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Dezember 2009, 19.30 Uhr Zwischen Sehnsucht und Spanplatte Die Deutschen und der Wald Eine Sendung von Constanze Lehmann Atmo Schritte auf Geröll O-Ton Pöhlmann Das ist ein Bergauerhahn, ein typischer Begleiter des Bergmischwaldes, ein Baum, der hier fast exotisch jetzt aussieht, diese skurrile Form mit diesen Ästen, zum Teil abgestorben, aber man sieht, dass immer wieder neues Leben kommt durch neue Äste aus diesem alten Stamm, der bestimmt schon 200 vielleicht schon 300 Jahre alt ist, auch das gehört zur Wildnis, dass man so etwas, was nicht in ein Sägewerk passt, vielleicht ist er deshalb hier stehen geblieben, dass das seinen Platz hat, nicht nur das Gerade, das Formvollendete, sondern alles zählt. Musik F. Schubert Sp. v. Dienst: Zwischen Sehnsucht und Spanplatte Die Deutschen und der Wald Ein Feature von Constanze Lehmann O-Ton Bender Da gibt es einen Spruch bei uns, der heißt: Man kann einen Mann aus dem Wald nehmen, aber nicht den Wald aus dem Mann. Sprecherin: Kein Wunder - ist doch der Wald lange Zeit der rechte Platz für Männer: Kampf- und Schlachtfeld, Jagdrevier, Ort der Freiheit. Hier entstanden Mythen, wurden Metaphern geprägt - langlebiger als die deutsche Eiche. O-Ton Küster Ja, da gibt es erstmal das interessante Bild, das von Tacitus erwähnt worden ist, er hat gesagt, das Land der Germanen sei ein Land unendlicher Wälder und grässlicher Moore und es ist dann behauptet worden, dass dieser Wald dafür gesorgt habe, dass sich die Römer verlaufen hätten, als sie die Germanen praktisch besiegen wollten, das ist ihnen nicht gelungen, weil die Germanen eben in diesem Wald saßen. Sprecherin: Hansjörg Küster, Professor für Pflanzenökologie an der Universität Hannover. O-Ton Küster Dieses Zitat ist immer wieder aufgegriffen worden, auch in den folgenden Jahrhunderten und man hat sich besonders im 18. und 19. Jahrhundert darauf besonnnen, dass es diese dichten Wälder einmal gegeben hat und einmal hat man gesagt, man braucht aus wirtschaftlichen Gründen den Wald, weil man das Holz unbedingt brauchte, um Erz schmelzen zu können beispielsweise oder um heizen zu können. Auf der anderen Seite sah man gerade Anfang des 19. Jahrhunderts, dass wieder Romanen, wie man damals sagte, die Franzosen unter Napoleon nämlich nach Deutschland einmarschierten und da ist dann allen Ernstes behauptet worden, man möge doch wieder Wälder an den Grenzen zu Frankreich pflanzen, vielleicht damit sich die Franzosen da auch wieder verlaufen. Es ist also so ein nationales Gefühl damit verbunden worden, auch ein nationaler Auftrag die Wälder aufzubauen, damit sich Eindringlinge darin verlaufen. Musik C.M. von Weber Sprecherin: Die napoleonischen Eindringlinge verlaufen sich nicht, dennoch verlieren sie schließlich. Der Wald aber bleibt sinnstiftend für die deutsche Identität. Die zahlreichen deutschen Staaten bekommen nach der Niederlage Napoleons nicht den erhofften Nationalstaat, nur die lose Form eines Bundes gesteht der Wiener Kongress ihnen 1815 zu. Der Wald wird zur Seelenlandschaft und zum Nutzobjekt, das man hegt und pflegt. O-Ton Küster Man hat sich in den folgenden Jahrzehnten sehr stark darauf geworfen, sich um die Wälder zu kümmern. Es ist das ja die Zeit, in der einerseits die ganzen Forstverwaltungen entstanden sind und die Forstwissenschaft zu einer wirklichen Tradition gekommen ist, auf der anderen Seite ist es die Zeit, in der dann Grimms Märchen aufgezeichnet wurden und viele, viele andere Geschichten, viele Gedichte zum Wald verfasst wurden und das ist etwas besonders Deutsches, dass man sich eben damals so stark um den Wald gekümmert hat. Musik R. Strauss Sprecherin: Der deutsche Wald - für die nationalsozialistische Ideologie wird alles an ihm zur Metapher: "der Baum, der wie das Volk zum Raum strebt", " der ewige Wald und das ewige Volk", der Wald als Ursprung einer "Volksgemeinschaft", einer "überlegenden Rasse". Der Forstwissenschaftler Eduard Zentgraf schreibt schon 1923 in einer Broschüre für politische Bildung, dass die "hohe Jagd", dazu führe, dass,,, Zitator: "... die Edelsten des Volkes nicht weichlichem Wohlleben verfielen, sondern jederzeit gestählten Körpers und im Waffenhandwerk geübt zu Führern ihres Volkes befähigt waren." Sprecherin: Und der ideologische Feind sitzt schlecht getarnt in der nackten Landschaft. Zitator: "Kein Zufall, dass die Lehren des Bolschewismus dort in unserem deutschen Vaterlande am stärksten und raschesten Einzug gefunden haben, wo der deutsche Wald entweder ganz fehlt oder doch seiner natürlichen Reize völlig bar unter den Einflüssen einer einseitigen Forstwirtschaft zu einer Holzfabrik geworden ist." Sprecherin: Eine schwülstige Waldverehrung mischt sich mit dem Fabulieren über "Wald-Religion". Dem "wahren" Deutschen ist der Wald Erzieher, Juden dürfen ihn nicht betreten. Wer, wie die Nazis, den Wald so missbraucht, schmälert auf lange Zeit die Unbefangenheit künftiger Waldliebhaber. 2009 - im Jubiläumsjahr der Varusschlacht vor 2000 Jahren im Wald von Germanien zeigen sich viele Deutsche aufgeklärt. Mythen haben an Zauber verloren, der Wald als Objekt nationalen Dünkels hat ausgedient. Schritte Lusen Schnaufen Klettern Himmelsleiter Grüßt Euch, Hallo! So schnell sei mer nich. Sprecherin: Der Anstieg auf den "Lusen" im Nationalpark Bayerischer Wald führt über die "Himmelsleiter", ein kurzer, steiler Steinpfad. O-Ton Wanderin Ich geh in den Wald fast täglich und zum Lusen im Jahr hundertmal und liebe auch so Höhenmeter zu machen, den Wald erleben, die Natur, die Jahreszeiten auch, es war schon ein halber Meter Schnee hier, hab ich mich auch hoch gekämpft. Kenn schon jeden Steig hier. Dann dieser Fernblick. (blenden) Atmo Rainer Pöhlmann Wenn man den Blick weiter schwenkt in Richtung Süden, dann ist da nicht irgendwie so eine Fata Morgana, die man im Hintergrund sieht, sondern, was da oberhalb der Dunstschicht leuchtet, ist der Gletscher des Dachstein,... Sprecherin: In 1373 Meter Höhe pfeift der Wind. Der Gipfel, eine kleine Halde von Granitbrocken, ist kahl. Die Sicht ist klar, deutlich zu erkennen: die Kühltürme des Atomkraftwerkes im einhundert Kilometer entfernten tschechischen Temelin. Man sieht weit hinein nach Österreich und Böhmen, in der Ferne gibt es grüne Wipfel. Was man aber direkt vor der Nase hat, sind tote Fichtenstämme, die silbern in der Sonne glänzen. O-Ton Wanderer (mit Wind) Also, i geh gern, bin gern unterwegs, da is im Wald, ja sag mer früher war des ei richtiger Wald, jetzt is er abgestorben, ich denk das wieder ein Wald kümmt, so gefällt er mir ni, aber mei. Atmo Hunde O-Ton Wanderer Also, es ist halt schöne Natur, (Hund schüttelt sich) die Aussicht am Lusen, die Luft, es ist halt schön gemütlich, griabig, so richtig angenehm, so frei fühlt man sich irgendwie, kommt halt weg vom Alltagsstress. Zitator: Eichendorff Abschied O Täler weit, o Höhen, O schöner, grüner Wald, Du meiner Lust und Wehen Andächt'ger Aufenthalt! Da draußen, stets betrogen, Saust die geschäft'ge Welt Schlag noch einmal die Bogen Um mich, du grünes Zelt! O-Ton Küster Wir sind natürlich in diesen Vorstellungen gefangen, die im 19. Jahrhundert gelegt worden sind. Sprecherin: Hansjörg Küster, "Waldwissenschaftler" aus Hannover mit Zweitwohnsitz im Schwarzwald. O-Ton Küster Wie sehen die Bilder von Caspar David Friedrich vor uns, wir kennen die Gedichte von Eichendorff, wir kennen Grimms Märchen und selbstverständlich beeinflusst das unsere Vorstellung zum Wald und es war entsetzlich für die Deutschen, als sie in den 1980er Jahren erfahren mussten, dass ihr Wald stirbt. Zitator: "Das romantische Bild vom Wald, diese emotionale Nähe, ist nicht überall in der Gesellschaft so verhaftet wie bisher angenommen." Sprecherin: Zu diesem Schluss kommen Forscher vom Ecolog-Institut in Hannover, die in einer Studie fast 4000 Menschen ausführlich zu ihrem Verhältnis zum Wald befragt haben. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung über 20 geht danach einmal im Monat in den Wald, 16 Prozent so gut wie nie. Knapp zwei Drittel der Jugendlichen haben kaum Berührung mit dem Wald. O-Ton Wanderinnen Ich mag die Ruhe, die Stille, dass man mal etwas anderes hört außer Lärm von der Straße und man halt hier den Kontakt zur Natur, da zwitschert es da und da klopft es im Baum und das ist das Schöne am Wald und als Stadtkind ist es sowieso noch etwas Schöneres, mal im Wald spazieren zu gehen und nicht im Stadtpark. Sprecherin: Der Wald als Garant von Lebensqualität wird in einigen Milieus geschätzt. Anderen ist der Wald fremd geworden, ist gar nicht von Interesse - so die Studie, die in diesem Jahr veröffentlicht wurde. Vereinfacht kann man sagen: Je höher die Bildung, je häufiger der Waldspaziergang. Aber auch unter Gebildeten konkurriert der Wald mit anderen Angeboten, hat oft nur dann einen Reiz, wenn er als Kulisse dient oder ein besonderes Erlebnis bietet. Atmo Baumwipfelpfad Atmo Führung Berthold Bender Der Baumwipfelpfad zusammen mit dem Ei ist der weltweit der größte Baumwipfelpfad, insgesamt mit ner Länge von 1.300 Meter. Wir stehen jetz auf ner Höhe von 8,30 Meter über dem Waldboden, der Pfad schlängelt sich dannn behutsam durch das Ökosystem Wald bis auf ne Höhe von 25 Meter, dann der Einstieg zum Baumei, da gehen wir rauf auf 44 Meter (abblenden) Sprecherin: Anfang September ist der Baumwipfelpfad Neuschönau im Nationalpark Bayerischer Wald eröffnet worden. Ein privater Investor hat ihn gebaut. Acht Euro kostet der Gang über den Holzbohlensteg, mit Führung vier Euro mehr. 70.000 Besucher waren schon da. Atmo Führung Berthold Bender Wir haben hier im Nationalpark sieben verschiedene Spechtarten. In ganz Europa gibt es nur neun. Weil, der Borkenkäfer ist die Lieblingsspeise des Spechtes. ( dann unter den Text) Wir haben da den Buntspecht, den Schwarzspecht, dann den Kleinspecht, da gibt's dann den Grün- und den Grauspecht und den seltenen Weißrückenspecht und den Dreizehenspecht... Sprecherin: Unten überlagert das monotone Rauschen der Fernverkehrsstraße noch die Natur, weiter oben kann man den Wald hören, riechen und aus ungewohnter Perspektive sehen. Atmo Schritte und Stimmen des is hier cool, musste deine Ängste besiegen. (Lachen), bissel wackelst O-Ton Ich find's Klasse, wenn man hier wohnt, hat man ja immer eine Perspektive und das ist die vom Boden und wenn man hier hochgeht, die Bäume mal von oben zu sehen, die Tannenzapfen, die Fichtenzapfen so aus der Nähe, das ist unbeschreiblich, Wahnsinn. O-Ton Enssle Ich denke, man kann das schon auch positiv sehen insofern, als dass es vor allem darauf ankommt, das die Menschen in den Wald gehen und ich denke, mit Angeboten wie Kletterwald, Survivaltraining kann man ja durchaus auch Inhalte verbinden. Sprecherin: Naturschützer Johannes Enssle hat nichts gegen diese Art moderner Walderoberung - wenn es dabei nicht nur um den Adrenalinschub und das Fotoshooting geht. Kinder lassen sich noch von Waldpädagogen - von denen es viel zu wenige gibt - begeistern oder gehen, wenn sie Glück haben in einen Waldkindergarten. Die Wanderbegeisterten der Generation über 50 und die Naturfreunde kann man mit traditionellen Angeboten locken. Die Hoffnung ist, mit Baumwipfelpfaden und Kletterwäldern den Kreis der Waldliebhaber und -kenner zu erweitern. O-Ton Enssle Sicher ist, dass es um das Waldwissen nicht besonders gut steht. Viele Menschen kennen heutzutage noch ein, zwei Baumarten, verwechseln viele Baumarten auch, geschweige denn von den ganzen Tieren, die eigentlich in dem Wald leben, da kennt man dann noch das Reh, das oft als Bambi verstanden wird oder den Fuchs noch, dann hört es oft auch schon auf, vielleicht noch das Wildschwein. Sprecherin: Wem alltägliche Naturerfahrung fehlt, wer sein Waldwissen aus zweiter Hand, also aus den Medien bezieht, ist ein schwieriger Kunde für Naturschützer, Waldbesitzer und Tourismusmanager gleichermaßen. Johannes Enssle ist im Schwarzwald aufgewachsen, seit kurzem wohnt er in Berlin. O-Ton Enssle Der überwiegende Teil der Bevölkerung lebt ja heute in Städten oder in urbanen Räumen könnte man sagen und hat direkt mit Waldwirtschaft nichts mehr zu tun, sondern geht in den Wald, um sich zu erholen, um zu spazieren, um Sport zu treiben Oder viele gerade hier in Berlin gehen viele nur noch in Parks und haben so das Gefühl, das ist doch eigentlich Wald, der Tiergarten hier oder der Schlosspark in Pankow. Viele kennen auch nur noch ein paar wenige Baumarten und haben daher so ein bisschen ein sehr idyllisches Bild von dem, was Wald ist. Das zeigt sich auch ein bisschen daran, dass viele, wenn sie in einen naturbelassenen Wald reinkommen, erstmal schockiert sind, weil es da so unordentlich ist. Atmo Dobry den Wanderer/ Klettern - Atmo Schnaufen/Vogel O-Ton Rainer Pöhlmann (Atmo gehen) Sieht man jetzt auch schön, wenn man den näher betrachtet, so'n alten morschen Stamm, dass hier jede Menge Leben ist (klopft auf Holz) und der ist sowieso mein persönlicher Freund, der ist gefallen in einem Wintergewitter, vom Blitz getroffen worden im ersten Winter in dem ich im Nationalpark beschäftigt gewesen bin - 1975 und es gibt auch so eine Faustregel, die besagt, dass ein Baum so viel Zentimeter wie er Durchmesser hat Jahre benötigt, um wieder vom Boden verschluckt zu werden. Also der, der so einen (klopft) Durchmesser von 60-70 Zentimeter hat, der braucht fast ein Menschenleben lang bis er ganz verschwunden ist. Sprecherin: Rainer Pöhlmann, Waldführer und verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit im Nationalpark Bayerischer Wald. O-Ton Pöhlmann (Vogel) Wir sehen, dass eigentlich dieser ganze Grenzkamm zum großen Teil keine lebenden alten Fichten mehr trägt. Sprecherin: 1983 fegten zwei Stürme im Naturpark fast 70.000 Festmeter Holz um und es wurde entschieden, einen großen Teil davon liegen zu lassen. O-Ton Pöhlmann (Mono) Das war für viele Leute natürlich im Sinne des Wortes eine Sünde - Holz vergammeln zu lassen, das man sonst verkaufen hätte oder zumindest im Ofen als Heizung hätte hernehmen können. Sprecherin: Anfang der 90er Jahre stürmte es erneut heftig und es kam wieder zu starken Windbrüchen. Paradiesische Zustände für einen gierigen Käfer mit dem netten Namen Buchdrucker. O-Ton Pöhlmann Das Fraßbild ist auch sehr schön von dem Buchdrucker, weil es wirklich so ausschaut, wie man früher alte Druckstöcke hatte, daher der Name, eigentlich ist es der achtzähnige Fichtenborkenkäfer, der klingt sicherlich nicht so schön, der ist Spezialist für alte Fichten und das ist auch seine biologische Aufgabe, das er alte Fichten befällt, abtötet und damit Licht auf den Boden bringt. Im Prinzip ist er sogar der Wegbereiter einer neuen Waldgeneration und er hat halt hier auf Grund verschiedenster Ursachen eine Jahrhundertchance genutzt, gleichzeitig ist aber diese Chance, die der Buchdrucker hatte, eine Jahrhundertumwandlung für diesen Wald in einen künftig wesentlich ursprünglicheren Wald wieder, der dem sehr nahe kommt, wie er einmal war, als unsere Ur-Ur-Großväter einmal hierher kamen, um den Wald für sich zu nutzen, um Rodungsinseln für ihre Siedlungen zu schlagen. Sprecherin: Eulen, Greifvögel, Auerhühner und viele andere Tiere finden mehr Nahrung. Hingegen müssen Vögel, wie die Grün- und Buchfinken mangels grüner Kronen ein paar Kilometer umziehen. Weidenröschen, Waldbeeren, Siebenstern, Soldanelle und andere Pflanzen profitieren vom lichteren Wald. O-Ton Pöhlmann Es wird in einem solchen Wald einen stetigen Wandel geben, ich sag auch immer gern, es gibt immer Gewinner und Verlierer, wobei der Gewinner von heute morgen durchaus der Verlierer sein kann, wenn man es jetzt nicht wörtlich nimmt - vielleicht in zehn Jahren. Sprecherin: "Natur Natur sein zu lassen", das ist der Leitspruch des Nationalparks. Dass aus den Totholzgebieten einmal ein Urwald für die Enkel wird, dessen Entstehung man ein Stück weit mitverfolgen kann, ist jedoch für viele Einheimische kein überzeugendes Argument. O-Ton Wanderer Das ist ja unsere Heimat, wenn's ja jetzt auch so kaputt gemacht worden ist durch den Nationalpark, nix als dürre Baum, das ist ja im Privatwald auch nicht und da hätt man schon was machen können. In den Wald geht man ja nicht gern, früher in den 70er, 80er Jahren, da sind unsere Leut in die Osttschechei oder nach Polen gefahren und haben sich da son angenehmes Gruseln geholt, wo da die Wälder so kaputt waren, wie sie bei uns jetzt san. O-Ton Sagen wir mal so, schaun wir, was auf uns zukömmt, wir können es nimmer ändern, wir müssen es jetzt so lassen, wie es ist. Ich hoff, dass es so wird, wie es war. O-Ton Ich finde, es ist jetzt ein anderer Wald und es kommt ein neuer, junger Wald nach. Also, die Veränderung gehört zur Natur, der Mensch verändert sich auch. O-Ton Pöhlmann Erst wie sich gezeigt hat, das hier tatsächlich Wald neu kommt, ohne dass man ihn pflanzt, zum Nulltarif, und was noch wichtiger war, dass die Touristen, die als Übernachtungs- oder Tagesgäste Geld in die Region bringen, dass die nicht ausgeblieben sind, sondern vermehrt gekommen sind, da begann die Versöhnung. Sprecherin: Sagt Rainer Pöhlmann, Pressesprecher des Nationalparks. Mauerfall und Öffnung der tschechischen Grenze bescheren der strukturarmen Region für einige Zeit einen Tourismusboom. Dennoch sind 1997 die Proteste gegen die Erweiterung des Naturparkgebietes heftig. Musik A.Glasunow Der Wald heute hat viel von seiner Wildheit, auch von seinem Schrecken verloren. Wer geht schon noch des Nachts durch den düsteren Tann? Allenfalls im Zauber- und Hexenwald der Kinderbücher lernt man noch das Gruseln. Es sei denn, man wagt mutterseelenallein im Freien eine Übernachtung - die fremd gewordenen Geräusche, das Knuspern und Scharren der kleinsten Wesen, das Knarren der Hölzer - da braucht es nicht lange und man fürchtet sich. Bei Tageslicht, wenn die Touristen aus ihren Bussen steigen, das Wellnesshotel verlassen, erwacht das Bedürfnis nach mehr Wildnis. O-Ton Pöhlmann (Schritte) Unsere Gäste hier im Nationalpark wollen das Wilde. Die wollen den anderen Wald erleben, nicht so, wie sie ihn vor der Haustür haben, sondern Wildnis, mit Wildnis kann man heut gut werben und Wildnis ist kein schlechter Begriff heute mehr. Sprecherin: In der absoluten Wildnis, das sind 40 Prozent der Nationalparkfläche, soll der gezähmte Mensch auf den vorgegebenen Pfaden bleiben. Die Chance zum Beispiel einen Luchs zu sehen, ist im Freigehege des Nationalparks allemal größer. O-Ton Pöhlmann Ich würde sagen, Wildnis ist die ungebändigte Natur, unbeeinflusst von uns Menschen. Da wird nicht über jeden Bacherl eine Brücken gebaut, sondern da werden eben mal ein, zwei Steine hingelegt, dass man mal drüber hüpfen muss und da ist dann keine weitere zusätzliche Infrastruktur notwendig. O-Ton Küster Natur ist einerseits ein Prinzip der ständigen Veränderung, es wird aber von den Menschen meistens nicht so aufgefasst, wenn wir aber im Kopf uns Gedanken über etwas machen, etwas sehen, was wir schön finden, was wir gern erhalten wollen, dann ist es eher eine Landschaft. Und dieser Gegensatz ist nicht aufgeklärt und deswegen würde ich dafür plädieren, wir schützen einen Wald als eine Landschaft, oder wir schützen eine Landschaft insgesamt, die erstens schön ist, zweitens Naturfunktionen erfüllt und die drittens auch noch genutzt werden kann. Sprecherin: Hansjörg Küster, Pflanzenökologe. O-Ton Küster Es ist so, dass im Bayerischen Wald wirklich ein eindrucksvolles Waldbild entstanden ist. Ich find das auch beachtlich, was dort zu sehen ist, aber das ist sicher kein Patentrezept für alle anderen Wälder. O-Ton Enssle Aktuell ist es so, das 99 Prozent der Waldfläche genutzt wird und nur ein Prozent nicht genutzt wird. Und da ist es einleuchtend, das ein Prozent ungenutzter Wald nicht ausreichen kann, um die Lebensraumfunktion in ihrer Fülle zu gewährleisten und deswegen fordern wir, dass mindestens fünf Prozent der Waldfläche einer natürlichen Entwicklung überlassen wird. Sprecherin: Fünf Prozent, das ist das Nahziel des NABU, später darf es gern noch etwas mehr sein. Johannes Enssle, Waldreferent beim Naturschutzbund. O-Ton Enssle In den Zwischenräumen zwischen diesen Schutzgebieten braucht man einen Wald, auch wenn er bewirtschaftet wird, der trotzdem eine gewisse Lebensraumqualität erfüllt. Deshalb ist es wichtig, das auch im Privatwald, im bewirtschafteten Wald ein gewisses Maß an Ökologie und Naturschutz erhalten wird, d.h. dass zum Beispiel eine gewisse Anzahl von Bäumen alt werden darf und nicht für Brennholz genutzt wird oder das man einen sehr strukturreichen Wald versucht aufzubauen und zu entwickeln. Atmo Transporter, Schritte im Wald im Hintergrund die Zugmaschine beim Aufladen Sprecherin: Ein Wald im Ruppiner Land in Brandenburg. Hier sieht es aus wie bei Hempels unterm Sofa, kreuz und quer liegen grüne Zweige und dicke Äste auf dem Waldboden. O-Ton Enno Rosenthal Das wird überhaupt nicht verwandt, dem Boden müssen ja auch wieder neue Nährstoffe, Biomasse zugeführt werden, deshalb kann das hier in Ruhe verrotten. Es gibt so einen Konflikt um die Ganzbaumnutzung - könnte man ja alles energetisch verwerten, aber man kann nicht dem Wald so viel Biomasse entziehen, dass sozusagen die ganze Humusbildung gestört wird. Sprecherin: Enno Rosenthal ist Förster, moderner Waldbesitzer, betreibt außerdem Landwirtschaft und Politik. Förster wollte er schon werden, als er seinen Großvater auf dem Fuhrwerk beim Holz fahren begleitete. Da war er sechs, jetzt ist er 50 und ein umtriebiger Mensch in Sachen Wald. Unter anderem als Vorsitzender des Waldbauernverbandes Brandenburg, die politische Interessenvertretung für über 2000 Waldbesitzer, die Flächen zwischen einem und 200 Hektar haben. Atmo Transporter Sprecherin: Ein Greifarm schnappt sich Kiefernstämme, stapelt sie ordentlich auf der Ladefläche des Transporters. O-Ton Enno Rosenthal Das eine ist für die Holzwerkstoffindustrie, das sind im Grunde Spanplatten, man könnte das Holz auch an die Zellstoffindustrie verkaufen. Das andere Sortiment, was wir machen, ist aus den stärkeren Durchmessern Sägeholz, heißt eigentlich Bauholz wird. Sprecherin: Das Holz, das jetzt herausgeholt wird, schafft Licht und Platz für die verbleibenden Bäume, die Kronen können sich entfalten, die Stämme wachsen. Der Bestand wird durch Buchen ergänzt, so wächst nach und nach ein Mischwald heran. O-Ton Enno Rosenthal In fünfzig Jahren da kann man das Urteil über diesen Bestand sozusagen fällen. (blenden) Atmo Ende O-Ton Enno Rosenthal (Mono) Ich will ja nicht angeben, aber wirklich, wir haben im Jahresdurchschnitt zwischen 50- 100 ? pro Hektar erwirtschaftet und die sind netto bei dem Waldbesitzer angekommen, das heißt, auch der normale Brandenburger Wald wirft Ertrag ab. Es kommt auf die Art und Weise der Bewirtschaftung an, und einfach auf die hohe Kunst der Forstwirtschaft. Sprecherin: Forstwirtschaftliche Zusammenschlüsse bewirtschaften den Wald gemeinsam. Das ist ökonomisch vorteilhaft, schafft regionale Identität und soll verhindern, dass die Eigentümer ihren Besitz aufgeben. O-Ton Enno Rosenthal Es gibt die Probleme der Konzentration, die Agrarflächen werden immer größer, nicht nur in der Bewirtschaftung, sondern auch das Eigentum geht oft über, viele Familien trennen sich davon. Sprecherin: Die eigentlichen Erzeuger sind wie Almosenempfänger, weil ihnen gegenüber den Handelskonzernen und der Holzindustrie die Marktmacht fehlt - sagt Enno Rosenthal. Egal ob Milch- oder Waldbauer. Der Vorsitzende des Waldbauernverbandes plädiert nicht für mehr Subventionen. Das Produkt Holz müsse sich am Markt durchsetzen. Es gehe um strukturelle Hilfen. O-Ton Enno Rosenthal Da ist der ländliche Raum im Nachteil. Jeder will gesunde Nahrungsmittel zu sich nehmen, jeder möchte die intakte Natur für seine Erholung nutzen, da hat der ländliche Raum viel zu bieten, es kommt darauf an, das diese Leistungen für die Menschen auch in Wert gesetzt werden, das ist ein Wert, der zur Zeit leider nicht marktfähig ist und das ist zur Zeit eine der Hauptanstrengungen, die die Akteure im ländlichen Raum unternehmen müssen - für diese Leistungen einen Marktwert einzufordern. O-Ton Küster Ich halte das für ein sehr modernes und sehr gutes Anliegen und dabei denke ich gar nicht so sehr an den Wald, sondern vor allem an die Menschen, die in ländlichen Räumen leben, weil diese Möglichkeit, die der Waldbauer hier angedeutet hat, die einzige Art und Weise ist, wie man in Zukunft an Geld der EU kommen wird, um den ländlichen Raum zu stärken. Sprecherin: Ab 2014 will die Europäische Union Gemeingüter, wie biologische Vielfalt, sauberen Boden, sauberes Wasser stärker fördern. Hansjörg Küster: O-Ton Küster Und dann müssen die Bauern, die Waldbauern, die Förster, etwas anderes auf den Märkten anbieten - und das müssen sie sehr stark tun und das kann nur die Landschaft sein und dann müssen wir aber wissen, dass wir das als ein allgemeines Gut finanzieren können und wie das Ganze auszusehen hat. Sprecherin: Die Verständigung darüber, welchen Wald wollen wir, welche Landschaft wollen wir, ist auch deshalb notwendig, weil der Hunger der Holzindustrie zunehmen wird. O-Ton Küster Wir sind heute ein waldreiches Land geworden und wir haben heute viel mehr Wälder als vor 200 Jahren und das verdanken wir der Entwicklung, dass wir Kohle und Erdöl verbrannt haben. Aber nun müssen wir etwas Neues finden. Wir müssen einen Energiemix anstreben, in dem selbstverständlich das Holz eine größere Rolle spielen wird als in den letzten 200 Jahren. O-Ton Pöhlmann Wir wollen ja, dass der Mensch die Natur erleben kann, fühlen kann, dann steigt ja auch der Wert der Natur für jeden einzelnen Menschen, das kann man nicht in einem Bildband nachlesen, das weckt vielleicht Sehnsucht, aber das Erlebnis draußen, ich denke darauf kann man nicht verzichten. Musik Sp. v. Dienst: Zwischen Sehnsucht und Spanplatte Die Deutschen und der Wald Ein Feature von Constanze Lehmann Es sprachen: Marina Behnke und Markus Hoffmann Ton: Christiane Neumann Regie: Rita Höhne Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2009 1