COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport vom 01.03.2010 Next Generation (3) - Die Jugend im Ruhrgebiet auf Zukunftssuche - Autorin Schulz, Friederike Red. Stucke, Julius Sdg. 01.03.2010 - 13.07 Uhr Moderation Next Generation - die nächste Generation. Ein Projekt im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Ein Jahr lang arbeiten Jugendlichen aus vier Städten in zehn sogenannten Zukunftshäusern an Ihren Visionen für die Metropole Ruhr. Kreative Visionen - mit Theaterstücken, mit Musik, Tanz, Film und mehr. Was dabei entsteht wird teilweise ruhrgebietsspezifisch sein - aber sicherlich nicht nur - denn die Frage nach der Zukunft einer Generation in einem Ballungsraum stellt sich auch an anderen Orten des Landes. Next Generation ist ein Projekt von Schauspiel Essen und Schauspielhaus Bochum - unterstützt durch die Bundeszentrale für politische Bildung. - Wir im Deutschlandradio Kultur möchten diesem Projekt, möchten den Jugendlichen eine Stimme geben. Im Länderreport werden wir jeweils am Monatsanfang aus den Zukunftshäusern berichten. Vieles steht dabei noch am Anfang - noch steht sie nicht im Raum, die große Vision in Sachen Zukunft - aber die Jugendlichen machen die ersten Schritte, sammeln die ersten Erfahrungen. Zum Beispiel in Essen-Altendorf. Friederike Schulz hat das dortige Zukunftshaus besucht: -folgt Manuskript Beitrag- Manuskript Beitrag ATMO / OT 01 "Hey, grüß dich! Schön, dass du hier bist. Du bist wenigstens warm angezogen. Hau dich erstmal in die Gruppe." AUTORIN Samstagmittag, kurz vor zwei. Die Regisseurin Ines Habich steht an der Tür ihres Zukunftshauses in Essen-Altendorf und begrüßt die Neuankömmlinge mit Handschlag. Die 16jährige Mirja streift ihren dicken blauen Parka ab, setzt sich zu den beiden Jungs, Arslan und Nick, auf das quietschgrüne Sofa in dem ehemaligen Ladenlokal. Verstohlen blickt die schlanke junge Frau mit den langen braunen Haaren ihre Sitznachbarn an, sagt leise "Hallo". Eine Woche zuvor hat Mirja beim Casting mitgemacht, jetzt ist sie zum ersten regulären Treffen gekommen. Ines Habich hat mehrere Wochen lang Flyer in Kiosken und Cafés ausgelegt, hat Schulklassen und Sportvereine besucht und Werbung für das Projekt gemacht: Jugendliche aus Altendorf sollen gemeinsam ein Theaterstück über ihr Viertel schreiben und aufführen. Der Stadtteil ist das, was man etwas abgedroschen als "Multi-Kulti-Viertel" bezeichnet: heruntergekommene Mietshäuser, die Geschäftsstraße säumen türkische Cafés, Ein-Euro-Shops und Dönerbuden. Die Regisseurin hat zwölf Jugendliche ausgewählt, die sich heute erst mal untereinander kennenlernen sollen. Was sie erwartet, weiß die 16jährige Lea noch nicht genau. Sie sitzt etwas abseits auf der Fensterbank, blickt schüchtern zu Boden. OT 02 (Lea) "Mich interessiert Schauspielen, Singen, Tanzen, mich interessiert eigentlich alles. Wie spielt man in einer Gruppe, das ist ja noch was ganz anderes als wenn man so alleine spielt. Das ist ja ein Gruppenspiel. Auch noch vom Stadtteil finde ich das voll cool. Das ist gut." ATMO / OT 03 "Wir warten noch ein bisschen...ist schon ein schlechter Anfang...man muss pünktlich sein...Aber weil es die erste Probe ist, sind wir mal gnädig." AUTORIN Ines Habich setzt sich auf einen Hocker an den Couchtisch, streicht sich die schwarzen Locken aus der Stirn. Die 31jährige stammt selbst aus dem Ruhrgebiet, kannte Altendorf aber bis vor kurzem nur vom Durchfahren - bis ihr die riesige Baustelle am Rande des Viertels auffiel. Dort baut ThyssenKrupp seine neue Konzernzentrale, direkt daneben entsteht eine riesige Parkanlage mit Teich. Die Firma Krupp hatte bis Ende der 50er Jahre ihren Sitz hier in Essen, zog dann aber nach Düsseldorf. Nun will der inzwischen fusionierte Großkonzern zurück zu seinen Wurzeln. OT 04 (Ines Habich) "Die Baustelle war so extrem aufgezogen, es war nicht nur eine Baustelle, die extrem groß war, sondern mit Aussichtsplattform, von der aus man die Baustellenarbeiten genau beobachten konnte. Es gab bunt besprühte Wände mit Mega- Zukunftsvisionen, was dieses Unternehmen für diesen Stadtteil plant. So eine komische Cyberwelt war da auf den Plakaten. Da bin ich dann mit dem Auto weitergefahren und komme dann in den wirklichen Stadtteil und habe gedacht: Irgendwie komisch, dass das jetzt so direkt nebeneinander liegt, beziehungsweise miteinander verbunden werden soll. Und ist den Leuten hier überhaupt klar, dass direkt nebenan so eine Cyberwelt entsteht?" AUTORIN Ein Spannungsfeld, das den perfekten Hintergrund für ihr Zukunftshaus bietet, dachte sich Ines Habich, die zu dem Zeitpunkt noch einen Standort suchte. Schließlich geht es bei "Next Generation" darum, gemeinsam mit den Jugendlichen darüber nachzudenken, in was für einem Umfeld sie leben wollen. OT 05 (Habich) "Was mir jetzt schon klar ist nach den ersten Gesprächen mit den jungen Leuten hier, ich habe sie gefragt, ob sie wissen, wer Alfried Krupp ist. Wirklich wissen sie es alle nicht. Ja, ja, da sind irgendwie Schulen nach dem benannt. Oder: gar keine Ahnung, wer das ist. Und die Baustelle, ja...Es ist eigentlich kein Thema. Das finde ich auch interessant. Da sind Leute, die haben für diesen Stadtteil so konkrete Zukunftsideen, die haben genaue Vorstellungen davon, wie das aussehen soll, mit Radweg, See und so weiter. Und dann sind hier junge Leute, die haben damit gar nichts zu tun, und die haben, wenn sie überhaupt Vorstellungen von Zukunft haben, wahrscheinlich ganz andere. Was denken die? Das ist so der Anfangspunkt meiner Reise, das, was ich rauskriegen will." ATMO / OT 06 "Hallo, grüßt euch..." AUTORIN Ines Habich schüttelt Merve und Rihan die Hand - die 18jährige Rihan erwidert den kräftigen Händedruck, Merve ist zögerlicher und versteckt sich lieber hinter ihrer großen Schwester. Die beiden Mädchen sind in der Türkei geboren, leben jedoch schon seit zehn Jahren in Altendorf. Ines Habich wirft einen genervten Blick auf ihre Armbanduhr - zehn nach zwei, und zwei Jungs aus der Gruppe sind immer noch nicht eingetroffen. OT 07 (Habich) "Ich warte hier am Samstag immer fünf Minuten. Dann mache ich die Tür zu. Wer dann auch ein paar Mal nicht bei Proben dabei ist, der braucht nicht mehr zu kommen. Dann krieg ich nämlich schlechte Laune, und die kriegt ihr dann auch alle. Und das finde ich voll scheiße für den Anfang. Nur dass ihr das wisst, und da bin ich auch knallhart, um fünf nach zwei, und selbst wenn ihr dann da draußen steht. Denn dann sind die anderen genervt, die pünktlich waren, und ich auch." AUTORIN Mit strenger Mine blickt die Regisseurin in die Runde. Sie weiß aus Erfahrung: Bei freiwilligen Theaterprojekten mit Jugendlichen müssen klare Regeln herrschen, wer sich nicht daran hält, fliegt raus, sonst kann man das ganze Projekt vergessen. Arslan und Nick blicken betreten zu Boden, Merve und Rihan nicken stumm. OT 08 (Habich) "Eigentlich finden die das ja gut. Das merkt man auch in der Gruppe. Wenn eine Ansage kommt: Danke, endlich macht mal einer eine Ansage. Es ist eigentlich schizophren: Die sagen ja dann auch, man muss streng sein. Wenn man dann wirklich streng ist, finden sie es scheiße, aber eigentlich kann es nur so laufen." ATMO / OT 09 "Olé! Wir können anfangen, endlich! Ihr wisst teilweise eure Namen noch nicht. Alle Stühle mal so ein bisschen zur Seite schieben, sodass wir uns mal ein bisschen in den Kreis stellen können und uns mal in die Augen gucken können..." AUTORIN Einer nach dem anderen stellen sich die zwölf Jugendlichen einander vor. Dann müssen sie sich paarweise zusammentun. Sie haben drei Minuten Zeit, um sich gegenseitig möglichst viel zu Fragen. Dann müssen sie ihren jeweiligen Partner der Gruppe vorstellen. ATMO / OT 10 "Also: Das ist der Arslan, der ist 15 Jahre alt, in der neunten Klasse, will seinen Realabschluss oder Abitur schaffen, er ist ledig und macht hier mit, weil er das interessant findet." "Warum kann Altendorf verdammt froh sein, dass der Arslan hier bei uns mitmacht und diesen Stadtteil vertritt?" "Ja, äh, er boxt." "Weil er boxt, gut." AUTORIN Die anderen hören gespannt zu, lächeln unsicher. Man sieht ihnen an, dass sie solch eine Vorstellungsrunde noch nicht mitgemacht haben. Und schließlich ist es einfacher, mit seinen eh schon bekannten Kumpels zu reden, als einen wildfremden Gleichaltrigen auszufragen. Aber auch das gehört zu "Next Generation": Jugendliche wie die Gymnasiastin Lea und der zwei Jahre jüngere Realschüler Nick, die sonst nichts miteinander zu tun haben, sollen sich kennenlernen und sich trauen, gemeinsam auf einer Bühne zu stehen. Doch bevor das Stück entsteht, will Ines Habich erst gemeinsam mit den Jugendlichen das Viertel besser kennenlernen. ATMO / OT 11 "Jede Gruppe kriegt einen Stadtplan..." AUTORIN Die Jugendlichen ziehen ihre Jacken an, packen ihre Taschen. Der praktische Teil des Nachmittags beginnt: Ein Rundgang durch den Stadtteil Essen-Altendorf. Ines Habich verteilt rote Regenschirme, Stadtpläne und Einweg-Kameras, sie teilt die Jugendlichen in fünf Gruppen ein - jede bekommt ein eigenes Thema: Altendorf für Liebespaare, Altendorf für Gangster, für Abenteurer, für Freaks, für Depressive. Jede Gruppe soll Orte finden, die zu ihrem Thema passen und sie fotografieren. OT 12 (Habich) "Ihr seid jetzt die Scouts für einen Reiseführer für Altendorf unter bestimmten Gesichtspunkten. Und deswegen würde ich euch jetzt bitten: Zieht mal einen Zettel...Abenteurer, okay. Euer Ziel ist es, den Weg, auf dem wir jetzt gleich gehen, so attraktiv wie möglich zu machen, damit so viele Abenteuertouristen nach Altendorf kommen wie möglich. Das heißt, ihr lauft mit dem Fernglas und der Kamera diese Strecke lang und guckt, was für Abenteurer geil sein könnte." ATMO / OT 13 (Straße) "Alle da? Wollen wir einfach über rot gehen?" AUTORIN Im leichten Nieselregen geht die Gruppe über die Straße. Ines Habich blickt auf den Stadtplan, zeigt in eine Seitengasse. "Da lang." Mirja hat den Schirm aufgespannt und läuft hinter Ferdi her. Ihr Thema: Altendorf für Depressive. Was sollen wir fotografieren, fragt Ferdi ratlos. ATMO / OT 14 "Dunkle Sachen, Tunnels oder Häuser, die schon fast runtergekommen sind." "Wie findest du die Idee, Mirja?" "Ich find die gut. Da können wir uns verschiedene Sachen ausdenken und uns besser vorstellen, wie das Stück werden soll. Das ist leichter." AUTORIN Ines Habich geht zu Merve und Aysel. Die beiden Mädchen haben das Thema Liebespaare bekommen und blicken sich ratlos um. "Schön ist Altendorf ja nicht", meint Merve. Aysel nickt. OT 15 (Habich) "Ihr könnt euch überlegen, zum Beispiel: Ist das jetzt voll hässlich oder ist das vielleicht auch voll schön? Der Parkplatz unter dem Baum...könntet ihr auch fotografieren. Also auch wenn Sachen vermeintlich nicht schön ist, noch mal genau überlegen, ob das nicht doch was wäre." AUTORIN Aysel zeigt auf eine knallrot gestrichene Haustür, zückt den Fotoapparat. Ihre Freundin Rihan nickt aufmunternd. Sie macht dieses Jahr Abitur und müsste eigentlich zu Hause sitzen und lernen. Doch das Projekt klang zu verlockend. OT 16 (Jugendliche) "Warum ich hier mitmache? Ich möchte unseren Stadtteil repräsentieren. Ich wohne hier schon seit über zehn Jahren und ich der Ines weiterhelfen kann." "Wir kennen uns hier gut aus und andere Leute können uns fragen, wie Altendorf so ist." "Dass der Stadtteil berühmter wird und wir mehr Besucher aus anderen Städten kriegen. Leute aus Duisburg, Düsseldorf, Mühlheim sollten auch mal vorbeikommen und sich das hier angucken, weil ich finde, dass Altendorf ein Stadtteil für Jugendliche ist." ATMO (Straße) AUTORIN Die Gruppe biegt an der nächsten Ecke ab, in Richtung Industriegebiet. Lagerhallen und leere Fabrikgebäude mit eingeschlagenen Fensterscheiben säumen den Weg. OT 17 (Habich) "Ferdi gib doch mal der Mirja den Fotoapparat, ihr seht von hinten mega-depressiv aus. Du mit dem kaputten Schirm, und der Arslan läuft so nebenher." AUTORIN Ein paar Meter weiter bleibt Ferdi stehen, klettert einen Metallzaun hoch, zückt den Fotoapparat. Zurück auf dem Gehweg blickt er prüfend auf den Zähler der Kamera. OT 18 (Ferdi) "Zehn Stück. Wir haben sehr schöne Fotos, wahrscheinlich das beste. Wir haben ein fast kaputtes Haus fotografiert. Das sah wie ein Ghettohaus aus." OT 19 (Habich) "Ich habe super Spaß, ich könnte mich kaputtlachen, wenn die sich über so einen Zaun hängen. Die fotografieren ja eigentlich Sachen, die die schon kennen. Aber dass die das dann fotografieren, das freut mich halt voll. Ich freue mich auch schon, wenn die Fotos dann entwickelt werden, weil die sich jetzt auch schon immer so Geschichten ausdenken zu Bildern. Da freue ich mich auf nächsten Samstag, was die dann erzählen." AUTORIN Der Regen wird stärker, paarweise drängen sich die Jugendlichen unter die Schirme. Inzwischen ist die Gruppe wieder im Zentrum von Altendorf angekommen. An einem geschlossenen Kiosk bleibt Ines Habich stehen, ruft die Jugendlichen zusammen. Sie greift in ihre Umhängetasche, holt einen Stapel Postkarten raus - darauf: Altendorf um 1900 mit Pferdefuhrwerken und flanierenden Spaziergängern. OT 20 (Habich) "Beim Casting habe ich euch alle gefragt, ob es so was gibt wie einen Lieblingsmenschen, ihr habt, glaube ich, alle einen. Demjenigen diese Karte zu schreiben mit einem ganz kleinen Bericht von dieser schönen Wanderung durch Altendorf - keine Ahnung, was euch in den Sinn kommt. So: Lieber Onkel, hier ist der Ferdi, hab gerade voll den schönen Spaziergang gemacht, musste an dich denken, hau rein, oder so was." ATMO (Postkarten) AUTORIN Jeder nimmt eine Postkarte, nach kurzem Zögern hat jeder ein paar Sätze zu Papier gebracht. Ines Habich sammelt die Karten ein. ATMO / OT 21 "Kannst du das mal vorlesen?" "Hi Papa, wie geht's alles klar, bin in Altendorf, musste an dich denken, ich dachte, ich schreib dir einfach mal." "Liebe Mama, hier in Altendorf ist es voll schön. Wir wandern durch Altendorf. Ich habe schon viele schöne Fotos gemacht. Liebe Grüße, deine Tochter Aysel." AUTORIN Die Regisseurin schmunzelt, sie ist zufrieden. Alle haben trotz des schlechten Wetters bis zum Schluss mitgemacht und noch eine Ansichtskarte geschrieben - ein erster kleiner Schritt in Richtung eigener Text. Nach diesem ersten Tag lässt sich die Richtung erahnen, in die Ines Habich die Gruppe lenken will: kreatives poetisches Schreiben über vermeintlich Alltägliches in ihrem Viertel. OT 22 (Habich) "Ich gehe ja jetzt nicht so als Lehrerin hin und sage: Wisst ihr: Hier passiert das und das, wie findet ihr denn das? Das fände ich auch irgendwie langweilig. Ich glaube, das sind Dinge, die werden dadurch entstehen, dass ich mit ihnen an Orte gehen werde und mit denen da über sie sprechen werde und da zu Texten komme, die mit ihnen was zu tun haben. Aber ich glaube immer, dass der Ort, an dem ich mit jemandem über etwas spreche, einen Einfluss auf den Text hat. Ob ich jetzt mit jemandem in einem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg sitze, auf dieser Krupp-Baustelle zu stehen, über mich, mein Leben an dieser Baustelle nachzudenken, das ja vielleicht auch irgendwie eine Baustelle ist, in einem Abrisshaus über meine Zukunft nachzudenken... Durch diese Orte ergibt sich da automatisch eine Verbindung." ATMO / OT 23 (Kirche) "Habt Ihr alle eure Handys aus? - Auf lautlos? Okay." AUTORIN Eine Woche später. Der Treffpunkt: Die entweihte Kirche gegenüber dem Zukunftshaus. Ein roter Backsteinbau. Der Innenraum ist noch vollständig eingerichtet - mit Taufbecken und hölzernen Bankreihen. Der Raum wird heute für Konzerte genutzt. Es ist nur wenig wärmer als draußen, die Heizung ist ausgestellt. Die Jugendlichen stehen fröstelnd im Kreis vor dem steinernen Altar. Ines Habich gibt Anweisungen. OT 24 (Habich) "Also, worum es jetzt geht: Ich möchte jetzt heute im ersten Teil anfangen, dass wir uns ein bisschen bewegen. Und ich habe euch ja auch gesagt, heute geht es um Namen und die Figuren. Deshalb machen wir heute den ersten Teil in der Kirche. Hier werden wir auch oft proben, weil wir hier Platz haben und es ist im Zweifelsfall doch ein bisschen wärmer als nebenan. Und im zweiten Teil gehen wir rüber und dann gucken wir uns an, was letzte Woche rumgekommen ist bei den Fotos, die ihr gemacht habt, okay?" AUTORIN Die Jugendlichen setzen sich in die ersten beiden Bankreihen. Jeder hat sich einen Künstlernamen ausgedacht: Merve ist "verrücktes Mädchen", Arslan ist "Boss", Ferdi "Rakete 3". Nun soll jeder von ihnen auf die Bühne und einen kurzen Satz aufsagen, der später dann auch Bestandteil des Theaterstücks werden soll. OT 25 (Habich) "Ich habe das aufgenommen beim letzten Mal, und zwar war das ein Gespräch zwischen euch, das hat mir ganz gut gefallen. Da hat jemand gesagt: Ich habe gestern eine tote Taube gesehen. Dann hat der nächste gesagt: Plattgefahren, zu lahm zum Wegfliegen. Und dann hat der dritte gesagt: voll auf Drogen. Das hat mir super gut gefallen." AUTORIN Mit langsamen Schritten gehen Ferdi, Hassan und Omar die drei Stufen zum Altar hoch, stellen sich nebeneinander auf. Hassan hat die Hände in den Taschen, Omar räuspert sich - er ist stark erkältet, seine Stimme ist fast weg. Ferdi blickt auf seine Fußspitzen. OT 26 "Ich habe gestern eine tote Taube gesehen." "Plattgefahren, zu lahm zum Wegfliegen." "Voll auf Drogen." AUTORIN Ines Habich nickt langsam. Noch stimmt die Haltung der drei nicht - aber die Regisseurin lässt es fürs erste durchgehen - sie weiß, wie lange es dauert, bis man sicher auf der Bühne ist. OT 27 (Habich) "Das ist wirklich scheiße schwer. Ich habe das früher auch gemacht. Wenn du weißt, du musst jetzt gleich da oben raufgehen. Und auch wenn das nur vor der Gruppe hier ist, dann puckert das Herz auch. Dann stell dich mal dahin und halt das aus. Man hat immer den Impuls: Ich gehe ganz schnell wieder runter. Ich hab's gemacht, schnell wieder runter...Aber wir wollen das ja spielen vor Leuten, also müssen wir das ja genießen, dass wir da oben stehen und dass die zugucken. Und wenn man es einmal checkt, dann macht es ja Spaß, das merken die dann auch, wann es gut ist und wann nicht. Da kann man sich auch nicht verarschen. Ich kann dann auch nicht sagen: ganz toll. Das merken die selber, dass es nicht toll war." ATMO (im Zukunftshaus) AUTORIN Zurück im Zukunftshaus: Die Jugendlichen sitzen auf dem Sofa und der Fensterbank, der Gasofen läuft, Ferdi steht davor, wärmt sich die Hände. Alle haben die Jacken anbehalten, sie sind durchgefroren vom Nachmittag in der Kirche. Ines Habich schaltet ihren Laptop ein, schließt den Beamer an. Auf die weiße Wand gegenüber dem Sofa projiziert sie die Fotos, die die Jugendlichen beim Stadtrundgang in der vergangenen Woche aufgenommen haben. Merve und Aysel setzen sich auf die beiden Barhocker, die an der Wand stehen. Sie sind als erste dran: Altendorf für Verliebte war ihr Auftrag. OT 28 "Wir alle hier sind schwer verliebt. Tolle Frau, toller Mann am Start. Ihr wisst nicht genau, wo ihr hinsollt mit dem, weil ihr einen Kurzurlaub machen möchtet. Ihr müsst uns jetzt überzeugen, dass Altendorf der beste Ort ist, wo wir sofort vorbeischauen sollen mit dem Herzensmenschen. Und ihr müsst jetzt mal genau gucken, ob die beiden euch überzeugen oder nicht. Ich gebe euch noch ein bisschen schöne Hintergrundmusik und dann gucken wir, was passiert." AUTORIN Ines Habich startet das Diaprogramm des Rechners. Das erste Foto: die rote Haustür, davor posiert Rihan unter einem roten Regenschirm. OT 29 "Das ist ein Mädchen, das sich verliebt hat, unter einem Regenschirm, sie denkt an ihren Lover und guckt verliebt." AUTORIN Merve und Aysel geben alles: Ein einsamer Kiesweg auf einem Kleingartengelände führt zum geheimen Liebesnest, ein kahler einsamer Baum auf einem Parkplatz ist der beste Treffpunkt für erste Dates. OT 30 "Habt ihr sehr, sehr schön gemacht! Ganz, ganz vielen Dank. Rote Regenschirme in Altendorf, das finde ich total geil. So, wer macht jetzt?" AUTORIN Zum Schluss sind Arslan und Ferdi dran: Altendorf für Depressive. Die Jungs preisen einen Holzverschlag auf einem Kleingartengelände als Hütte an, in der sich Selbstmörder verstecken, auf einer betonierten Brache trifft sich abends die Altendorfer Depressiven- Selbsthilfegruppe. Ines Habich nickt - sie ist zufrieden mit dem Tag im Zukunftshaus. OT 31 (Habich) "Ich glaube, in diesen ganzen Einzelgeschichten steckt ja auch immer Altendorf drin. Die sind ja alle aus Altendorf. Deswegen ist eine persönliche Geschichte von jemandem auch immer eine Geschichte über Altendorf." AUTORIN Einige Wochen lang wird die Regisseurin mit den Jugendlichen jetzt noch weitere Geschichten sammeln, bevor es ans Schreiben geht. Die Aufgabe des nächsten Treffens steht schon fest: Ein zweistündiges Praktikum in einer der zahlreichen Dönerbuden von Essen-Altendorf. -ENDE- 1