COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft 19. November 2009 Geschichte als Historische Sozialwissenschaft Winfried Sträter im Gespräch mit Hans-Ulrich Wehler Winfried Sträter: Wir haben in diesem Jahr an die Zäsuren der deutschen Nachkriegsgeschichte erinnert ? die doppelte Staatsgründung 1949, den Mauerfall 1989 und die folgende Wiedervereinigung, durch die die gesamtdeutsche Geschichte fortgesetzt wird. Erinnerungen sind zugleich Bestandsaufnahmen, um besser beurteilen zu können, wie sich die Welt um uns herum entwickelt, welche geistigen Strömungen wirksam sind, wie Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sich verändert haben und verändern. Das zu analysieren und zu beschreiben, ist Aufgabe der Historiker. Die Bilder, die sie von unserer Geschichte zeichnen, beeinflussen zugleich unsere Wahrnehmung unserer Welt, unserer Geschichte und damit den Gang der Geschichte. Denn sie prägen Einstellungen, die Auswirkungen auf die Politik haben. Deshalb ist heute die Geschichtswissenschaft selbst unser Thema, genauer: der tiefgreifende Umbruch der Geschichtswissenschaft nach 1949 in der Bundesrepublik. Die DDR ist ein Sonderfall, der in diesem Zusammenhang außer Acht gelassen werden muss, da es eine unabhängige Geschichtswissenschaft im zweiten deutschen Staat nicht gab und sich daher nach 1990 im Wesentlichen die westdeutschen Entwicklungslinien fortgesetzt haben. Geschichte als Sozialwissenschaft: das ist das Thema des Gesprächs, das ich mit Hans-Ulrich Wehler führe. Denn mit dem Begriff "Historische Sozialwissenschaft" oder "Bielefelder Schule" ist die entscheidende Veränderung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1949 verbunden. In den 60er und 70er-Jahren entfaltete sie ihre Wirkung im akademischen Betrieb. In den 80er und 90er-Jahren geriet sie in die Kritik neuerer Strömungen, die unter den Begriffen Alltags- und Kulturgeschichte firmieren. Aber sie blieb ein Bezugspunkt geschichtswissenschaftlicher und geschichtspolitischer Debatten. Hans-Ulrich Wehler, seit Anfang der 70er-Jahre Professor an der Universität Bielefeld, ist neben Jürgen Kocka der prominenteste Vertreter und Begründer der Historischen Sozialwissenschaft nach 1949 in der Bundesrepublik. Er hat im letzten Jahr sein monumentales Werk einer deutschen Gesellschaftsgeschichte abgeschlossen ? drei Jahrhunderte, von 1700 bis 1990. Doch zunächst, Herr Wehler, möchte ich mit Ihnen über die konfliktträchtigen Um- und Aufbrüche der Historikerzunft der Nachkriegszeit sprechen. Sie sind in den 1950er-Jahren wissenschaftlich sozialisiert worden. Die Katastrophe des Nationalsozialismus war gerade überwunden. In welchem geistigen und politischen Zustand befand sich die deutsche resp. westdeutsche Geschichtswissenschaft in dieser Zeit? Hans-Ulrich Wehler: Also, für Angehörige meiner Generation, die in den 50er-Jahren studiert haben, war der Befund eindeutig. Es gab die Dominanz einer ziemlich altertümlichen Politikgeschichte, die sich vor allem auf Diplomatiegeschichte, auf Außenpolitik konzentrierte. Theoretische, methodische Konsequenzen aus dem schrecklichen Debakel, nämlich der Art und Weise, wie sich zahlreiche Historiker dem Nationalsozialismus angedient hatten und mit ihm kooperiert hatten, wurden nicht gezogen. Allenfalls gab es sozusagen einen moralisch geläuterten Historismus, dass man sich jetzt noch mehr anstrengen müsse, die Vergangenheit zu verstehen. Dann kam bei uns hinzu, dass wir eine Generation waren, die zum ersten Mal zielstrebig ins Ausland gestrebt ist. Die vorhergehenden Generationen deutscher Historiker haben in aller Regel in Berlin, Tübingen, Heidelberg studiert und dann auch in Deutschland Karriere gemacht. Wir sind eigentlich alle mehrere Jahre im Ausland gewesen. Ich bin nach dem ersten Semester anderthalb Jahre in Amerika gewesen. Das war eine sehr grundsätzliche lang wirkende Erfahrung, weil man da in einem Land lebte mit einer, wie ich fand, außerordentlich liberaldemokratischen Kultur, auch im Umgang der Dozenten mit den Studenten an der Universität, auch mit neuen Fragestellungen, also, was wir dann später auch "Sozialgeschichte" genannt haben, die wir in Deutschland nicht kannten. Und da war die zweite grundlegende Veränderung: Wir hatten das Gefühl, man könne sich nicht länger mit 1933, Hitlers Triumph, dem Weg in den Vernichtungskrieg und den Holocaust beschäftigen, indem man irgendeine politische Fehlsteuerung in der Zeit der Weimarer Republik annahm und nachwies, wonach dann die radikalen Flügelparteien ? die Nationalsozialisten und Kommunisten ? schließlich, wenn man so will, eine negative Mehrheit im Parlament bilden konnten. Das war eine sehr kurz gegriffene Erklärung. Und es drängte sich von den Erfahrungen in anderen Ländern mit weiterführenden Fragestellungen der Historiker und angesichts der Erfahrungen, die die Deutschen nun gemacht hatten, auf, man müsse sich doch sowohl einer längeren Vorgeschichte ? die konnte einfach nicht um 1930 beginnen, um den Nationalsozialismus zu erfassen ? beschäftigen, aber auch sozusagen andere Brennpunkte und Schwerpunkte bilden. Man müsse im Grunde genommen ? war dann unser Konsens ? einmal die gesamte Gesellschaft unter die Lupe nehmen. Winfried Sträter: Haben denn Ihre akademischen Lehrer diese Aufbausituation begriffen? 1945 war die Kapitulation. Auf der anderen Seite war es eine geistige Befreiung. Hans-Ulrich Wehler: Wir wussten natürlich bis in die frühen 90er-Jahre nicht, in welchem Maße sich diese Generation von jungkonservativen Intellektuellen in den 20er, frühen 30er-Jahren für völkisches Leben, für die Revision des Versailler Vertrages, bis hin zur Unterstützung der NSDAP engagiert hatte. Das haben sie auch tabuisiert. Also, ich hab immer mal wieder ? ich war ja dann bei Schieder lange in Köln ? gefragt, wie denn seine Königsberger Zeit, er war wegen Krankheit nie eingezogen als Soldat, gewesen ist. Dem wich er immer aus. Er hat nicht mit einem halben Satz eine Antwort gegeben, sondern eher gesagt, ach, besorgen Sie mir doch für das nächste Seminar noch die und die Bücher, die brauche ich noch vorher. Aber nach meiner Deutung hatte er unter geradezu schockartigen Bedingungen einen Reflexionsprozess durchlaufen und sich klar gemacht, in welchem entsetzlichen Ausmaß er auf die falsche Karte gesetzt hatte, obwohl er nicht - Conze war ja Soldat und auch ständig an der Front in Russland und hatte da seine schlimmen Erfahrungen, aber in welchem Maße er mit der Unterstützung der NS-Bevölkerungspolitik da doch am Schreibtisch gewissermaßen mitgemacht hatte. Und im Seminar und in den Vorlesungen ? da waren wir ja alle hellwach, glaube ich ? gab es nicht eine falsche apologetische Formulierung ? im Gegenteil. Wenn man scharf zuspitzte und die Kritik an den braunen Herrschern ? aus welchem Grunde auch immer ? vortrug, dann akzeptierte er das, unterstützte das, warf neue Fragen dazu auf. Und ich glaube, dass seine Liberalität im Umgang mit Jüngeren ? es waren ganz unterschiedliche sogenannte "Schüler", also, Martin Broszat, der später das Institut für Zeitgeschichte geleitet hatte, der wäre in der Weimarer Zeit linke USPD gewesen damals. Andere, wie Kurt Kluxen, das war ein katholischer Liberaler. Und sozusagen in meiner Generation Wolfgang Mommsen, Lothar Gall, Helmut Berding, Christoph Schröder, wir waren sozusagen im Grunde liberal sozialdemokratisch, links von der Mitte. Keiner von uns allen war in einer Partei, aber jedenfalls war es eine ganz, ganz heterogene Gruppe. Und ich glaube, dass Schieder, nachdem er sich auch einmal sozusagen die Finger verbrannt hatte, wie man damals in Köln sagte: Ich lasse meine Jecke an langer Leine laufen. Wenn sie sich vergaloppieren, dann werde ich mit Argumenten intervenieren. Aber sie sollen zunächst mal ihren Weg finden. Winfried Sträter: Dann haben Sie ja in der Zeit durch Ihre Auslandskontakte und durch Ihre Reise in die USA gewissermaßen Witterung aufgenommen mit neuen Strömungen in der Geschichtswissenschaft, die nach 1945 zunächst erst mal in der Bundesrepublik keine Rolle spielten, und haben sich ja erst mal am Historismus der deutschen Nachkriegshistoriker gerieben. Eigentlich ist der Historismus ja die Epoche der großen Zeit der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert als die deutsche Geschichtswissenschaft Weltgeltung hatte. Was störte Sie am Historismus der Nachkriegshistoriker? Hans-Ulrich Wehler: Ja, das war nachgelagert. Ich kam aus Amerika zurück und ging nach Bonn im Grunde, um aus der Nähe den Aufbau der Bundesrepublik zu erleben. Aber die Ausbildung bei den Historikern war so gotterbärmlich konventionell und altertümlich, dass ich geflohen bin und gedacht habe, das kann keine Schulung sein. Und dann bin ich nach Köln gegangen, wo es eine große wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät gab, und habe ein Doppelstudium angefangen, um mich sozusagen nach meiner Neigung mit Gesellschaft und Ökonomie zu beschäftigen. Und dann stieß ich auf den Historismus in der Form, wie ihn vor allem Meinecke kultiviert hatte. Das war, würde ich heute rückblickend sagen, eine arg dünnflüssige Variante des Historismus. Winfried Sträter: Inwiefern? Hans-Ulrich Wehler: Den würde ich heute in andere Form auch verteidigen, weil das ein immenser Fortschritt ist, sozusagen aus dem historischen Kontext menschliches Handeln verstehen zu lernen. Da ist aber natürlich auch eine anti-aufklärerische Komponente drin. Es ist gegen die Französische Revolution mit ihrer Zerstörung des Überlieferten, aber methodisch und theoretisch war das damals ein immenser Fortschritt. Und hinter den kann man nicht zurück. Aber wir sahen damals nur, dass der Historismus in seiner verwässerten Form dazu geführt hatte, dass man eigentlich am besten nur Biografien schreiben sollte. Und dann war eben die grundsätzliche Meinung die: Man darf nicht der Meinung sein, die deutschen Historiker führen seit Ranke in der Weltgeschichtswissenschaft, sondern wir sind in einen Rückstand geraten durch die Abriegelung in der NS-Zeit. Und wir müssen jetzt von den Nachbarwissenschaften lernen, die uns sozusagen nahe gelagert sind. Das war in meinen Augen Ökonomie, Soziologie und Politikwissenschaft. Winfried Sträter: Das war ja ein Angriff im Grunde auf die etablierte Geschichtswissenschaft. Wie schafft man es, ohne das akademische Hinterland, das jemand hat, der noch weit davon entfernt ist, auf einer ordentlichen Professur zu sitzen, ohne dieses akademische Hinterland ausreichend Resonanz zu finden und damit eben gewissermaßen auch bekannt zu werden in der scientific community? Hans-Ulrich Wehler: Also, Schieder schrieb schon gute Gutachten über seine Leute. Das ist das eine. Man operierte nicht ohne Rückendeckung, sozusagen nur als Einzelgänger. Dann ist aber natürlich ? das muss man sozusagen ganz strukturell sehen ? die immense Begünstigung, die Expansion des Hochschulsystems. Wir sind eigentlich alle zunächst einmal auf Lehrstühlen gelandet an Neugründungen oder ausgebauten Universitäten. Winfried Sträter: Bielefeld. Hans-Ulrich Wehler: Ja. Bielefeld war Neugründung. In Bochum war Hans Mommsen, in Düsseldorf Wolfgang Mommsen. Die könnte ich sozusagen der Reihe nach durch deklinieren. Und nicht nur das, es war auch das Gefühl in einer Zeit, in der die große Koalition und dann die sozialliberale Koalition das Wissenschaftssystem unterstützte und überhaupt Reformen, sozusagen neue Schwungkraft entfesselten, es war eine Zeit, in der man das Gefühl hatte, man hat Rückenwind. Die Gesellschaft unterstützt jetzt mal einen neuen Ansatz. Das merkte man auch bei Einladungen an Akademien oder Gewerkschaftsveranstaltungen: da war auf einmal eine andere Aufgeschlossenheit und wohlwollende Beurteilung, die es vorher nicht gegeben hatte. Im Übrigen haben erhebliche Teile ? das will ich ja gar nicht verschweigen ? der damaligen älteren Zunft gegen uns gemauert. Natürlich waren wir sofort mindestens Marxisten-Leninisten, auch wörtlich so ausgesprochen, weil wir Sozialgeschichte und Wirtschaft betonten. Oder wir waren sogar Bolschewiki. Oder bei einer Berufungsverhandlung an einer berühmten Universität sagte dann jemand, als er gehört hatte, na ja, Wehler kann man doch nicht holen. Der ist doch Marxist, wenn nicht sogar Bolschewist. Sagt der, nein, nein, es ist viel schlimmer. Er ist Maoist. Er hat nämlich die amerikanische Expansionspolitik in Asien kritisiert. Das tut doch heute nur ein Maoist. Aber wenn es dann zum Schwure kam, sind wir eigentlich alle in einer Zeit, um die uns heute die Jüngeren beneiden würden, wie schnell das ging nach der Habilitation, sind wir eigentlich alle, also, fast ausnahmslos alle auf Lehrstühlen an neu gegründeten Unis gelandet. Und das war nun auch klimatisch und von der Zusammensetzung der Hochschullehrerschaft an den Neugründungen, das waren alles Jüngere zwischen 30 und 40. Die waren alle in der damaligen Zeit im Kern ? ohne dass sie für eine Partei optiert hätten ? sozialliberal und unterstützten Reformen, unterstützten die Ostverträge. Und das gab, ganz anders als wenn sie jetzt nach der Wende Greifswald oder Rostock oder Leipzig unter mühseligen finanziellen Bedingungen wieder aufbauen müssen, damals in der Zeit der Hochkonjunktur - also, wir hatten jahrelang einen unbegrenzten Bibliotheksetat. Johannes Rau, der damals Wissenschaftsminister war, der sagte: Jungs, kauft zusammen, was geht. Aber als dann die Unis gebaut wurden, war seine Bitte beim ersten Besuch: Ich kann euch nicht mehr geben als rund eine Milliarde. Ich will nämlich 15 Hochschulen gleichzeitig bauen. Und das gelang. Man hatte das Gefühl, jetzt ist man Teilnehmer an einer Vorwärtsbewegung. Winfried Sträter: Ist die Historische Sozialwissenschaft, wenn man das so politisch verortet innerhalb der Geschichtswissenschaft, ein linksliberales, sozialliberales Projekt, das nur erklärbar ist in einer solchen geistigen Strömung, die sich damals entwickelt hat? Hans-Ulrich Wehler: Ich glaube, das würde ich unterschreiben. Die alte Metapher dafür wäre der Zeitgeist. Man brauchte einen Zeitgeist, der sozusagen auf Veränderung, auf Aufbruch, auf notwendige Reformen setzte. Und das betraf eben auch die Wissenschaft, in der man arbeitete. Und ich kenne eigentlich keine Strömung oder Schule, die von den damals konservativen Historikern gebildet worden wäre, die sozusagen ähnliche Attraktivität entfaltet hätte. Ich habe dann damals auch den Primat der Außenpolitik angegriffen, der für die deutschen Historiker seit Ranke geradezu sakrosankt gewesen war. Aber dagegen wurde dann immer nur gesagt von den Politikhistorikern: Ja, aber es gibt ein Primat der internationalen Beziehungen. Aber sie konnten es nicht entfalten, während wir sozusagen die Möglichkeit hatten, wir konnten ausweichen auf Konjunkturen und Krisen und ihre Einwirkungen auf Politik oder auf gesellschaftliche Formationen, wie Bildungsbürger oder Angestellte oder Proletarier, wir hatten sozusagen ein größeres Spielfeld, um mit unserem Projekt zu zeigen, dass es einfach weiter war und letztlich auch, das war natürlich der hochgemute Anspruch von Anfang an, dass wir denen es auch mal zeigen würden, wie eine neue Synthese aussehen würde. Da hatte ich ja nun Glück, dass Jürgen Kocka sofort nach Bielefeld kam. Überhaupt beruhte die Bielefelder "goldene Zeit" darauf, dass ein Dutzend Leute ? wir hatten als einziger Fachbereich, der neu gegründet war, ein Konzept. Und das hieß "theoriegeleitete Sozialgeschichte". Das wurde sehr elastisch gehandhabt, aber alle, die kamen, waren sozusagen von diesem Interesse beseelt, da mitzumachen ? mit ganz unterschiedlichen Orientierungen. Winfried Sträter: Was meinte das ? "theoriegeleitete Sozialgeschichte"? Hans-Ulrich Wehler: Das hieß, dass man sozusagen nicht ? wie man heute sagen würde ? im narrativen Erzählstil, so wie das imponierend Golo Mann mit seinem Wallenstein konnte - es können aber sehr wenige Historiker -, Geschichte erzählte, sondern dass man sich fragte: Unter welchen politischen, sozialen Bedingungen tendieren Angestellte, die sich sozusagen als verlängerte Privatbeamte begreifen, nach rechts? Das war damals eine Vorstellung, dass vor allen der Nationalsozialismus in diesem aufsteigenden Sozialtypus, nicht mehr Arbeiter, sondern Angestellte, eingebrochen sei. Also, man brauchte einen theoretisch-methodischen Ansatz, um sozusagen für jeden, der das dann nachvollzog als Hörer oder Leser, es nachvollziehbar zu machen ? auf diesem Weg ist der da hingekommen. Und dann war der Appell, wir können das akzeptieren, es gibt auch die und die Gegenargumente. Vielleicht können wir die stark machen. Das, fand ich, war damals für die Jüngere, die nun von allen Universitäten sehr bald nach Bielefeld kamen, auch das Attraktive, dass wir nicht dogmatisch gesagt haben, wir sind im Besitz einer Heilslehre, Sozialgeschichte ist das Non plus ultra, sondern dass wir gesagt haben, wir müssen Rechenschaft ablegen über unsere Erkenntnis leitenden Interessen, über die normativen und über die theoretischen Vorstellungen, mit denen wir an ein Problem herangehen, und dann ist es eure Aufgabe, das zu kontrollieren, zu sagen, halbwegs einleuchtend, oder es gehört in den Orkus. Und das ergab ein sehr ? fand ich, finde ich auch im Rückblick immer noch ? attraktives intellektuelles Klima. Winfried Sträter: Wenn man das jetzt ganz grob sieht: Die einen haben früher versucht, Entwicklungen zu erklären, indem sie beschrieben haben, wie bestimmte politische Figuren gehandelt haben ? Sie haben gesagt, Sie gucken sich die Strukturen an und ich kann mich erinnern, als ich Ihr Buch über das Deutsche Kaiserreich gelesen hatte und dachte nur: Es kommt eigentlich kaum einer drin vor, kaum einer der handelnden Figuren ist da auch nur namentlich erwähnt. Insofern hat ja vielleicht die Kritik, die dann später an der historischen Sozialwissenschaft geübt wurde, als diese Geschichtswerkstätten aus dem Boden sprossen, Alltagsgeschichte aufkam, man sich auch wieder Biografien widmete, dass man gesagt hat, das ist so unpersönlich, was an sich. Sie haben ja seinerzeit sehr harsch, sehr polemisch darauf geantwortet. Ich hatte das Gefühl, das ist auch so ein bisschen eine Majestätsbeleidigung, die da geschah, weil, das kam ja gewissermaßen aus dem Milieu, aus dem die Historische Sozialwissenschaft entstanden ist. Würden Sie sagen, die Alltagsgeschichte hatte mir ihrer Kritik recht? Hans-Ulrich Wehler: Das würde ich ganz und gar nicht ? im Gegenteil. Ich würde die Kritik heute verteidigen, ihre Theoriearmut und ihr Aufbegehren. Natürlich kamen die aus dem ? sagen wir mal ? Milieu, was die Sozialhistoriker geschaffen hatten. Das stimmt schon. Und dann war mir auch nicht geheuer diese, wie ich fand, etwas gefühlsselige Annäherung an die vernachlässigten Individuen, die kleinen Leute. Warum gab es keine Alltagsgeschichte des Adels oder der Bürger? Weil sich da eine riesige Lücke auftat, haben wir dann mit dem Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte `84 angefangen und mal vier Bände über Bildungsbürgertum geschrieben, weil die meisten Historiker zwar daher kommen ihrer Herkunft nach, aber man wusste über die nur sozusagen, was durch Zuruf übermittelt worden war. Das war schon außerordentlich einseitig. Es ist natürlich für das Problem, gerade für das Problem, wie kommt der Nationalsozialismus unten an in kleinen Bauerndörfern, in proletarischen Vierteln der Städte, da manches ausgegraben worden. Aber ich kenne keinen einzigen Historiker in gleich welchem Land, wo ich so ein bisschen den Überblick habe, der heute noch versuchen würde Alltagsgeschichte zu schreiben. Während sozusagen dieser Ansatz, in einer weiteren Dimension möglichst viel doch von einer Gesellschaft zu erfassen, um sozusagen an ihre wirklichen Probleme heranzukommen, der hat sich gehalten. Winfried Sträter: Die Alltagsgeschichte ist ja dann wiederum durch die neue Strömung der Kulturgeschichte überholt worden. Hans-Ulrich Wehler: Ja, es ist sozusagen ein Gezeitenwechsel. Für unsere Generation, wenn man schon den Sammelbegriff so hat, stand eben Gesellschaft im Mittelpunkt. Und aus Protest gegen die Einseitigkeiten und auch die Vernachlässigung sozusagen, wie die Jüngeren dann mal in der Verstehensdimension oder der Individuen, breitete sich ? und das ist ja ein internationales Phänomen ? von England, Amerika, vor allem von Frankreich, auch Italien ausgehend die Vorstellung aus, das eigentlich umfassende Problem sei doch, wie Kultur das menschliche Leben strukturiere und auch sozusagen bis in die politischen Entscheidungen Mentalitäten forme und so. Das wurde dann auch theoretisch aufgewertet durch den Rückgriff auf das, was die Ethnologie, die Kultur-Anthropologie, die Linguistik bis dahin an nützlichen Anregungen erarbeitet hatte. Das war eine klare Gegenposition. Und meine letzten Jahre an der Universität Bielefeld habe ich in dem Doktorandenkolloquium vier Jahre lang versucht, diesen kulturell neuen Anspruch zu historisieren und den Jüngeren zu zeigen: So neu ist das nicht. Das haben die Herren Ranke und Droysen auf ihre Weise und dann Weber und Troeltsch auch versucht, kulturelle Phänomene zu erfassen. Und dann haben wir sozusagen die einzelnen Ansprüche, was weiß ich ? Körpergeschichte, Emotionengeschichte, alles das, was da so aufkam ?, unter die Lupe genommen und ich immer mit dem geheimen Hintergedanken: Findest du da ein Synthesekonzept, das der Gesellschaftsgeschichte überlegen ist? Das scheint mir das große Defizit zu sein. Es gibt gelungene Beispiele der Kulturgeschichte, wo eine für uns letztlich fremde Welt ? Mittelalter, frühe Neuzeit oder auch in der Neuzeit ? von diesem Gesichtspunkt aus bearbeitet wird. Und dann leuchtet da diese Welt ganz anders auf, nachdem man sie bisher vernachlässigt hatte. Aber es ist bisher noch keinem gelungen, eine Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben oder eine Kulturgeschichte des 20. oder des Nationalsozialismus. Da scheint es Barrieren zu geben, die jetzt, bisher jedenfalls, noch nicht überwunden worden sind. Und dann hab ich gedacht, gut, das ist eben letztlich für deine Zwecke, die du da verfolgst, abgesehen davon, dass man die Pferde nicht im Strom wechseln soll, sozusagen kein Syntheseangebot, das deins verdrängt oder auf das du dich jetzt zusätzlich einlassen musst. Winfried Sträter: Wie steht es denn um Historische Sozialwissenschaft an den Universitäten heute? Welchen Stellenwert hat sie an den Universitäten oder im geschichtswissenschaftlichen Betrieb heute? Hans-Ulrich Wehler: Ich würde sagen, relativ gering, weil die Modeströmung hat sich auch in Deutschland stärker durchgesetzt. Mein harter Vorwurf ist der: Man kann viel leichter über Diskurs schwätzen. Das braucht man sich nicht so ernsthaft zu erarbeiten, als wenn man den Konjunkturverlauf in 20, 30 Jahren anhand von sehr mühsam zu erschließenden statistischen Quellen erarbeiten muss oder wenn man die Sozialstruktur einer Großstadt, wie Oberhausen, schildern will, wo 1840 nichts ist außer Steppe und Heide. Und da kommt da ein Eisenbahnknotenpunkt und ein paar Jahre später ist das eine Großstadt mit über 100.000 Menschen und eigentümlichen Klassenstrukturen, die sich da um die Bergwerke bilden. Es ist ein leichterer Zugang und vieles davon ist Fliegengewicht. In meinen Augen liegt die eigentlich aussichtsreiche Strecke da, dass man das fusioniert, dass man sozusagen von Sozial-, Wirtschafts- und Politikgeschichte eine klare Vorstellung hat, und sich auch für das Problem, was man gerade verfolgt, etwas erarbeitet und dass man dann in einem zweiten Durchgang ? man kann es auch umgekehrt machen und fängt mit Kultur an ? sich sozusagen die Dimensionen erschließt, welche Weltbilder, welche Mentalitäten, welche religiösen Strömungen, welche alltagsprägenden Rituale und Riten eine Rolle spielen, dass man das kombinieren kann. Und das geht. Winfried Sträter: Die deutsche Gesellschaftsgeschichte, die Sie geschrieben haben, ist allerdings eher ein klassisches Werk der Historischen Sozialwissenschaft. Sie haben ja gewissermaßen sektoral abgearbeitet, welche Strukturen haben sich in welcher Weise entwickelt. Hans-Ulrich Wehler: Ja. Das ist das Problem. Wenn Sie so eine Synthese angehen wollen, wie ich das Anfang der 80er-Jahre mir überlegt habe, dann müssten Sie sozusagen einen konzeptuellen Rahmen haben, in den Sie die unendliche Vielfalt der historischen Probleme hineinpressen können und in den doch möglichst viel von dem, was Sie aufgrund Ihres Vorverständnisses für wichtig halten, reinpasst. Da bin ich schließlich bei dieser Vorstellung von Max Weber dann doch geblieben, dass Herrschaft, Arbeit und Kultur ? und die zusammengenommen erzeugen eben auch unter den Menschen Ungleichheit ? sozusagen einen Rahmen abgeben, mit dessen Hilfe man die Probleme sortieren kann. Denn sonst verlieren Sie sich jahrelang in einer endlosen Lektüre, machen Ihre Exzerpte und können das nicht bändigen. Das Problem ist dann natürlich, dass es immer schwierig ist, das zusammenzubinden. Auf der anderen Seite bin ich ein Skeptiker, was den Anspruch angeht, man könnte narrativ sozusagen eine komplexe Wirklichkeit wirklich bändigen. Also, es gibt ja den Grundsatzkonflikt zwischen einer literarischen künstlerisch orientierten Geschichtswissenschaft und dieser eher analytischen. Ich finde den Preis, den wir zahlen, wenn wir sagen, wir analysieren Probleme und gehen da mit Theorien und bestimmten Methoden ran, der ist der, dass die Überzeugungskraft einer gelungenen narrativen Darstellung fehlt. Nun ist das aber ein Talent. Man kann nicht in der Ausbildung von aberTausenden von jungen Historikern erwarten, dass mehr als ab und zu einmal einer darunter ist, der dieses literarische Talent hat. Wer das hat, da braucht man gar nicht diskutieren, ob das familiengenetisch bedingt war, das war Golo Mann. Wenn Sie den Wallenstein lesen, dann erklärt der auch, aber es ist eine suggestive Sprache und eine genau Kenntnis der Probleme. Das können aber eigentlich sehr wenige. Deshalb ist das auch als Rezept gegenüber Jüngeren ? klingt verführerisch, jeder möchte gern literarisch anziehend gefunden werden, aber ich glaube, abgesehen davon, dass ich meine, man kann dadurch Probleme transparenter machen, wenn man analytischer rangeht, ist es eigentlich auch: Man verlässt sich dann auf ein Talent, was nur sehr, sehr wenige haben. ENDE 1 11-19 FuG Gespräch Historische Sozialwissenschaft.doc