COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitreise Auswanderungsland Deutschland In Argentinien suchen Deutsche seit mehr als 200 Jahren ihr Glück und eine Zukunft Autor: Dirk Fuhrig Redaktion: René Aguigah Sendetermin: 06.10.2010 Wortende bei 28´19, anschl. Musik zum Unterlegen unter die Absage ATMO 1 (Schiff, Hafen) unterlegen ERZÄHLER Der Interkontinental-Dampfer war elegant, komfortabel und schnell. Das Postschiff, mit dem Hedwig Pringsheim Ende 1907 nach Buenos Aires fuhr, bot jeden erdenklichen Luxus. Zumindest für einen Passagier der Ersten Klasse wie die Gattin des Mathematik-Professors. ATMO 1 (Schiff, Hafen) unterlegen Das Leben an Bord, Dinner am Kapitänstisch eingeschlossen, behagte der eleganten Dame aus der gehobenen Münchner Gesellschaft. Ihr Ziel Buenos Aires jedoch, das sie nach drei Wochen zur See erreichte - eine glatte Enttäuschung. SPRECHERIN 1 Die Stadt ist ebenso teuer wie hässlich. Sehr schmale Straßen, mit tosendem Trambahn- und Wagenverkehr; stickige, heiße, staubige Luft, Ausrufer, Lärm. Die Gebäude sind meist einstöckig und unschön, die größeren, eleganteren in den vornehmeren Stadtteilen wie Plaza San Martín, Avenida Alvear ?sprich: Pl'assa San Mar'tin, Ave'nida Alvear? ein unglaublich geschmackloses Conglomerat der verschiedensten Stilarten; die Brunnen und öffentlichen Denkmäler barbarisch hässlich. Hedwig Pringsheim, die ein sorgfältiges Reisetagebuch führte, war nicht als Touristin über den Atlantik gereist. Sie war in Sorge um ihren missratenen Sohn Erik. Den hatte die Familie aus Deutschland fortgeschickt. In dem fremden Land sollte sich der Großbürgersohn mit den eigenen Händen eine Existenz aufbauen. Argentinien war weit genug weg, um den Schulden-Macher auf Distanz zu halten. Auswanderung als Strafe und Erziehungsmittel. ATMO 2 (Stadt, Buenos Aires) unterlegen Die seelische Verfassung der Autorin trübte womöglich ihren Blick auf eine Stadt, die sich damals im Gegenteil anschickte, zu den schönsten der Welt aufzuschließen. Das "Paris des Südens" erlebte zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur wirtschaftlich eine Blüte. Es schmückte sich auch architektonisch. Nach europäischem Vorbild entstanden Gründerzeitviertel wie Recoleta ?sprich: Räko'lätta? und Retiro ?sprich: Re'tiehro?. Der prachtvolle, an der Mailänder Scala und der Pariser Oper orientierte Neubau des Teatro Colón ?sprich: Te'atro Ko'Lonn? stand kurz vor seiner Einweihung. Die erste U-Bahn-Linie südlich des Äquators war in Planung - und wurde ab 1911 von der deutschen Baufirma Holzmann in den Untergrund gegraben. ATMO 2 ganz kurz hoch Buenos Aires präsentierte sich den Wirtschafts-Migranten aus Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts als hochmoderne Stadt. O-TON 1 (2 - Bernd Wulffen; Leben in den Städten) Was die Deutschen vor allen Dingen interessiert hat, das waren die städtischen Verhältnisse, auch das kulturelle Leben. In der Pampa sind sie doch sehr weit weg von ihren Nachbarn. Und die Straßenverhältnisse waren damals doch so, dass man nicht gut voran kam. Das Leben in den Städten war insofern erheblich einfacher. Bernd Wulffen arbeitete lange Jahre als deutscher Diplomat in verschiedenen Staaten Lateinamerikas. Er lebt heute - ein halber Auswanderer - mit seiner argentinischen Frau einen Teil des Jahres in Berlin, den anderen Teil in der Provinz Tucumán ?sprich: Tucku'mann?, ganz im Nordwesten des Landes. Er hat in einem Buch 200 Jahren "Deutschen Spuren in Argentinien" nachgeforscht: O-TON 2 (1 - Bernd Wulffen; Sarmiento) Das ging unter Präsident Sarmiento los, Sarmiento wollte unbedingt mitteleuropäische Einwanderer haben. Das spanische Element war sehr stark in Argentinien. Sarmiento hatte Mitteleuropa bereist. Leute, die in der Schweiz leben, in den Niederlanden, in Deutschland und Österreich, die wünsche ich mir jetzt als Siedler. Wobei er natürlich dran dachte, dass die großen ungenutzten Landflächen erschlossen werden. Was aber nicht der Fall war, die meisten sind ja dann doch in die Städte gegangen. Einige "Wolgadeutsche" aus Russland waren diesem Werben des Präsidenten Domingo Sarmiento gefolgt. Zuvor, im frühen 19. Jahrhundert, hatten sich bereits Jesuiten nach "Misiones" ?sprich: Miss'johnes? im Nordosten angesiedelt. Bis zum Ersten Weltkriegen faszinierte das Land noch vor allem Wissenschaftler, die Flora und Fauna studierten wie der Insektenforscher Hermann Burmeister. Oder Robert Lehmann-Nitsche, der drei Jahrzehnte am Naturkundemuseum der Universitäts-Stadt La Plata arbeitete und sich auch mit der Kultur der Ureinwohner beschäftigte. ATMO 3 (Hafen) unterlegen Seit 1870 gab es bereits die regelmäßigen Schiffsverbindungen durch HAPAG, die "Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft", mit denen die Glückritter aus Deutschland Richtung Rio de la Plata fuhren. Gold und Silber gab es im "Silberfluss" zwar nicht. Aber: Deutsche Techniker waren gesucht. Und Landarbeiter. Die konnten sich in Handbüchern wie der Broschüre "Argentinien als Ziel pangermanischer Auswanderung" informieren. Die Neuankömmlinge im Hafen von Buenos Aires wurden im "Hotel de Inmigrantes" ?sprich: Inmi'grantes? registriert. So dokumentiert es ein Bericht aus der Zeit, den das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven aufbewahrt: SPRECHER "Die Einwanderungsbehörde befindet sich in Buenos Aires Calle Alsina No. 627 unter dem Vorsitze des Directors Herrn Alsina. Diese Einwanderungsbehörde untersteht direct dem Landwirtschafts- Ministerium Argentiniens. ... Herr Alsina teilt mit, dass es der argentinischen Regierung daran gelegen sei, ihr Land mehr zu bevölkern um die Kultur des Landes zu heben. .. Deutsche Auswanderer sind Herrn Direktor Alsina sehr lieb und angenehm". Um die Jahrhundertwende gab es schon Dutzende deutscher Schulen im Land, in der Hauptstadt wurde ein deutsches Krankenhaus gegründet, bald darauf die erste Filiale der Deutschen Bank - Beleg für das hohe Interesse, das im Kaiserreich an geschäftlichen Kontakten mit der aufstrebenden Nation bestand. Einige Deutschstämmige hatten es ins wohlhabende Großbürgertum von Buenos Aires geschafft. MUSIK 1 (Bandoneon - 1); unterlegen Während aus Frankreich emigrierte Architekten herrschaftliche Gebäude, ja ganze neue Stadtviertel, entwarfen und großzügige Parkanlagen für die argentinische Metropole abzirkelten, machten sich die Deutschen damals durch den Import einer kleinen, quietschigen Ziehharmonika bemerkbar: Das Bandoneon - eine Erfindung von Herrn Band aus Krefeld - sollte für die Herausbildung der damals noch am Anfang stehenden Tango-Musik eine noch nicht abzusehende Bedeutung erlangen. MUSIK 1 kurz frei SPRECHERIN 1 Die hier lebenden Ausländer haben alle eine ziemliche Verachtung der "Hiesigen", von denen sie natürlich noch viel tiefer verachtet werden. Aber ihre Kinder fühlen sich als Argentinier, sprechen untereinander spanisch, ihre Muttersprache als fremde Sprache. Hedwig Pringsheims Beobachtung aus dem Jahr 1907 sollte noch lange Gültigkeit behalten: Die Deutschen, die nach Argentinien auswanderten, blieben gerne unter sich. Aus einer Form von kultureller Überheblichkeit heraus. Und aus dem Sicherheitsbedürfnis, das viele Emigranten in aller Welt auch heute noch in der Fremde dazu bringt, zusammen zu wohnen, die eigene Sprache zu pflegen. Die Deutschen waren, im Vergleich zu Italienern und Spaniern, eine kleine Einwanderergruppe, weniger als 5 Prozent - das stärkte noch den Zusammenhalt. In manchen Gegenden, etwa in der zentralargentinischen Provinz Cordoba, haben sich bis heute kleine Gemeinschaften erhalten, die Oktoberfeste feiern und alte deutsche Dialekte aus dem 19. Jahrhundert pflegen. MUSIK 2 (Bandoneon-2); unterlegen - länger frei stehen lassen Viele Deutsche dachten, sie würden nicht allzu lange in Argentinien bleiben. Schon deshalb unternahmen sie keine größeren Anstrengungen, sich in die neue Gesellschaft zu integrieren, die hauptsächlich aus spanischen, italienischen sowie einigen französischen Neubürgern bestand. Die Deutschen wollten in Argentinien zu Wohlstand kommen - und danach wieder nach Europa zurückkehren. So wie die Familie von Maria Bamberg: SPRECHERIN 2 Obwohl die Eltern es nie betonten, hatten sie nicht die Absicht, auf Dauer in Argentinien zu bleiben. Diese Einstellung, die besonders bei den nach Argentinien ausgewanderten Deutschen ganz allgemein war, hielt sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Neuankömmlinge gewöhnten sich an das Leben in dem neuen Land, ja, sie gewannen es lieb, aber sie kümmerten sich kaum um dessen Einwohner und interessierten sich praktisch nicht für deren Lebensverhältnisse, Kultur und Politik. Die Identifizierung mit dem Gastland begann erst mit der zweiten Generation. Maria Bamberg war als Achtjährige mit ihren Eltern aus Berlin nach Argentinien ausgewandert. Die spätere Literatur-Übersetzerin hat ihr Leben in den unwirtlichen Regionen Patagoniens in mehreren autobiografischen Büchern beschrieben. Ihre Familie verließ Deutschland bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. ATMO 4 (Stadt) unterlegen Im Laufe der 20er-Jahre emigrierten rund 50 000 Deutsche nach Argentinien. Allein 1923, auf dem Höhepunkt der Inflation, bestiegen 10 000 Menschen in Hamburg oder Bremerhaven die Schiffe nach Buenos Aires. Mehr als je zuvor - und jemals danach. ATMO 4 (Stadt), kurz frei Maria Bambergs Familie verschlug es nach Patagonien. Grandiose Landschaft - für ein angenehmes Leben aber denkbar ungeeignet. Maria Bamberg verbrachte ihre Kindheit in unwegsamer Einöde - zwischen Schafen und Schnee. Nachbarn ritten vielleicht einmal die Woche vorbei. Patagonien, eine noch heute wenig erschlossene Weite am Ende der Welt. Buenos Aires hingegen: eine internationale Metropole. MUSIK 3 (Kleiber dirigiert Straus) kurz frei - unterlegen Kulturell bot Buenos Aires in mancher Hinsicht sogar Weltniveau. Vor allem in der klassischen Musik. Sänger, Dirigenten und ihre Orchester aus Wien, Berlin, Paris verbrachten den Sommer - Spielzeitpause in Europa - in der argentinischen Hauptstadt. Das glamouröse Teatro Colón mit seinen mehr als 3.000 Plätzen und der einzigartigen Akustik war damals eines der führenden Opernhäuser weltweit. MUSIK 3(Kleiber) kurz frei O-TON 3 (Cecilia Scalisi, 92) Die wichtigsten Stationen waren Richard Strauss, 1926 ist auch Erich Kleiber gegangen und ist nach seinem ersten Besuch immer wieder aufgetreten. Und dann Gielen und jetzt Barenboim. Diese engen Verbindungen wurden immer sehr gepflegt. ... sagt Cecilia Scalisi, die ein Buch über die kulturellen Beziehungen zwischen Argentinien und Deutschland geschrieben hat. Während der 20er- und 30er-Jahre prägten der Komponist Richard Strauss und der Dirigent Erich Kleiber die "deutsche Saison" am Rio de la Plata. Wer damals am Teatro Colón auftrat, durfte sich zur internationalen Spitze zählen. Und: Das Colón zahlte im Vergleich zu europäischen Bühnen fantastische Gagen. Die intensiven kulturellen Kontakte, die heute durch den in Buenos Aires geborenen und in Berlin tätigen Dirigenten Daniel Barenboim wieder sehr eng sind, erwiesen sich auch als hilfreich in dem Moment, als die künstlerische Elite Deutschland verlassen musste. Das Opernhaus an der Plaza Lavalle [sprich: Plassa La'waahsche] wurde zum Exil für viele jüdische Musiker und für diejenigen, die sich von Goebbels' Reichskulturkammer nicht vereinnahmen lassen wollten. MUSIK 4 Busch (Lohengrin-1); unterlegen Erich Kleiber, der häufige Gast in Buenos Aires, emigrierte nach Hitlers Machtergreifung ganz nach Argentinien. Auch Fritz Busch, den die Nazis nach seiner Weigerung mit ihnen zu kooperieren als Generalmusikdirektor aus der Dresdner Semperoper verjagt hatten, kam ans Teatro Colón. Dort spielte Busch 1936 ausgerechnet Wagners "Lohengrin" ein. MUSIK 4 Busch (Lohengrin-1); kurz frei Der Regisseur Josef Gielen wurde während eines Engagements in Buenos Aires vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht. Er blieb in Argentinien und holte seine jüdische Frau und seinen 12jährigen Sohn Michael nach. Als Jugendlicher ging Michael Gielen - der später weltberühmte Dirigent - gegen Nazi-Anhänger in Argentinien auf die Straße. MUSIK 5 Busch (Lohengrin-2) etwas länger frei stehen lassen alternativ: MUSIK-4 SPRECHERIN 1 Belgrano ist der Villenvorort von Buenos Aires, mit vielen hübschen Gärten, schöner Plaza, Palmen, Hitze und Staub. Im Park von Palermo, den wir passierten, ist gegen Abend Corso; die beau monde hält am rond point, wie in Rom am Pincio, an, man besucht sich, zeigt seine Pariser Toiletten. Pariser Eleganz im Land der Rinderbarone. Buenos Aires wuchs während der 20er- und 30er-Jahre weiter unaufhörlich, wurde wohlhabender und wohlhabender. Die immer zahlreicher ankommenden Deutschen siedelten sich bevorzugt im gutbürgerlichen Norden der Stadt an. Belgrano wurde zum Deutschen-Viertel. Kein Phänomen der heutigen Zeit also: In der Fremde lassen sich Migranten gerne in der Nähe ihrer Landsleute nieder. Auch die Deutschen suchten überschaubare Einheiten, vertraute Ecken in der unbekannten Großstadt auf der südlichen Hemisphäre. Sogar ein eigenes Idiom ließ sich nun diesem beschaulich-eleganten Bezirk der Millionen-Metropole zuordnen: "Belgrano-Deutsch". Eine wilde Mischung aus der typischen spanischen Mundart der Buenos-Aires-Bewohner und Deutsch. Belgrano-Deutsch sprachen vor allem die Kinder der Zuwanderer untereinander. Halb in der neuen Kultur und noch halb in der ihrer eingewanderten Eltern. MUSIK 6 (Tango, Piazzolla), vorher unterlegen, kurz frei Auch die Familie des jüdischen Wirtschaftsprofessors Ángel ?sprich An'chäl? Schindel ist in dem heute noch beliebten ruhigen Stadtteil mit seinen schattigen Alleen zu Hause: O-TON 4 (6- Angel Schindel (Deutsche in Belgrano) ÜBERSETZER Wir wohnen in Belgrano. Hier kann man gelegentlich noch Deutsch hören. Im Café Zürich zum Beispiel - die älteren Damen nachmittags beim Tee. ATMO 5 (Kaffeehaus) unterlegen Im "Zürich" steht hausgemachter Käsekuchen in der Glas-Vitrine. Die strengen Kellner in dem Café direkt an der Plaza Belgrano servieren auch Schwarzwälder Kirschtorte: der deutsche Haupt-Beitrag zur Kulinarik des gastronomisch hoch entwickelten Landes - die Torte hat es unter dem Namen "Selva Negra" bis in die entlegensten Winkel der Republik Argentinien geschafft. In Belgrano und angrenzenden Stadtvierteln gibt es Restaurants, die "Gretel" heißen, "Gambrinus", "Frankfurt" oder "Bodensee". ATMO 5 (Kaffeehaus) Ángel Schindels Vater Isidor Schindel wanderte Ende der 20er-Jahre nach Argentinien aus. Er stammte aus Hannover und arbeitete in Berlin-Pankow in einem Unternehmen für optische Geräte. Er verließ Deutschland, als sich erste Anzeichen für Antisemitismus zeigten. Und weil es in Argentinien damals eben Arbeit gab. O-TON 5 (2 - Angel Schindel; Vater bei Elektro BsAs) ÜBERSETZER Mein Vater kam nach Buenos Aires mit der "Cap Arcona". Er fand eine Stelle bei den Elektrizitätswerken. Die Besitzer waren Deutsche und Schweizer, von daher war ein deutscher Techniker natürlich willkommen. Mein Vater konnte anfangs kein Wort Spanisch, aber in dem Unternehmen sprachen viele Deutsch. Er hat dort 31 Jahre gearbeitet. Ángel Schindel ist in Argentinien geboren, er spricht die Muttersprache seines Vaters nicht. Aber er versteht noch Deutsch. O-TON 6 (4 - Angel Schindel; Deutsch-Jiddisch) ÜBERSETZER Meine Mutter war aus Galizien, und so sprachen meine Eltern untereinander Jiddisch. Mit seinen Geschwistern sprach mein Vater aber Deutsch, und so habe ich das als Kind mitbekommen. Also nur vom Zuhören. Isdior Schindel schaffte es, seine engen Verwandten bis 1938 nach Argentinien zu holen. Zum Teil unter Aufbietung enormer Bestechungssummen für die Einreisebehörden. Anders die Familie seiner Frau: Sie wurde in den Lagern der Nationalsozialisten fast vollständig ausgelöscht. MUSIK 7 (Otono Porteno, Barenboim mit Piazzolla), kurz frei Die Zeit von 1933 bis 1945 zählt zu den seltsamsten Perioden im Verhältnis zwischen Argentinien und Deutschland. Einerseits nahm das Land in diesem Zeitraum rund 40.000 jüdische Flüchtlinge aus Europa auf - es war damit nach den USA und Palästina einer der wichtigsten Exilorte. Und das, obwohl die Einreise für Juden nach und nach immer restriktiver gehandhabt wurde. Andererseits: Während immer wieder Flüchtlinge im Hafen von Buenos Aires ankamen, duldete die argentinische Regierung Aufmärsche in SA-Uniformen und Hakenkreuzfahnen auf argentinischen Straßen. Die deutschnationale "La-Plata-Zeitung" machte sich zum Sprachrohr der Nazi- Anhänger und bekämpfte das liberale "Argentinische Tagblatt". Dessen Herausgeber Ernesto Alemann - ein Schweizer mit Promotion an der Uni Heidelberg - gründete 1934 mit der "Pestalozzi-Schule" in Belgrano eine Alternative zur traditionellen Goethe-Schule, in der morgens das Horst-Wessel- Lied gesungen wurde. MUSIK 7 (Otono Porteno, Barenboim mit Piazzolla), kurz frei Maria Bamberg, die 1923 als Achtjährige nach Patagonien gegangen war, hat einen der jüdischen Flüchtlinge in Argentinien geheiratet, einen Mediziner. Ihr Sohn Pedro erinnert sich: O-TON 7 (6a - Pedro Bamberg (Nazi-Lehrer) Als wir dann in San Rafael gelebt haben, das war eine Stadt in der Provinz Mendoza, da gab es auch Deutsche. Das waren entweder Familien, die nach 1945 ausgewandert waren. Oder die schon früher kamen. Aber die schon einem anderen politischen Gedanken anhingen als die Verfolgten des Nazi-Regimes. Mein Vater hat mit vielen Deutschen in San Rafael zu tun gehabt, die ihn aber ständig mieden, weil sie immer noch rechtskonservativ waren Mein Vater war nicht nur Chefarzt des dortigen Krankenhauses, sondern auch Präsident des Rotary Clubs. Meine Mutter war im weiblichen Rotary Club. Sie waren angesehene Bürger der Stadt. Sie waren voll integriert. Aber im Wesentlichen in den argentinischen bürgerlichen Kreisen integriert und weniger in den deutschen. San Rafael ?sprich: Raffa'äl?, wo Pedro Bamberg 1949 geboren wurde, liegt am Fuße der Anden, südlich der Weinregion von Mendóza. Eine kleine Stadt, inmitten großer Weiten. Um ihm eine gute Ausbildung zu ermöglichen, schickten ihn seine Eltern auf eine deutsche Schule ins 1.000 Kilometer entfernte Buenos Aires. Pedro Bamberg, der heute in Deutschland lebt, wurde noch Anfang der 60er-Jahre mit der seltsamen Gemengelage konfrontiert, die innerhalb der deutschen Gemeinde bestand: Politische Exilanten, die aus Hitler-Deutschland hatten fliehen müssen; Nationalsozialisten, die sich mehr oder weniger unbeobachtet frei in Argentinien bewegen durften. Und dazu die Auswanderer, die sich bis Ende der 20er-Jahre aus wirtschaftlichen Gründen in Argentinien angesiedelt hatten. Mit Hilfe ausgerechnet der katholischen Kirche waren führende Nationalsozialisten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Südamerika gekommen. Spektakulärste Fälle: Adolf Eichmann natürlich. Josef Mengele. Und Erich Priebke. Der einstige SS-Hauptsturmführer stand in der malerischen Anden-Region Bariloche unter seinem echten Namen jahrelang der deutschen Schule vor. Erst Anfang der 90er-Jahre wurde Priebke ausgeliefert. Alte Nazis konnten sich in Argentinien ziemlich sicher fühlen. Sie wurden von der Regierung gedeckt - und fielen als Deutsch-Sprechende nicht besonders auf. Schon gar nicht in einsamen Regionen. Nazi-freundliche deutsche Familien in Argentinien verfügten über beste Kontakte zu Staatspräsident Juan Perón, der ein Anhänger Hitlers war. Nachdem Argentinien auf Druck der USA im März 1945 als allerletzter Staat Deutschland den Krieg erklärt hatte, wurden die in Argentinien lebenden Deutschen überwacht - auch Gegner und Opfer der Nazis. Vermögen wurden beschlagnahmt, teilweise wurden sie interniert, auf jeden Fall kontrolliert. O-TON 8 (5 - Angel Schindel; Juden im Krieg) ÜBERSETZER Meinem Vater ging es während des Krieges ziemlich schlecht. Nachdem Argentinien Deutschland den Krieg erklärt hatte, musste er sich, obwohl er Jude war, jeden Monat bei den Behörden melden - eine total absurde Situation. Als Angel Schindel vor einigen Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit zurückgegeben werden sollte, musste er lange darüber nachdenken. Sein Vater Isidor hatte das Angebot der Bundesrepublik wieder Deutscher zu werden, entschieden abgelehnt. O-TON 9 (3a - Estela Schindel; Großvater jetzt bin ich Argentinier) Weil mein Großvater als Jude staatenlos geworden war, in Argentinien staatenlos, weil die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. sagt Estela Schindel, die Tochter von Ángel Schindel. O-TON 10 (3b - Estela Schindel) Irgendwann nach dem Krieg, so hat es meine Großmutter erzählt, hat er vom deutschen Konsul das Angebot bekommen, wieder deutsch zu sein. Dann hat er gesagt: Jetzt bin ich Argentinier, Danke schön. Obwohl der Ökonomie-Professor Ángel Schindel in den vergangenen Jahrzehnten sehr häufig in Europa auf finanzwissenschaftlichen Tagungen und Kongressen unterwegs war, hatte er Deutschland stets gemieden. Er reiste erstmals nach Deutschland, als seine Tochter Estela sich vor mehr als zehn Jahren entschloss, dauerhaft in Berlin zu leben. O-TON 11 (4 - Estela Schindel;Wannsee) Ich glaube, es war wie bei vielen jüdischen Familien, dass die deutsche Kultur so beladen war durch die Shoah, dass sie mehr negative Züge hatte. Es war wie eine Entdeckungsreise, wieder hierher zu kommen und sich mit der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft zu konfrontieren. Aber es ist immer noch nicht leicht.Es ist schwierig. Natürlich fühle ich mich inzwischen hier zu Hause. Aber ich will auch nicht, dass es so selbstverständlich wird, dass ich vergesse, wo ich bin und was das alles heißt. Estela Schindel hat in Berlin Soziologie studiert und eine Doktorarbeit über "Erinnerungspolitik" geschrieben - über die deutsche Bewältigung der Nazi- Vergangenheit und über die Verarbeitung der Militärdiktatur in Argentinien. MUSIK 8 (Contrebajeando/Barenboim mit Piazzolla); länger frei Wer heute durch Argentinien reist, findet deutsche Spuren zwar noch überall. Aber selten sind sie frisch. "Villa Gesell" etwa, der mondäne Badeort 400 Kilometer südlich der Hauptstadt: Wer weiß in Argentinien schon noch, dass Carlos Gesell, Sohn deutscher Einwanderer, das Seebad aus den Dünen gestampft hatte. Die Pension "Sommerschwalbe" empfing 1941 die ersten Touristen. Heute ist Villa Gesell ein beliebtes Ferienziel am Atlantik, vor allem für junge Argentinier. "Ruderverein Teutonia", Skatverein, deutscher Chor, "Club aleman de equitación" ?sprich: äkita'sionn?, also deutscher Reiterverein - in Buenos Aires listet der Verband der deutsch-argentinischen Vereinigungen zwar noch eine Reihe einschlägiger Institutionen auf. Auch hat sich vor wenigen Jahren ein neuer "Club Berlin" gegründet. Ein Bewusstsein für ihre deutschen Wurzeln haben trotzdem nur noch wenige - die Melting-Pot-Gesellschaft am Rio de la Plata hat alle zu Argentiniern gemacht. O-TON 12 (5a - Bernd Wulffen; Deutsch stirbt aus) Das schien am Anfang ja nicht so. ... so Bernd Wulffen, der deutsche Diplomat mit zweitem Wohnsitz in Nordargentinien. Es hat lange gedauert bis sich die deutsche Migranten- Gemeinde aus ihren engen inneren Verbindungen gelöst und in die Mehrheitsgesellschaft integriert hat. Manchmal bis zur dritten Generation. O-TON 13 (5b - Bernd Wulffen; Deutsch stirbt aus) Wenn ich an die 30er-Jahre und 40er-Jahre schaue: Das hat sich beschleunigt in den letzten 30 Jahren, dieser Assimilierungsprozess. Das merkt man auch daran, dass eine deutsche Zeitung ihr Dasein beendet hat. Und eine andere nur noch als Wochenzeitung erscheint. Die Leserschaft ist zusammengeschmolzen. MUSIK 8 (Barenboim/Piazzolla) länger frei stehen lassen blenden in: Die Pampa, Patagonien, die großen Weiten, 4.000 Kilometer von Norden nach Süden, 1500 Kilometer von den Anden bis Buenos Aires. Gletscherlandschaften und subtropische Regionen - das waren die Herausforderungen vor einem Jahrhundert. Wer Glück hatte, konnte ein Vermögen machen und baute sich ein Haus in der Stadt. Zum Beispiel in Belgrano. Wer Pech hatte, landete in den heruntergekommenen Vorstädten von Buenos Aires. Ein Gescheiterter war auch Erik Pringsheim. Ihm gelang es nicht, sich eine neue Existenz aufzubauen; er brachte sich schließlich um. Das pessimistische Fazit seiner Mutter Hedwig Pringsheim, die zahlreiche deutsche Auswanderer auf ihrer Argentinien-Reise vor 100 Jahren getroffen hatte: SPRECHERIN 1 Alle zwei Jahre geht die ganze Familie auf sechs bis acht Monate nach Europa, und ihr Traum ist, wie der aller, nach getaner Arbeit ganz dorthin zu siedeln. Südamerika, das galt der Münchnerin Hedwig Pringsheim als ein Verbannungsort. Die Rückkehr nach Deutschland - der große Traum. MUSIK 8 (Barenboim/Piazzolla) kurz frei, blenden in: ATMO 6 Ute Neumaier bei der Tango-Probe, kurz frei - unterlegen Aber es gibt sie noch - oder wieder: Auswanderer aus Deutschland, die ihr Glück in Argentinien suchen. Ute Neumaier ist 2002 nach Buenos Aires gekommen, um Tango zu lernen. Dann hat sie sich verliebt und ist geblieben. Damals war sie Anfang 40. O-TON 14 (8 - Ute Neumaier; Sehnsucht nach Sicherheit) Es ist spannend, hier zu leben und eine Herausforderung, aber es ist nie langweilig, sehr intensiv, immer spannend. Einfach ist es für niemanden, hier zu leben. Es sei denn, man ist total reich. Es gibt wahnsinnig viele Menschen, die haben alles verloren, alles. Deshalb sind Argentinier auch viel krisensicherer als wir. Es ist ein Land, in dem sich von heute auf morgen alles verändern kann. Das heißt, man lebt hier immer mit ner ganz großen Unsicherheit. Ich glaube, die Menschen hier haben auch große Sehnsucht nach ein bisschen mehr Sicherheit. ((unter den letzten Satz kräftig ATMO legen!!!!!)) Die Zahl ist seit den 60er-Jahren in etwa konstant: Nur rund 500 Deutsche packen jedes Jahr ihre Sachen, um 14 Stunden über den Atlantik zu fliegen mit dem Ziel, dort auf unbegrenzte Zeit zu bleiben. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat das einst so prosperierende Argentinien viel von seinem Glanz verloren. Vom Einwandererland ist es im Laufe zahlreicher Wirtschaftskrisen zu einem Auswandererland geworden. Wer heute als Deutscher nach Argentinien geht, hat andere Gründe als die Suche nach Wohlstand. Aus Deutschland kam einst das Bandoneon, das für die Tango-Musik eine so große Bedeutung erlangt hat. Jetzt kommen die Deutschen wegen des Tangos. ATMO 6 Ute Neumaier bei der Tango-Probe unterlegen Und, wie Ute Neumaier, aus Neugier und Abenteuerlust: Ausbrechen aus den sozial abgesicherten und festgefügten Lebensverhältnissen in Westeuropa. Hinein in eine Gesellschaft, die von extremen wirtschaftlichen und politischen Schwankungen geprägt ist. O-TON 15 (9a - Ute Neumaier; im Moment nicht nach Deutschland) Ich bin nicht mehr die gleiche Person. Ich hab wahnsinnig viel gelernt, und jeden Tag lerne ich neue Dinge dazu, weil ich immer wieder Dinge tun muss, die ich noch nie getan habe. Wie jeder Argentinier bin ich mittlerweile auch multi facettico. Vielseitig. Es gibt kaum einen Argentinier, der nur einen Job hat. Jeder hat drei, vier Jobs, um über die Runden zu kommen. Ute Neumaier hat als Rezeptionistin gearbeitet, sie hat Wohnungen für deutsche Touristen verwaltet und vor allem immer wieder Tango-Unterricht gegeben. Sie ist eine begehrte Tanz-Lehrerin und hat sich - multi facettico - gleichzeitig als Übersetzerin etabliert. Seitdem die Wirtschaft in Argentinien wieder floriert, sind auch zunehmend deutsche Unternehmen im Land präsent. Ute Neumaier hat gerade ihr permanentes Aufenthaltsrecht in Argentinien bekommen. Sie will am Rio de la Plata bleiben. O-TON 16 (9b - Ute Neumaier) Es ist ein Gefühl, dass man wächst jeden Tag. Das gefällt mir. Und es gefallen mir auch Dinge an den Argentiniern. Manchmal gibt es Dinge, da denke ich, Du könntest es in Deutschland einfacher haben. Im Moment möchte ich nicht nach Deutschland. MUSIK 9 (Piazzolla-2) Literatur: Bernd Wulffen: Deutsche Spuren in Argentinien, Christoph Links Verlag Inge und Walter Jens: Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn. Die Südamerika-Reise der Hedwig Pringsheim 1907/08, rororo Simone Eick (Hg.): Nach Buenos Aires! Deutsche Auswanderer und Flüchtlinge im 20. Jahrhundert. Edition Deutsches Auswandererhaus www.dah-bremerhaven.de 1