DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Feature Dienstag, 15.05.2007 Redaktion: Marcus Heumann 19.15 - 20.00 Uhr "Ich wollte doch nur nach Hause!" - Eine Jugend im falschen Deutschland. Von Henry Bernhard URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Thomas Raufeisen Wie wird man zum Ossi? Kann man zum Ossi werden? Auf dem Papier vielleicht, ja. Das wird man nicht, und das klappt auch nicht. Die haben's ja versucht. Und ich sollte ja integriert werden in die Gesellschaft - und das ist mächtig schiefgelaufen. Michael Raufeisen Und außerdem: Eine Integration war vollkommen unmöglich, weil: Wir waren nicht in der DDR aufgewachsen. Das heißt, wir hatten eine ganz andere Denke im Kopf. Thomas Raufeisen Und mal ganz abgesehen von der späteren Haft: Das ging ja von vornherein schief! Michael Raufeisen Wir passten nicht in dieses System rein - weder mein Bruder noch ich. Musik: X-Ray Spex "Identity" Musik: "Euer Dienst ist die Aufklärung Titel "Ich wollte doch nur nach Hause!" Eine Jugend im falschen Deutschland. Ein Feature von Henry Bernhard Musik auslaufen lassen Thomas Raufeisen Also mein Name ist Thomas Raufeisen. Ich bin geboren 1962 in Hannover und dort auch aufgewachsen. Michael Raufeisen Ich heiße Michael Raufeisen, bin 47 Jahre; bis 1979 habe ich in Hannover Ahlem gewohnt. Behütetes Haus, kann man sagen: Mutter Hausfrau, Vater ist arbeiten gegangen. Thomas Raufeisen Mein Vater war angestellt bei der PREUSSAG und dort als Geophysiker tätig. Ich glaube, teilweise in den 70ern war er da als Abteilungsleiter dabei. Michael Raufeisen Ganz normal alles, zur Schule gegangen, Freunde gehabt, Moped gehabt mit 16 ... Aktuelle Kamera-Jingle + Anmoderation Angelika Unterlauf Thomas Raufeisen Das Komische war nur bei uns zu Hause, dass mein Vater sehr häufig DDR- Fernsehen gesehen hat. Michael Raufeisen Wenn wir einen Film gesehen haben, dann hat er einfach abgeschaltet und Aktuelle Kamera angemacht - und solche Geschichten! (lacht)... was er immer damit begründet hat, dass er HIER in die Zeitung gucken konnte und zum Vergleich eben das DDR-Fernsehen sehen wollte, damit er Vergleichsmöglichkeiten hat. Angeblich! Die Hintergründe wussten wir ja noch nicht! Thomas Raufeisen Da kamen dann schon mal Streitereien - in dem Sinne: "Du mit deiner Scheiß- DDR!" Das hat er dann so abgefangen, dass er uns mal einen eigenen Fernseher ins Zimmer gestellt hat. AK-Jingle Thomas Raufeisen Für mich war die DDR in der Zeit nur ein Urlaubsland, weil: Wir hatten viele Verwandte in der DDR, weil meine Eltern im Großen und Ganzen aus dem Osten stammten. Michael Raufeisen Also politisch habe ich mir nie richtig Gedanken drüber gemacht, weil: Ich musste ja dort nicht leben! Ich wusste nur: Sie durften nicht ausreisen, sie waren unter völliger Kontrolle dort. Thomas Raufeisen Aber ich kann mich erinnern, dass, wenn wir damals zurückgefahren sind, dass wir dann, wenn wir in den Westen kamen, so ein bisschen durchgeatmet haben: Mensch, jetzt ist hier wieder unser normales, einfaches Leben im Prinzip, ne! Auftakt "Wir tragen die roten Spiegel" Rezitation "Rückkehr des Kundschafters" Rückkehr des Kundschafters Die Jahre ins Gesicht eingemeißelt wie Jahrzehnte Damals: Bruch mit allem und jedem. Danach lernen. Lernen reden wie sie, lernen aussehen wie sie, lernen sich zeigen wie sie, und immer sein: wie wir. Thomas Raufeisen Für mich war das ein ganz normaler Tag. Es war ein ziemlich strenger Winter damals. Und im Nachhinein kann ich natürlich sagen: Da kamen so Nachrichten, die auch immer mal wieder kamen; in der Zeitung stand was drin, dass ein Stasi-Offizier irgendwie übergelaufen wäre in den Westen. Der Name Stiller wurde auch nicht genannt. Es hieß auch, das erste Verhaftungen sind auf Grund dessen. Aber ansonsten war es ein normales Wochenende. ich habe nichts weiter gemerkt. Und am Montag dann bin ich ja zur Schule gegangen, war auch völlig normal. Ich war in der 11. Klasse. Michael Raufeisen Ich war im Berufsgrundbildungsjahr, hatte Grippe, war zu Hause. Mein Vater ging wie immer zur Arbeit und kam plötzlich nachmittags nach Hause - Oder mittags war das ... mittags war das, genau! - gab mir den Autoschlüssel in die Hand und sagte: "Hol mal deinen Bruder von der Schule ab!" Und das habe ich gemacht. Thomas Raufeisen Da war mein Vater zu Hause. Und er erzählte mir, dass er eine Nachricht bekommen hätte. Er hätte irgendwie einen Anruf bekommen und er hätte eine Mitteilung bekommen, dass irgendetwas mit meinem Opa passiert wäre. Michael Raufeisen Und dann hieß es: Ja, wir müssen rüber in die DDR, weil es unserem Großvater so schlecht ginge. Thomas Raufeisen Ja, wir haben dann gesagt: Mensch, da müssen wir jetzt erst mal hin! Vielleicht sehen wir ihn ja noch das letzte Mal. Michael Raufeisen Na gut: Wir uns natürlich gefreut über ein paar schöne, freie Tage. In ein paar Tagen sind wir ja wieder zurück ... So ungefähr. Thomas Raufeisen Ja, und wir sind dann losgefahren: meine Eltern, mein Bruder und ich, zu viert. Michael Raufeisen Tja, und los ging's! Innerhalb von ein paar Stunden waren wir dann schon an der Grenze! Und wir ahnten ja von nichts - bis zum nächsten Tag eben auch ... Thomas Raufeisen Wir sind dann erst mal im Transit in die DDR eingefahren. Das heißt, wir sind nicht eingereist in dem Sinne, sondern wir sind im Transit Richtung Berlin. Mein Vater sagte, wir fahren erst mal nach Westberlin und von da aus können wir das dann .., können wir einreisen oder was. Er hat dann allerdings auf der Raststätte Magdeburg telefoniert. Michael Raufeisen ... kam dann zurück und sagte dann zu uns: Wir bräuchten nicht mehr nach Westberlin rein, er hätte da was klargemacht für eine Unterkunft im Osten. Wir würden eine Privatunterkunft kriegen. Da wir so plötzlich eingereist sind, müssten natürlich die Papiere noch fertig gemacht werden. Thomas Raufeisen Es würde aber für uns so geregelt werden, dass das über Nacht erledigt wird und wir dann am nächsten Tag weiterfahren könnten zu meinen Großeltern. Michael Raufeisen ... also nach Ahlbeck, genauer gesagt. Ja, alles klar - und los ging's! Thomas Raufeisen ... sind dann in so einem kleinen Dorf irgendwo in so ein Einfamilienhaus gekommen, das war dann so ein Quartier, und wurden so empfangen von so einem älteren Ehepaar, die dann sagten, wir könnten dort übernachten. Michael Raufeisen Na gut, prima, wenn das so klappt! Keinen Gedanken daran verschwendet. Na ja, wir waren auch politisch ziemlich unbedarft in der Hinsicht, oder naiv kann man auch sagen. keine Ahnung ... Aber wir haben auch nicht vermuten können, dass unser Vater uns da reinreitet. Thomas Raufeisen Und soweit erst mal ... (lacht) Ja, nicht so sehr verdächtig! Aber im Nachhinein war es natürlich sehr verdächtig! Na ja, gut ... Michael Raufeisen Aber wer denkt schon daran, was jetzt gekommen ist danach. Musik: Novalis, Wunderschätze Michael Raufeisen Am nächsten Tag ging's und ging's nicht weiter und wir fragten schon - also mein Bruder und ich - "Was ist denn nun los, wann kriegen wir unsere Papiere?" "Ja, Geduld, die kommen schon. Wir hatten ja inzwischen unsere Pässe und alles abgegeben. Thomas Raufeisen Also irgendwie sind da auch Leute gekommen zu Besuch. Die saßen im Aufenthaltsraum. Also zwei Männer waren da irgendwie gekommen. Michael Raufeisen Mein Vater rief uns dann in die Stube. Thomas Raufeisen Und da hat mein Vater die Wahrheit über unseren "kleinen Ausflug" erzählt. Also meinem Opa ging es zu der Zeit noch gut, das war nicht das Problem. Unser Vater erzählte mir, dass er in Hannover Gefahr liefe, verhaftet zu werden und deswegen musste er weg. Michael Raufeisen ... er hätte als "Kundschafter des Friedens" gearbeitet ... Thomas Raufeisen ... wie es so schön hieß! Also das war der Begriff, den die DDR für die Spione benutzt hat. Und er wurde davor gewarnt, dass seine Tarnung auffliegt. Michael Raufeisen ... und teilte uns dann mit, dass wir nicht mehr nach Hannover zurück können und das also ..., ja, wir sollten uns hier in der DDR ein neues Leben aufbauen und ... Thomas Raufeisen ... aus Sicherheitsgründen könnten wir jetzt nicht mehr zurück; wir müssten von jetzt ab in der DDR weiterleben. Also wir könnten nie mehr zurück! Musik: Ligeti Thomas Raufeisen Also erst mal war das so ein Gefühl der Leere, also so, so ein Unglauben auch, ne. Es ist einfach ein schlechter Film: Wo bin ich jetzt hier gelandet? Was passiert jetzt mit mir, das kann doch nicht sein! Also muss ich das jetzt irgendwie als ernsthaft annehmen oder ist das jetzt nur so ein Spiel oder was? Also ein ganz komisches Gefühl der Leere; und ich dachte: Ich bin gar nicht mehr da! Michael Raufeisen Er war wie erstarrt. Ich war dann impulsiver. Ich bin rausgerannt, "Leckt mich alle am Arsch!" - so ungefähr. Und ich brauchte erst mal ein bisschen ..., ich musste erst mal nachdenken: Was passiert jetzt hier? Wie geht das Leben jetzt weiter, was ...? Ich war wie leer gefegt im Kopf. Ich hab ständig nur an meine Freundin in Langenhagen gedacht... Thomas Raufeisen Und noch im Weglaufen hat er dann gerufen, dass er sich umbringt oder so, sich vor die S-Bahn wirft oder so. Michael Raufeisen (zündet Zigarette an) Mein Leben war zu Ende in dem Moment, das Gefühl hatte ich. Thomas Raufeisen Also, wenn die die Wahrheit sagen, heißt das, dass alles, was ich bisher gelebt habe, nicht mehr da war! Das konnte ich im Prinzip vergessen. Aber ich wusste nicht, wie es weitergehen soll! Was soll denn jetzt hier passieren? Soll ich in dieser tristen, grauen DDR weiterleben? Also das war die Katastrophe für mich! Michael Raufeisen Enttäuschung, Hass in dem Moment erst. Ich habe auch den Respekt vor meinem Vater verloren. Zuerst hat er gesehen: Die ganze Familie zerbricht; wir sind völlig am Ende. Und wir haben ihm nichts mehr geglaubt, ihm nicht mehr vertraut und gar nix. Das hat er natürlich heftig zu spüren gekriegt von uns. Thomas Raufeisen Er hätte so viel Vertrauen haben müssen, uns das eben vor unserer Fahrt von Hannover weg erzählen. Dass wir dann hätten beratschlagen können: Was machen wir? Ne. Ja, was hat meine Mutter eigentlich gesagt damals? Ich meine, sie hat das, soweit ich mich erinnern kann, hat mein Vater sie orientiert darüber, also noch im Westen gesagt, was Sache ist. Aber ihr hat er zur Beruhigung gesagt, es ist erst mal eine Vorsichtsmaßnahme; also wir müssten erst mal in den Osten und eine Woche eben warten, ne. Und wahrscheinlich würden wir wieder zurückkommen. Und sie hat das erst mal so geschluckt und uns erst mal nichts gesagt. Und mein Vater hatte ja kurzzeitig, aber nur ganz kurzzeitig, ein paar Tage lang nur, die Hoffnung, dass es uns dort genau so gut gehen wird wie im Westen. Und das verflog ja nun innerhalb von ein paar Stunden nur. Einfach durch die Reaktion von uns, wie wir damit umgegangen sind, dass wir eben nicht das Abenteuerliche oder so was in der Richtung empfanden. Also für mich war es ja sofort klar: Ich will hier weg! So. Michael Raufeisen Und dann kam die Stasi mit der Einbürgerung in die DDR, nach ungefähr zwei Wochen. Thomas Raufeisen ... also Anträge zur Aufnahme in die Staatsbürgerschaft der DDR. Auch meinen Eltern wurden die vorgelegt - meinem Vater, meiner Mutter und meinem Bruder. Die waren alle drei volljährig und sollten das dann unterschreiben. Ich wurd' nicht gefragt, weil ich nicht volljährig, war, ne. Thomas Raufeisen ... und nur mein Bruder hat sich verweigert. Michael Raufeisen Und daraufhin hat die Stasi natürlich ständig versucht - das heißt: Drei mal die Woche sind die gekommen! -, haben versucht, mich umzumodeln. Thomas Raufeisen Das fing an mit Bitten und Überzeugungsarbeit, viele Gespräche, wollten ihn überzeugen ...; na ja, haben ihn ganz gut bearbeitet, dass er vielleicht doch noch die Einbürgerung unterschreibt. Michael Raufeisen Die haben auch einen speziell auf mich angesetzt, der mit mir in eine Kneipe gegangen ist und so als Kumpel: "Ja, es ist doch alles so doll hier und ... Warum willst du denn nicht? Im Westen müsstest du Angst haben vor Arbeitslosigkeit!" - und all so eine Sprüche. Also ... Sie hätten mir ein Studium angeboten, ohne dass ich irgendwelche Grundvoraussetzungen haben hätte brauchen. Und Haus, Auto, Motorrad - alles hätte ich kriegen können! Und mein letzter Spruch war immer: Und wann kriege ich meinen Bundespass wieder? Thomas Raufeisen Aber letztendlich hat er es geschafft, hart zu bleiben. Übrigens auch mit Unterstützung meines Vaters! Und das hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass mein Vater da sehr schnell sehr viel Zweifel bekam. Was heißt Zweifel? Seine Einstellung gegenüber der DDR hat sich dann um 180° gedreht! Michael Raufeisen Sie haben noch einige Versuche gestartet, mich rumzukriegen, sie haben mir einen Ausbildungsplatz zum Beispiel sofort gestellt, ich hab beim Wohnungsbaukombinat Berlin ein Viertel Jahr gearbeitet. In ein "Jugendkollektiv" haben sie mich reingesteckt. Und die sollten mich nun alle ummodeln! Ist denen natürlich nicht gelungen, weil die waren viel zu neugierig über das, was ich denen zu erzählen hatte aus dem Westen als andersrum! Thomas Raufeisen Allerdings: Die Probleme haben sich ja nicht verflüchtigt! Klarkommen - ja. Aber sonst war da keiner! Meine Mutter vielleicht noch oder mein Bruder noch. Aber das war nicht so einfach, nö. Und so Aussprechen mit irgendjemanden, das war sowieso nicht drin - wann denn, wo denn? Wem kann ich denn überhaupt vertrauen? Wem soll ich mich denn anvertrauen da? Gab's keinen! Michael Raufeisen Teilweise war ich fast soweit: "Leckt mich alle am Arsch - ich unterschreibe!" Um Gottes Willen! Da wäre unsere Familie sofort fallen gelassen worden von der Stasi. Denn ich war im Endeffekt auch das Faustpfand! Ich war ja dann, wenn ich wieder rauskomme, Verwandter 1. Grades hier und der einzige Kontakt noch, direkte Kontakt, in den Westen. Denn mein Vater hatte ja vor, die ganze Familie auch wieder rauszuholen. Er hat es ihnen eingebrockt, also wollte er es auch wieder auslöffeln. Also Normalität konnte ich gar nicht empfinden! Erstens bin ich mit dem Audi 100 rumgefahren, wo andere Trabis gefahren sind. Thomas Raufeisen Mein Bruder hatte eine Yamaha, Größenordnung wie diese Simson da. So ein Ding als Yamaha - das machte schon Aufsehen so! Dummerweise war es ein bisschen langsamer als die Simson, na ja ... (lacht) Michael Raufeisen Und es hieß immer von der Stasi, wir sollten uns integrieren - das ging gar nicht! Wir hatten unsere sämtlichen Klamotten aus dem Westen da; wir sahen schon ganz anders aus wie die Normalleute, die da rumliefen. Und wir haben eine Wohnung im 13. Stock in der Leipziger Straße direkt an der Mauer gehabt, gegenüber vom Springer-Hochhaus, also von Normalität war da wirklich keine Rede! (lacht) Für uns war das alles wie ein Alptraum! Und das jeden Tag! Jeden Tag, wenn du aus dem Fenster geguckt hast, hast du auf die Mauer geguckt und gewusst: Da kommst du nicht rüber! Musik: Vorspiel Novalis Thomas Raufeisen Das war eine West-Enklave! Unsere Wohnung aus dem Westen 1:1 in den Osten transferiert! Wir hatten ja alles da! Wir hatten Schallplatten da, wir hatten auch Bücher da und Zeitungen; es war eigentlich alles verboten, was wir hatten. Wir haben auch eine besondere Platte gehabt, die hieß Novalis, das war eine Gruppe, eine westdeutsche Gruppe, mit deutschen Texten. Und das hat so voll unser Gefühl da widergespiegelt, gerade in der Anfangszeit. Musik: Novalis: Wunderschätze Wer einsam sitzt in seiner Kammer und schwere bittre Tränen weint wem nur gefärbt von Not und Jammer die Nachbarschaft umher erscheint. Thomas Raufeisen Für uns war das eben die extremste Katastrophe, die man sich vorstelle kann! Wir kamen uns vor, als ob wir in Kriegszeiten unsere Heimat verloren hätten. Aber es war ja nun mal kein Krieg, es stand ja noch alles da! Und ich war ja bisher in der 11. Klasse, hatte die 10. Klasse schon hinter mir - Und es sollte nun so sein, dass ich eben in der DDR in die Erweiterte Oberschule gehe - die hatten da eine für mich ausgesucht. Wobei ich da schon ein ganz merkwürdiges Gefühl hatte! Weil: Eigentlich war es ja egal, was ich mache, was ich tue - die würden mich da durchschleppen. Und alle um mich herum - die würden schon wissen, warum! Also, die Stasi-Leute sagten mir, sie würden alles für mich machen, das heißt, sie würden auch ermöglichen, dass ich mein Abitur mache, dass ich auch studiere was ich will - das wollten sie mir alles irgendwie ermöglichen! Michael Raufeisen Ich hatte richtig Pläne, ich wollte Architekt werden. Da hat die Stasi gesagt: Das kannst du ja alles hier machen und so. Da hab ich nur gesagt: Ja, mir fehlen ja die Grundvoraussetzungen! Also, hier muss man auch zur Parteischule gehen und so was - keine Ahnung! Thomas Raufeisen Na ja, da bin ich dann drei Monate in die EOS gegangen, in die EOS "Immanuel Kant" in Berlin-Lichtenberg. Ich kam da rein - und die Klasse guckt mich an wie einen bunten Papagei! Völlig neugierig - und keine wagte eine Frage zu stellen! AIch war vorsichtig, mir war das alles fremd und suspekt; ich wusste auch nicht, was da vielleicht für Leute sind; und die wussten ja auch nicht, was sie von mir halten sollten. Wer weiß denn, was das für einer ist - der freiwillig in den Osten kommt!? Das heißt, sie haben denen tatsächlich erklärt, dass ich der Sohn eines "Kundschafters für den Frieden" wäre, und haben auch gesagt, dass sie sich um mich kümmern sollten - aber keine Fragen stellen! Michael Raufeisen Das war ja nun die absolut roteste Schule, die es überhaupt da gab. Mit irgendwelchem Frühappell oder ... Keine Ahnung, was da ablief! Und das ging gar nicht; das war mein Bruder ja überhaupt nicht gewohnt; da konnte er kein Abitur machen! Der kann ja nicht diese ganzen Parteifloskeln da aufsagen! Thomas Raufeisen Ich meine, gut: Naturwissenschaften waren ähnlich vom Standard her. Wobei die Ausstattung für mich sehr vorsintflutlich aussah. Deutsch war für mich ein Fach, wo man lernt zu diskutieren. Und das war da nicht, das war ein reines Frage-Antwort-Spiel. Der Lehrer hat einfach so lange gefragt, bis er die richtige Antwort gehört hat. Dann Geschichte: Die Geschichte bestand eigentlich nur aus - ja, aus kommunistischen Parteitagen. Ich hatte den Eindruck ... - Ich hatte nicht den Eindruck, das war offensichtlich! -, dass die Schüler mit zwei Zungen Sprachen. Das war auch so eine ganz merkwürdige Sache. Im Unterricht haben sie halt das erzählt, was der Lehrer hören wollte, und in der Pause haben sie dann das Gegenteil erzählt. Und damit kam ich auch nicht so richtig klar, weil ich nicht mehr abschätzen konnte: Ja, was meinen die denn nun tatsächlich? An sich hatte ich den Eindruck: Was die hier lernen ist Heuchelei! Also, ich habe mir das drei Monate angesehen und habe gemerkt: Das wird nix! Also, ich hab das dann nach drei Monaten geschmissen. Michael Raufeisen (zündet Zigarette an) Ich habe dann auch verweigert, wieder zur Arbeit zu gehen. Ich habe gesagt: Wenn nichts läuft, wenn ihr nichts für mich tut, dann tue ich hier für den Staat auch nix mehr! Und ich glaube, das hat den Stein so langsam auch ein bisschen ins Rollen gebracht. Dann sollte ich schon mal meine Sachen packen, aber ich habe keinen Termin gekriegt, wann ich gehen durfte. Thomas Raufeisen Und dann haben sie gesagt: Na ja, wenn das mit dem Abitur nicht klappt, dann kannst du dir ja eine Lehre aussuchen, also einen Beruf, den du lernen möchtest. Machen wir auch alles! Da fiel mir nur ein: KFZ-Mechaniker wäre dann so das. Das ist ja ein Traumberuf, auch in der DDR. Und da habe ich dann eine Lehre begonnen, beim VEB "Autotrans" Berlin. Ja und in der Klasse habe ich ja dann auch einen Freund kennengelernt, den ich ja bis heute noch ... Der Peter Lohse. Peter Lohse Also die Berufsschule war total voll und es war nur noch ein Platz frei. Thomas Raufeisen Und ein Platz war frei, ganz hinten in der Ecke. Peter Lohse Und der war neben mir! (lacht) Thomas Raufeisen Das war der Peter, ne. Na ja, da haben wir uns halt in der Berufsschule kennengelernt. Peter Lohse Das war `79, kam er dann da rein. Ja, dann hat er alles ausgepackt, seine ganzen Schreibutensilien. "Von uns is det aber nich!" sag ick! "Nö!" "Und, wo kommst du so her?" "Aus Hannover." sagt er! Ick stutz, sage: "Das ist doch aus dem Westen!" "Jo." sagt er! Da war erst mal das Thema erledigt. Da habe ich mich erst mal gewundert. Thomas Raufeisen Das war natürlich schwierig zu erklären. Wir sollten dann sagen, "Ja, wir müssen uns um die Großeltern kümmern, weil die ja schon so alt und gebrechlich sind ..." usw. Hat auch keiner geglaubt. Aber gefressen haben sie es erst mal. Peter Lohse/ Grit Schulze Irgendwann hat man das dann akzeptiert, dass er aus dem Westen war, oder icke zumindest. Ja und da hat mein Bruder gesagt: Der Thomas, seine Eltern - wir wollen da mal vorbei ... Und dann hat er uns mal eingeladen: "Komm mal mit nach Hause!" Und dann sind wir mit zu den Eltern nach Hause gefahren. Thomas Raufeisen Wobei auch immer eine gewisse Vorsicht war, weil ja im Verlauf der Zeit ..., auch in der Zeit hatten wir ja schon vor: RAUS! ... irgendwie, auch ohne Erlaubnis der DDR-Führung da rauszukommen. Und insofern mussten wir auch da vorsichtig sein. Einerseits, damit er nichts erfährt - man weiß ja nicht!? Andererseits auch, dass er nicht gefährdet wird! Und ich meine, der Besuch bei uns, das war natürlich für ihn der Knaller dann, ne! Peter Lohse/ Grit Schulze Man ist dann hingegangen wie Familie, sonnabends immer zum Spaghetti- Essen, Wochenende immer schön Fernsehen gekiekt. Ick hab mich schon immer gefreut: Endlich konnte ich mal wieder Farbe sehen! ... die alten Urlaubsfilme, wie sie nach Italien geflogen sind, so über die Alpen rüber ... Und dann hat man sich so gedacht: Oops, die wird man wohl nie sehen können! ... ne, Italien war weit weg! (lacht) Na ja, aber es war eben so ... Wir wussten, wir kommen da nicht hin, und fanden es schön, wenn die von erzählt haben! Wir haben uns alle gut verstanden, das war das Wichtigste, wir sind gut miteinander klargekommen, und das war erst mal wichtig. Na ja, man es akzeptiert: Jetzt sind sie im Osten - aus Maus! Sie konnten es ja in dem Sinne erst mal nicht ändern. Ja, das spielte sich dann so ein im Laufe der Jahre, war ganz normal dann. Thomas Raufeisen Das normale Leben war vorbei mit 16 un' halb, als wir dann in den Osten sind! Normal zu leben war nicht mehr! Für mich bedeutete diese ganze Geschichte überhaupt, dass ich ein Stück, ein ziemlich wichtiges Stück meiner Jugend verloren hab! Peter Lohse/ Grit Schulze Ick meine, Politik hat eigentlich nie eine Rolle gespielt! Nee. Hm. ... in meinem ganzen Leben hat Politik noch keine großartige Rolle gespielt! Man hat das ja so hingenommen, man lebte ja schön vor sich hin und ... ...zu Ostzeiten wurde einem alles vorgesetzt, das hatte man zu machen. Und man hat's gemacht; wenn nicht - dann hat man's gesehen! Dat Leben spielte in seinen geregelten Bahnen; und Thomas ist da ringekommen und dann ging dat Leben weiter. Aus Maus!" Da hat man da auch nicht gefragt. Nur, dass es eben ein bisschen ulkig war streckenweise. Hm. ... wenn man bei ihm war und wenn man wieder zu Hause war. Hm. Thomas Raufeisen Aber an sich haben wir auch da in der Wohnung so gelebt wie im Westen, mehr oder weniger. Also, das war auch so eine Art Zufluchtsort, weil: In Ostberlin, das war auch eine ganz komische Atmosphäre. Wir hatten das Gefühl, dass wir uns ständig beobachtet fühlen. An jeder Straßenecke standen da Uniformierte oder Nicht-Uniformierte, die dann doch aussahen wie Stasi ... Das war halt so ein Leben auch beinahe wie in der Vergangenheit. Und natürlich: Die Zukunft bestand nur darin, wieder dahin zu kommen! Irgendwie ... Mehr Gedanken gab's da nicht. Bloß, wie? Michael Raufeisen Was gibt es für Möglichkeiten? Was gibt es für Möglichkeiten, Kontakte zum Westen aufzunehmen? Was gibt es für Möglichkeiten, meinen Vater auch wieder attraktiv zu machen für den Westen, damit die ihn da rausholen? Es gab mehrere Pläne: über Ungarn, über Botschaften, über ... Mein Vater hatte sogar die Idee, durch die Donau zu schwimmen. Aber wir haben ihm gleich gesagt: Das ist ein Himmelfahrtskommando! Auch, durch die Ostsee zu schwimmen ... (lacht) Oder Seil spannen da am Hochhaus und irgendwie sich runterfallen lassen in den Westen ... Ach! Allen möglichen Kram haben wir uns dann überlegt. Thomas Raufeisen Es hat sich da schon so rauskristallisiert, dass mein Bruder wohl raus, wieder zurück, kommt, Ende des Jahres, dass die wohl langsam aufgeben, ihn zu überzeugen. Michael Raufeisen Und ja, dann wurde ich praktisch aus der DDR rausgejagt. Na ja, als ich dann in Helmstedt angekommen bin, da habe ich gedacht: Oh, jetzt holt dich der West-Geheimdienst raus! Aber es hat keiner was mitgekriegt, dass ich wieder zurückkam. Ich wollte eigentlich ein bisschen Hilfe haben, mein Vater hat mir auch Zettel zugesteckt, eingenäht in den Mantel. Das habe ich direkt an den BND weitergegeben, damit wollte er sich ein bisschen interessant machen. Aber das Interesse war doch sehr mager, denn er hatte ja nun mal 22 Jahre gegen den Staat gearbeitet! Also es war ein bisschen eine Zwickmühle für ihn! Und dann merkte er auch, wie er von der Stasi behandelt wurde, v. a. Dingen, als ich dann auch draußen war, also wieder in Hannover. Plötzlich hatte er Verwandte 1. Grades im Westen, wurde sofort auf Rente gesetzt, also zum Nichtstun verdonnert. Thomas Raufeisen Ja, mein Vater hat eine Zeit lang gearbeitet, beim Geologischen Institut. Und er sagte mal: Das, was er da mit viel Risiko rübergebracht hat, das ist da in der Schublade gelandet und wurde nicht mehr angesehen, sprich: Es wurde überhaupt nicht genutzt. Und das war natürlich für ihn noch eine zusätzliche Enttäuschung, dass das, was er da machte, einfach sinnlos war. Michael Raufeisen Und mein Vater hat dann wirklich bloß noch drüber nachgedacht: Was für eine Lösung finde ich, um meine Familie hier wieder rauszukriegen? Thomas Raufeisen Und einmal, irgendwann auch so im Sommer `81, da haben sie meinem Vater tatsächlich mal die Magdalenenstraße gezeigt. Gezeigt! Der Richter hat ihm die Konsequenzen aufgezeigt, die möglichen, und hat ihm dann auch noch einen Zellentrakt gezeigt: "So, und hier sitzen dann solche Leute ..." Das war eine massive Warnung natürlich. Für mich hatten sie noch eine spezielle Sache ausgedacht. Eines Tages kam mein Lehrmeister an und sagte: "Thomas, komm mal mit, da sind zwei Herren, die dich sprechen wollen!" War Stasi! Und die haben zu mir gesagt: "Kommen sie bitte mit zur Klärung eines Sachverhaltes!", und haben mich erst mal verhaftet. Und dann so ein nettes Programm abgezogen, von wegen: "Sie wissen, warum sie hier sind!" Ich wurde angeblich gesehen, wie ich Hakenkreuze auf Zettel gemalt und vom Balkon geworfen hätte. (lacht) Was natürlich völliger Schwachsinn war! Am nächsten Morgen dann kam ich wieder in so ein Dingsda rein zu so einem Typen da. Und da waren plötzlich die beiden Stasi-Betreuer, mit denen wir immer zu tun hatten, die saßen da! Aha, ist ja interessant! Ich kriegte Kaffee und belegte Brötchen. Und die sagten dann zu mir: Ja, sie würden jetzt davon absehen ...; mich in Haft zu bringen wäre eigentlich notwendig, aber sie würden mich jetzt zu meinen Eltern bringen, ein Gespräch führen mit meinem Vater, dass er auf mich aufpasst, dass so was bloß nicht wieder passierst! Ich sollte bloß aufpassen, sie würden auf so was sehr streng achten und so ... Ich dachte: Was ist das denn, was soll das hier? Und die haben mich Punkt 24 h nach Inhaftierung abgeliefert wieder, ne. Michael Raufeisen Mein Vater hat auch irgendwie Kontakt zur CIA aufgenommen, aber denen wurde das auch irgendwie zu heiß, die haben eine Falle vermutet und - na ja, es klappte nichts. Nach Ungarn wollten sie fahren, sie wollten über die Botschaft noch irgendwas erreichen ... Thomas Raufeisen Nur, drei Tage, bevor die Fahrt, die Reise beginnen sollte, da kamen die Stasi- Leute zu uns und sagten, wir können nicht fahren. Wir könnten nicht fahren, da würde was gegen uns laufen! Peter Lohse/ Grit Schulze "Wir fahren in den Sommerurlaub!" Nach Ungarn wollten sie, nicht! Da haben wir gesagt: "Schön, dann macht mal Urlaub!" usw. Thomas Raufeisen Die haben tatsächlich noch drei Tage gewartet, bis sie uns verhaftet haben. Es ist wohl so gewesen, dass unsere Sache tatsächlich auch verraten wurde vom Westen aus. Und beim Staatsschutz in Celle, da saß wohl ein Spion. Und der soll es verraten haben auch. Peter Lohse/ Grit Schulze Als die Zeit rum war: Wir sind ja dann wohl in die Wohnung hin, haben geklingelt, wa! Keener da! Und dann war ja irgendwann ein Siegel dran gewesen. Oder? Ja. Keiner da, keiner gemeldet. Thomas Raufeisen In Berlin-Hohenschönhausen war ich 14 Monate. Ich wurde einerseits wegen Fluchtversuchs verurteilt, das war § 13 StGB der DDR - auch in besonders schwerem Fall, weil in der Gruppe! - und das zweite, das war der § 100, das war "landesverräterische Agententätigkeit". Es ging darum, dass ich illegalerweise eine Verbindungsaufnahme mit Vertretern "fremder Mächte" hatte. Das war einmal der Mitarbeiter der Bundesdeutschen Botschaft in Budapest, und das zweite war der Kontakt zu meinem Bruder! Der war Bundesbürger - "Vertreter einer fremden Macht"! Ja. Urteil: 3 Jahre. Ja meine Mutter hatte auch die beiden Paragraphen, aber zusätzlich noch Spionage, und hat als Urteil deswegen 7 Jahre bekommen! Also, das ist unfassbar so was. Ja, mein Vater hat lebenslänglich bekommen. Die Stasi sagte mal: Alle lieben den Verrat, nur den Verräter nicht. Und so ein Stasi-Vernehmer sagte zu mir, er wäre haarscharf an der Todesstrafe vorbeigekommen. Tja, und im November `82 sind wir dann nach Bautzen II gebracht worden. Peter Lohse/ Grit Schulze Drei Jahre völlige Stille! Hm. Keiner da, keiner gemeldet. Aber Name stand ja auch noch dran und Briefkasten war auch nicht voll, also wurde auch entweder immer geleert ... Ja, was soll man machen? Man weiß ja nichts. Man kann ja nur raten, Ratestunde: Entweder Verkehrsunfall, man ist getötet worden, oder man ist eben weg von der Bühne - was wir uns so gedacht haben. Thomas Raufeisen Ich ma erst mal in eine Zugangszelle dort. Und die Hausordnung habe ich dann bekommen. Und dann war auch klar, wo ich gelandet war: Da stand dann drauf "Bautzen II". Ich meine, wir waren ja getrennt, isoliert voneinander, und gerade durch diese spezielle Geschichte ist mein Vater in der Isolation gelandet. Da waren ja vielleicht 3-4 Gefangene speziell isoliert, also da konnte auch über den Hof kein Kontakt aufgenommen werden. Man durfte zwei Mal im Jahr sich intern im Haus begegnen, also besuchen, auch unter Bewachung natürlich. Und ansonsten haben wir bis zu sechs Mal Besuch von außerhalb bekommen, also von Verwandten, die da hinkommen konnten. Und da konnten wir uns auch gegenseitig sehen. Also wir haben den Besuch zusammen auch empfangen. Also, das war auch fast der Hauptgrund: Wenn die kommen, dass wir uns selbst auch noch mal sehen. (lacht) Michael Raufeisen Bin auch zum LKA und hab das erzählt. Und die haben mir nur geraten, den Osten nicht zu betreten, weil: "Wir haben erfahren, dass sie 12 Jahre Gefängnis erwartet wegen Fluchthilfe." Meine Muter habe ich auch erst `89 wiedergesehen, im Frühjahr `89, und meinen Bruder `84. Thomas Raufeisen Ich weiß nicht: Zwei Monate oder drei Monate vor Haftentlassung wurde ich dann geholt. Dann sollte besprochen werden, wie es denn ist mit meiner Eingliederung. Da gab's ja auch so einen Zettel, wie man sich die Eingliederung vorstellt. Das heißt, wo man wohnen will und was man arbeiten will. Ich hab da ein großes Kreuz gemacht, eine Erklärung dazu geschrieben, dass ich nicht bereit bin, mich hier einzugliedern, dass meine Zukunft in Hannover liegt. Tja, ich wurde trotzdem nicht vorzeitig entlassen oder in den Westen entlassen. Das kam immer näher - bis der letzte Tag kam! Und da wurde ich dann halt einfach vor die Tür gesetzt. Und in der Zeit habe ich Peter getroffen und auch die Grit, seine Schwester. Peter Lohse/ Grit Schulze Auf einmal stand der Thomas vor der Tür! Nicht!? Also, es ist schon eigenartig, wenn man jemanden kennt, dann ist er eine Weile weg, und dann steht er wieder da! Ja und dann haben wir erst mal erfahren: Wieso, weshalb, warum er die drei Jahre nicht da gewesen ist. Für mich war es: Ja, die wollten abhauen über Ungarn, wurden geschnappt - aus Maus, weg waren sie! Nach drei Jahren stand er dann wieder auf der Matte. Und deswegen habe ich dann auch nicht großartig gefragt, weil: Er war dann wieder draußen ..., eine Woche oder was, wenn ich mich recht entsinne. Thomas Raufeisen Und dann sagten sie zu mir: Ich müsste heute noch verlassen ... Und vor allen Dingen müsste ich von Schönefeld aus fahren, ich durfte nicht durch Westberlin fahren. Das heißt, ich musste von Schönefeld den Interzonenzug nehmen. Um von da aus da hin zu kommen, um den Zug, den einzigen Zug, zu erwischen - das war eigentlich unmöglich! Und wie's der Zufall so will: Peter stand vor der Tür! Peter Lohse Dann ist er dann nach Hannover. Da habe ick ihn noch zum Zug gefahren. Thomas Raufeisen Der hat mich dann zum Schönefeld gebracht. Und dann haben wir uns erst mal eine ganze Weile nicht gesehen. Fünfeinhalb Jahre, ja. Musik: Novalis Thomas Raufeisen Na, man musste ja beim Verfassungsschutz antreten und kurz ausfüllen, warum man denn in den Westen wollte. Na ja, ich hab geschrieben "Ich wollte nach Hause!". Aber das war gar nicht das Ding, hätte ich gar nicht machen brauchen, als die meinen Namen hörten, gingen da die Alarmglocken an! Da war schon klar, was der Name Raufeisen bedeutet. Und die wollten gar nicht wissen, was mir passiert ist und so - das wussten die alles! Das war für mich auch komisch, war für mich eine komische Situation, weil dieser Typ, der da vom Verfassungsschutz vor mir saß - da hatte ich den Eindruck, ich wäre schon wieder bei der Stasi gelandet! Also irgendwo ist das ein Menschenschlag, der wohl sehr ähnlich tickt. Das kam mir so komisch vor, ne, das kann nicht wahr sein! Michael Raufeisen Gereifter kam er mir vor. Aber auch ziemlich fertig! Und damals habe ich auch in einer WG gewohnt und wir haben ihn auch in der WG mit aufgenommen. Thomas Raufeisen Und ich bin da rüber gekommen und hatte einen Riesen-Berg an Erlebnissen, an Negativ-Erlebnissen, die eigentlich mal irgendwo rauswollten oder - sollten oder mussten, ne! Ich hab bloß nichts gefunden, wo da was ging! Mein Bruder? Schlechter Ansprechpartner! Der ist mit ganz viel Glück drum rum gekommen! Er wollte damit gar nix hören - kann man gut verstehen! Auch so in meinem näheren Umkreis, so in studentischen Kreisen: Da war das überhaupt vom Bewusstsein her eine ganz merkwürdige Sache, weil: Der real existierende Sozialismus galt ja sozusagen als Modell beinahe für eine andere Lebensform: "Also ich will damit nix zu tun haben - aber eigentlich ist es ja ganz positiv!" So, und wenn dann irgendwelche Geschichten über die Diktatur DDR mal kamen, dann ist man ganz schnell in eine merkwürdige politische Ecke gedrängelt worden. Und da passte ich eigentlich nicht rein! Ich hab dann gehört im Sommer - ich glaube, Juli oder so, Juli-August- September `87, da schrieb mein Vater, dass er jetzt eine kleine Operation hätte, eine Gallenstein-Operation. Ich soll mir keine Sorgen machen usw. Michael Raufeisen Ich war gerade bei meinem Bruder zu Besuch. Und mein Bruder kriegte einen Brief von meiner Mutter. Thomas Raufeisen ... außer der Reihe, was schon ganz komisch war! Michael Raufeisen Er hat den gelesen und war wie erstarrt. Ich: "Was ist denn los?" "Ja, Papa ist gestorben!" "Wie - gestorben?" "Ja, keine Ahnung wie. Schreibt unsere Mutter!" Thomas Raufeisen Ja, natürlich kam die völlige Verzweiflung in diesem Brief rüber, "Was soll denn jetzt werden? Und wie soll es mir gehen?" Die völlige Einsamkeit jetzt. Und jetzt sitzt sie alleine in dieser feindseligen DDR. Michael Raufeisen Und sie musste auch die Strafe voll absitzen - es war heftig! Wir saßen hier mit gebunden Händen und konnten nichts machen. (schnieft) Ja ... Thomas Raufeisen Laut offizieller Mitteilung hat mein Vater eine Lungenembolie bekommen. Und daraufhin ist er gestorben. Michael Raufeisen Und wir haben auch nie an einen natürlichen Tod geglaubt, also mein Vater wusste anscheinend zu viel, und da haben sie ihn beiseite geschafft, bevor die Gefängnistore aufgehen und irgendwelche komischen Sachen erzählt werden - über die DDR. Thomas Raufeisen Ich hab später gehört, dass mein Vater schon Probleme mit den Gallensteinen hatte und Schmerzen schon ein Jahr lang. Und es wurde nichts getan. Und das ist schon eine schlimme Sache, also das jetzt mal von der offiziellen Seite gesehen. Bloß man kann halt nichts ..., die Akten geben nichts mehr her. Ja, meine Mutter - und das fand ich auch noch besonders schlimm an der ganzen Geschichte -, sie hat dann auch danach noch so ein Gnadengesuch gestellt, und es wurde eiskalt abgelehnt. "Wegen ihrer schweren Verbrechen muss sie weiterhin ..." usw. Sie hat dann bis zum Schluss abgesessen, sie ist im September 1988 entlassen worden - und zwar in den Osten. Meine Mutter lebte nur noch unter Beruhigungsmitteln in der Zeit. April `89 durfte sie dann ausreisen. Also schon noch ein halbes Jahr vor dem Mauerfall. Peter Lohse/ Grit Schulze Dann kam der November! Und dann wurde es ja alles ein bisschen anders. Ja, dann ist mein Bruder, kaum, dass die Mauer dann gefallen ist, hat er sich in seinen Trabi gesetzt... Da hab ick einen Brief im Briefkasten gehabt, bin ick eingeladen worden zur WG-Fete nach Hannover. Ja. Thomas Raufeisen Plötzlich steht er wie so ein Spätaussiedler, mit Schlafsack und Tasche: "Bist du's?" Peter Lohse Da stand ick das erste Mal auf der anderen Seite. Thomas Raufeisen War schon lustig! Da haben sie mal schnell so kennengelernt die Studenten- und Partyszene in Westdeutschland, mit kiffen und allem ... (lacht) Peter Lohse/ Grit Schulze Da konnte man wissen wahrscheinlich, wie Thomas sich gefühlt hat, als er dann als Wessi im Osten gewesen ist. Man ist ja dann doch erst mal ein bisschen exotisch ... ... leichter Kulturschock! Thomas Raufeisen Ich bin dann auch noch mal im April ..., da habe ich eine Rundfahrt gemacht, und eben auch mal einen Trip nach Bautzen gemacht. Das war 1990 - das Gefängnis war noch in Betrieb! Und es war auch tatsächlich so, dass da ein Wärter rausging, den ich kannte! Das ist vielleicht ein bisschen komisch, aber so die ganz schlimmen Erinnerungen steigen da bei mir gar nicht so hoch! Eigentlich ist ja die Gesamtsituation das Furchtbare gewesen! Dieser Knast, das war eigentlich fast die logische Konsequenz aus dem, was da im Januar 1979 passiert ist! Die Tage danach, im Januar `79, als wir im Osten waren, die Tage danach waren die schlimmsten von allen! Und es ist ja auch erstaunlich: Ich bin ja krank geworden, ich hatte so ein Magengeschwür bekommen: Das habe ich in der DDR draußen bekommen, in dieser Ungewissheit, mit diesem Druck, wo ich nicht weiß ... und mit diesem ganzen ... Ich hab nichts gehabt im Gefängnis! Und seitdem nie mehr! Thomas Raufeisen Ja, das ist so die Geschichte. Bis dahin zumindest ... (lacht) Michael Raufeisen Ja, es war wie ein schlechter Film das Ganze! (lacht) Absage "Ich wollte doch nur nach Hause!" Eine Jugend im falschen Deutschland. Ein Feature von Henry Bernhard Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks, 2007. Ton und Technik: Eva Pöpplein und Beate Braun Regie: der Autor Redaktion: Marcus Heumann 25