Deutschlandradio Kultur - Zeitreisen - 6. November 2013 - 19:30 Uhr Atmo 1 - Regenwald (Amazonas) SPRECHER: WALLACE (1) Er kam aus dem Wald, keine zwanzig Meter vor mir; und ich war so überrascht, dass ich zuerst gar nicht merkte, was es war. (zit. nach: Glaubrecht, S. 86) O-Ton 1 - Tierstimme: Jaguar (Klingt nach exot. Vogel, d.h. die Zuhörer wissen hier auch noch nicht, "was es war".) O-Ton 2 - Matthias Glaubrecht, Evolutionsbiologe und Publizist (DR 808 / 16:59) Wenn man ihn beschreiben will, dann ist er natürlich wirklich ein Abenteurer, der (....) es auf sich nimmt, vier Jahre in Amazonien, in den abgelegensten Regionen, vor allen Dingen auch monatelang auf sich alleine gestellt, und dann acht Jahre im Indo- Malayischen Archipel, unterwegs zu sein, und allein diese Reiseumstände, diese Reisen, die er da durchgeführt hat, das ist schon eine bewundernswerte Aktion ... SPRECHER: WALLACE (2) Als das Tier sich langsam weiter bewegte und ich den ganzen Körper und langen, gebogenen Schwanz im Blickfeld hatte, sah ich diese wundervolle schwarze Variante des Jaguars. Unwillkürlich hob ich den Lauf des Gewehres und wollte schon anlegen, als mir gerade noch einfiel, dass beide Patronen im Lauf mit feinem Schrot geladen waren. Die Ladung hätte ihn eher verärgert als getötet. Ich stand also still und starrte ihn an. (zit. nach: Glaubrecht, S. 86f.) O-Ton 3 - Matthias Glaubrecht Er ist jemand, der zwei Fähigkeiten vereint, die wir heute bei Wissenschaftlern kaum noch finden: Er ist sowohl jemand, der als Wissenschaftler eine Theorie entwickelt und sie in einer sehr prägnanten Arbeit wissenschaftlich korrekt beschreibt für ein Fachpublikum. Aber er ist auch jemand, der // (20:22) für ein breites Lesepublikum seine Reiseabenteuer beschrieben hat. // (20:47) Also, er vereint die Fähigkeit eines wissenschaftlichen und eines populärwissenschaftlichen Schriftstellers in sich. Und das ist eine Qualität, nach der Sie heute sehr lange suchen müssen. SPRECHER: WALLACE (3) In der Mitte des Pfades angekommen, drehte der Jaguar seinen Kopf, hielt einen Moment inne und sah zu mir herüber. Offenbar, so vermute ich, hatte er anderes, Wichtigeres vor, zog weiter und verschwand im Dickicht des Waldes. (zit. nach: Glaubrecht, S. 87) O-Ton 1 - Tierstimme: Jaguar Atmo - klingt unter Text aus AUTOR (1) Er war ein Forscher mit Jagdinstinkt, ein Reisender mit Glück und Verstand, ein Autor, der seine Erlebnisse mitreißend in Szene zu setzen wusste, aber dabei mit britischem Understatement nicht viel Aufhebens um die eigene Person machte. So hatte der Jaguar "Wichtigeres vor" als ihn zu zerreißen. Der Ozean sah davon ab, ihn zu verschlingen. Die Nachwelt hatte anderes im Sinn als seinen Namen in Erinnerung zu behalten. Wer war dieser Alfred Russel Wallace, in dessen Reiseberichten Charles Darwin mit Vergnügen blätterte? SPRECHER: DARWIN (1) Mein lieber Wallace, ich habe Ihr Buch zu Ende gelesen; es scheint mir ausgezeichnet zu sein und gleichzeitig äußerst angenehm zu lesen. Dass Sie überhaupt jemals lebendig zurückgekommen sind, ist nach allen ihren Gefahren durch Krankheit und Seereisen (...) ganz wunderbar. (zit. nach: Wallace, Archipel, S. ) SPRECHERIN (1) Im viktorianischen England ist Alfred Russel Wallace ein bekannter Naturforscher. Als er am 7. November 1913 im Alter von 90 Jahren stirbt, hat er sich in wissenschaftlichen Kreisen ein hohes Ansehen erworben. In seinen letzten Lebensjahren sind Wallace bedeutende Ehrungen zuteil geworden. AUTOR (2) Ein überraschender Erfolg. Als Zoologe ist Wallace ein Autodidakt. Begonnen hat er seinen Weg in die Wissenschaft als Außenseiter des akademischen Betriebs. SPRECHERIN (2) Wallace ist einer der vielen Naturaliensammler, die Charles Darwin und andere Forscher des 19. Jahrhunderts mit exotischen Vögeln und Schmetterlingen, mit Tier- und Pflanzen-Präparaten aus aller Welt beliefern. AUTOR (3) Dabei sind Charles Darwin und Alfred Russel Wallace durch eine Entdeckung miteinander verbunden, die unseren Blick auf die Welt nachhaltig verändert hat. SPRECHERIN (3) Unabhängig voneinander haben beide den entscheidenden Mechanismus für die Entstehung neuer Tier- und Pflanzenarten entschlüsselt und damit die Grundlage für die bis heute gültige Evolutionstheorie geschaffen. Am 1. Juli 1858 werden ihre Thesen bei einem Treffen der Linnean Society, einer renommierten Londoner Naturforschenden Gesellschaft, gemeinsam vorgestellt. AUTOR (4) Doch im Laufe der Zeit ist der Mann an Darwins Seite auf merkwürdige Weise aus dem Blick geraten, sagt Matthias Glaubrecht, Evolutionsbiologe und Autor der Wallace-Biographie "Am Ende des Archipels". O-Ton 4 - Matthias Glaubrecht Er wird immer erwähnt als "Darwins Mond" oder "Satellit", als der ewige Zweite, der Mann im Schatten Darwins, aber diese Wahrnehmung ist eine eigentlich fälschliche Wahrnehmung des 20. Jahrhunderts. Da gab es eine überstrahlende große Figur, nämlich Darwin, und in dessen Schatten sind eben wirklich sehr viele andere Wissenschaftler, die ebenfalls viel im 19. Jahrhundert als Naturforscher erreicht haben, verschwunden. Und einer von diesen ist Alfred Russel Wallace AUTOR (5) Die Geschichte der doppelten Entdeckung der Evolutionstheorie ist eine Geschichte zweier Männer, die von sehr unterschiedlichen Startbedingungen aus auf verblüffende Weise zu parallelen Entdeckungen und Schlussfolgerungen kommen. SPRECHERIN (4) Darwin wie Wallace unternehmen in jungen Jahren ausgedehnte Reisen in die Tropen. Beide tragen umfangreiche Sammlungen von Tieren und Pflanzen zusammen, die ihnen die Augen für den Artenreichtum der Natur öffnen. Für die Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Theorie allerdings verfügt Darwin, der in eine regelrechte Dynastie von Naturforschern hinein geboren wurde, über ungleich mehr Geld und Zeit als der 14 Jahre jüngere Wallace. O-Ton 5 - Matthias Glaubrecht Heute studiert man Biologie oder Zoologie und betätigt sich danach auch in dieser Wissenschaft, und damals war die Naturforschung ein Hobby der Leute, die sich das leisten konnten. AUTOR (6) Wallace, der aus einem gebildeten aber armen Elternhaus stammt, konnte es sich nicht leisten und ist über einen Umweg dann doch zum Naturforscher geworden. SPRECHERIN (5) Am 8. Januar 1823 wird Wallace in Usk, einem Städtchen im Süden von Wales, geboren. Mit 14 Jahren muss er die Schule verlassen, um zum Familienunterhalt beizutragen. In der Firma seines älteren Bruders arbeitet er als Landvermesser und entdeckt bei der Betätigung im Freien seine Liebe zur Natur. Atmo 2 - offenes Gelände (Vogelzwitschern, Grillenzirpen - Europa) SPRECHER: WALLACE (4) "Es ist äußerst reizvoll, an einem strahlenden Sommertag kreuz und quer durch die offene Feldflur zu streifen und die Schönheit der Natur zu bewundern, die frische und reine Luft des Hochlandes zu atmen (...). Wer den ganzen Tag im Haus ist, kann gar nicht ermessen, welches Vergnügen es dann bereitet, sich zum Abendessen zu setzen, begierig, alles auf dem Teller mit großem Heißhunger zu verspeisen." (Wallace im Brief an einen Freund, zit. nach: Glaubrecht, S. 61) AUTOR (7) Wallace stellt auf eigene Faust erste naturkundliche Studien an. SPRECHERIN (6) Er besucht wissenschaftliche Vorträge und lernt den leidenschaftlichen Käfersammler Henry Walter Bates kennen, der ihn mit der Welt der Insekten vertraut macht. Gemeinsam fassen sie den Plan, nach Südamerika zu reisen, um als Tier- und Pflanzenhändler ihr Glück zu machen. Ein Londoner Agent soll ihre Funde an Sammler und Museen verkaufen. Im Frühjahr 1848 brechen die beiden zu ihrer ersten großen Reise an den Amazonas auf. Atmo 3 - Segler sticht in See (Möwen, Wellen, Segel knattern) Atmo 1 - Regenwald (Amazonas) SPRECHER: WALLACE (5) Bei meinem ersten Ausflug in den Wald erwartete ich sogleich überall Affen, Kolibris und Papageien zu begegnen, so zahlreich wie in einem zoologischen Garten. Aber für mehrere Tage bekam ich keinen einzigen Affen und kaum einen Vogel zu Gesicht. Ich dachte schon, dass die Bewohner der südamerikanischen Wälder wohl viel seltener seien, als Reisende es beschrieben hatten. Bald aber merkte ich, dass es unzählige Tiere zu entdecken gab, sobald ich nur herausgefunden hatte, wo und wie ich nach ihnen Ausschau halten musste. (zit. nach: A. Williams-Ellis: Darwins Moon, S. 39) SPRECHERIN (7) Allein in den ersten zwei Monaten sammelt Wallace gemeinsam mit Bates rund 7000 Schmetterlinge und Käfer von über 1300 verschiedenen Arten. . O-Ton 6 - Matthias Glaubrecht Er macht das ganz raffiniert: Er sammelt immer ein paar Stücke für sich, für seine eigene private Sammlung, und ein paar Stücke, die er verkaufen lässt über seinen Agenten, und von diesem Verkauf kann er sich die weiteren Etappen seiner Reise dann finanzieren. Atmo 1 - klingt unter dem nächsten Text aus AUTOR (8) Die Entdeckung der Evolutionstheorie fällt in eine Ära naturkundlicher Sammelwut. Und das ist kein Zufall, sagt die Wissenschaftshistorikerin Julia Voss. Im Chaos der überquellenden Sammlungen erkennt sie einen Katalysator für die Lösung der Artenfrage. O-Ton 7 - Julia Voss Ja, wenn man so will, war das der Auslöser für die Evolutionstheorie, sozusagen das reinigende Gewitter, England war die größte Kolonialmacht und hatte deswegen auch - das war der ganze Stolz - die größten naturkundlichen Sammlungen in der Hauptstadt, in London. Und diese naturkundlichen Sammlungen, das klingt immer alles so geordnet, waren im Grunde aber ein totales Chaos. England hatte die meisten Kolonien, und aus diesen Kolonien sind täglich sehr viele Schiffe im Hafen von London eingetroffen, und nicht nur Forschungsreisende haben gesammelt, sondern natürlich auch Matrosen, Kapitäne, Ärzte, die an Bord waren, und die haben in unüberschaubar vielen Kisten diese Tiere und Pflanzen mitgebracht und haben sie entweder verkauft oder auch abgegeben an die naturkundlichen Sammlungen. AUTOR (9) Die Experten an den Museen und Sammlungen erkennen zunächst gar nicht, welchen Erkenntnisgewinn die Flut der Fundstücke für sie bereithält. O-Ton 8 - Matthias Glaubrecht Das ist ein Phänomen, auch in den Museen des 19. Jahrhunderts, dass viele Wissenschaftler damals angenommen haben, es reicht so das Arche-Noah-Prinzip: Es reicht, wenn ich ein Männchen und ein Weibchen von einer bestimmten Art in meiner Sammlung habe, dann bin ich glücklich. Und viele auch der Museums- Kuratoren und auch der Direktoren haben die so genannten "Doubletten", also die doppelten Exemplare tatsächlich auch getauscht oder verkauft, um eben andere Stücke dafür einzutauschen oder zu erwerben. AUTOR (10) Die Überfülle der eintreffenden Tiere und Pflanzen ist ihnen erst mal nur lästig. Denn bisher hat man Naturalien nicht in Serien, sondern nur paarweise gesammelt, erklärt Matthias Glaubrecht. O-Ton 9 - Matthias Glaubrecht Das hat dazu geführt, dass man ganz lange gar nicht verstanden hat, dass einzelne Arten eben sehr, sehr variabel sind. Das kann man wirklich nur verstehen, wenn man von verschiedenen Fundorten immer wieder dieselbe Art in mehreren Stücken, also in ganzen Serien von zwölf oder mehr Stücken sammelt. Und Alfred Russel Wallace hat da eigentlich die Not zur Tugend gemacht, er ist ja Naturaliensammler, er lebt also vom Verkauf solcher gesammelten Schmetterlinge und Käfer und Vögel, und er ist daran interessiert, immer wenigstens ein Dutzend solcher gleichartiger Tiere zu sammeln, weil er dann eben mehr verkaufen kann. Und so sammelt er größere Serien, und er sammelt eben auch immer wieder dieselbe Art, auch wenn er an einem anderen Ort dieselbe Art wieder entdeckt. Und dabei erkennt er, dass die Tiere über die geographische Distanz durchaus auch minimale Abweichungen zeigen. AUTOR (12) Immer wieder steht Wallace vor der Frage, ob zwei Tiere verschiedenen Arten angehören oder nur unterschiedliche Varianten ein und derselben Art darstellen? SPRECHERIN (8) Wie ein schwarzer und ein gefleckter Jaguar. O-Ton 11 - Julia Voss Wallace hat natürlich dieses Problem verschärft auch selber mitbekommen (Er muss eben diese Etiketten beschriften von den Tieren und Pflanzen, die er gesammelt hat und die er vorausschickt an die Sammlungen, er kann ja nicht alle mitnehmen, es sind zu viele, und er muss sich dann jeweils natürlich entscheiden: Was habe ich da gesammelt? Ist das jetzt eine neue Art? Wie würde ich die benennen? Oder ist das die Varietät einer Art, die wir bereits kennen? (23:15) Und Wallace merkt, dass das ein wahnsinnig schwieriges, wenn nicht unmögliches Geschäft ist, und genau dieser Blick auf das Naturreich und dieses Anerkennen, dass praktisch das Versagen nicht das eigene ist, dass er weiß, dass es nicht daran liegt, dass er nicht Experte genug ist, sondern dass es daran liegt, dass die Natur tatsächlich eine so außerordentliche Vielfalt ausbildet und so viele Varietäten ausbildet, dass es daran liegt, dass man eben keine feste Grenzlinie ziehen kann. Und das ist natürlich der Clou der Evolutionstheorie. AUTOR (13) Die Vielfalt seiner Funde, die Beobachtung, wie viele verschiedene Varietäten innerhalb einer einzelnen Art vorkommen können, führt Wallace auf die Spur des Mechanismus, durch den die Natur ständig neue Arten hervorbringt. Sein Forschungslabor ist der Urwald, sein Arbeitsplatz eine mit Palmenblättern gedeckte Hütte. Atmo 4 - Urwald Südostasien SPRECHERIN (9) Nachdem er auf der Überfahrt von Amazonien den größten Teil seiner Sammlungsstücke und Aufzeichnungen durch einen Schiffbruch verloren hat, ist Wallace 1854 zu einer weiteren großen Reise nach Südostasien aufgebrochen. In seinem Buch "Der Malayische Archipel" beschreibt er, wie er draußen im Feld versucht, Ordnung in seine Funde zu bringen. SPRECHER: WALLACE (6) "Meine Sammlungen wurden hier unter mehr als gewöhnlichen Schwierigkeiten präserviert. Ein kleines Zimmer musste zum Essen, Schlafen und Arbeiten, als Vorratshaus und als Sektionszimmer dienen; es waren keine Börter, Schränke, Stühle oder Tische darin; Ameisen krochen überall umher, und Hunde, Katzen und Federvieh trat nach Gefallen ein und aus. (...) Mein Hauptmöbel war ein Kasten, der mir als Esstisch, als Stuhl beim Abbalgen und als Aufbewahrungsort für Vögel, wenn sie abgebalgt und getrocknet waren, diente. Um sie vor Ameisen zu schützen, liehen wir uns mit einigen Schwierigkeiten eine alte Bank, deren vier Beine in mit Wasser gefüllte Kokosnussschalen gestellt wurden (...). Der Kasten und die Bank waren jedoch buchstäblich die einzigen Plätze, wohin man etwas legen konnte, und sie waren gewöhnlich ganz eingenommen von zwei Insektenkästen und ungefähr hundert Vogelbälgen, die trocknen sollten." (Wallace: Der Malayische Archipel, S. 128) AUTOR (14) Als Naturaliensammler ist Alfred Russel Wallace aufgebrochen, als Naturforscher bezieht er aus der Ferne Stellung zu den Debatten um die Entstehung der Arten. Anfang 1855 liest er den Aufsatz eines Londoner Geologen, der die räumliche und zeitliche Verteilung von Fossilien-Funden mit der Schöpfungsgeschichte in Einklang bringen will. SPRECHERIN (10): Wallace ist aufgebracht. In seinen Augen sind die Thesen des angesehenen Akademikers unhaltbar. In einem kämpferischen Essay stellt er seine Sicht der Dinge dar und schickt den Text an eine britische Fachzeitschrift. O-Ton 12 - Matthias Glaubrecht Man muss sich das mal vor Augen führen: Da ist also jemand am anderen Ende der Erde, wirklich am Ende des Indo-Malayischen Archipels, der liest einen Aufsatz eines kritischen Geologen, regt sich darüber auf, hat aber auch tagtäglich Anschauungsunterricht, wie veränderlich diese Arten sind, und rechnet jetzt also Eins und Eins zusammen, und er sitzt also sozusagen am richtigen Ort, um jetzt also eine Erwiderung auf diese Arbeit zu schreiben. Und letztendlich setzt das diese Kette von Ereignissen in Gang, die dazu führt, dass dann drei Jahre später gemeinsam Darwins und Wallaces Theorie dann auch erstmals in einem Vortrag vorgestellt werden. AUTOR (15) Die naturhistorische Zeitschrift veröffentlicht Wallaces Aufsatz unter dem Titel "Über das Gesetz, welches die die Einführung neuer Arten reguliert hat". Hier formuliert Wallace bereits seine zentrale These zur Entstehung der Arten. SPRECHER: WALLACE (7) Jede Art ist sowohl räumlich als auch zeitlich aus einer vorher existierenden, nahe verwandten Art in Erscheinung getreten. SPRECHERIN (11) Darwin, der seit Jahren an seinem Buch über den Mechanismus der Evolution arbeitet, schreibt Wallace im Frühjahr 1857 einen anerkennenden Brief. SPRECHER: DARWIN (2) Was Ihren Aufsatz (...) betrifft, so halte ich fast jedes Wort darin für wahr, und Sie werden wahrscheinlich wie ich der Ansicht sein, dass nur sehr selten in einer theoretischen Frage zwei Forscher so eng miteinander übereinstimmen. AUTOR (16) Noch ahnt Darwin nicht, dass ihm aus dem Lieferanten seiner naturkundlichen Studienobjekte ein ernsthafter Konkurrent erwächst. Erst im Jahr darauf erlebt er ein böses Erwachen. O-Ton 13 - Julia Voss Wallace gehörte zu den vielen, vielen Zuträgern, die Darwin in der ganzen Welt hatte, die ihn mit Informationen aus der ganzen Welt versorgt haben, aber eben auch mit Naturalien, also, die ihm Federn zugeschickt haben, Eier, alles Mögliche, was er eben verarbeitet hat in seinen Büchern (...), und Darwin erwartete auch eine weitere Sendung von ihm, und eines Morgens im Juni '58 erhielt eben Charles Darwin eine Sendung, und statt den erwarteten Naturalien enthielt dieses kleine Paket aber eine Schrift von Wallace, und Wallace (...) wendet sich eben vertrauensvoll an ihn und sagt, er habe folgende Theorie, wolle ihm die gerne vorstellen, und was er davon hielte, er würde sich über - wie man modern sagen würde - ein Feedback freuen. AUTOR (17) In der Einsamkeit des Malayischen Archipels hat Wallace seine Überlegungen zur Entstehung der Arten beständig weiter verfolgt. Ein Buch des Sozialphilosophen und Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Malthus über die menschliche Bevölkerungs- Entwicklung, dem auch Darwin wichtige Anregungen verdankt, bringt ihn schließlich auf die entscheidende Idee. Sprecherin: Da Tiere stets mehr Nachkommen hervorbringen, als in ihrem Biotop Nahrung finden, entscheidet der Einfluss der Umwelt darüber, welche Individuen überleben. Und da innerhalb einer Art nach Wallaces Beobachtung viele verschiedene Varianten auftreten, überleben am Ende diejenigen, deren Merkmale am besten an die Umwelt angepasst sind, und geben diese Eigenschaften an ihre Nachkommen weiter. Es ist eine einfache demografische Rechnung, die ohne die eingreifende Hand eines Schöpfers auskommt. SPRECHERIN (12) //Autor: An drei Abenden fasst Wallace seine Idee auf 20 Seiten zusammen und schickt sie mit dem Postschiff an Charles Darwin, mit dem er seit Kurzem in Briefkontakt steht. O-Ton 14 - Matthias Glaubrecht Sowohl Wallace als auch Darwin hatten eben die geniale Idee, eigentlich den komplett simplen Einfall, dass es die Auslese durch die Umwelt, also die "natürliche Selektion" ist, die dazu beiträgt, dass Arten sich entwickeln, dass sie sich verändern, dass auch neue Arten entstehen, und diesen Mechanismus haben beide unabhängig voneinander entdeckt. AUTOR (18) In dem Manuskript, das Wallace Darwin mit der Bitte um Feedback vorlegt, findet Darwin seine eigenen Ideen von einem anderen formuliert. SPRECHER: WALLACE (8) Das Leben wilder Tiere ist ein Kampf ums Dasein. Die volle Anspannung aller ihrer Fähigkeiten und aller ihrer Kräfte ist erforderlich, um für ihre eigene Fortdauer einzustehen und für diejenige ihrer jugendlichen Abkömmlinge Sorge zu tragen." (zit. nach: Glaubrecht, S. 274) O-Ton 15 - Julia Voss Darwin schaut sich das an und - ja, fällt aus allen Wolken, weil er eben feststellt, dass die Evolutionstheorie, an der er selbst schon sehr lange, nämlich über 20 Jahre inzwischen, arbeitet und feilt und die immer weiter ausbaut und mit immer weiteren Belegexemplaren unterfüttert, dass Wallace praktisch ein Abstract dessen hergestellt hat und ihm schickt. SPRECHER: DARWIN (3) Ich habe niemals ein auffallenderes Zusammentreffen gesehen (...). Selbst seine Ausdrücke stehen jetzt als Überschriften über meinen Kapiteln". (zit. nach: Heberer, S. 5f.) SPRECHERIN (13) Autor: Darwin befindet sich in einer Zwickmühle und wendet sich Rat suchend an Freunde und Förderer. O-Ton 16 - Matthias Glaubrecht Auf der einen Seite weiß er, dass er seit 20 Jahren schon an diesem Manuskript arbeitet, und er ist dabei, ein ganz dickes Buch zu schreiben, das zu zwei Dritteln auch schon fertig ist, und da kommt ihm jetzt dieser Heißsporn Wallace mit seinem Manuskript ein bisschen in die Quere, und er ist - das wissen wir - hin und her gerissen, wie man damit umgehen soll. Man findet dann, mit Hilfe von einflussreichen Freunden ein, wie wir heute denken, delikates Arrangement. Es werden Auszüge aus Darwins bis dahin unveröffentlichten Aufsätzen zusammengefasst, möglicherweise noch nicht mal von ihm. Das allein ist schon ein brisantes Faktum, dass die Evolutionstheorie, die wir auf Darwin zurückführen, so zuerst bekannt wird. Und wir haben das Manuskript von zwanzig Seiten von Alfred Russel Wallace, das dann ebenfalls mit den Auszügen von Darwin zusammen veröffentlicht wird. AUTOR (19) In seiner Autobiographie gibt Darwin zu erkennen, dass ihm die Fragwürdigkeit dieses Arrangements sehr wohl bewusst war. SPRECHER: DARWIN (4) Ich wollte meine Zustimmung zuerst durchaus nicht geben, ich dachte nämlich, Mr. Wallace fände die gemeinsame Vorstellung vielleicht unbillig; damals wusste ich noch nicht, wie großzügig und nobel seine Einstellung ist. (Darwin, Mein Leben, insel, S. 131) AUTOR (20) Tatsächlich hat Wallace Darwins Verhalten nie kritisiert. SPRECHERIN (14) Bei der denkwürdigen Versammlung der Linnean Society am 1. Juli 1858 sind weder Darwin noch Wallace anwesend: Darwin wegen eines Todesfalls in der Familie, Wallace, der erst viel später von der gemeinsamen Vorstellung ihrer Thesen erfuhr, ist auf Reisen. Die Manuskripte werden verlesen. Ein Jahr später erscheint Charles Darwins epochales Buch "Über die Entstehung der Arten". Autor (21): Als Wallace in seiner Hütte unter den Palmblättern ein Exemplar erhält, sendet er Glückwünsche an Darwin. Der wehrt bescheiden ab und schreibt zurück: SPRECHER: DARWIN (5) Sie würden, wenn Sie freie Zeit gehabt hätten, die Arbeit genauso gut, vielleicht noch besser getan haben, als ich sie gemacht habe." (zit. nach: jvo, S. 90) AUTOR (21) Dass es Wallace, dem ruhelos Reisenden und wissenschaftlichen Autodidakten überhaupt gelungen ist, Darwin mit seiner eigenen Theorie auf Augenhöhe zu begegnen, muss eine große Genugtuung für ihn gewesen sein. O-Ton 17 - Julia Voss Man darf nicht vergessen, dass diese großen Theorien - im 19. Jahrhundert und auch heute - auf einer ungeheuren Fleißarbeit auch beruhen. Und diese Fleißarbeit ist eigentlich nicht vorstellbar, wenn man nicht einen geregelten Tagesablauf hat, wenn man nicht Zugang zu Bibliotheken hat, wenn man nicht in der wissenschaftlichen Community verkehrt und sich mit denen austauschen kann, wenn man nicht Zugang zu den neuesten Veröffentlichungen hat und obwohl all dieses fehlt, ist Wallace in der Lage, praktisch mit seinem kleinen portablen Gehirn- Computer diese große Theorie auszutüfteln. Und das ist sehr beeindruckend. Atmo 4 - Urwald Südostasien SPRECHERIN (15) Wallace kehrt erst zweieinhalb Jahre nach dem Erscheinen von Darwins "Entstehung der Arten", im Frühjahr 1862 nach England zurück. Während der acht Jahre im Indo- Malayischen Archipel hat der Forscher mit Fallen und Flinte mehr als 125.000 Sammlungsstücke zusammengetragen. SPRECHER: WALLACE (9) Das allererste Mal, als ich meine Flinte abschoss, fiel einer der merkwürdigsten und schönsten Malakavögel herab, der blauschnäblige Schnapper (...), von den Malayen "Regenvogel" genannt. Er ist ungefähr von der Größe eines Stares, schwarz und leuchtend rot gefärbt mit weißen Schulterstreifen und hat einen sehr großen und breiten Schnabel vom reinsten kobaltblau oben und orange unten, während die Iris smaragdgrün ist. (...) Frisch getötet ist der Gegensatz zwischen dem lebhaften Blau mit den reichen Farben des Gefieders besonders auffallend und schön." (Wallace, Archipel, S. 28) AUTOR (22) Wegen seiner exakten Aufzeichnungen zur Verbreitung der Tierarten in der südostasiatischen Inselwelt gilt Alfred Russel Wallace als Begründer der Bio- Geographie, die bis heute wichtiges Grundlagenwissen für den Naturschutz bereitstellt. Wallace hat wilde Orang-Utans beobachtet und gejagt. Er hat den scheuen Königsparadiesvogel beschrieben und in dessen Lebensraum schon vor 150 Jahren ein gefährdetes Paradies erkannt. SPRECHER: WALLACE (10) Ich dachte an die lange vergangenen Zeiten, während welcher die aufeinander folgenden Generationen dieses kleinen Geschöpfes ihre Entwicklung durchliefen (...), lebten und starben, und alles in diesen dunklen, düsteren Wäldern, ohne dass ein intelligentes Auge ihre Lieblichkeit erspähte (...). Auf der einen Seite erschien es traurig, dass so außerordentlich schöne Geschöpfe (...) ihre Reize entfalten nur in diesen wilden, ungastlichen Gegenden, (...);während es auf der anderen Seite, wenn zivilisierte Menschen jemals diese fernen Länder erreichen und moralisches, intellektuelles und physisches Licht in die Schlupfwinkel dieser Urwälder tragen, sicher ist, dass sie die in schönem Gleichgewichte stehenden Beziehungen der organischen Schöpfung zur unorganischen stören werden, so dass diese Lebensformen, deren wunderbarer Bau und deren Schönheit der Mensch allein imstande ist zu schätzen (...), verschwinden und schließlich aussterben. (Wallace, Archipel, 392f.) Atmo 4 - ausblenden unter folgendem Text AUTOR (23) Und die Evolutionstheorie? - Stimmt es, dass Charles Darwin Wallaces Vertrauen missbraucht und von ihm abgeschrieben hat? Dass er auf den entscheidenden Gedanken vielleicht erst durch Wallaces Manuskript gekommen ist? Wer das behauptet, ist schlecht informiert, sagt Wallaces Biograph Matthias Glaubrecht. O-Ton 18 - Matthias Glaubrecht Alle Vorwürfe, Darwin hätte die Evolutionstheorie gar nicht selbst entwickelt, sondern von Wallace geklaut und abgeschrieben, (...) das ist Unfug, das ist eine sehr oberflächliche und falsche Darstellung. Was wir allerdings sagen müssen, ist, dass wir sehr deutliche Hinweise darauf haben, (...) dass Darwin Ergänzungen in seinem Manuskript vorgenommen hat, nachdem er Wallaces Manuskript gelesen hat. Das ist kein Abschreiben, das ist eine Präzisierung an bestimmten Stellen. Das hat uns Darwin verschwiegen. AUTOR (24) Und weshalb ist Darwin schließlich zu "Darwin" geworden - und nicht Wallace? Das war nicht zuletzt eine Frage guten Networkings, sagt die Wissenschaftshistorikerin Julia Voss. Die Geschichte der doppelten Entdeckung der Evolutionstheorie ist auch eine ziemlich zeitlose Geschichte über Erfolgsstrategien im akademischen Betrieb. O-Ton 19 - Julia Voss Diese wissenschaftlichen Theorien, auch im 19. Jahrhundert, werden kommuniziert zwischen den Experten in London, und diese Experten sind ein ganz kleines Feld von Wissenschaftlern, die untereinander diskutieren, und es brauchte tatsächlich die Wucht von Darwins Anwesenheit, von seiner Stellung, damit diese Theorie diese Wogen schlagen konnte und damit überhaupt zugehört wurde und die Ohren gespitzt wurden in der wissenschaftlichen Community. AUTOR (25) Nicht zu vergessen: Es brauchte auch die Wucht von Darwins überreichem Beweismaterial. O-Ton 20 - Matthias Glaubrecht Wallace ist ganz sicher einer der großen Naturforscher des 19. Jahrhunderts, und wir müssen sagen, selbst wenn es Darwin nicht gegeben hätte, hätten wir eine Evolutionstheorie, und wir würden sie eben ausschließlich mit dem Name Wallace verknüpfen. Man muss allerdings dazu sagen, dass die Evolutionstheorie es dann viel schwerer gehabt hätte, als sie es ohnehin gehabt hat, bei Wissenschaftlern akzeptiert zu werden. Wir wissen, dass das sehr viele Jahre, Jahrzehnte dauert, bis so ein Gedankengebäude akzeptiert wird, und dafür hat Darwin mit seinem 700- Seiten-Buch und seiner sehr fundierten Fakten-Sammlung und seiner gründlichen Darstellungsweise in der "Entstehung der Arten" 1859 eine viel bessere Grundlage gelegt als Wallace das getan hat. Atmo 2 - offenes Gelände (Vogelzwitschern, Grillenzirpen - Europa) AUTOR (26) "Alfred Russel Wallace gehörte einer seltenen Spezies an", schreibt Annabel William- Ellis in ihrem Buch "Darwins Mond". Kein "Eroberer" und kein "Goldsucher" sei er gewesen. Mut und Opferbereitschaft zeichneten ihn aus, Risikofreude und Zähigkeit, aber all das nur zu einem Zweck: sein Wissen über die Natur zu vermehren. Wie wenige andere Menschen habe Wallace im hohen Alter mit dem Schicksal seinen Frieden gemacht. Es scheint, als habe Wallace, der gegen alle widrigen Umstände seiner Jugend aus Passion zum Biologen wurde, nach seinem Glück gegriffen wie nach einem schillernden Falter. Er wusste, dass es Verstand, Geschick und Jagdinstinkt bedarf, um festzuhalten, was nur allzu leicht davon fliegt. SPRECHER: WALLACE (11) Ich zitterte vor Erregung, als ich ihn majestätisch zu mir herabkommen sah, und konnte kaum glauben, dass mir wirklich der Streich gelungen, bis ich ihn aus dem Netz gezogen hatte und in Bewunderung verloren auf das samtige Schwarz und schillernde Grün seiner Flügel mit achtzehn Zentimeter Spannweite, auf seinen goldenen Körper und seine karmesinrote Brust starrte; wohl hatte ich ähnliche Insekten in Kabinetten meiner Heimat gesehen, aber es ist eine ganz andere Sache, selbst so etwas zu fangen, es zwischen seinen Fingern sich winden zu fühlen und auf seine frische und lebendige Schönheit zu schauen - ein leuchtendes Juwel, das aus dem stillen Dunkel des finsteren und verschlungenen Waldes hervorstrahlt. (zit. nach: Glaubrecht, S. 39) ENDE 1