DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 13.10.2009 Redaktion: Marcus Heumann 19.15 ? 20.00 Uhr ... nicht der Rede wert? Der Tod der Lehrerin Bian Zhongyun am Beginn der Kulturrevolution Von Susanne und Wolfgang Schwiedrzik URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Ansage ... nicht der Rede wert? Der Tod der Lehrerin Bian Zhongyun am Beginn der Kulturrevolution Feature von Susanne und Wolfgang Schwiedrzik Musik Collage instrumentales Vorspiel von "Der Osten ist rot" und Uhrwerk aus dem Film von Hu Jie Sprecherin: Am 5. August 1966 wurde Bian Zhongyun, Lehrerin und Vizedirektorin des Mädchen-Gymnasiums der Pädagogischen Hochschule in Peking, von ihren eigenen Schülerinnen zu Tode geprügelt. Man ließ sie sterbend auf einer Abfallkarre liegen. Als sie mehrere Stunden später endlich in das gegenüberliegende Krankenhaus gebracht wurde, war es zu spät. Die Schülerinnen, die sich an dieser Aktion beteiligten, waren 14 bis 16 Jahre alt. Atmo: Uhrwerk aus dem Film von Hu Jie Sprecher: In der "Anklageschrift" der kulturrevolutionären Arbeitsgruppe gegen Bian Zhongyun vom Juni 1966 heißt es zur Person der Angeklagten: Zitatsprecher: "Bian Zhongyun, Parteisekretärin und Vizedirektorin, weiblich, 48 Jahre alt; trat der Partei 1941 bei, seit 1944 berufstätig. Als Tochter eines Großgrundbesitzers brüstete sie sich damit, in die Revolution mit Juwelen am Hals eingetreten zu sein. Sie wurde 1958 mit der Funktion der Vizedirektorin betraut." Sprecher: Bian Zhongyun war eines der ersten (wenn nicht das erste) Opfer der Kulturrevolu-tion in Peking. Ihr Name steht für eine große Zahl von Menschen, die in dieser Phase zum Objekt und Opfer kulturrevolutionärer Gewalt wurden. Musik Chorpassage aus "Der Osten ist rot" Sprecherin: Am 19. Juli 1966 war Mao Tsetung aus der Provinz, wo er sich auf den Machtkampf mit seinen politischen Gegnern in der Partei- und Staatsführung vorbereitet hatte, nach Peking zurückgekehrt. Sprecherin: Maos Kontrahenten hatten gewagt, ihn nach der Katastrophe des "Großen Sprungs" von 1959 zu kritisieren und seinen Einfluss zurückzudrängen. Doch seit 1964 waren die "linken Kräfte" in der KP Chinas wieder erstarkt. Und Mao Tsetung holte seit Anfang 1966 zum alles entscheidenden Schlag aus, der seine Widersacher, allen voran Liu Schaotschi und Deng Xiaoping, endgültig ausschalten sollte: Er initiierte die "Große Proletarische Kulturrevolution" Sprecher: Ende Mai 1966 war eine neue Führungsinstanz, die sogenannte "Kleine Gruppe zur Führung der Kulturrevolution" unter der Leitung Jiang Qings, der Ehefrau Mao Tsetungs, und Chen Bodas, Maos früherem Sekretär, eingerichtet worden. Am 1. Juni 1966 war ein Leitartikel in der "Volkszeitung" erschienen, der zum Kampf gegen die "Rinderdämonen und Schlangengeister" aufrief - Begriffe, die aus der chinesischen Sagenwelt stammen und jedem Chinesen als Synonym für "böse Kräfte" geläufig sind. Mao benutzte sie nach 1949, gehäuft aber erst ab 1966, um damit die "rechten Elemente" in der Partei zu diskreditieren. Sprecherin: Der Schulunterricht an allen Schulen und Universitäten war eingestellt worden. An seine Stelle traten "Kampf-Kritik-Umgestaltungs-Sitzungen" und das Studium der Mao Tsetung-Ideen. Das "Kleine Rote Buch", die sogenannte "Mao-Bibel", wurde in gewaltigen Auflagen gedruckt, Hunderte Millionen von Mao-Buttons hergestellt, ebenso Plakate, Mao-Büsten und andere Devotionalien. Musik: "Hymne auf den Großen Steuermann" Sprecher: Photos von Mao Tsetung ? zum Beispiel beim Schwimmen im Yangtse bei Wuhan am 16. Juli 1966, einer Demonstration seiner Kampfbereitschaft vor der Rückkehr nach Peking ? erschienen täglich in allen Zeitungen. Der Mao-Kult wurde einem neuen Höhepunkt zugetrieben. Musik: "Hymne auf den Großen Steuermann" Sprecherin: Aber Mao Tsetungs politische Widersacher waren auch nicht untätig geblieben. Es war ihnen gelungen, die politische Kontrolle über die kulturrevolutionären "Arbeitsgruppen", die vom Kommunistischen Jugendverband in alle Schulen und Universitäten geschickt wurden, in der Hand zu behalten. Die "Große Proletarische Kulturrevolution" verlief zunächst in "geordneten Bahnen": ohne Gewaltanwendung, als reine "Kritik-Bewegung", ohne die bestehenden Organisationsstrukturen in Frage zu stellen und ? das ist das Entscheidende - ohne letzte Zuspitzung auf diejenigen, gegen die Mao Tsetung sie gerichtet sehen wollte: die Gruppe um den Staatspräsidenten Liu Schaotschi, um Deng Xiaoping und andere "kapitalistische Machthaber" in der Partei, die seit 1962 in Partei und Staat die Führung übernommen hatten. Sprecher: Als Mao Tsetung bewusst wurde, dass die kulturrevolutionären "Arbeitsgruppen" die Rolle, die er ihnen zugedacht hatte, nicht erfüllten, befand er nach seiner Rückkehr im Juli 1966, dass sie aus den Schulen vertrieben werden müssten. Sie hätten sich nicht wie Kämpfer der revolutionären Sache verhalten, sondern "wie Feuerwehrleute", die versuchten, das "revolutionäre Feuer zu löschen". "Die Bewegung" sei in einen "kalten und entmutigten Zustand" geraten. Sprecherin: Mao Tsetung hatte erkannt, dass er beim Kampf gegen seine Widersacher in der Partei- und Staatsführung sich nicht mehr nur der seit Yenan bewährten Instrumente bedienen konnte: der politischen "Kampagnen" unter Führung der Kommunistischen Partei, der "Kampf-Kritik-Umgestaltungs"-Sitzungen unter der Führung bewährter Kader. Nur durch den Rückgriff auf "revolutionäre Kräfte" außerhalb der Partei hoffte er nun, den entscheidenden Schlag führen zu können: durch die seit Ende Mai unter den Pekinger Schülern und Studenten sprunghaft anwachsende Bewegung der "Roten Garden": der "Rotgardisten". Musik: "Lied der Roten Garden" Sprecher: Nur, wenn man bereit wäre, ein "großes Chaos" auszulösen, würde es möglich sein, den "Revisionismus" zu zerschlagen. So hatte Mao es bereits in einem Brief an seine Frau Jiang Qing vom 8. Juli 1966 aus Wuhan formuliert: Man müsse sich des "großen Chaos" bedienen, um eine neue "große Ordnung unter dem Himmel" herzustellen. Musik "Lied der Roten Garden" Sprecherin: Die Hinrichtung der Lehrerin Bian Zhongyun löste in China nicht etwa ein öffentlich artikuliertes Entsetzen aus. Sie wirkte vielmehr wie ein Fanal, wie ein richtungsweisendes Beispiel, wie eine Ermutigung für die von Mao Tsetung entfesselte Massenbewegung der "Rotgardisten". Im Kampf gegen die "Rindergeister und Schlangendämonen" meinten die jungen Leute, sich als "Nachfolger der revolutionären Sache" beweisen zu können. Sprecher: Seit Jahren waren sie in dem Gedanken erzogen worden, sich bedingungslos in den Dienst der Revolution zu stellen. Seit 1964 war es vor allem an den Gymnasien zu einer eminenten Politisierung und Ideologisierung gekommen. Als dann die Jugendlichen durch entsprechende Äußerungen Mao Tsetungs den Eindruck vermittelt bekamen, es sei ausdrücklich ihre Kampf- und ? was noch entscheidender ist ? ihre Gewaltbereitschaft gefordert, um die Partei vor ihren äußeren und inneren Feinden zu retten, brachen schnell alle Dämme. Sprecherin: Es kam zu einem unvergleichlichen Gewaltausbruch während des "Roten August" im Jahr 1966 ? nicht nur in Peking, wo der "Rote Terror" besonders wütete, sondern in der Folge auch in anderen Teilen Chinas. Allein in der Hauptstadt wurden von Mitte August bis Ende September 1966 mehr als 1770 Lehrer, Professoren und Funktionäre der Schulverwaltung als "reaktionäre akademische Autoritäten" und als "Machthaber auf dem kapitalistischem Weg" von Rotgardisten gefoltert, zu Tode geprügelt oder in den Selbstmord getrieben. Atmo: Uhrwerk aus dem Film von Hu Jie Sprecher: Die Übergriffe der Schülerinnen des Mädchen-Gymnasiums der Pädagogischen Hochschule gegen Bian Zhongyun und vier weitere Leitungsmitglieder der Schule hatten bereits Mitte Juni 1966, noch unter der Leitung der kulturrevolutionären "Arbeitsgruppe", begonnen. O-Ton Wang Sprecher Wang: Bei der Versammlung am 22. Juni kam es zu unbeschreiblichen Gewalttätigkeiten. Yuan Shu'e sprang auf die Bühne, zerrte Bian an den Haaren und schlug sie. Sprecher: Yuan Shu'e war Lehrerin an einer benachbarten Schule. Sie versuchte, sich an die Spitze der kulturrevolutionären Bewegung an den Mädchengymnasien zu setzen und übte in der ersten Phase offenbar großen Einfluss auf die Schülerinnen des Gymnasiums der Pädagogischen Hochschule aus. Einen Tag später versammelten sich etwa 100 von ihnen an jenem Haus, in dem Bian Zhongyun und ihr Ehemann, Prof. Wang, zusammen mit ihren vier Kindern eine Wohnung im oberen Stockwerk bewohnten. Sie schlugen Wandzeitungen an - nicht nur im Treppenhaus, sondern auch in der Wohnung selbst und durchsuchten diese nach "belastendem Material". O-Ton Wang Sprecher Wang: Zu dieser Zeit waren wilde Hausdurchsuchungen gang und gäbe. Rebellengruppen drangen in die Wohnungen von Leuten ein, die Gegenstand der Kritik waren, kehrten das Unterste zu oberst und durchwühlten alles. Sie rissen den Fußboden auf und die Decke herunter. Sie zerbrachen und verbrannten alles, was ihnen in die Hände fiel. Sprecherin: Auf den Wandzeitungen, die in und vor der Wohnung Bian Zhongyuns aufgehängt wurden, heißt es u.a. Zitatsprecherin: "Du Fuchsgeist, du widerlicher weiblicher Teufel! Fühle dich zu Hause nur nicht sicher! In der Schule ist dir deine Arroganz schon ausgetrieben worden! Bei der Versammlung hast du wie ein Blatt gezittert, die Beine gelähmt, in den Händen der spitze Hut, die Haare nass von Eiswasser, das Maul voll gelbem Lehm, erbärmlich wie ein ersoffenes Schwein, aber kaum zu Hause, wirst du wieder zänkisch!" Sprecher: Am 29. Juni schrieb Bian Zhongyun einen Beschwerdebrief an das ZK der KP Chinas, in dem sie die Verleumdungen und gewalttätigen Übergriffe schilderte, denen sie sich ausgesetzt sah. Darin heißt es u.a.: Zitatsprecherin: "Ich wurde vier bis fünf Stunden lang geschlagen und misshandelt. Mir wurde ein spitzer Hut aufgesetzt, ich musste gebückt stehen, ich musste mich hinknien und wurde dabei geschlagen und getreten. Meine Hände wurden mit Stricken gefesselt, ich wurde mit Holzgewehren malträtiert, die sonst von den Milizen zu Übungszwecken benutzt werden. Man nahm Unrat und presste ihn mir in den Mund und beschmierte mein Gesicht damit. Am ganzen Körper wurde ich bespuckt. Als ich schon bis zum Äußersten gequält worden war, kamen Leute und machten Photos von mir ... . Kurz vor Ende der Versammlung tauchte noch einmal das Ungeheuer namens Yuan Shu'e auf. Sie war wohl der Meinung, dass die Qualen, die man mir bisher zugefügt hatte, noch nicht ausreichten, um sich Genugtuung zu verschaffen. So wagte sie es, mich an den Haaren zu ziehen. Ich wehrte mich gegen diese von Bösartigkeit strotzende Schlampe." O-Ton Wang Sprecher Wang: Am 4. August wurden einige Leitungsmitglieder der Schule im Büro zusammen-getrieben und schwer misshandelt. Sie waren schon öfter geschlagen worden, aber dieses Mal war es viel schlimmer. Die Mädchen nahmen Kolben von Übungsgewehren der Miliz. Es waren alles Mädchen. Keine Jungs. Es war ja ein Mädchengymnasium. Unter diesen Bedingungen zeigten sie ihre andere Seite. Sprecher: Man kann nicht ? wie viele "human rights watcher' dies tun ? behaupten, in der heutigen Volksrepublik China würde über die Kulturrevolution und über den "Roten Terror" nicht diskutiert. Zwar versucht die KP Chinas mit allen möglichen Mitteln, die öffentliche Diskussion einzudämmen, aber sie ist gar nicht in der Lage, sie zu verhindern. Publikationen werden verboten, Filmfestivals zensiert, Internetadressen blockiert. Aber die Diskussion findet dennoch statt: halböffentlich und im Verborgenen. Sprecherin: Beiträge zur Einschätzung der Kulturrevolution, zum Teil in Hongkong gedruckt oder im Internet veröffentlicht, werden von Hand zu Hand weitergegeben: per Email, auf CD oder über Diskussionsforen und Blogs im Internet. Filme, die über die Kulturrevolution und deren Opfer gedreht wurden, dürfen zwar nicht öffentlich vorgeführt werden und werden über das staatliche Fernsehen nicht ausgestrahlt, aber sie werden unter der Hand auf Videobändern oder DVDs weitergegeben und sogar in nicht öffentlichen als 'privat' ausgegebenen Versammlungen gezeigt. Sprecher: Bereits im Jahr 1981 hat die KP Chinas versucht, einen Schlussstrich unter das leidige Thema der Kulturrevolution zu ziehen. Sie verabschiedete eine grundlegende Resolution, in der eine entschiedene Verurteilung der Kulturrevolution festge-schrieben ist. Für die 10 Jahre des "großen Chaos" wurden Mao Tsetung und die sogenannte Viererbande um Maos Ehefrau Jiang Qing verantwortlich gemacht. Sprecherin: Doch diese Resolution eröffnete nicht den Weg zu einer kritischen Aufarbeitung der Kulturrevolution, sondern versuchte, diese eher abzubiegen. Rachegefühle wurden durch sie genauso unterdrückt wie der Wunsch der Opfer nach Anerkennung ihrer Leiden und Verurteilung der Täter. Zwar wurden prominente Opfer der Kulturrevolution rehabilitiert, aber alle weniger prominenten wurden aufgefordert, "keine alten Rechnungen zu begleichen". Weder Täter noch Mitläufer wurden belangt. Die große Zahl der Opfer des kulturrevolutionären Terrors blieb unberücksichtigt. Sprecher: Doch immer wieder, besonders zu historischen Jubiläen, kommt es zu erregten Debatten über die Kulturrevolution. So auch im Jahr 2006, dem 40. Jahrestag ihres Beginns. Während "linke", neo-maoistische Kräfte versuchen, die pauschale Verurteilung der Kulturrevolution in Frage zu stellen, wollen andere Kräfte an der Verurteilung nicht nur festhalten, sondern streben danach, die Kritik zu vertiefen und zu differenzieren. Sprecherin: In das Zentrum der Debatte rückt dabei mehr und mehr die Frage, ob die Millionen Opfer der Kulturrevolution als Opfer anerkannt werden sollten, ob ihnen zu Ehren öffentliche Trauerversammlungen stattfinden dürfen und ob ihren Familien eine späte Genugtuung geschaffen werden kann. Genau um diese Fragen geht es auch im Fall des Todes der Lehrerin Bian Zhongyun, die am 5. August 1966 erschlagen wurde. Das macht seine exemplarische Bedeutung aus. Atmo: Lautsprecherdurchsage mit revolutionären Parolen Atmo: Uhrwerk aus dem Film von Hu Jie Sprecher: Als die stellvertretende Vorsitzende des Kulturrevolutions-Komitees des Mädchengymnasiums, Liu Jin, am Morgen nach der tödlichen Prügelszene den Tod der Vizedirektorin und Parteisekretärin Bian Zhongyun über Lautsprecher bekanntgegeben hatte, trat eine kurze Stille ein. Atmo: Uhrwerk aus dem Film von Hu Jie O-Ton Wang Youqin Sprecherin Wang Youqin Es wurde kurz darüber gesprochen, aber dann ging man schnell zur Tagesordnung über. Bian Zhongyun gehörte schließlich zu den "Rinderdämonen und Schlangen-geistern". Von ihrem Tod sollte man nicht viel Aufhebens zu machen. "Er war nicht der Rede wert ... " Sprecher: An diese, am 6. August 1966 über Lautsprecher ausgegebene Richtlinie, Bians Tod sei "nicht der Rede wert", hat man sich lange gehalten. Sprecherin: 40 Jahre lang herrschte Schweigen. Bians Ehemann, Prof. Wang Jingyao, heute 89 Jahre alt, scheiterte mit all seinen Versuchen, die Verurteilung der Hauptverant-wortlichen an der Mordaktion durchzusetzen, in allen gerichtlichen Instanzen. Doch seit einigen Jahren gibt es in China ein wachsendes Interesse an dem "Fall Bian Zhongyun". Musik: Collage instrumentales Vorspiel von "Der Osten ist rot" und Uhrwerk Sprecherin: Zunächst einmal geht es darum ? wie bei den russischen 'Memorial'-Initiativen zur Frage der Opfer des Stalin'schen Archipel Gulag ? ganz schlicht zu rekonstruieren, was damals geschehen ist, die mörderischen Vorgänge dem Vergessen zu entreißen und den "Bann des Schweigens", der über der Vergangenheit ausgebreitet wurde, zu durchbrechen. Sprecher: Am 5. August 1966, um 13:30 Uhr, begann der Aufmarsch auf dem Schulhof des Mädchen-Gymnasiums an der Pädagogischen Hochschule. Man brachte die fünf Mitglieder der bisherigen Direktion, unter ihnen Bian Zhongyun, heraus. Ihre Gesichter hatte man mit schwarzer Tinte vollgeschmiert. Nur ihre Augen und Zähne konnte man gerade noch erkennen. Sie hatten spitze Hüte auf und wurden gezwungen, sich selber anzuklagen. Nachdem die kulturrevolutionären "Arbeitsgruppen" am 29. Juli für aufgelöst erklärt worden waren und Mao Tsetung sich am 1. August in einem Brief an das ZK vorbehaltlos für die Unterstützung der gewaltbereiten Rotgardisten-Bewegung ausgesprochen hatte, waren alle Partei- und Staatsorgane wie gelähmt. Es entstand ein Machtvakuum, in dem der "Rote Terror" sich mit umso größerer Willkür ausbreiten konnte. O-Ton Lin Sprecher Lin: Wenn Bian Zhongyun nicht laut genug schrie, wurde sie sofort mit einem Knüppel geschlagen. Also musste sie sehr laut schreien. Wenn sie es nicht tat, bekam sie eins drüber. Die Opfer mussten rufen: "Ich bin ein Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht!", "Ich bin ein konterrevolutionärer Revisionist!", "Ich verdiene die Schläge! Ich bin zum Tode verurteilt!" Oder auch "Mein Hundekopf gehört zerschmettert!" Zu jedem Satz mussten sie auf eine Waschschüssel oder ein Kehrblech schlagen. Bian Zhongyun musste ein Kehrblech schlagen und Hu Zhitao eine Waschschüssel. Daran erinnere ich mich sehr genau. Sprecher: Es gehört auch heute offenbar noch sehr viel Mut dazu, sich in China als Zeuge für die Folterszenen, Gewaltexzesse und Mordaktionen, die während des "Roten Terrors" geschehen sind, zu Wort zu melden oder sich für Interviews mit Historikern, Journalisten oder gar Leuten vom Film zur Verfügung zu stellen. Sprecherin: Als der unabhängige chinesische Filmer Hu Jie im Jahr 2005 im Hinblick auf den bevorstehenden 40. Jahrestag der Auslösung der Kulturrevolution einen Film über das Schicksal Bian Zhongyuns drehte, verweigerten ? bis auf drei Personen ? alle möglichen Zeitzeugen der Geschehnisse vom August 1966 die Mitarbeit, das heißt die ehemaligen Schülerinnen des Mädchen-Gymnasiums an der Pädagogischen Hochschule Peking. Sie hatten einfach Angst ? oder auch andere Gründe, sich den Fragen Hu Jies nach ihrer eventuellen Verstrickung in den Fall Bian zu entziehen. Sprecher: Der Film kam dennoch zustande, denn Hu Jie ist ein penibler Rechercheur und hartnäckig in der Verfolgung seiner Projekte. Stützen konnte er sich bei seiner Arbeit vor allem auf Wang Jingyao, den Ehemann Bian Zhongyuns, damals bereits 85 Jahre alt, einen emeritierten Professor für Neuere Geschichte an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften. Prof. Wang ist nicht nur der Hauptzeuge und in gewisser Weise der "Hauptdarsteller" in Hu Jies Film über Bian Zhong-yun, sondern er stellte Hu Jie auch alle Dokumente, Erinnerungsstücke, Aufzeichnungen und Photos zur Verfügung. Sprecherin: Am Tag nach der Ermordung seiner Frau beschloss Prof. Wang, alle Geschehnisse, die zum Tod seiner Frau geführt hatten, genauestens zu dokumentieren. Er kaufte sich eine Kamera und Fotografierte nicht nur den Leichnam seiner Frau, sondern auch alle Wandzeitungen, die von den Rotgardistinnen vor und in seiner Wohnung aufgehängt worden waren. Und er sammelte alle Dokumente und Zeugnisse, die eines Tages für ein Wiederaufrollen des Falles als Beweismittel wichtig sein würden. O-Ton Wang Sprecher Wang: "Mein Ziel war klar: Ich wollte die historische Wahrheit dokumentieren", Sprecherin: sagte er zu Hu Jie. Und er fügte später hinzu: O-Ton Wang Sprecher Wang: "Wenn ich nicht die Wahrheit offenlegte, wenn ich nicht Zeugnis ablegte, würde ich meiner Verantwortung nicht gerecht. Mein Leben wäre sinnlos gewesen. Das ist die Verantwortung, die niemand mir abnehmen kann." Sprecherin: In einem Koffer unter seinem Bett hatte Prof. Wang 39 Jahre lang viele der Beweismittel, die er aufgehoben und gesammelt hatte, versteckt: Bian Zhongyuns durch die Schläge zerstörte Armbanduhr, die um 15:40 Uhr stehengeblieben war, die kotverschmierte Unterwäsche, die sie an ihrem Todestag getragen hatte und ihre Bluse, auf die man hinten mit grobem Pinsel die kaum noch leserliche Parole "Nieder mit ... !" geschmiert hatte und die erst im Krankenhaus hinten aufgeschnitten worden war. O-Ton Lin Sprecher Lin: Kein Lehrer traute sich heraus. Da waren überall nur diese Mädchen, Rotgardistinnen. Ich versteckte mich im Laborgebäude und spähte durch das Fenster der Bibliothek. Sprecher: Lin Mang, ein schon in seiner Haltung und der Entschiedenheit seiner Aussagen beeindruckender alter Mann, der in Hu Jies Film neben Prof. Wang als Hauptzeuge auftritt, war zum Zeitpunkt des Interviews bereits 90 Jahre alt. Sprecherin: Mit 14 Jahren, also im Jahr 1929, hatte er sich der Revolution angeschlossen. Nach 1949 wirkte er als Wissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule in Peking. Aber bereits im Jahr 1955 geriet er im Rahmen der Kampagne gegen Hu Feng unter die Räder, wurde als gefährliches Mitglied der "Anti-Partei-Clique um Hu Feng" eingestuft und von der Hochschule auf das besagte Mädchen-Gymnasium strafversetzt. Er arbeitete dort zunächst als Chinesischlehrer, wurde aber bereits zwei Jahre später ? im Rahmen einer weiteren Kampagne - als Rechtsabweichler eingestuft und zum Bibliothekar degradiert. Am Beginn der Kulturrevolution enthob ihn die kulturrevolutionäre Arbeitsgruppe auch dieses Amtes, verurteilte ihn zur "Umerziehung durch Arbeit" und setzte ihn nur noch für die Reinigung von Toiletten und den Abtransport von Abfällen ein. In dieser Funktion wurde er am 5. August 1966 zum genauen Beobachter aller Quälereien, die die Mädchen mit ihren Lehrerinnen veranstalteten. O-Ton Lin Sprecher Lin: Unter den Rotgardistinnen gab es eine, die war besonders groß. Sie sagte zu Bian: "Du wirst uns nicht entkommen! Deshalb setze ich jetzt meinen Fuß auf deinen Körper." Das war grausam, wirklich grausam. Die Mode hatte sich über Nacht geändert. Plötzlich trugen die Mädchen grüne Militäruniformen und Stiefel der Volksbefreiungsarmee, Militärstiefel aus Rindsleder. Mit denen haben sie auf die Leute eingetreten. Nach dem Ende der Quälerei lag Bian Zhongyun schon im Sterben. Die Rotgardistinnen aßen Eiscreme und verschwanden. Sprecher: Trotz ihres elenden Zustandes sollte Bian Zhongyun gezwungen werden, die Toiletten zu reinigen. Lin Mang, der ja für die Toiletten zuständig war, wurde veranlasst, ihr einen Schrubber mit einem Feudel auszuhändigen. Aber bevor Bian den Schrubber nehmen konnte, wurde sie ohnmächtig, glitt die Wand herunter und lag bewusstlos auf dem Fußboden. O-Ton Lin Sprecher Lin: Ein Mädchen rief ihr zu: "Du simulierst! Du tust nur so, als ob du stirbst! Das hast du auch schon auf dem Schulhof getan!" Sprecher: Die Rotgardistinnen leerten eine Schüssel mit Wasser über Frau Bian aus. Aber sie schafften es nicht mehr, sie aufzuwecken. Sie schleppten die halbtote Frau durch den Korridor und legten sie auf der Treppe vor dem Eingang des Schlaftraktes ab. Sie wiesen Lin Mang und eine weitere Person an, eine Abfallkarre zu holen. O-Ton Lin Sprecher Lin: Sie wollten, dass wir Bian auf diese Karre heben sollten. Ich hob ihre Füße hoch; beide Schuhe waren voll mit Wasser. Sie lebte noch, von ihren Augen sah man nur das Weiße. Speichel und Blut rannen aus ihrem Mund, und sie zuckte. Sprecherin: Auf der Karre ließ man Bian Zhongyun mit den schweren Verletzungen, die ihr vor allem mit nägelgespickten Knüppeln zugefügt worden waren, stundenlang liegen - bis sie starb. Dabei war das nächste Krankenhaus gerade einen Steinwurf entfernt. O-Ton Lin Sprecher Lin: Als ich ihre Füße hochhob, fingen die Mädchen an zu lachen. Sie haben nicht über die Leiche gelacht, sondern über mich: über ein noch lebendes "rechtes Element", das eine sterbende "Machthaberin auf dem kapitalistischen Weg" trägt. Sprecher: Die 18-jährige Song Binbin, eine Schülerin der zweiten Klasse der Oberstufe, die damals den Vorsitz des Kulturrevolutions-Komitees der Schule innehatte, kam noch einmal heraus, um aus einiger Entfernung einen Blick auf die sterbende Bian Zhongyun zu werfen. Das hat sie 1967 in einem Gespräch mit Prof. Wang eingeräumt. Sie kehrte jedoch achselzuckend in die Sitzung des Komitees zurück, ohne irgendetwas zu unternehmen. Sprecherin: Die Schule, an der dies geschah, war nicht irgendeine Schule: Das Mädchen-Gymnasium an der Pädagogischen Hochschule in Peking war und ist eine Elite-Schule, an der vor allem die Töchter hoher Kader und Militärs ausgebildet wurden und werden. Man brauchte mindestens 199 von 200 möglichen Punkten oder eine Hintertür, um die Aufnahmeprüfung zu bestehen. An dieser Schule, die im westlichen Bezirk Pekings, nur einen Kilometer von Zhongnanhai, dem Wohnort Mao Tsetungs und anderer Spitzenfunktionäre, entfernt liegt, waren so viele Kinder führender Kader versammelt, dass eine frühere Direktorin dieses Gymnasiums einmal gescherzt haben soll: "Wenn wir einen Elternabend einberufen, ist hier leicht mal das halbe Politbüro versammelt." Sprecher: Auch die beiden Töchter Mao Tsetungs haben vor 1966 diese Schule besucht. Als die Kulturrevolution begann, waren sowohl Liu Ting, eine Tochter Liu Shaotschis, als auch Deng Rong, die zweite Tochter Deng Xiaopings, auf dieser Schule. Und ? nicht zu vergessen ? Song Binbin, die Tochter des damaligen Parteisekretärs des Regionalkomitees der Kommunistischen Partei im Nordosten Chinas und eines der führenden Militärexperten der Parteispitze. O-Ton Zhu Sprecher Zhu: Wir, die wir damals mit diesen Leuten zusammen die Schulbank drückten, und alle Jugendlichen der damaligen Zeit wussten, dass wir hier mit den Leuten zusammen aufwuchsen, die der Herrschaftsschicht angehörten und über ungeheuerliche Privilegien verfügten. Sie schienen die Zukunft Chinas zu repräsentieren. Sprecher: ...sagt Zhu Jiaming, ein heute 58-jähriger Ökonom, der in Wien lebt und am Institut für Ostasienwissenschaften der dortigen Universität arbeitet. Er besuchte 1966 ein Elite-Gymnasium für Jungen in Peking. O-Ton Zhu Sprecher Zhu: Es war dies für uns zwar nicht ohne Weiteres zu akzeptieren, aber es war uns vollkommen klar, dass das die Realität ist. So war es zu Beginn der Kulturrevolution. Sprecherin: War es Zufall, dass ausgerechnet Song Binbin vom Mädchen-Gymnasium der Pädagogischen Hochschule zu den Aktivisten gehörte, die am 18. August bei einem Aufmarsch von Hunderttausenden von Rotgardisten in Peking auf den Balkon des Tiananmen gebeten wurden, um dort mit Mao Tsetung und anderen Partei- und Staatsführern zusammenzutreffen? Es war eine historische Szene, die im ganzen Land, ja in der ganzen Welt mittels Photos, Filmen, Wochenschauen, Radiosendungen und Presseartikeln verbreitet und gefeiert wurde. O-Ton chinesische Wochenschau Zitatsprecherin : Song Binbin vom Mädchengymnasium der Pädagogischen Hochschule Peking heftete eine Rotgardisten-Armbinde an den Arm des Vorsitzenden Mao. Der Vorsitzende Mao fragte sie, wie ihr Name sei, und sie antwortete: "Song Binbin". Darauf fragte der Vorsitzende Mao: "'Bin' wie 'zurückhaltend und höflich'?" Sie antwortete: "Ja". Da sagte der Vorsitzende Mao: "Besser wäre: 'Song, die zu den Waffen greift!'" Sprecherin: Von da an ist Song Binbin eine Berühmtheit: Nur lautet ihr Name nicht mehr Song Binbin, sondern Song Yaowu: "Song, die zu den Waffen greift". In der Volkszeitung erscheint am nächsten Tag ein Artikel, der mit dem Namen Song Yaowu unterzeichnet ist. Auch das Mädchen-Gymnasium wird umgetauft: Es heißt ab sofort die "Rote Yaowu Schule der Stadt Peking". In den folgenden Wochen werden überall in China Schulen in Yaowu-Schulen umbenannt. O-Ton Lin Sprecher Lin: Vom Mädchengymnasium in Peking breitete sich das Morden im ganzen Land aus. Millionen von Menschen kamen ums Leben. Der Mord an Bian Zhongyun setzte im ganzen Land ein Beispiel und ermutigte die jungen Leute, zu schlagen und zu töten. Das Morden begann hier an dieser Schule. Sprecherin: In den letzten Jahren sind auffällig viele Beiträge zur Frage des Todes von Bian Zhongyun erschienen, sowohl in China, dort allerdings nur halböffentlich, als auch ? und das ist bemerkenswert ? in den USA. Die meisten Beiträge stammen von Frauen, die heute zwischen 55 und 60 Jahre alt sind. Das heißt sie waren zur Zeit der Ermordung Bian Zhongyuns ca. 15 Jahre alt. Viele der Autorinnen stammen ? das ist unschwer zu erraten ? von derselben Schule: dem Mädchen-Gymnasium der Pädagogischen Hochschule Peking. Das, was damals während der Kulturrevolution geschehen ist, treibt sie um. Nach 40 Jahren bewahrheitet sich der alte Psalm: "Die Wahrheit dringt aus der Erde hervor." Sprecher: Dabei zeichnen sich deutlich zwei Lager ab. Zwar sind alle irgendwie an "Aufklärung" interessiert. Doch liegt den einen vor allem daran, um Verständnis für ihre damalige "kulturrevolutionäre Begeisterung" zu werben. Sie weisen die Verantwortung für die Greueltaten während der Kulturrevolution von sich und sehen sich selber als Opfer Mao Tsetung. Eine andere Gruppe dagegen stellt sich eindeutig auf die Seite der Opfer und versucht, konkret aufzudecken, was wirklich geschehen ist, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die Schuldigen zu benennen. Sprecherin: Zu letzterer Gruppe zählen zwei Frauen, die sich in den letzten Jahren große Verdienste um die Aufklärung der während der Kulturrevolution verübten Verbrechen erworben haben: Wang Youqin und Wang Rongfen, beide aus Peking, beide seit Jahren im Exil lebend: Wang Youqin als Dozentin für Chinesisch an der Universität in Chicago, Wang Rongfeng als Publizistin in Wiesbaden. Wang Youqin, die auch die besagte Mädchenschule besuchte, hat unermüdlich Recherchen über die während der Kulturrevolution erschlagenen Intellektuellen betrieben und ihre Homepage als "Memorial" für die Opfer der Kulturrevolution eingerichtet. Ohne ihren Anstoß und ohne ihre Hilfe wäre Hu Jies Film über Bian Zhongyun wahrscheinlich nie zustandegekommen. Sprecher: Wang Rongfen hat 13 Jahre in China im Gefängnis gesessen, nachdem sie es gewagt hatte, im September 1966 einen offenen Brief an Mao Tsetung zu schreiben und angesichts der mörderischen Entwicklung im kulturrevolutionären China ihren Austritt aus dem Kommunistischen Jugendverband zu erklären. Sprecherin: Beide Lager, die sich mit dem Fall Bian Zhongyun befassen, stehen sich unversöhn-lich gegenüber. Dabei verbindet sich die Frage, welche Haltung man im Falle Bian Zhongyun einnimmt, schnell ? ausgesprochen oder unausgesprochen ? mit der Frage, wie man die Kulturrevolution insgesamt einschätzt. Norma Hinton, die als Tochter eines bekannten Fellow-Travellers der KP Chinas ihre Kindheit und Jugend in China verbrachte und ebenfalls eine Elite-Schule in Peking besuchte, hat in ihrem Film zahlreichen ehemaligen Rotgardisten die Möglichkeit gegeben, zu erläutern, wie sie in den Strom der Kulturrevolution hineingerissen wurden. Auch Song Binbin, die in die USA ausgewandert war, inzwischen als erfolgreiche Geschäftsfrau aber wieder in China lebt, wurde von Norma Hinton als Zeitzeugin interviewt. Doch Song Binbin spricht in dem Film mit keinem Wort über ihre Verstrickung in die Ermordung Bian Zhongyuns. Es werden ihr von Seiten Norma Hintons in dieser Richtung auch keine Fragen gestellt. Sie stellt sich als "sehr naiv" dar und als jemand, der von Mao Tsetung missbraucht wurde. Den Artikel in der "Volkszeitung", der in der Ich-Form geschrieben war und mit Song Yaowu unterzeichnet wurde, habe sie nicht geschrieben. Sprecher: Ye Weili, die ebenfalls in Norma Hintons Film zu Wort kommt, darüber hinaus aber mehrere Artikel über den Tod Bian Zhongyuns veröffentlicht hat, analysiert in ihren schriftlichen Beiträgen sehr präzise die Mechanismen und Voraussetzungen, die zu dem mörderischen Gewaltausbruch der Rotgardisten-Bewegung führten, an dem sie selber auch beteiligt war. Sie räumt ein, dass Song Binbin als damals führendes Mitglied im Kulturrevolutions-Komitee der Schule eine gewisse politische und moralische Verantwortung übernehmen sollte. Aber trotz der vielen Interviews, die sie mit ihren ehemaligen Mitschülerinnen aus der Zeit der Kulturrevolution führte, meint sie, heute noch mitteilen zu müssen, dass man nicht herausfinden könne, wer Bian Zhongyun damals erschlagen hat. Sprecherin: Je mehr man von solchen Beiträgen liest, desto mehr verdichtet sich der Eindruck, dass es so etwas wie ein "Kartell des Schweigens" gibt, eine Verabredung der Beteiligten, die Hauptverantwortlichen nicht preiszugeben. Sprecher: Dieses Schweigen verbindet die Rotgardistinnen von damals, auch wenn sie heute erfolgreiche Geschäftsfrauen oder Professorinnen sind, mit der Linie der Kommunistischen Partei Chinas in dieser Frage. Trotz der Verurteilung der Kulturrevolution als "10 Jahre des Chaos" verhindert die KP Chinas bis heute eine genaue Untersuchung der konkreten Geschehnisse. Warum werden zum Beispiel die Archive nicht geöffnet? Warum wird ? wie im Falle Bian Zhongyuns ? eine gerichtliche Untersuchung der Vorgänge unterbunden? Sprecherin: Die Antwort liegt auf der Hand: Im Jahre 1981 zogen die alten Herren an der Spitze der KP Chinas die Grenze dort, wo ihre eigenen Kinder ins Fadenkreuz der Untersuchung geraten wären. Denn es waren nachweislich die Söhne und Töchter hoher und mittlerer Kader der KP Chinas, die die Rotgardisten-Bewegung in ihrer ersten Phase angeführt und angetrieben haben: Leute wie Song Binbin, Liu Jin und Deng Rong. Inzwischen sind diese Kinder ? mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Resolution von 1981 ? an die Spitze von Partei, Staatsapparat und Wirtschaft in China aufgerückt. Welches Interesse sollten sie haben an der Aufdeckung von Verbrechen mitzuwirken, an denen einige von ihnen maßgeblich beteiligt waren? Und wer wagt es, als Zeuge aufzutreten, wenn die Täter von damals heute in führenden Positionen sitzen? O-Ton Zhu Sprecher Zhu: Man muss die Situation Song Binbins vor dem Hintergrund ihrer Familie sehen. Der Vater Song Binbins gehört zu den allerwichtigsten Führern innerhalb der Kommu-nistischen Partei. Und diese Familie hatte nicht nur während der Kulturrevolution, sondern auch darüberhinaus in China einen sehr, sehr großen Einfluss. Dieser Einfluss dauerte bis in die 90er-Jahre, ja sogar bis ins 21. Jahrhundert an. So war Song Binbin auch unter den ersten, die nach der Kulturrevolution das Land verlassen durften. Sie hat bis vor kurzem in der Gegend um Boston gewohnt. Angesichts eines solchen Familienhintergrundes ist es einfach unmöglich, irgend etwas über die Beteiligung Song Binbins an den Ereignissen der Kulturrevolution zu sagen. Es ist einfach unmöglich. Atmo: Uhrwerk aus dem Film von Hu Jie Sprecherin: Im September 2008 feierte das Mädchengymnasium an der Pädagogischen Hochschule Peking seinen 90.Geburtstag. Für die Feier wählte man einen Ort, der die Bedeutung dieses Ereignisses hervorheben sollte: die "Große Halle des Volkes" auf dem Tiananmen Platz. Sechstausend geladene Gäste kamen, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen, darunter auch Mitglieder des Diplomatischen Corps. Den Ehrengästen wurde ein Film vorgeführt, der - mit großem Aufwand gedreht - unter dem Titel "Ruhm und Traum" über zwei Stunden lang die Erfolgsgeschichte der Schule erzählt. Sprecher: Nach dem Vorbild amerikanischer Universitäten rühmt sich die Schule, die inzwischen im Rahmen der Modernisierung Chinas in "Experimental-Gymnasium an der Pädagogischen Hochschule" umbenannt wurde, darin ihrer erfolgreichen Absolventinnen. Den Opfern der Kulturrevolution verschlug es die Sprache, als sie Gelegenheit hatten, den Film anzusehen: Song Binbin wird darin nicht etwa als erfolgreiche Geschäftsfrau der nach-kulturrevolutionären Zeit präsentiert, sondern mit dem Photo, das sie in ganz China bekannt machte: als Song Yaowu, die Mao die Armbinde der Rotgardisten an den Ärmel der Armeeuniform heftet. Sprecher Wang: "Dass Song Binbin und die Ereignisse am 18. August 1966 in diesem Film positive Erwähnung finden, verletzt die vielen Opfer der Kulturrevolution und ihre Familien zutiefst. Sie können dies nur als ein Signal dafür werten, dass eine Wiederholung der Kulturrevolution durchaus möglich wäre", Sprecher: ...schrieb Prof. Wang Jingyao in einem offenen Brief an Yuan Aijun, die heutige Direktorin der Schule. Sprecherin: Er war offenbar nicht der einzige, der sich über diese provozierende und zugleich stillsschweigende Form der Rehabilitierung kulturrevolutionärer Gewalt und Verbrechen an Pekings Elite-Gymnasium empört hat. Denn als die Schule etwas später eine Hochglanzbroschüre herausgab, in der die wichtigsten Stationen der Entwicklung des Mädchen-Gymnasiums dargestellt und die prominentesten Absolventinnen abgebildet wurden, fand sich plötzlich - zwischen dem Photo von Song Binbin und der Abbildung einer militärisch marschierenden Gruppe von Rotgardistinnen - auch ein Bild Bian Zhongyuns. Sprecher: Es fehlt jede erklärende Unterschrift unter dem Photo von Bian Zhongyun. Aber es müssen sich Kräfte, die man nicht einfach übergehen konnte, dafür stark gemacht haben, als Gegengewicht gegen die provozierende alleinige Präsentation des Photos von Song Binbin in dem Film nun in der Hochglanzbroschüre auch ein Photo von Bian Zhongyun zu veröffentlichen. Sprecherin: Weitere derartige Anzeichen finden sich im Umkreis der Schule: So setzt Ye Weili sich dafür ein, dass auf dem Gelände der Schule eine Statue von Bian Zhongyun aufgestellt wird. Der Maler Xu Weixin in Peking hat damit angefangen, die Opfer der Kulturrevolution in großflächigen Bildern darzustellen und diese in einer besonderen Galerie zu versammeln. Auch Bian Zhongyun und ihr Ehemann Wang Jingyao sind inzwischen in dieser Galerie zu betrachten. Ye Weili und Xu Weixin geht es darum, die Erinnerung an die Opfer kulturrevolutionärer Gewalt wachzuhalten. Sprecher: Angst geht um in Peking. Die Gewaltexzesse der Kulturrevolution sind noch nicht vergessen, da kracht es an allen Ecken und Enden der chinesischen Gesellschaft. Gewalt zwischen Han-Chinesen und ethnischen Minderheiten, zwischen Reichen und Armen, zwischen Kadern und einfachen Leuten bricht wie aus einer mühsam verheilten Wunde an die Oberfläche. Sprecherin: Was ist, wenn wieder ? wie in der Kulturrevolution ? alle Dämme brechen? Was ist, wenn die nur formale negative Sanktionierung der Gewalt in der Kulturrevolution, wie sie die KP Chinas bisher festgeschrieben hat, nicht hält? Was ist, wenn der Gedanke sich durchsetzen sollte, dass das Beispiel der Kulturrevolution die Mittel an die Hand gebe, die gesellschaftlichen und ethnischen Konflikte zu lösen? Das kann niemand ernsthaft wollen. Um so wichtiger ist es, dass die politische Elite Chinas erkennt, wie viel davon abhängt, dass die Schrecken der Kulturrevolution und die Millionen von Opfern nicht vergessen werden. Musik: Ende von Titel "Der Osten ist rot" von CD "Masterpieces of Chinese Chorus Songs", Track 14, China Record Corporation, 2005 Absage: ... nicht der Rede wert? Der Tod der Lehrerin Bian Zhongyun am Beginn der Kulturrevolution Ein Feature von Susanne und Wolfgang Schwiedrzik Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2009. Es sprachen: Ilse Strambowski, Matthias Ponnier, Ernst August Schepmann, Hansgerd Kilbinger, Volker Risch, Martin Bross und Susanne Dobrusskin Ton und Technik: Michael Morawietz und Beate Braun Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Marcus Heumann 23