KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Ko T Titel der Sendung : "Wo Verlaine im Gefängnis saß" Die europäische Kulturhauptstadt Mons erinnert an ihre Schriftsteller Üb Autor/in : Susanne von Schenck Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 30.01.2015 Regie : Friederike Wigger Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Deutschlandradio Kultur Zeitfragen Literatur: 30. Januar 2015, 19.30 Uhr Redaktion: Dorothea Westphal Autorin: Susanne von Schenck Wo Verlaine im Gefängnis saß Die europäische Kulturhauptstadt Mons erinnert an ihre Schriftsteller Mons? Eine kleine Gemeinde im wallonischen Belgien mit gerade mal 91.000 Einwohnern, wird Kulturhauptstadt Europas. Und setzt einen der Schwerpunkte auf die Literatur - mit vielen Lesungen, Ausstellungen und Theaterprojekten. Durch die Stadt zieht sich im Lauf des Jahres "La Phrase", ein Satz, der von Haus zu Haus mäandert und das literarische Gedächtnis der Stadt visualisiert. Zum Beispiel Paul Verlaine. Er kannte von Mons nur das Gefängnis, wo er zwei Jahre einsaß, weil er auf seinen Freund Arthur Rimbaud geschossen hatte. Oder Victor Hugo, der die bauchige Turmspitze des Belfrieds - Wahrzeichen der Stadt und inzwischen Weltkulturerbe - als "bauchige Kaffeekanne" verspottete. Der Surrealist Fernand Demoustier hingegen war von seiner Geburtsstadt so begeistert, dass er seinen Nachnamen änderte und sich fortan Dumont nannte. Mons literarisch - eine Spurensuche in der Wallonie. Musik Atmo Schlüssel Sprecher 1 (Zitat) "Das Essen? Ah, verdammt, immer nur Suppe .... aus Gerstengraupen, und an den Sonntagen Erbsenpapp. Brot solange der Vorrat reicht, Wasser nach Belieben. Am Sonntag Messe, Vesper und das Segenssakrament, gesungen von den Häftlingen." Atmo schwere Gefängnistür knallt zu Musik hoch 1 OT Karelle Menine 0.14 frz. stehenlassen Sprecherin 1 (Autorin) Die Geschichte der Literatur der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas beginnt - im Gefängnis. Karelle Menine, die das Literaturprogramm für "Mons 2015" zusammengestellt hat, steht vor einem roten Backsteingebäude. Seit der Schriftsteller Paul Verlaine dort in der Zelle 252 einsaß, hat es sich kaum verändert. Das Gefängnis liegt mitten in Mons zwischen der Rue des Barbelés, der Stacheldrahtstraße, und der Rue Roland de Lassus, die dem Hochrenaissancekomponisten gewidmet ist. Kunst und Knast in direkter Nachbarschaft! Musik hoch Sprecherin 1 Achtzehn Monate, von 1873-1875, verbrachte Paul Verlaine in Mons. Er ist einer von drei Autoren, die dort im Gefängnis waren. Sprecherin 2 Voice over für 2 OT Karelle Menine Nämlich noch Fernand Dumont, ein Surrealist aus Mons, den die Gestapo später nach Deutschland deportierte, wo starb. Und die junge Dichterin Marguerite Bervoets, eine Widerstandskämpferin gegen die Deutschen. Sprecherin 1 (Autorin) Paul Verlaine ist der bekannteste von ihnen. In Brüssel streitet er sich 1873 mit seinem Freund, dem zehn Jahre jüngeren Dichter Arthur Rimbaud: Die Stimmung ist angespannt, Rimbaud droht, den Freund zu verlassen. Alkohol, Emotionen - Paul Verlaine zieht einen Revolver aus der Tasche und schießt. Eine Kugel landet im Fußboden des Hotelzimmers, die andere verletzt Rimbaud leicht an der Hand. Sprecherin 2 Voice over für 3 OT Karelle Menine Verlaine bedauert es gleich, Rimbaud zieht seine Anklage zurück. Aber der Richter ermittelt weiter. Zwei Dinge interessieren ihn: Verlaine hatte die Pariser Commune unterstützt, das macht ihn suspekt. Und er ist offensichtlich homosexuell. Das möchte der Richter bewiesen haben. Und so steht einer der größten Dichter Frankreichs eines Tages nackt vor einem Arzt, der untersucht, ob er homosexuelle Praktiken ausgeübt hat. Wir haben den medizinischen Bericht darüber. Sprecherin 1 (Autorin) Weil das Brüsseler Gefängnis überfüllt ist, wird der damals knapp dreißigjährige Dichter in einem geschlossenen Zellenwagen ins gut sechzig Kilometer entfernte Mons gebracht. Sprecherin 2 Voice over für 4 OT Karelle Menine Verlaines schönste Texte entstehen in Mons. Victor Hugo, mit dem er seit langem in Kontakt ist, bittet den Gefängnisdirektor, er möge den Dichter gut behandeln und ihm alles geben, was dieser zum Schreiben braucht. Ein Brief von Victor Hugo - das bedeutete damals etwas, und Verlaine erhielt, was er brauchte. 5 OT Gedicht "Art poétique" (1882 Auszug) von Paul Verlaine (frz. gelesen von Meryl Beauvoir, evt. mit dt. Fassung, im Wechsel) Evt. Musik unterlegen Sprecher 1 (Zitat) Musik sei dein Lied vor allen Dingen! Drum ziehe vor, was noch unbestimmt Sich löst in der Luft, verweht, verschwimmt, Und nichts beschwere je seine Schwingen. Du sollst auch nie das, was du gemeint, Gar zu genau in die Worte zwingen: Nichts holder als das trunkene Singen, Darin sich Dunkles mit Deutlichem eint. Und nochmals: Musik sei dein Gedicht! Laß vogelleicht deinen Vers sich heben: Man spürt eine Seele im Entschweben Zu neuer Liebe, höherem Licht. Dein Vers sei ein Wagnis: laß ihn nur Verklingen im Wehn der Morgenluft, Erfüllt von Minz- und Thymianduft... Und alles andre ist Literatur. Musik Sprecherin 1 (Autorin) Für Paul Verlaine ist Mons nicht mehr als eine Gefängniszelle. Von der Stadt hat er nichts gesehen - nicht die ausladende Grand' Place mit dem gotischen Rathaus, nicht die Stiftskirche der heiligen Waltraud und auch nicht den Belfried, einen barocken Turm, den Victor Hugo 1837 als "riesige Kaffeekanne" verspottete. Sprecher 1 Voice over für 6 OT Yves Vasseur Ich habe Mons lange Zeit mit einer schlafenden Prinzessin verglichen, wie Dornröschen, das auf den Kuss des Prinzen wartet. Es ist eine schöne Stadt, aber sie versank in Lethargie. Es brauchte einen neuen Impuls. Die Leute hier sind eigentlich großartig. Wie überall in der Wallonie fühlen sie sich ein bisschen als beautiful looser. Wir stecken in einer Krise, wir können nichts machen - so denken sie. Wenn "Mons 2015" ein Erfolg wird, dann deshalb, weil es diese Mentalität geändert hat. Sprecherin 1 (Autorin) Yves Vasseur ist Kurator von "Mons 2015". Dass die kleine Universitäts- und Verwaltungsstadt mit ihren gerade 91.000 Einwohnern Kulturhauptstadt Europas wurde, verdankt sie vor allem Bürgermeister Elio di Rupo. Bis vor kurzem war er auch Premierminister seines Landes und wusste die Fäden zu ziehen. Nun wird ein anspruchsvolles Programm zusammengestellt. Und dabei auch in der Vergangenheit gegraben: Wer hat hier Spuren hinterlassen? Sprecherin 2 Voice over für 7 OT Karelle Menine Hier spricht man von den drei Vs: van Gogh, Verhaeren, Verlaine. Sprecherin 1 (Autorin) sagt Karelle Menine. Für eine kleine Stadt kommt einige Prominenz zusammen: Neben Paul Verlaine, der nur das Gefängnis kannte, der Symbolist Emile Verhaeren, der in der Nähe ein Sommerhaus hatte. Roland de Lassus - oder Orlando di Lasso -, Komponist der Hochrenaissance, der aus Mons stammte. Fernand Dumont, Mitglied der belgischen Surrealistengruppe "La Rupture" in Mons. Vincent van Gogh, der zwei Jahre im Borinage, dem Kohlerevier vor den Toren der Stadt, als Hilfsprediger lebte, bevor er sich für die Malerei entschied. Sprecherin 2 Voice over für 8 OT Karelle Menine Es ist doch unglaublich, dass sich in dieser kleinen Stadt, in dieser Gegend in einem so kurzen Zeitraum Ende des 19. Jahrhunderts, einer der größten Maler des 20. Jahrhunderts und zwei der großen Dichter aufgehalten haben. Es gibt nicht viele Städte dieser Größenordnung mit so einem kulturellen Reichtum. Wenn man so eine reiche Vergangenheit hat, dann kann daraus wieder etwas entstehen. Sprecherin 1 (Autorin) Und nun, davon ist Kurator Yves Vasseur überzeugt, wird die Stadt europaweit zeigen, was sie zu bieten hat. Der Theatermann schreibt auch selbst. Seine Bücher über Galileo Galilei oder Henri Matisse, die er gemeinsam mit dem Illustrator Claude Renard gemacht hat, sind kleine Kunstwerke, die sich in die belgische Tradition des illustrierten Buches einreihen. Nicht der Rede wert, winkt der schlaksige Endfünfziger ab. Viel lieber als über seine Bücher spricht der "Kulturhauptstadtmacher" über das Programm von "Mons 2015". Zum Beispiel über ein geplantes Theaterprojekt: Sprecher 1 Voice over für 9 OT Yves Vasseur Wadji Mouawad, den man als Autor, als Dramaturg, als Regisseur kennt, möchte hier alle sieben Tragödien von Sophokles aufführen. Es sind Gründungsmythen der europäischen Kultur, und da ist es sinnvoll, diese in der Kulturhauptstadt Europas zu zeigen. Die Inszenierungen - eine Koproduktion mit fünf anderen Städten - zogen sich über drei, vier Jahre hin, und hier in Mons werden dann alle zusammen gezeigt. Das wird hier einen ganzen Tag und einen Teil der Nacht dauern. Sprecherin 1 (Autorin) Wadji Mouawad ist einer der Künstler, die das Kulturhauptstadtjahr begleiten. Er zeigt in Mons nicht nur seinen Sophokles-Theatermarathon, sondern arbeitet auch mit Jugendlichen zusammen. Um etwas weiterzugeben an die nächste Generation, so Mouawad, der aus dem Libanon stammt, mit seiner Familie nach Kanada emigrierte und seit 2009 künstlerischer Berater des Theaterfestivals von Avignon ist. Das Projekt mit den Jugendlichen, bei dem der Regisseur mit ihnen auch über die Sophokles-Stücke diskutiert, begann vor fünf Jahren, erzählt Yves Vasseur: Sprecher 1 Voice over für 10 OT Yves Vasseur Die Idee: Jeweils zehn junge Leute aus fünf Städten auszuwählen, also fünfzig Jugendliche, die sich vor fünf Jahren erstmals trafen. Sie machten gemeinsame Reisen, jede mit einer eigenen Thematik. Ausgangspunkt war ein Satz aus Wadji Mouawads Theaterstück "Verbrennungen". Dort sagt die Großmutter zu ihrer Enkeltochter: Sprecherin 2 (Zitat) "Du wirst ein Mensch sein, wenn du gelernt hast zu lesen, schreiben, zählen, sprechen und zu denken." Sprecherin 1 (Autorin) Die fünf Verben sind mit fünf Orten verknüpft: Lesen - mit Athen als eine der ersten Städte der Alphabetisierung. Schreiben - mit Lyon, der Stadt des Buchdrucks. Zählen - mit Auschwitz und seinen Zählappellen. Sprechen - mit dem Senegal, einer Region mit ausgeprägter mündlicher Tradition. Für das Denken ist das Ziel noch unbekannt. In diesem Jahr werden die Teilnehmer zwanzig Jahre alt sein. Sie haben dann bereits vier Reisen unternommen, die letzte, abschließende, folgt demnächst. Zehn der Jugendlichen kommen aus Mons. Lucie Fournier vom Kulturhauptstadtfond hat sie begleitet. Sprecherin 2 Voice over für 11 OT Lucie Fournier Nach Auschwitz zum Beispiel sind wir mit einem Bus gefahren. Zuvor haben wir in Paris das Shoa Museum besucht, haben Deportierte getroffen. Dann ging es nach Polen. Es war eine anstrengende Reise und viel Strecke für eine Woche. Auschwitz war schwierig, sehr emotional und traurig. Im Senegal dann das komplette Gegenteil. Wir waren eine Woche in einem Dorf südlich von Dakar. Die Aufgabe war es, dort Menschen zu treffen und mit ihnen zu sprechen. Es war offener, entspannter, man diskutierte viel. Es war ganz anders. Musik geht über in Atmo Excelsior Sprecherin 1 (Autorin) Grüne Lederbänke, Metalltische, große Spiegel und Jugendstillampen an holzgetäfelten Wänden - die Brasserie "Excelsior", direkt an der Grand' Place, ist der Treffpunkt in Mons. An einem der Tische sitzt Richard Miller. Vor gut zehn Jahren war er Kulturminister für die Wallonie, den französischen Teil Belgiens. Der promovierte Philosoph ist seit kurzem Verleger und selbst Autor eines Buches über das literarische Mons. Ein "Wer ist Wer des Vorbeiziehens" könnte man seine Sammlung von bekannten und unbekannten Schriftstellern nennen, die in Mons Spuren hinterlassen haben: Neben den bereits erwähnten besuchten auch Theophile Gautier, Marguerite Yourcenar, Paul Claudel die Stadt - und auch Simone de Beauvoir. 12 OT Meryl Beauvoir evt. auf frz. stehenlassen 0.17 Sprecherin 2 (Zitat) im Anschluss "Ich habe mir drei kurze Ferientage in Belgien gegönnt. ... Eine interessante Erfahrung, weil sie dort gerade ihre großen Streiks beendeten. Ich habe sowohl die Arbeiter als auch die Führer der Linken getroffen, sehr gute Leute, solide, und auch Abgeordnete, Senatoren, die sich Sozialisten nennen und die die Arbeiter hassen." Sprecherin 1 (Autorin) schreibt Simone de Beauvoir im Februar 1961 in einem Brief an den amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren, mit dem sie zeitweilig liiert war. Sprecher 1 Voice over für 13 a OT Richard Miller Damals, im Winter 1960/61, herrschte hier in Mons und im Kohlenabbaugebiet Boriange vor den Toren der Stadt politisch eine sehr harte Zeit. Sprecherin 1 (Autorin) so Richard Miller. Sprecher 1 Voice over für 13 b OT Richard Miller Es gibt viele Demonstrationen, viele Streiks, die Armee ist auf der Straße. Simone de Beauvoir, politisch sehr links stehend, streitet sich mit den Sozialisten der Stadt. Sie findet, dass sie nicht links genug seien. Deswegen gibt es eine heftige Auseinandersetzung im großen Saal des Rathauses. Evt. Musikakzent Sprecherin 1 (Autorin) Der symbolistische Dichter Émile Verhaeren hielt sich häufig in die Gegend um Mons auf. Fotos zeigen den 1855 in der Nähe von Antwerpen geborenen Schriftsteller als eleganten Herrn: mit gepflegtem Moustachebart und dunklem Anzug. Von 1899 bis 1916 verbringt er seine Sommer im Caillou-qui-bique, einem Weiler dreißig Kilometer von Mons entfernt. Heute erinnert dort ein kleines Museum an ihn, und die Spaziergänge, die der Dichter einst unternahm, kann man nachgehen. Sprecher 1 Voice over für 14 OT Richard Miller Er war oft hier. Die Gegend hatte er durch seinen Freund Georges Rodenbach kennengelernt, den Autor von "Brügge, tote Stadt" damals ein Bestseller. Sie waren enge Freunde. Aber Rodenbach starb sehr früh, und seine junge Frau war sehr unglücklich. Ihre Familie hatte ein Haus bei Caillou-qui-bique. So kamen Verhaeren und seine Frau in unsere Gegend, die ihnen sehr gefiel. Sprecherin 1 (Autorin) Émile Verhaeren kennt heute kaum jemand mehr. Dabei galt der belgische Dichter mit seiner sprachlichen Intensität und seiner Lebensbejahung in der modernen, technisierten Zeit als europäischer Walt Whitman. Er war, wie man heute sagen würde, ein "Netzwerker" und verkehrte mit vielen Literaten seiner Zeit, darunter mit Stefan Zweig, der seine Gedichte ins Deutsche übertrug. Musik unterlegen Sprecherin 1 (Autorin) weiter 1916 verunglückt Émile Verhaeren tödlich im französischen Rouen: als er dort nach einem Vortrag in einen abfahrenden Zug einsteigen möchte, rutscht er aus und wird überrollt. Sprecher 1 (Zitat Emile Verhaeren) Vielleicht, Dereinst in meiner letzten Stunde, Vielleicht, Daß dann - und wär's nur für eine Sekunde! - Ein wenig Sonne, zaghaft und leicht Über die dunkelnden Fenster schleicht. Dann würden meine Hände, die entfärbten, armen, Von ihrer Glut noch einmal golden reifen, Ihr letzter leiser Kuß mit ihrer warmen Begütigung mir Stirn und Lippen streifen, Und meine Augen könnten, eh sie stolz verglühen, Dankbar so großes Leuchten widersprühen. Sonne, wie hab ich deine helle Kraft geliebt! All meine Kunst, die störrische und milde, Zwang dich hinein ins heiße Herz meiner Gedichte, Und wie ein goldnes Feld, das Sommerwind durchstiebt, So feiert dich mein Werk in vielem Ebenbilde. O Sonne du, die du entfaltest und befreist, Gewaltiger Freund, der du den Stolz entzündest, Laß es geschehn, daß in der Stunde, da mein Geist Sich noch verwirrt vor der zu neuen Prüfung findet, Daß du in jener dunklen und gebieterischen Stunde Mir Beistand, Bruder und Begleiter seist. Musik hoch Sprecher 1 (Zitat) Ding ! Ding ! Le docteur, bonasse, Fait une grimace... Sprecherin 1 (Autorin) Im Kulturhauptstadtjahr wird nun auch an Émile Verhaeren erinnert. Ein langer Satz, "La Phrase", der während dieses Jahres auf Schriftbändern durch die Stadt mäandert, enthält Passagen aus seinem Werk wie auch von anderen Autoren, die in Mons Spuren hinterlassen haben. Sprecher 1 (Zitat) Foutu ? Le poète ? C'est pire : il écrit. Sprecherin 2 Voice over für 15 OT Karelle Menine Hier auf dem Stadtplan von Mons sieht man die blaue Linie, die ein bisschen wie eine Blume aussieht; das ist die Linie, die "La Phrase", der Satz, zurücklegt. Wir starten an der Place Leopold am Bahnhof und wandern während des ganzen Jahres durch die Stadt. Wir haben einen langen Satz von 10 km zusammengestellt, der den literarischen Korpus von Mons beinhaltet, vom Mittelalter bis zum Jahr 1945, dem Tod des Dichters Fernand Dumont. Sprecher 1 (Zitator) quelques larmes d'amour sur ce dragon, Sprecherin 1 (Autorin) Karelle Menine hat ihr Büro in der "Schaltzentrale" von "Mons 2015" - in einer ehemaligen Kunsthochschule in der Rue de Nimy. "La Phrase" - ist ihr Projekt: Seit Dezember werden die Häuser der Stadt von jungen Menschen mit Auszügen aus der Literatur beschrieben, auf einer Spezialfolie und graphisch unterschiedlich gestaltet. "La Phrase" soll das literarische Gedächtnis der Stadt visualisieren. Sprecher 1 (Zitat) ce serpent divin au chant de flûtes, rimes mélodieuses qui font mal Sprecherin 2 Voice over für 16 OT Karelle Menine Unser Schreibheft ist die Stadt selbst: eine Garagentür, ein Fensterladen, eine Hauswand, ein Garten. Der Satz wird sich über 600 Häuser ziehen. Wir fragen natürlich jeden Bewohner, ob er einverstanden ist, dass wir auf seiner Fassade schreiben. Sagt er "ja", ist es ein Satz, der existiert, sagt er "nein", was kaum vorkommt, läuft der Satz auf der Straße weiter. So entsteht "La Phrase" gemeinsam mit der Stadt, so, wie man in ein Heft schreibt. Sprecherin 1 (Autorin) Die letzten Zeilen stammen von Paul Verlaine: Sprecher 1 (Zitat) Libre ! Libre ! Libre ! Bonheur, voici le poète libre ! Libéré, rendu, rejeté des hauts murs de son château ! Sprecher 1 (Zitat) "Frei. Frei, Frei. Oh Glück der freie Dichter!" Sprecherin 1 (Autorin) Am 16. Januar 1875 wird der Dichter vom Monser Gefängnis an die französische Grenze gebracht. Bald nimmt er sein unstetes Leben wieder auf. Atmo Archiv Sprecherin 1 (Autorin) In der königlichen Bibliothek in Brüssel liegen die Originalmanuskripte von Paul Verlaines Gedichten, seine Zeichnungen, Briefe, Photographien, Prozessakten. Und: Sprecher 1 Voice over für 17 OT Bernard Bousmanne etwas Atmo Dieser Revolver ist wohl der berühmteste der französischen Literatur - es ist der von Verlaine, ein kleines französisches Modell, das in Lüttich produziert wurde. Den Abzug kann man in der Tasche zusammenklappen. So eine Waffe konnte man ohne Waffenschein kaufen und damit die Damen beeindrucken. Aber um jemanden zu töten, hätte man schon direkt ins Auge schießen. Wie durch ein Wunder hat sich dieser Revolver erhalten und gehört jetzt einem privaten Sammler. Sprecherin 1 (Autorin) Bernard Bousmanne leitet die Manuskriptabteilung der königlichen Bibliothek. Er ist auch Kurator einer großen Ausstellung über Paul Verlaine, die ab Oktober in den ehemaligen Schlachthöfen von Mons gezeigt wird. Zum Kulturhauptstadtjahr bringt sie den Dichter zurück nach Mons. 1873 saß Verlaine dort im Gefängnis - zwanzig Jahre später, 1893, kommt er noch einmal nach Belgien. Er ist inzwischen ein berühmter Dichter und hält Vorträge in Anvers, Gent und Lüttich. Verlaine ist 49 Jahre alt, wirkt aber deutlich älter: Er hinkt, ist von Alkohol und Syphilis gezeichnet. Bernard Bousmanne geht in der Ausstellung ausführlich auf die letzten Aufenthalte des Dichters in Belgien ein. Sprecher 1 Voice over für 18 OT Bernard Bousmanne Zu diesem Zeitpunkt wird er als der größte lebende Dichter nach dem Tod Victor Hugos angesehen. Er hat also einen ausgezeichneten Ruf. Er hält sieben Vorträge, und die ganze belgische Intelligenzia kommt: Emile Verhaeren, Georges Rodenbach, Maurice Maeterlinck, eben weil er ein so bedeutender Dichter ist. Er ist nun allerdings gealtert und hat wieder angefangen zu trinken. Seine Vorträge laufen nicht immer gut, er vergisst seinen Text, stolpert auf den Stufen, ist angetrunken. Wir wollen zeigen, dass er ganz wichtiger Dichter war. Musik Verlaine Vertonung von Léo Ferré geht über in Atmo Autofahrt (Archiv) Sprecherin 1 (Autorin) Fährt man aus Mons hinaus, findet man in den Orten im Umland überall Spuren der Industriegeschichte. Das Borinage, wie die Gegend heißt, ist das belgische Ruhrgebiet. Um 1830 wurde hier mehr Steinkohle gefördert als in Deutschland und Frankreich zusammen. Die letzten Gruben schlossen in den 1970er Jahren. Seitdem ist die Arbeitslosigkeit hoch und die Stimmung schlecht. Im Borinage, nicht weit von Mons entfernt, liegt das Dörfchen Wasmes. Direkt neben der Kirche wohnt Luigi Davi. Der Mitvierziger ist der Pfarrer der Gemeinde; er hat einen berühmten Vorgänger: Vincent van Gogh. Nach erfolglosen Versuchen in unterschiedlichen Berufen und Ausbildungen, unter anderem in einem Seminar für Laienprediger, kam van Gogh im Winter 1878 als Hilfsprediger ins Borinage, bevor er sich dann der Malerei zuwandte. Er blieb knapp zwei Jahre und lebte zeitweilig in Wasmes. Sprecher 1 Voice over für 19a OT Luigi Davi Wenn er uns inspiriert, dann durch seine Inbrunst. Er hatte wirklich eine tiefe Liebe für diese Menschen. Sprecherin 1 (Autorin) Sagt Pfarrer Davi. 19b OT Luigi Davi Darin inspiriert er uns: Weil er zu den Menschen gegangen ist. Ohne zu zögern, ohne sich zu schonen; er hat sich wirklich in ihren Dienst gestellt. Darin inspiriert er mich zum Beispiel bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Damit helfen wir auch den benachteiligten Familien. Atmo Bauarbeiten im Haus Sprecherin 1 (Autorin) Nicht weit vom Pfarrhaus entfernt liegt das Gebäude, in dem der spätere Maler ein Zimmer gemietet hatte. Nun wird es umgebaut, ein Ausstellungsraum und Künstlerateliers sollen entstehen. Atmo Bauarbeiten im Haus 20a OT Filip Depuydt (deutsch) Van Gogh hat hier sechs Monate gewohnt. Er mietete ein Zimmer bei Jean Baptiste Denis und seiner Familie. Aber dann fand er, dass das Haus zu viel Luxus war für ihn. Sprecherin 1 (Autorin) Filip Depuydt lebt im Borinage. Seine Passion gilt van Goghs Zeit in dieser Region. 20b OT Filip Depuydt (deutsch) Er war jeden Tag zusammen mit Bergarbeitern, die in Armut lebten. Er hat entschieden, das Haus zu verlassen und in einer Hütte zu wohnen. Man weiß nicht genau, wo es war. Dort schlief er auf dem Boden, er gab alle Kleidung weg, er aß und trank nur Wasser und Kräuter, ist krank geworden. Aber sein Vater ist hierhergekommen und hat ihm befohlen, zurück in dieses Haus zu kommen. Sprecherin 1 (Autorin) Der evangelischen Kirche ging diese Anteilnahme zu weit. Sie entzog Vincent van Gogh das Mandat, was sich im Nachhinein als Glücksfall für die Kunstgeschichte herausstellen sollte. Denn Vincent van Gogh fand seine Bestimmung: die Kunst. Er verließ die Gegend, die ihn sehr geprägt hat. Nun kommt er zurück - nach Mons. 2015 fallen das Kulturhauptstadtjahr in Mons und das 125. Todesjahr des Künstlers zusammen. Das BAM, das Museum der schönen Künste, zeigt "Van Gogh im Borinage - die Geburt eines Künstlers". Atmo schwere Gefängnistür Musik Sprecherin 1 (Autorin) Am 15. April 1942 verhaften die Deutschen in Mons einen jungen Mann und bringen ihn in das Gefängnis, in dem fast sechzig Jahre zuvor auch Paul Verlaine einsaß. Fernand Dumont ist ebenfalls Dichter, ein Mitglied der belgischen Surrealistengruppe "La Rupture" - der Bruch. Ohne Urteil wird er inhaftiert und später deportiert. 1945 stirbt er im Konzentrationslager Bergen-Belsen. In Mons, in der Zelle 193, entstehen seine letzten Verse - ein großes Poem mit dem Titel "La Liberté" - die Freiheit. 21 OT Meryl Beauvoir liest La Liberté auf Französisch Sprecherin 1 (Autorin) 1924 hat André Breton in Paris sein "Manifest des Surrealismus" veröffentlicht. In Brüssel entsteht kurz darauf eine erste Surrealistengruppe, zu der auch der Maler Réné Magritte gehört. Zehn Jahre später, im März 1934, beginnt sich in der Industriestadt La Louvière, nicht weit von Mons, "La Rupture" zu formieren. Und sie betont ihre Verbundenheit mit der belgischen Region Hainaut, dem Hennegau. Sprecher 1 (Zitat) "Erstmals konnte man die Geburt einer Gruppe in der Provinz erleben und für mich gab es nichts Bewegenderes als die ersten Kontakte mit diesen jungen Leuten, die ganz unerwartet aus dem großen Industriegebiet des Hainaut zusammentrafen und, ganz unglaublich, zu den Treffen mit André Bretons Büchern unterm Arm erschienen." Sprecherin 1 (Autorin) so Fernand Dumont in seiner Schrift "La dialectique du hasard au service du désir". Eigentlich heißt er Fernand Demoustier, aber aus Liebe zu seiner Geburtstadt nennt er sich bald um: in Dumont - in Anlehnung an das Lateinische mons, montis. Sprecher 1 Voice over für 22 a OT Xavier Canonne Bei ihm überwiegt das Poetische. Fernand Dumont definiert sich zuweilen selbst als "überromantisch". Sprecherin 1 (Autorin) sagt Xavier Canonne. Der Literaturprofessor an der Universität von Mons, ist Spezialist für den belgischen Surrealismus. Sprecher 1 Voice over für 22 b OT Xavier Canonne Viel hat er nicht geschrieben, weil er sehr jung gestorben ist. Aber zum Beispiel stammt von ihm "La Région du Coeur", das ist ein wunderbares Buch, auf das seinerzeit auch Julien Gracq und André Breton aufmerksam wurden. Die von den Surrealisten propagierte automatische Schreibweise nutzt Dumont selten. Ihm geht es um die französische Sprache, er ist sehr belesen, und letztendlich sucht er nach Schönheit in der Sprache. Sprecherin 1 (Autorin) Wie seine Surrealistenfreunde ist auch Fernand Dumont Antifaschist. Das bezahlt der junge Jurist mit dem Leben. 1942 verhaften ihn die Nationalsozialisten während einer Gerichtsverhandlung in Mons und bringen ihn ins Gefängnis. Musik Sprecher 1 = Voice over für 23 OT Xavier Canonne Dumont schreibt seine Verse "La Liberté" auf dünnes Zigarettenpapier, das seine Frau und seine Freunde aus dem Gefängnis schmuggeln. Sie werden erst 1948 veröffentlicht, drei Jahre nach seinem Tod. Es sind sehr schöne Texte, von einem Gefangenen, der immer hofft, wieder freizukommen, seine kleine Tochter aufwachsen zu sehen. Aber traurigerweise kommt er nicht zurück. Musik langsam ausblenden Literaturangaben *1 Paul Verlaine Meine Gefängnisse Paul Verlaine Meine Gefängnisse, Erinnerungen an die Commune, Ahriman Verlag, Freiburg 2009, S. 35 *2 Paul Verlaine Art Poétique Oevres poétiques complètes, Bibliothèque de la Pléiade, n° 47 P. 326 - 327 (deutsche Fassung: Internet) *3 Zitat Simone de Beauvoir Simone de Beauvoir, Lettres à Nelson Algren, Paris, Gallimard, Folio 1997, S. 880- 881 *4 Zitat Stefan Zweig zitiert aus: Richard Miller, Littérature, Mons en Hainaut, HCD, S. 107) *5 Gedicht Émile Verhaeren Emile Verhaeren: Trilogie der Liebe Übersetzt von Stefan Zweig (1881-1942) Aus: Rhythmen Nachdichtungen ausgewählter Lyrik von Emile Verhaeren, Charles Baudelaire und Paul Verlaine S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 1983 *6 Fernand Dumont Fernand Dumont: La Liberté: in "La Région du Coeur et autres textes", Luc Pire, Espace Nord, S. 179 *7 Fernand Dumont Fernand Dumont "La dialectique du hasard au service du désir" Brüssel, Brassa 1979, P 137 2 DLR Literatur: Wo Verlaine im Gefängnis saß