KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : 5526 Titel der Sendung : Digitale Apokalypsen. Die neue, literarische Lust am Weltuntergang Autoren : Ulrich Rüdenauer Redakteur : Kolja Mensing Sendetermin : 12. Juni 2012 / 19.30 Besetzung : Sabine Arnhold, Simon Boer, Max von Pufendorf Regie : Beate Ziegs Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 SENDUNG: Musikeinspielung 1 Zitator / Zitat 1 (Benjamin Stein: Replay, 92f.) "Ich denke oft, das Geflecht der Kommunikationswege, der Datenpfade und Speicherorte und erst recht der Auswertungen, Haupt- und Nebennutzungen ist zu komplex geworden, als dass ein Einzelner wie ich es noch vollständig durchschauen könnte." Sprecher 2 Benjamin Stein, "Replay". Zitator / Zitat 2 (Florian Felix Weyh: Toggle, 64) "Anna-Katharina hasste das Internet. Es bereitete ihr ein flaues Gefühl im Kopf und schläferte den Verstand ein. Buchstaben auf leuchtenden Bildschirmen schienen sie auszulachen, Buchstaben in Büchern winkten ihr fröhlich zu." Sprecher 2 Florian Felix Weyh, "Toggle" Zitator / Zitat 3 (Markus Stromiedel: Die Kuppel, S. 309) "Das 'First Resort' war eine Simulation. Mir wurde schlecht. Die Wohnanlage, die ich besucht hatte, war ein Fake, eine Illusion. Eine perfekte Illusion: Ich hatte geredet, gedacht, gefühlt, ich hatte geschmeckt und gesehen und zugehört und gerochen, und alles war so wirklich gewesen, dass ich zu keinem Zeitpunkt meine Sinneswahrnehmung in Frage gestellt hatte." Sprecher 2 Markus Stromiedel, "Die Kuppel". Musikeinspielung 1 Sprecher 1 Im Oktober 2004 waren zwei der wichtigsten Unternehmer des digitalen Zeitalters zu Gast bei der Frankfurter Buchmesse: Bei einer Pressekonferenz stellten die Google-Magnaten Sergey Brin und Larry Page ihr Projekt Google Print vor, das kurz darauf unter dem Namen Google Books weltweit für Aufregung sorgen sollte. Das Ziel: Google möchte alle verfügbaren Bücher der Welt digitalisieren und über seine Volltextsuche zugänglich machen. 15 Millionen Bücher sollen bis 2015 eingescannt sein. Sprecher 2 Der Journalist Florian Felix Weyh schaltete sich damals in die lautstarke Debatte um das Urheberrecht ein: O-Ton 1 (Weyh) Also, alle waren der Meinung, dass das ganz furchtbar ist, und ich schrieb in einem politischen Feuilleton, dass ich das klasse finde, was Google da macht, nämlich die Bücher einscannen und mir als Autor zur Verfügung stellen und der Nutzen, den ich als Leser habe, wesentlich größer ist als der Schaden, der mich vielleicht als Autor erwartet in diesem Unterfangen. Sprecher1 Florian Felix Weyh fuhr nach München, nahm an einer Führung durch die Bayerische Staatsbibliothek teil und ließ sich faszinieren von den Scannern, die bis zu 400 Seiten in der Minute einlesen können. Darin steckte der Keim für seinen ersten, den Gegenstand des Interesses schon im Titel kaum kaschierenden Roman "Toggle" O-Ton 2 (Weyh) Die Frage, die sich sofort erhebt, bei diesem Google-Book-Scanning: Warum muss man das geheim halten? Denn das, was ich in der Bayerischen Staatsbibliothek gesehen habe, sind nicht die Google- Scanner. Das haben die auch definitiv gesagt. Das sind die Scanner, mit denen die Bayerische Staatsbibliothek selber ihre Bestände einscannt und zum Teil in Kooperation dann weitergibt an Google. Aber Google erzählte, also der Pressesprecher erzählte dann, er wisse es selber nicht genau, er habe es noch nie gesehen, aber jeden Montag oder Dienstag fahren LKWs von München aus aufs platte Land hinaus, die sind voller Bücher, und in irgendeiner Lagerhalle wird das eingescannt von Google, und niemand hat da Zutritt, nicht einmal die Leute, die da jetzt von Hamburg aus damit nicht befasst sind von Google. Das ist sozusagen der Nukleus einer Verschwörungstheorie, weil man fragt sich ja als normaler Mensch: warum zum Teufel müssen die so ein Geheimnis drum machen? Musikeinspielung 1 Zitator / Zitat 4 (Florian Felix Weyh: Toggle) "Ende Mai waren jedoch Männer gekommen, Männer in LKWs. Sie trugen geschlossene blaue Plastikkisten in die Halle. (...) Bei der ersten Lieferung schleppten die Männer nur Kisten hinein. Nach einigen Tagen trugen sie auch wieder welche heraus. Ihrem gebückten Gang nach zu urteilen, waren die Kisten auch auf dem Rückweg gefüllt." Sprecher 2 Florian Felix Weyhs "Toggle" ist eine realitätsnahe Fantasie über die Macht von Internet-Konzernen wie Google alias "Toggle" oder Facebook, das im Roman den Namen "Myface" trägt. Es ist ein Buch über den Terror der Transparenz und die digitale Revolution, deren Folgen zwar seit ein paar Jahren heftig diskutiert werden, aber noch kaum abzusehen sind. Sprecher 1 "Toggle" ist einer von auffallend vielen Romanen, die in den letzten zwei Jahren erschienen sind und sich im weitesten Sinne dem Genre der literarischen Dystopie zuordnen lassen. Vor allem die Sorge vor den Auswirkungen der digitalen Revolution, vor simulierten Lebenswelten und vor der totalen Auflösung privater Rückzugsräume wird in diesen literarischen Entwürfen greifbar. Florian Felix Weyhs Debüt etwa liest sich wie ein literarischer Kommentar zu den gerade virulenten Themen Urheberrecht oder "Transparenzgesellschaft". Sprecher 2 Der Philosoph Byung-Chul Han analysiert in seinem Essay "Transparenzgesellschaft" den Zwang, der über den Imperativ der Transparenz ausgeübt wird. Transparenz schafft, so ließen sich Hans Thesen zusammenfassen, das Gegenteil von Offenheit und Freiheit. Transparenz beruht auf Zustimmung. Sie schaltet Negativität aus, die überhaupt erst eine kritische Öffentlichkeit erzeugen kann. Die Transparenzgesellschaft - so Han - ist ein subtiles Terrorregime: Wer sich nicht dem Druck zur Sichtbarkeit beugt, gilt automatisch als verdächtig. Sprecher 1 Diese Diagnose ist als Gefühl des Unbehagens in eine ganze Reihe von zeitgenössischen Romanen eingesickert - mal auf direkte, mal auf indirekte Weise. Die Grundidee von Florian Felix Weyhs "Toggle" lässt sich in folgende Fragen fassen: Wohin führt der Zwang zur Transparenz in letzter Konsequenz? Was passiert, wenn Algorithmen nicht nur unser Leben vereinfachen, sondern zunehmend bestimmen? Wenn plötzlich aus geschäftlichen Interessen großer Firmen politische Einflussnahme wird; wenn unsere demokratischen Grundsätze, die auf der Gleichheit jedes Individuums beruhen, ausgehebelt und von einem System ersetzt werden, das sich auf ausgeklügelte Berechnungen stützt? O-Ton 3 (Weyh) Ich wollte ja Rumspintisieren und mir überlegen, was könnte es bedeuten, wenn die Digitalisierung so voranschreitet, dass unsere Gesellschaftsstruktur sich im Digitalen besser abbildet als im Parlamentarismus oder in den Strukturen, die wir aus dem 18., 19. Jahrhundert haben. Sprecher2 Dafür geht Weyh tatsächlich zurück noch vor die Französische Revolution, lässt den Diplomaten und Schriftsteller Ferdinando Galiani zum Gründer einer elitären Geheimgesellschaft werden, die die gesellschaftlichen Strukturen über ein kompliziert berechnetes Sozialpunktesystem grundlegend verändern will. Und dadurch selbst die größte Macht anhäufen würde. Sprecher 1 Diese literarische Idee wirkt auf den ersten Blick krude und versponnen. Aber im technischen Möglichkeitsraum der Gegenwart sind solche Szenarien durchaus angelegt. O-Ton 4 (Weyh) Der Hintergrund, der Gedanke ist, dass unsere digitalen Persönlichkeiten, also all das, was über uns gespeichert ist, schon überall und wahrscheinlich fragmentiert an verschiedenen Orten, wenn man das zusammenführen würde, vermutlich schon eine Repräsentanz unserer selbst bestünde, die so scharf ist, so trennscharf ist, dass sie uns vielleicht besser abbildet, als wir uns selber in einem bestimmten emotionalen Moment verhalten, wenn wir zum Beispiel zur Wahl gehen und am Vorabend irgendeinen polemischen Bericht gelesen haben, und dann beeinflusst es unsere Wahl. Sprecher1 Diese Fantasie geht weit über das klassische Schreckgespenst staatlicher Kontrolle hinaus: Das Perfide ist, dass der Algorithmus eine neue, scheinbar unbezwingliche Logik in unser bisheriges Denken einführt. Widerspruch gegen die Macht des binären Codes ist kaum noch möglich. O-Ton 5 (Weyh) Es war immer so, dass, wenn diese Technologie sich durchgesetzt hat, sich die Gesellschaft angleicht. Wir sehen das ja jetzt in der Urheberrechtsdebatte, das ist klar, mit der Digitalisierung brechen gewisse Rechtsformen des 19. Jahrhunderts weg, weil sie sich nicht mehr durchsetzen lassen, also wird man das über kurz oder lang an die Digitalisierung anpassen, und zwar an genau die Fakten, die die Technik geschaffen hat. Musikeinspielung 2 Sprecher1 Man kann diese Verschwörungstheorie, die Florian Felix Weyh in einen gesellschaftskritischen Kriminalroman aufgelöst hat, als Dystopie begreifen - auch wenn der Autor eine solche Gattungsbezeichnung eher ablehnt. Für Weyh ist die Unterscheidung zwischen utopischen und dystopischen Entwürfen nicht klar zu markieren. Sprecher 2 Erste Dystopien entstanden zur Zeit der Industrialisierung - als Intellektuellen dämmerte, dass die Zukunftsvisionen von Wissenschaft und Technik nicht notwendigerweise in eine glückliche Gesellschaft münden müssen. Technologische und gesellschaftliche Umbrüche sind der Nährboden für Dystopien. Das, was wir als klassische literarische Dystopie bezeichnen, ist eng verknüpft mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts. Samjatins "Wir", George Orwells "1984" oder Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" sind Leuchttürme des Genres. Sprecher 1 Susanna Layh, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Augsburg, beschäftigt sich seit Jahren mit Dystopien. Sie erläutert die Begriffsentstehung: O-Ton 6 (Layh) Dystopie, also, es kommt eigentlich aus dem Griechischen, dys - schlecht und topos - der Ort, also schlichtweg ein schlechter Ort. Wer den Begriff erfunden hat, das ist so die Frage, wurde sehr lange mal John Stewart Mill zugeschrieben, das stimmt aber mittlerweile nicht mehr, weil es gibt frühere Aufzeichnungen, dass der immer wieder mal verwendet wurde und geht eigentlich zurück auf den Neologismus von Thomas Morus: ou-topos, also ou - nicht und topos, der Nicht-Ort, aber das ist so ein Wortspiel, ein Homonym, weil im Englischen ist es ja Utopia, und dann könnte es auch mit eu geschrieben sein und dann wäre es sozusagen der Gutort, der ein Nichtort ist, und dann sind wir gleich in der Fiktion. Sprecher1 In der Fiktion ist tatsächlich die Trennlinie zwischen Utopie und Dystopie nicht immer leicht auszumachen: Könnte nicht die Idee, die hinter Florian Felix Weyhs Roman steckt, dass nämlich nicht mehr jede einzelne Stimme im Konzert einer Gesellschaft gleich viel zählt, reizvoll sein? Wenn die Maschine anhand tausender Parameter untrüglich berechnet, wer in einem Gemeinwesen wertvoller und gewichtiger ist, würde das nicht zu einer gerechteren Welt führen? Ein solcher Gedanke widerspricht all unseren demokratischen Prinzipien. Aber er scheint doch zugleich eine konsequente Fortführung eines Denkens zu sein, das in einer sich digitalisierenden Demokratie bereits angelegt ist; in einer Welt also, in der nur wenige über die Fähigkeit verfügen, mit den neuen technologischen Möglichkeiten kreativ umzugehen. Wie diese Kreativität genutzt wird, das bleibt der große Unsicherheitsfaktor. O-Ton 7 (Layh) Horkheimer hat mal gesagt, eine Utopie ist die Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein sollte. Und Dystopie hingegen ist der Entwurf einer Gesellschaft, die noch schlechter ist als die der zeitgenössischen Leserschaft wie des Autors. Das heißt zeitgenössische Entwicklungen, Tendenzen, Ereignisse werden meistens in eine sehr nahe Zukunft, sehr erkennbare Zukunft prolongiert, und das ganze hat natürlich appellativen Warncharakter. Sprecher2 Diesen Warncharakter entdecken wir auch in einem literarisch äußerst vielschichtigen Roman, der ebenfalls wie "Toggle" in diesem Frühjahr erschienen ist Musikeinspielung 3 O-Ton 8 (Stein) Als der Roman erschienen ist, wurde er in einer Zeitschrift angekündigt als Neuerscheinung unter der Rubrik Science Fiction. Darüber habe ich mich geärgert. Das ist doch keine Science Fiction, das ist ein Gegenwartsroman. Man muss ganz klar sagen: Alle technischen Erfindungen, die in dem Roman beschrieben werden, existieren heute schon bereits. Es gibt lediglich noch nicht die United Communications Corporation, die diese Sachen alle zu diesem Universal Communicator zusammengefügt hätte. Wenn ich mir aber Unternehmen anschaue wie Apple, die also heute schon 179 Seiten lange Allgemeine Geschäftsbedingungen haben, in denen man sich und seine Familie und das Recht sozusagen über alle Daten, derer sie irgendwie habhaft werden können, verkauft, und völlig steuert, auf welche Inhalte wir Zugriff haben, dann gehe ich davon aus, dass es nicht mehr 15 Jahre dauern wird, wie jetzt hier in "Replay" beschrieben, dass wir so eine Corporation bekommen. Sprecher 2 Die Corporation ist eine Firma, der sich die Menschen freiwillig ausliefern. Ed Rosen, die Hauptfigur in Steins Roman, macht es vor. Er lässt sich von der Firma, die von dem chilenischen Professor Matana gegründet wurde, einen Chip implantieren, der nicht nur körperliche Defizite ausgleicht, sondern auch in der Verbindung mit dem Zentralcomputer ein Superhirn schafft - noch die kleinste audio-visuelle Erinnerung kann immer wieder abgerufen und stets aufs Neue durchlebt werden. Sprecher 1 "Replay" verknüpft die verschiedenen Komponenten des digitalen Zeitalters zu einer Cyborg-Vision: Die Mensch-Maschine als perfektes Wesen. Für diesen Prometheus des digitalen Zeitalters bedeutet, sich an alles zu erinnern aber zugleich, nichts mehr vergessen zu können:_eine Horrorvision. O-Ton 9 (Stein) Ich gehe davon aus, dass es eher eine Dystopie ist. Es ist natürlich keine ausgemachte Sache. Fakt ist, dass diese Gesellschaft, die dort beschrieben wird, ja nicht offensichtlich eine Zwangsgesellschaft ist. Rosen sagt es ja so: Wenn 70 Prozent der Bevölkerung nicht nur begeistert ja sagen, sondern auch noch bereitwillig dafür bezahlen, dann halte ich das für ein erdrückend eindeutiges demokratisches Votum. Sprecher2 Ed Rosen überlässt sich dieser fatalen Entwicklung auf fatalistische Weise. Aus einem reflektierenden, Zeichen lesenden Individuum wird ein Teil des Kollektivs: Rosen, gehandicapt durch ein blindes Auge und gefragt als brillanter Software- Entwickler, heuert bei der Firma United Communications Corporation im Silicon Valley an - und durchläuft nicht nur eine körperliche Verwandlung, sondern auch eine geistige. Er verliebt sich in seine persönliche Trainerin Katelyn, wird zu einer zentralen Gestalt im großen Projekt des Firmengründers Matana. Rosen verliert zusehends die Fähigkeit, zwischen Wirklichkeit und Projektion zu unterscheiden. Er überlässt sich ganz der Illusion, in einem künstlichen Paradies angelangt zu sein. Und ahnt doch, dass er der Sklave einer selbstgeschaffenen, durchscheinenden Projektion geworden ist. Sprecher 1 Die beste aller Welten, die jeden ausschließt, der sich ihren Codes nicht fügt, ist nicht mehr recht von einer Hölle zu unterscheiden, in der man den eigenen Erinnerungen ausgeliefert ist. Ganz freiwillig wird in Steins "Replay" die Privatsphäre aufgegeben. Transparenz und Totalitarismus verbinden sich so elegant, dass kaum noch jemand aufbegehrt. Musikeinspielung 4 Sprecher 2 Und das neue System hat ja auch seine augenscheinlichen Vorzüge: In "Replay" ist es gerade die sexuelle Triebkraft und Begierde, die Bedenken zerstreut und manche Fortschrittsutopie wünschenswert erscheinen lässt. Denn die Träger des UniCom können im Replay durch ihre Fantasien driften, Orgasmen immer wieder durchleben, ja, sogar vermeintlich in den Körper des Partners schlüpfen und dessen Wahrnehmungen nachempfinden. Musikeinspielung 3 Kraftwerk: Mensch-Maschine (kurz freistellen, dann unter das Zitat) Zitator / Zitat 6 (Benjamin Stein: Replay, S. 123) "Also tauschten wir die Rollen, zum ersten von ungezählten Malen. Es war eine Offenbarung, wie ich sie mir nicht hatte vorstellen können, ein Erlebnis innigster Intimität. Im Replay des anderen verschmolzen wir miteinander, wie Sex allein es nicht vollbracht hätte. Man kann nicht den ganzen Tag nur spielen, aber es gab Tage, da hätten wir am liebsten nichts anderes getan." Sprecher1 Sex ist hier wie in vielen dystopischen Romanen ein Mittel zur Kontrolle und Lenkung individueller Sehnsüchte. Sprecher 2 Die Literarturwissenschaftlerin Susanna Layh: O-Ton 11 (Layh) Das ist schon in den utopischen Entwürfen, in den literarischen Utopien ist Sexualität immer klar geregelt, in den Neuzeit-Utopien, mit dem Ziel, eine gute, bessere Gesellschaft zu haben. Und in den Dystopien wird Sexualität entweder tabuisiert wie in "1984", verboten, unter Strafe, oder ganz klar staatlich geregelt, so wie in "Brave New World" oder "Wir", also es wird ganz klar als ein subversives, gefährliches Element betrachtet, das das System, die Staatsordnung gefährden könnte, also wird es entweder verboten oder so reglementiert, dass es kontrollierbar ist, dass quasi jegliche Emotion, jegliche Leidenschaft und Intensität dem Individuum quasi entzogen wird, das sind ja alles Massengesellschaften, in denen der einzelne zum Massenmensch, zum austauschbaren Teil einer Masse reduziert wird. Sprecher1 In den klassischen Dystopien gibt es den Entwurf eines totalitären Gesellschaftssystems, das auf einer bestimmten Ideologie beruht. Meist hat man es mit einem abstrakten Obrigkeitsstaat zu tun, dem eine mächtige Führergestalt vorsteht. Die beschriebenen Gesellschaften sind gekennzeichnet durch Gehirnwäsche, Indoktrination, Medienmanipulation, Geschichtsverfälschung, Manipulation der Sprache mit der Intention, die Erinnerung zu löschen - oder in der zeitgenössischen Variante bei Benjamin Stein: seinen Erinnerungen nie mehr zu entkommen. O-Ton 12 (Layh) Ein dystopischer Roman ist - vielleicht ist die Gesellschaft nicht benannt - aber es ist ein klares Spiegelbild des zeitgenössischen Deutschland oder der zeitgenössischen USA, und der Fokus liegt ganz klar auf der Deskription der Sozialstrukturen, da brauch ich keine technologischen Neuerungen, um einen dystopischen Roman zu entwerfen. Aber gerade die neuen Texte, das, was ich als kritische Dystopie bezeichnen würde, die zeichnen sich vor allem durch so Gattungshybridität aus. Die tragen alle irgendwie Science Fiction-Elemente in sich, in der Erfindung von technischen Innovationen, welcher Art auch immer, die haben meistens auch fantastische Elemente, was auch immer. Das ist meistens so ein Hybrid aus verschiedenen Genre-Mustern. Sprecher1 Markus Stromiedels Roman "Die Kuppel", in diesem Frühjahr erschienen, ist so ein hybrides Wesen aus klassischem dystopischen Staatsroman, Cyborg-Visionen und Simulationsanordnungen. Sprecher 2 In Stromiedels Roman ist Europa zu einem totalitären Einheitsstaat geworden, der sich nach außen rigoros abschottet und im Innern hart durchgreift. Ein Militärpolizist wird beauftragt, einen mysteriösen Fall zu untersuchen: Ein alter Mann wurde auf militärischem Sperrgebiet tot aufgefunden. Der Polizist geht gründlicher vor als seinen Vorgesetzten lieb ist. Zusammen mit einer Ärztin, die zu seiner Geliebten wird, kommt er dem Geheimnis einer Seniorenresidenz auf die Spur, die sich als riesiges Menschenlager entpuppt - Alte und Unliebsame werden hier in einem Dämmerschlaf ruhig gestellt. Der Polizist sucht die Verbindung zu einer Widerstandsgruppe und wird unversehens selbst zum Dissidenten. Sprecher 1 In "Die Kuppel" tauchen klassische Motive auf: Das Liebesmotiv, das die Handlung in Gang setzt und den Helden zum Märtyrer werden lässt - zumindest wird der Leser lange im Glauben gelassen, er könnte gegen das System aufbegehren. Es gibt das Motiv des Schreibverbots: Der Protagonist in Stromiedels Roman setzt sich darüber hinweg und notiert seine Erkenntnisse, und diese Notate wiederum sind es, die uns zugespielt werden, die wir lesen können. Auch das offene Ende entspricht dem klassischen Muster des dystopischen Staatsromans. Musikeinspielung 4 Zitator / Zitat 7 (Markus Stromiedel: Die Kuppel, S. 390) "Sie wissen nicht, was ich hier schreibe und was ich damit vorhabe. Eddy hat mir verraten, wie ich das anstellen soll, bevor er zurückgegangen ist. Heute Morgen habe ich lange darüber nachgedacht, warum ich das alles tue. Sicher, es ist wichtig, dass sie mit ihren Lügen nicht durchkommen und dass nicht verloren geht, was ich herausbekommen habe. 'Die Wahrheit ist das Fundament der Zukunft.' Keine Ahnung, wer das gesagt hat, aber es stimmt." Sprecher1 Dennoch scheint sich etwas verschoben zu haben in den letzten Jahren. Und das hat mit den Veränderungen von Machtstrukturen zu tun, die immer schwerer als solche wahrzunehmen sind. Dieser Wandel wird auch in den jüngeren dystopischen Romanen reflektiert, in deutschsprachigen Büchern und schon länger auch in der angelsächsischen Literatur. Die Blaupause jedoch kommt aus Frankreich. Sprecher 2 Der Philosoph Gilles Deleuze beschreibt in seinem Aufsatz "Das elektronische Halsband" aus dem Jahr 1990 wie sich Disziplinargesellschaften in "Kontrollgesellschaften" verwandeln: In den Disziplinargesellschaften wechselt das Individuum von einem geschlossenen System zum anderen, von der Schule zur Kaserne zur Fabrik zum Krankenhaus usw. Werden in der Disziplinargesellschaft Parolen ausgegeben, wird man in den Kontrollgesellschaften der Gegenwart von Zahlen beherrscht, von Algorithmen. In den Disziplinargesellschaften konnte man, weil sie etwas Starres hatten und auf Ewigkeit angelegt waren, einen Feind ausmachen. Kontrolle hingegen ist zwar unbegrenzt, aber nicht mehr zuzuordnen. Sie setzt an der Seele des Einzelnen an, nicht bei seinem Körper. In der digitalen Welt sind wir durch ständige Verfügbarkeit auch einer ständige Kontrolle und Selbstkontrolle ausgeliefert - ohne das als Bedrohung zu empfinden O-Ton 13 (Stein) Sagen wir es mal so: Dinge, die im Bereich der Analyse von Personendaten möglich sind durch Unternehmen, werden auch gemacht - das kann ich Ihnen aus beruflicher Erfahrung versichern -, weil sie einfach ein Wirtschaftsgut sind, diese personenbezogenen Daten. Es lassen sich damit Geschäfte machen. Es steht für mich außer Frage, es wird geschehen. Es geschieht heute bereits in erheblichem Umfang, und es wird eher noch zunehmen, dass diese personenbezogenen Daten ausgewertet werden. Und da mir das so eindeutig erscheint, sehe ich nicht, wie wir aus dieser Totalitarismus-Falle noch rauskommen sollen. Ich gehe allerdings davon aus: Der State of Mind gerade unter den jungen Leuten, also den Teenagern heute, ist ja so, dass sie es überhaupt nicht als problematisch empfinden, gläserne Menschen zu sein, dass sie eigentlich völlig sorglos mit ihren digitalen Fußabdrücken im Internet umgehen und sagen: who cares, Hauptsache, es macht Spaß. Sprecher1 Eine schöne Volte: Benjamin Stein macht Julian Assange, der mit Wikileaks politische Aufklärung und Transparenz erreichen möchte, in seinem Roman zum größten Gegner des UniCom-Konzerns. O-Ton 14 (Stein) (...) ich werde hoffentlich nicht verklagt von Apple, aber ich sehe, was die für eine ganz gezielte Geschäftspolitik verfolgen, und die zielt auf engste Kundenbindung und auf starke Einflussnahme des Nutzungsverhaltens des Kunden hin. Und das ist bei den anderen Giganten, sei das jetzt Google oder Amazon, Facebook usw. nicht anders. Und tatsächlich, ist das Perfide hier, dass man eher den Anbieter als Freund, als Dienstleister, als cool usw. empfindet, weil: das FBI wird ja bei Facebook vorstellig und fragt dann gegebenenfalls die Informationen über die ab. Und Google sagt immer noch: Don't do evil. Es ist eigentlich ein infamer Slogan heutzutage. SPRECHER 2 Florian Felix Weyh: O-Ton 15 (Weyh) Ich glaube, dass das ein Denkfehler der ganzen Internetaktivisten ist, dass sie denken, dass das Internet demokratisiert. Ich halte das für sehr blauäugig. Die Struktur, die Struktur in den Algorithmen ist genau das Gegenteil. Die Struktur einer Gesellschaft, die sich darauf verlässt, dass eine Institution wie das Internet, was immer von großen Firmen oder staatlichen Organisationen betrieben und gepflegt werden muss, dass das gleichzusetzen ist mit mehr Demokratie, will mir nicht in den Kopf. Denn sie brauchen eine hochspezifische Elite, um dieses Netz zu beherrschen. Musikeinspielung 2 Sprecher1 Es gibt eine ganze Reihe von aktuellen Romanen, die dem Genre der Dystopie zugeordnet werden können. Seit den achtziger Jahren reißt vor allem in angelsächsischen Ländern die Produktion von fiktiven Texten, die sich mit düsteren Zukunftsszenarien beschäftigen, nicht ab. Sprecher 2 In Deutschland allerdings lässt sich in den letzten zwei Jahren geradezu von einem Boom sprechen. Jochen Schimmangs "Neue Mitte" kann man dazu zählen und Simon Urbans "Plan D", Leif Randts "Schimmernder Dunst über Coby County" und Sibylle Knauss' "Fremdling", Juli Zehs "Corpus Delicti" oder Angelika Meiers "Heimlich, heimlich mich vergiss", Andreas Schüles "Das Ende unserer Tage" und "New York Hardcore" von Moses A. Sprecher 1 All diese Romane spielen mit den Versatzstücken, die wir aus dystopischen Romanen kennen. Und entwickeln sie doch weiter, beschreiben auf verschiedenste Weise totalitäre Mechanismen, die sich aus einer Fortschrittseuphorie heraus entwickeln. O-Ton 16 (Layh) Das steckt hinter all diesen Texten, diese Gesellschaften wurden irgendwann mal vom Menschen für den Menschen gemacht mit dem Ziel, dass das Leben irgendwie besser ist, in welche Richtung auch immer. Und es ist vom Menschen getragen, und es hat sich dann irgendwann zu einem abstrakten System, einer abstrakten Ideologie verselbständigt. Insofern weiß ich gar nicht, ob das so was ganz Neues ist. Das ist eher eigentlich eine Fortsetzung dieses dystopischen Gedankens. Musikeinspielung 4 Sprecher1 Die Entschlüsselung des Gencodes hat in der Wissenschaft und in den Feuilletons große Debatten angeregt, aber in der Literatur kaum Spuren hinterlassen. Bei der digitalen Revolution ist das anders - egal ob sich die Romane ganz konkret mit den potentiellen Gefahren beschäftigen oder einfach nur ein allgemeines Unbehagen an der Gegenwart formulieren. Man scheint weniger zu wissen als vielmehr zu spüren, dass die Folgen des digitalen Wandels ähnlich groß sein dürften wie die der industriellen Revolution - wenn sie diese nicht noch übertreffen. Sprecher 2 Auch am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden etliche dystopische Romane, die heute längst vergessen sind - zu denen aber auch Klassiker wie etwa H.G. Wells' "Zeitmaschine" oder die zwischen Technikeuphorie und Horror changierenden Romane von Jules Verne gerechnet werden können: faszinierte, zugleich skeptische Blicke auf eine unwägbare Gegenwart und unüberschaubare Zukunft. Musikeinspielung 4 O-Ton 18 (Weyh) Es ist einfacher, die negativen Seiten zu prognostizieren als die positiven, einmal psychologisch, weil wir einfach aus der Geschichte wissen, dass es meistens darauf hinausläuft, dass die Sachen schief gehen. Aber es ist irgendwie auch von der Fantasie her einfacher. Wir sind so gepolt, dass wir Schreckensfantasien leichter entwickeln können. Sprecher1 In dem Moment, in dem Zukunft noch offen ist, in dem das Verfahren in der Schwebe ist, in dem wichtige politische Fragen einer längst schon sich vollziehenden technischen Entwicklung noch ungeklärt sind, kommen die Literatur, der Film, die Kunst ins Spiel. Dann schlägt die Stunde für Katastrophenszenarien, Science-Fiction-Entwürfe und dystopische Romane. Musikeinspielung Sprecher 2 Benjamin Stein, "Replay" Zitator / Zitat 9 (Benjamin Stein: Replay) "Alles, weiß ich, wird gut werden. Es dauert nicht mehr lang. Dankbar sinke ich in seine Arme und halte ihn fest. Dann erscheint vor meinen Augen der grüne Schriftzug meiner Erlösung: Communication system online!" Sprecher 2 Florian Felix Weyh, "Toggle" Zitator / Zitat 10 (Florian Felix Weyh: Toggle) "Ein Wechsel in der Verfassung ist etwas sehr Schönes, wenn er stattgefunden hat. Aber es ist unangenehm, ihn herbeizuführen. Zwei oder drei Generationen plagen sich damit, und erst die Nachwelt findet sich in den neuen Zustand hinein. Aber die Nachwelt gehört zu den möglichen Dingen, und wir sind wirkliche Wesen. Sollen sich die Wirklichen für die Möglichen so quälen, dass sie unglücklich werden?" Specher 2 Markus Stromiedel, "Die Kuppel" Zitator / Zitat 11 (Markus Stromiedel: Die Kuppel) "Sie haben in Ihrer Welt noch nie etwas von den Resorts und ihren schillernden Kuppeln gehört? Dann ist es so wie bei uns: Hier, wo Anna und ich jetzt sind, kennt ebenfalls keiner die Resorts, hier gibt es sie einfach nicht. Vielleicht sind wir uns ja näher, als Sie denken? Wer kann das schon wissen, möglich ist alles. Man sieht sich." Musikeinspielung 1