleicher Augenhöhe miteinander sind." Sprecher: Die Gesellschaft ist im Umbruch, mit Basta-Politik ist kein Staat mehr zu machen. Bürger und Politik müssen ihr Verhältnis neu bestimmen. Böse Zungen behaupten, wir seien auf dem Weg zu einer Stimmungsdemokratie: Politik wird zur Ware, die nur noch sprunghaft Wählerwünsche bedient. Die gewählten Volksvertreter dürfen den Bürgern nicht nur aufs Maul schauen, sie müssen ihren eigenständigen professionellen Beitrag leisten. Dafür haben sie ein Mandat, aber sie müssen auch akzeptieren, dass die Bürger gehört werden wollen. Falls es hakt und klemmt, werden sie nicht aufhören, auf der Straße zu demonstrieren, in Bürgerforen zu diskutieren oder in Wahlkabinen zu gehen, nicht nur um ihre Meinung zu sagen, sondern auch um Macht auszuüben. Effekt Sp. v. Dienst: Mitmachen. Die Bürger wollen mehr politische Teilhabe. Eine Sendung von Adolf Stock Es sprachen: Markus Hoffmann, Gerd Grasse und Birgit Dölling Ton: Alexander Brennecke Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 Am nächsten Montag hören Sie an dieser Stelle: Der barmherzige Bürger bestimmt Löst Wohltätigkeit den Sozialstaat ab? Manuskripte und weitere Informationen zu unseren Zeitfragen-Sendungen finden Sie im Internet unter www.dradio.de 1