DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler "Der schöne Sommer" Der italienische Schriftsteller Cesare Pavese Von Maike Albath REGIE: Fabian von Freier Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 11. März 2011, 20:10 - 21:00 Uhr /Wdh. 18. September 2015 Regie: Musik, Ludovico Einaudi, Nightbook, Track 4, ab 0'7 Zitator (auf Musik) Damals war immer Festtag. Es genügte, das Haus zu verlassen und die Straße zu überqueren, schon wurden die Mädchen wie verrückt, und alles war so schön, besonders nachts... O-1, O-Ton Roberto Cerati (voice over)/ Sprecher Pavese war durch und durch Piemontese. Er fühlte sich mit seiner Landschaft tief verbunden, ein scheuer, spröder Mensch. O-2, Renata Einaudi (voice over)/ Sprecherin 1 Die Berge hat er gehasst. Er liebte nur das Land. Regie: Musik, Ludovico Einaudi, Nightbook, Track 4, ab 2'51 Zitator (auf Musik): Wenn sie todmüde zurückkehrten, hofften sie immer noch, dass irgendetwas geschehe, dass ein Brand ausbräche, dass zu Haus ein Kind geboren würde oder dass es womöglich plötzlich Tag würde und alle Leute auf die Straße kämen und man immer weiter und weiter gehen könnte bis zu den Wiesen und hinter die Hügel. O-3, O-Ton Fernanda Pivano (voice over)/ Sprecherin 2 Er war sehr groß und sehr dünn. Auf seinem Gesicht lagen Schatten, so als lastete das Gewicht der ganzen Welt auf seinen Schultern und als wüsste er nicht, wie er sich davon befreien könnte. O-4, O-Ton Renata Einaudi/ Sprecherin 1 Er war ein Romantiker. Einer der letzten Romantiker. Und ein Einzelgänger. Turin war seine Stadt. O-5, O-Ton Roberto Cerati (voice over)/ Sprecher Er hielt sich oft eher abseits. Diese typischen italienischen Kommunikationsformen beherrschte er gar nicht. Ich erinnere mich sehr gern an den ersten Vers eines seiner Gedichte: "Ein Dorf, das heißt, nicht einsam zu sein", also einer Gemeinschaft anzugehören, ein Teil von etwas Größerem zu sein, auch ohne jeden Kontakt. Regie: Musik, Ludovico Einaudi, Nightbook, Track 4, Anfang, übergehend in Atmo, A1 Erzählerin (auf Musik, Blende zur Atmo) Cesare Pavese, 1908 in Santo Stefano Belbo geboren, inmitten einer schwermütigen Hügellandschaft südlich von Turin, über der morgens oft der Nebel hängt. Zwischen Buchenwäldern wachsen auch heute noch die Reben des Barolo, Barbera und Malvasia. Ein Sehnsuchtsort seiner Gedichte und Romane. (ATMO EINBLENDEN) Aufgewachsen und zur Schule gegangen ist Pavese aber in Turin, der piemontesischen Hauptstadt mit den schnurgeraden Boulevards, gelben Barockbauten und Arkaden, die sich immer wieder auf weite Plätze öffnen. Symmetrisch ziehen sich die Häuserreihen von der Piazza Castello bis zur Piazza Vittorio hinunter, einem riesigen Rechteck direkt am Po. Seitdem Pavese in der Bar Elena seinen Weißwein trank, hat sich hier kaum etwas verändert. Straßenbahnen rattern über den Platz. Beim Aperitif beobachte ich, wie die Dämmerung von den Hügeln hinter dem Fluss herauf kriecht. Jeden Moment könnten Ginia und Amelia um die Ecke biegen, die unternehmungslustigen Heldinnen aus Paveses 1940 entstandenem Roman Der schöne Sommer. Zitator In jenem Jahr war es so heiß, dass man jeden Abend ausgehen musste, und es schien Ginia, als habe sie nie zuvor verstanden, was Sommer eigentlich bedeute, so schön war es, jede Nacht auszugehen und durch die Alleen zu schlendern. Manchmal dachte sie, jener Sommer würde niemals enden, und zugleich, dass man sich beeilen musste, ihn zu genießen, denn wenn die Jahreszeit wechselte, würde bestimmt etwas geschehen. Deshalb ging sie nicht mehr mit Rosa in das alte Lokal oder in ihr Kino, sondern machte sich manchmal allein auf den Weg und lief schnell in ein Kino im Zentrum. Regie: Musik, Nino Rota, Tutto Fellini, "I Vittelloni", Track 3, ab 0'34, ev. auch unter Zitator Erzählerin (auf Musik) Genau wie Amelia und Ginia lief Pavese in Sommernächten stundenlang durch die Straßen. Zwischendurch sah er Filme im Cinema delle Alpi oder im Eliseo. Oder er ging ins Varieté. Dafür gab es einen handfesten Grund. Eine gewisse Milly tanzte in einem plissierten Rock und mit bauchfreiem Oberteil über die Bühne und hielt den 19jährigen Pavese in Atem. Zitator Sicherlich, Signorina, kann Sie dieser Brief einer Person, die Sie gar nicht kennen, nichts als verblüffen, um nicht noch Schlimmeres anzunehmen. Ich möchte Sie um Verzeihung bitten und Ihnen sagen, dass Sie zwar mich nicht kennen, ich Sie jedoch sehr wohl kenne, aber vielleicht ist bereits das eine Anmaßung? Dennoch... Ich kenne Sie, Signorina, ich wiederhole: ich kenne Sie, allerdings aus der Ferne, ich bin Ihnen gefolgt, habe Sie lange beobachtet, mich aber nie getraut, mich Ihnen zu nähern. Ich kenne Ihre äußeren Umrisse, ich kenne ein paar Momente Ihres Lebens und vor allem etwas von Ihrer Seele, das sich einem aufmerksamem Beobachter aus einem Gesicht erschließt. Aber das ist wenig, Signorina, im Vergleich mit dem Unendlichen, was ich von Ihnen gerne kennen lernen möchte. Ich bin nichts anderes als ein vollkommen gewöhnlicher Student von neunzehn Jahren, und Sie sind weit weg, sehr weit weg. Wenn es mir nicht geglückt ist, Sie zum Lachen zu bringen, dann pfeffern Sie diesen Brief in eine Ecke, wenn aber wenigstens ein Krümelchen von dem, was ich für Sie empfinde, deutlich geworden ist und Sie es verstanden haben, dann lassen Sie mich nicht in diesem Zweifel. Es ist eine verrückte Hoffnung, aber eine freundliche Antwort von Ihnen wäre mein größtes Glück. Ich hätte Ihnen so viel zu sagen, wenn Sie die Güte besäßen, mir zuzuhören. Möchten Sie, Signorina? Erzählerin Milly mochte nicht; vielleicht fing ihr Bruder den Brief ab, vielleicht hat sie das Geständnis des unbekannten Verehrers gelangweilt beiseite gelegt. Cesare Pavese war verzweifelt. Er verliebte sich oft in unerreichbare Frauen und lief ihnen wochenlang hinterher: Soubretten, Filmsternchen oder junge Damen, die anderweitig verlobt waren. Seine Schulfreunde Leone Ginzburg und Giulio Einaudi wollten ihn aufmuntern und versuchten, ihn für eine neue Idee zu begeistern. Giulios Vater, der in ganz Italien geschätzte Senator der Liberalen Partei und Professor für Wirtschaftswissenschaften Luigi Einaudi, übertrug seinem Sohn die Leitung einer Zeitschrift. Daraus sollte ein Verlag werden, der Einaudi-Verlag. 1933 meldeten Leone und Giulio das Gewerbe an, im Jahr darauf legten sie los. Leone Ginzburg, der jüngste der "Bruderschaft", wie sich die Freunde scherzhaft nannten, war der große Visionär. Ein frühreifer Kosmopolit. Seine jüdische Familie stammte aus Odessa, und Leone hatte schon als Achtzehnjähriger Anna Karenina übersetzt. Mussolini war seit über zehn Jahren an der Macht und schwor auf das Ur-Italienische und den Futurismus - auch deshalb stießen die Zeitschriften von Einaudi mit ihrem internationalen Anspruch unter den Intellektuellen auf große Resonanz. Pavese zauderte. Er wollte lieber Gedichte schreiben, abends in den Hügeln wandern, die ihn an amerikanische Landschaften erinnerten, und seine Doktorarbeit über Walt Whitman abschließen. Höchstens Essays, die könne er liefern. Pavese wohnte bei seiner Schwester in der Via Lamarmora, die ihm mittags Spaghetti auf den Tisch stellte. Nach dem Essen traf sich Pavese mit der "Bruderschaft". Sie diskutierten über neue Literatur. Oder kamen zum Rudern an den Po. Regie: Musik, Ludovico Einaudi, Nightbook, Track 3 Erzählerin (auf Musik) Während ich darüber nachdenke, von welcher Anlegestelle die Freunde damals ablegten, spaziere ich am Flussufer entlang. Ein roter Backsteinbau kommt in Sicht. Hier wohnt Renata Einaudi, die Witwe des Verlegers und ehemalige Mitarbeiterin, eine zarte alte Dame, der man kaum glaubt, dass sie fast neunzig ist. Seit ihrer Zeit als Partisanin im Val d'Aosta kann sie kaum etwas erschüttern. O-6, O-Ton Renata Einaudi/ Sprecherin 1 (voice over) Ach, ich habe fast gar nichts gemacht, nur ein paar Befehle auf der Schreibmaschine getippt. Wir waren alle sehr jung. Studenten eben. Giulio Einaudi blieb gar nicht lange, er musste nach Rom, um über die Angriffe zu verhandeln, der Widerstand war militärisch durchorganisiert. Erzählerin Renata Einaudi führt mich in ihr Wohnzimmer mit Blick auf den Po. Als sie in den dreißiger Jahren von Mailand nach Turin umzog, wurden sie und Cesare Pavese enge Freunde. O-7, O-Ton Renata Einaudi/ Sprecherin 1 (voice over) Ich weiß noch genau, wie ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Das war in Rom, in der Via Botteghe Oscure. Ich kam rein, er zwirbelte seine Haare, rauchte Pfeife, schob die Brille hoch und musterte mich von oben bis unten. Pavese war eher barsch, aber auf eine nette Art, da gibt es ja Unterschiede. Wir sind dann gemeinsam mit dem Zug gefahren. Trotz seiner zurückhaltenden Art breitete er auf der Reise seine ganzen komplizierten Liebesgeschichten vor mir aus. Ausgerechnet vor mir. Ich war ein bisschen verblüfft. Aber es gefiel ihm offenkundig, von seinen Schwierigkeiten zu sprechen. Für ihn war nämlich alles schwierig. In Turin hatten wir durch die Arbeit viel miteinander zu tun, aber wir gingen auch oft aus, mit Fernanda Pivano. Erzählerin Renatas Mann Giulio Einaudi sollte nach dem Krieg einer der wichtigsten Verleger Italiens werden. O-8, O-Ton Renata Einaudi/ Sprecherin 1 (voice over) Giulio hatte eine starke Ausstrahlung, der sich kaum jemand entziehen konnte. Das hing mit seiner Strenge zusammen. Er besaß eine große Strenge, und wenn er sich für jemanden entschied, dann deshalb, weil derjenige zu passen schien. Man fühlte sich geschmeichelt und geehrt, selbst wenn man dann vielleicht gar nicht bezahlt wurde. Er hat einen großartigen Geschmack. Für Möbel, Gegenstände, diese Tür hier hat er ausgesucht.... Erzählerin Die Wohnung war Jahrzehnte lang eine Zweigstelle des Verlages. Pavese stieg in den dreißiger Jahren dann doch noch richtig ein und wurde ein pingeliger Lektor. Von Anfang an erregte das Projekt der drei jungen Turiner großes Aufsehen. In ihren Zeitschriften verrissen sie regimetreue Bücher. Der mächtige Name Einaudi bot Schutz. O-9, O-Ton Renata Einaudi/ Sprecherin 1 (voice over) Es gab einen starken Zusammenhalt unter den Intellektuellen. Bei Einaudi veröffentlicht zu werden, war eine große Ehre. Bücher galten als etwas Heiliges, heute ist das nicht mehr so. Man las damals nur Einaudi-Bücher. Die berühmten gelben Umschläge standen für ein bestimmtes Bewusstsein. Erzählerin Wir unterhalten uns noch eine Weile über Turin, die Aufbruchsstimmung mitten im Faschismus. Heute sei alles anders, komplizierter, meint Renata Einaudi nachdenklich. Paveses Gedichte habe sie immer im Ohr, sagt sie zum Abschied. Zum Beispiel die für Fernanda Pivano. Regie: Musik, Ludovico Einaudi, Nightbook, Track 7 Zitator (auf Musik) Aus Salz und aus Erde ist dein Blick. Einst hattest du das Meer in deinen Poren. Pflanzen schmiegten sich um deine Seiten, heiß, und sie riechen noch immer nach dir. Agave und Oleander. Alles verschließt dein Blick. Aus Salz und aus Erde Sind deine Adern, dein Atem. Gischt des heißen Windes, Schatten sengender Sonnentage - alles verschließt du in dir. Du bist die raue Stimme der Felder, der Ruf der versteckten Wachtel, die Wärme des Steines. Die Felder sind Mühe, die Felder sind Schmerz. Bei Nacht schweigt die Gebärde des Bauern. Du bist die große Mühsal und die Nacht, die sättigt. Erzählerin Fernanda Pivano erinnerte Pavese an die ligurische Landschaft mit ihren Agaven und Oleandern, denn die Freundin stammte aus Genua. Auf dem Weg zurück ins Zentrum fällt mir ein, wie ich Fernanda Pivano an einem heißen Tag vor einigen Jahren in Mailand besuchte. Eine rundliche alte Dame, die zwischen lauter Bücherkisten hauste. O-10, O-Ton Fernanda Pivano/ Sprecherin 2 (voice over) Als ich aufs Gymnasium kam, wurde Cesare Pavese mein Italienisch- und Lateinlehrer. Er hatte eine Vertretungsstelle. Sein Unterricht eröffnete mir eine ganz neue Welt. Ich erinnere mich bis heute an eine Stunde über Tacitus, in der ich mehr über römische Geschichte gelernt habe als aus zwanzig Büchern. Pavese orientierte sich an dem Philosophen Bendetto Croce, dessen Darstellung heute vielleicht umstritten sein mag. Auf ideologischer Ebene vertrat Pavese eine absolut antifaschistische Position. Mich haben die Inhalte elektrisiert, aber auch seine Person. Erzählerin Um unterrichten zu können, war Pavese Mitglied der Faschistischen Partei geworden, eine Maßnahme, die viele ergriffen. Leone Ginzburg verweigerte den Eid auf Mussolini und musste seinen Lehrauftrag für Slawistik an der Universität aufgeben. Oberflächliche Anpassung und Regimekritik waren für die Freunde kein Widerspruch, auch Ginzburg, der selbst nie Kompromisse machte, äußerte Verständnis. Trotz der Zensur boten sich den jungen Verlegern erstaunliche Freiräume. O-11, O-Ton Fernanda Pivano (voice over)/ Sprecherin 2 Zu meinen Schulkameraden gehörte auch Primo Levi, der später Schriftsteller wurde. Ausgerechnet Primo Levi und ich bekamen in Italienisch eine fünf im Abitur. Abenteuerlich. Ich war damals wirklich eine Schönheit und hatte viele Verehrer, außerdem war mein Vater sehr reich. Eines Nachmittags ging ich mit einigen meiner Bewunderer ins Schwimmbad. Plötzlich sah ich Pavese und Norberto Bobbio, den Philosophen, Bobbio arbeitete auch als Vertretungslehrer. Bobbio trug eine elegante Badehose, sein Vater war schließlich Senator, Pavese hatte eine abgeschnittene Flanellhose an, mit so einer habe ich später auch Hemingway in Kuba gesehen, ich war gerade mal 20, wirklich ein kleines Mädchen. Pavese kam auf mich zu und als guter Lehrer erkundigte er sich, wie es mir im Abitur ergangen sei. "Sie haben mich in Italienisch durchfallen lassen", antwortete ich, und wir brüllten vor Lachen, denn eigentlich schrieb ich nur Einsen. "Na, dann wissen Sie ja jetzt, was Schule wirklich bedeutet, halten Sie sich bloß von ihr fern". Und dann fragte er weiter, ich erzählte ihm, dass ich Anglistik studieren wollte. "Warum englische Literatur und nicht amerikanische?" Erzählerin Fernanda begann, Privatstunden bei Pavese zu nehmen. Manchmal machten sie Ausflüge und radelten bis zum Stadtrand. O-12, O-Ton Fernanda Pivano (voice over)/ Sprecherin 2 Pavese war kein schöner Mann im klassischen Sinn. Seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, wenn er nervös war, zwirbelte er mit seinen Fingern an einer Locke herum - wir nannten das seine "Lockenmanie" -, und er sprach ganz leise, biss sich auf die Lippen, wenn er nachdachte. Er hatte die wunderbarste Stimme, die man sich überhaupt vorstellen kann. Schöner als jeder Schauspieler, eine magische Stimme, absolut magisch. Er zerknitterte auch immer Papier, wenn er angespannt war, alles, was durch seine Hände ging, hatte Eselsohren. Regie: Musik, Ludovico Einaudi, Nightbook, Track 10 Zitator Das Fenster, halb geschlossen, zeigt ein Gesicht auf der Fläche des Meeres. Das offene Haar bewegt sich im sanften Rhythmus des Meeres. Keine Erinnerung gibt es auf diesem Gesicht. Nur einen flüchtigen Schatten, wie von einer Wolke. Der Schatten ist feucht und weich wie der Sand in einer Vertiefung, unberührt in der Dämmerung. Keine Erinnerungen. Nur ein Murmeln die Stimme des Meeres, die Erinnerung wurde. Erzählerin Die unternehmungslustige Freundin inspirierte Pavese. Gleichzeitig war er längst schon wieder in eine unglückliche Liebesgeschichte verwickelt. Mit Tina Pizzardo, einer Mathematiklehrerin und überzeugten Kommunistin, die er die "die Frau mit der heiseren Stimme" nannte. Zitator Jetzt ist sie am Ufer und spricht mit uns, triefnass ihr dunkler Körper, der zwischen den Stämmen erscheint. Ihre Stimme ist der einzige Laut über dem Wasser - heiser und frisch -, es ist die Stimme von früher Erzählerin Er stellte Tina seine Anschrift als Deckadresse zur Verfügung. Unterdessen begann die Geheimpolizei, sich für die umtriebigen Einaudianer zu interessieren. 1935 gab es eine Razzia in den Verlagsräumen und Wohnungen. Bei Pavese stieß die Polizei auf konspirative Briefe an Tina Pizzardo. Anderthalb Jahre Verbannung lautete das Urteil - unter Mussolini eine übliche Methode, um sich unbequemer Intellektueller zu entledigen. Zwei Carabinieri begleiteten Pavese nach Brancaleone in Kalabrien, ein elendes Kaff am Meer. Außer der täglichen Meldung bei der Polizei gab es keine weiteren Auflagen. Aber die Isolation war quälend, und Tina ließ ihn nicht los. Regie: Musik, Ludovico Einaudi, Nightbook, Track 7 Zitator Liebe, ich schreibe mit Deinem Füller. Trotz der schlechten Erfahrungen widerstehe ich dem Drang eines Briefes nicht. Ich weiß nicht, ob die Postkarten, die ich Dir an Deine Adresse geschickt habe, angekommen sind. Von Dir habe ich vier erhalten. Ich verbringe die Tage (Jahre) in einem Zustand des Wartens, wie ich ihn an manchen Nachmittagen zu Hause zwischen halb drei und vier Uhr erlebt habe. Morgens wache ich immer mit einem Stich der Einsamkeit auf. Meine Ängste kann ich Dir nicht beschreiben. Aber mein Leid besteht nicht in dem hier, mein Leid bist Du; und wer uns auseinander gerissen hat, wusste das genau. Ich schreibe keine Zärtlichkeiten, und den Grund dafür kennen wir; aber meine letzte menschenwürdige Erinnerung stammt vom 13. Mai. Ich danke Dir für die Gedanken, die Du Dir mir um mich machst. Ich habe für Dich nur einen Gedanken und der endet nie. Dein C. Erzählerin Bei seiner Schwester Maria beklagte sich Pavese über sein Schicksal, schimpfte und zeterte. Je mehr seine Familie ihn zu trösten versuchte, desto ungehaltener reagierte er. Aber er befolgte Marias Rat und verfasste Eingaben und Gnadengesuche. Durch die Vermittlung von Leone Ginzburg kam endlich sein erster Gedichtband Arbeiten ermüdet heraus. Das erfüllte ihn mit Stolz. Wütend über die Sinnlosigkeit der Strafe fiel er trotzdem immer wieder über seine Verwandten her. An den Bruder seines Schwagers heißt es am 5. Januar 1936: Zitator Lieber Luigi, Deinen Brief habe ich mit jener amüsierten Neugierde gelesen, mit der man Besuche des Pfarrers aus Anlass von Beerdigungen, Hochzeiten und Taufen empfängt. Ich hätte nie geglaubt, dass der schreckliche Luigi so ein kirchlicher Typ sei. ‚Das Studium, Deine Lieblingsbeschäftigung... die kleinen Dinge, die Dein Zimmer in eine anheimelnde Studierstube verwandeln... christliche Demut... Heiterkeit, Demut und Hoffnung...' Täusche ich mich, oder spricht so nicht ein Priester, um sein Schäfchen zu trösten, das zum Beispiel unter Syphilis leidet? Ich höre, Du schuftest wie ein Pferd im Büro. Ob es sich lohnt, ein unbescholtener Bürger wie Du zu sein, um dann ein Leben zu führen, das einen körperlich zu einem Stockfisch macht und moralisch dem in einer Klosterzelle ähnelt? Ich, mit all dem, was ich in Brancaleone bin, beneide Dich nicht. Meine Unannehmlichkeiten sind ein Vergnügen im Vergleich mit dem Karren, den Du zu ziehen hast. Du bist einer jener Sterblichen, für die Arbeiten ermüdet geschrieben wurde. Kauf' es, lies' es und lerne daraus die verschiedenen Arten, wie Du Dir einen schönen Tag machen und Deinen Bürovorsteher an der Nase herumführen kannst. Ach, wie dumm von mir. Ich vergaß, dass Du selbst der Bürovorsteher bist. Dann wünsche ich Dir weitere und verdiente Karrieresprünge, danke Dir und richte Grüße an die ganze beweinenswerte und heilige Familie aus. Dein Cesare Erzählerin Kurze Zeit später wurde Paveses Eingabe stattgegeben. Mit dem Sieg über Äthiopien nach einem grausamen, mit Gasangriffen geführten Eroberungskrieg war Mussolini Anfang 1936 auf dem Höhepunkt seines Erfolges angelangt. Endlich war Italien wieder ein Land, das Respekt einflößte! Auch den Dissidenten gegenüber zeigte man sich gnädig. Die Verbannung wurde aufgehoben, und Pavese kehrte nach sieben Monaten in Kalabrien am 19. März 1936 nach Turin zurück. O-13, O-Ton Fernanda Pivano (voice over)/ Sprecherin 2 Sein Freund Sturani hat ihn vom Bahnhof abgeholt, als er aus der Verbannung zurückkehrte. Er musste ihm sagen, dass diese Frau - Tina, sie war seine erste große Liebe, nicht ich, das ist falsch - einen anderen geheiratet hatte. Pavese ist sofort zusammengebrochen. Einen Monat lang war er betrunken. Er fiel in ein Loch, keiner von uns konnte ihn da wieder raus ziehen. Zitator Das Gefühl dieses Sturzes vermischt sich mit dem Gehämmer, das seit 1934 aufgehört hatte, auf mich einzuschlagen: weg mit der Ästhetik, weg mit den Posen, weg mit dem Genie, weg mit dem ganzen Quatsch, habe ich je im Leben etwas getan, was nicht idiotisch gewesen wäre? Idiotisch im banalsten und irreparabelsten Sinne, wie ein Mann eben, der nicht zu leben weiß, der moralisch nicht gewachsen ist, der hohl ist, der sich mit der Krücke des Selbstmords aufrecht hält, ihn aber nicht begeht. Regie: Musik, Ludovico Einaudi, Nightbook, Track 7 Erzählerin (auf Musik) Arbeit half am besten. Während unter Mussolini ausländische Literatur verpönt war, verfasste Pavese Essays über Dos Passos, Walt Whitman, Steinbeck und Sinclair Lewis. Seine ästhetische Revolution ist kaum zu ermessen - der piemontesische Schriftsteller kann als einer der großen Entdecker Amerikas gelten. Pavese versetzte der italienischen Literatur einen Vitalitätsschub und übersetzte nordamerikanische Erzähler von Melville bis zu Faulkner. Amerika, das war die elektrisierende Antithese zum faschistischen Italien: Weite, Freiheit, epische Kraft, die Erfahrung des Individuellen, ein modernes Formenrepertoire, eine frische, wirklichkeitsnahe Sprache. Der faszinierende neue Horizont schlug sich auch auf sein eigenes Schreiben nieder: Das ländliche Piemont wurde sein mid west. Und Pavese begann, mit der gesprochenen Sprache zu arbeiten. Seine Figuren redeten so, wie es den alltäglichen kommunikativen Gepflogenheiten entsprach. Auch das war neu und ungewohnt, denn bisher dominierte ein kunstgewerblicher Akademismus oder schwülstiger Barock. Seine Freundin Fernanda Pivano steckte er mit seiner Begeisterung an. Jede Woche lieh er ihr neue Bücher aus, darunter die Spoon River-Anthologie von Edgar Lee Masters. O-14, O-Ton Fernanda Pivano (voice over)/ Sprecherin 2 Eines Tages waren wir in meinem Zimmer, und er wollte sich eine Zigarette anzünden. Pavese rauchte eigentlich Pfeife, aber das galt als unfein, in Gesellschaft von jungen Damen rauchte man Zigaretten - es herrschten absolut viktorianische Sitten! Ich bewahrte sie für ihn auf. Er saß neben meinem Schreibtisch und öffnete statt der ersten Schublade die zweite. Aus Versehen, behauptete er später, aber ich glaube eher, dass er einfach neugierig war. Jedenfalls lag dort meine Übersetzung der Spoon-River-Anthologie. Ich hatte sie für mich gemacht, einfach so, aus Spaß, ohne dass ich gewusst hätte, wie die Arbeit eines Übersetzers aussieht, ohne ein Wörterbuch, ohne den Gedanken, etwas veröffentlichen zu wollen. Pavese war völlig verblüfft. Er hat das Manuskript eingesteckt, bald darauf erschien das Buch. Regie: Musik, Nino Rota, Tutto Fellini, "I Vittelloni", Track 3, ab 0'34, ev. auch unter Zitator Erzählerin Pavese hatte den richtigen Instinkt, die Spoon River-Anthologie, die 1943 erschien, sollte mit 62 Auflagen und fünf Millionen verkauften Exemplaren eines der erfolgreichsten Bücher der italienischen Verlagsgeschichte werden. O-15, O-Ton Fernanda Pivano (voice over)/ Sprecherin 2 Ich erinnere mich an einen herrlichen Tag kurz nach Kriegsende. Die Amerikaner hatten in der Via Po eine Buchhandlung eröffnet, so groß wie mein Zimmer hier, voll gestopft bis unter die Decke mit amerikanischen Romanen. Pavese und ich waren trunken vor Glück, wir berührten die Umschläge, es waren alles Bücher, die man jahrelang nicht hatte finden können. Wir knieten auf dem Boden, drückten die Einbände an uns, wir entdeckten Scott Fitzgerald und viele andere. Das war der Anfang von allem, dort fanden wir die Bücher, die wir übersetzen wollten. Erzählerin Aber immer wieder packte Pavese die altbekannte Melancholie. Zitator Fern, ich werde alt. Und wenn ich einen Roman schreiben will, kreise ich nur um mich selbst, ohne weder den Roman genießen zu können noch mich selbst; und wenn ich an die Liebe denke, denke ich an die Zukunft und eine Wohnung und Geld und meine Möglichkeiten. Fern, ich bin alt. O-16, O-Ton Fernanda Pivano (voice over)/ Sprecherin 2 Pavese hatte sich verändert, weil er diesen Typen da, mit dem ich verheiratet war, nicht schätzte. Er hatte Recht. Pavese hatte Recht, meine Familie hatte Recht, es hat keinen Sinn darüber zu sprechen, ich habe einen Fehler gemacht und ihn teuer bezahlt. Wir machen alle Fehler! Erzählerin Der Typ, wie Fernanda Pivano ihren Ex-Mann verächtlich tituliert, war niemand anders als Ettore Sottsass, einer der wichtigsten italienischen Designer des vergangenen Jahrhunderts. Nach einigen Jahrzehnten Ehe ließ er Fernanda, inzwischen eine berühmte Übersetzerin, im Stich und lief mit einer jüngeren davon. Von Pavese sind ihr wenigstens die Gedichte geblieben. Regie: Musik, Ludovico Einaudi, Nightbook, Track 10 Zitator Im Zwielicht ist das Wasser gesättigt mit Morgenhelle und erleuchtet das Gesicht. Jeder Tag ist ein Wunder ohne Zeit, von der Sonne beschienen: salziges Licht durchtränkt ihn, Geruch nach frischen Meeresfrüchten. Erzählerin Inzwischen bin ich an der Piazza San Carlo angelangt. Ungerührt blickt der Turiner König von einem Denkmal auf den Platz hinunter. Der Historiker Carlo Ginzburg, Sohn des Verlagsgründer Leone Ginzburg und der Schriftstellerin Natalia Ginzburg, erwartet mich. O-17, O-Ton Carlo Ginzburg (voice over)/ Sprecher Ich erinnere mich, wie Pavese uns zu Hause besuchte, aber ich sah ihn auch im Verlag. Einmal kam er zum Essen zu uns und fragte mich und meinen Bruder: "Na, was lest ihr?" "Salgari", antworteten wir ihm. Er sagte: "Von Salgari müsst ihr Die Stadt des Lepra-Königs lesen". Ich kenne das Buch bis heute nicht, aber der Titel hat sich mir eingeprägt. Viele Erinnerungen an Pavese sind mit seinem Selbstmord verbunden. Ich weiß nicht mehr, ob wir zu Hause darüber gesprochen haben, vermutlich ja. Erzählerin Carlo Ginzburgs Erinnerungen gehen auf die Zeit kurz nach dem Krieg zurück. Sein Vater Leone, der in den Widerstand abgetaucht war, starb im Januar 1944 im römischen Gefängnis Regina Coeli an den Folgen der Folter durch die Gestapo. Nach dem Waffenstillstand mit den Alliierten im September 1943 war Italien in mehrere Teile zerfallen. Im Norden herrschte Mussolinis Marionettenrepublik von Salò. Viele der Einaudianer stießen zu den Partisanen. Pavese versteckte sich auf dem Land. Dem politischen Aktivismus stand er distanziert gegenüber. Zitator Würde - das bedeutet, man selbst zu sein. Aber was passiert, wenn man seine Meinung ändert? Wenn du dich einer genauen Prüfung unterziehst, stellst du fest, dass sich deine Meinung gar nicht geändert hat, sondern dass untergründig bereits der neue Gedanke vorhanden war. Dass einige deiner früheren Ideen nicht das sind, was sie schienen, erklärt sich dir aus der Tatsache heraus, dass du dich gar nicht dafür interessiert hast, was du dachtest (dein berühmtes Desinteresse an der Politik!). Jetzt, nachdem du die Tragödien aus der Nähe erlebt hast, würdest du da noch behaupten, dass du von Politik nichts verstündest? Ausgelöst vom Abscheu hast du jetzt dein wahres Interesse entdeckt - das nichts mehr mit dem flüchtigen Geschwätz zu tun hat, sondern mit dem Schicksal des Volkes, zu dem du gehörst. "Boden und Blut" - heißt es nicht so? Diese Leute haben den richtigen Ausdruck gefunden. Warum hast Du 1940 wohl angefangen, Deutsch zu lernen? Diese Lust, die dir damals mit dem Nutzen zusammenzuhängen schien, war der Impuls des Unterbewusstseins, in eine neue Wirklichkeit eintreten zu wollen. Ein Schicksal, amor fati." O-18, O-Ton Carlo Ginzburg (voice over)/ Sprecher Ich verdanke Pavese sehr viel, wirklich extrem viel. Von den Kindheitserinnerungen ganz abgesehen, war die von ihm konzipierte Reihe der Violetten Hefte mit anthropologischen und religionswissenschaftlichen Autoren für meine intellektuelle Biographie sehr wichtig. Genauso wie sein Buch Gespräche mit Leuko, das ihm selbst sehr teuer war, vor seinem Selbstmord schrieb er hier seine letzten Worte hinein. Aber es gibt dieses geheime Notizheft von 1943, das erst mit großer Verspätung veröffentlicht wurde. Hier zeigt sich Pavese nicht nur vom Faschismus und der Republik von Salò fasziniert, sondern vor allem vom Rassismus und von der Blut-und-Boden-Ideologie. Es sind fürchterliche Äußerungen. Entsetzlich. Denn es gibt durchaus einen Zusammenhang mit den Wurzeln seiner frühen Gedichte und auch mit späteren verlegerischen Projekten. Eine unselige Verbindung. Auch diese Seite von Pavese gehörte zu Einaudi. Erzählerin Carlo Ginzburg erzählt noch eine Weile vom Einaudi Verlag, wo er schon als Kind Druckfahnen korrigierte, und von Pavese mit seinen Widersprüchen. Dass Cesare Pavese in seinem Roman Der Genosse von 1947 dem Helden eine politische Bekehrung auf den Leib schrieb und selbst Mitglied der Kommunistischen Partei wurde, hing vielleicht auch mit Schuldgefühlen zusammen. Unterdessen hatte er sich als Schriftsteller einen Namen gemacht. Schon 1941 war Unter Bauern erschienen, ein Roman über die archaische Welt des Dorfes, gleichzeitig arbeitete er an seiner Turiner Trilogie Der schöne Sommer. So erfolgreich sich seine Arbeit als Schriftsteller und Lektor anließ, so verzweifelt gestalteten sich seine privaten Beziehungen. Zitator Es bedurfte der Impotenz, der Überzeugung, dass keine Frau mit mir Lust empfinden wird (wir sind, was wir sind), und schon kommt diese Angst hoch. Wenigstens kann ich leiden, ohne mich zu schämen: meine Qualen sind nicht mehr die der Liebe. Aber dies ist wirklich der Schmerz, der jede Energie totschlägt: wenn man nicht Mann ist, wenn man keine Macht über sein Glied besitzt, wenn man unter Frauen umhergehen muss, ohne Anspruch erheben zu können, wie kann man da die Kraft aufbringen und standhalten? Gibt es einen Selbstmord, der besser gerechtfertig wäre? Erzählerin Paveses Äußerungen über die Form seiner sexuellen Störung sind uneindeutig, mal ist von Impotenz die Rede, mal von anderen Schwierigkeiten - eindeutig ist das große Leid, das daraus resultierte. Dass er in seinen Romanen immer wieder die atavistischen Kräfte des Eros herauf beschwor und darin einen Hort des Ursprünglichen erkannte, mag auch mit seiner fatalen Unzulänglichkeit zusammenhängen. In der ungekürzten Fassung seines Tagebuchs, die erst im Jahr 2000 erschien, finden sich zahlreiche Hasstiraden gegen das Weibliche an sich: Frauen seien Huren, ihr Geschlechtsteil ein gieriges Maul, sie täten nichts anderes, als die Begierde der Männer anzufachen, um sie von sich abhängig zu machen. Dazu passt, dass seine Frauenbeziehungen eine einzige Kette von Enttäuschungen waren, die sich mit jedem neuen Versuch verschärften. Nur das Schreiben und die Literatur bildeten ein Bollwerk gegen seine Nöte. Nach 1945 wurde er zum intellektuellen Zentrum des Verlags Einaudi. Regie: Musik, Ludovico Einaudi, Nightbook, Track 6 Erzählerin (auf Musik) Wir gehen zur Via Biancamano, Ecke Corso Umberto, wo Einaudi in den letzten Kriegsjahren Quartier Bezog und heute im Gebäude gegenüber residiert. Der Programmchef Roberto Cerati, weit über achtzig Jahre alt, ganz in schwarz gekleidet, asketisch wie ein Zen-Mönch, nimmt mich in Empfang. Er trat gleich nach dem Krieg in den Verlag ein. O-19, O-Ton Roberto Cerati (voice over)/ Sprecher Wir waren ein Kollektiv. Man blieb bis spät abends im Verlag und ging danach gemeinsam ins Restaurant. Es gab eines hier in der Nähe, ganz einfach und zünftig, Sartre, Simone de Beauvoir und viele andere Schriftsteller, die mit unserem Verlag zu tun hatten, kamen dort hin. Unsere Arbeit war ein gemeinsames Projekt. Einaudi ist das Ergebnis dieser kollektiven Arbeitsweise. Mittwochs hatten wir unseren Lektoratsabend, aber im Grunde waren wir immer zusammen. Es gab keine Trennung zwischen Privatleben und Arbeit. Erzählerin Pavese wurde zu einer Schlüsselgestalt der italienischen Literaturszene: mit großem Gespür für neue Themen und mit einer inspirierenden Intellektualität entwickelte er Buchreihen, entdeckte neue Autoren und gab Einaudi ein unverwechselbares Profil. Kurz nach Kriegsende heißt es in einem Brief an den Schriftsteller Piero Jahier: Zitator Lieber Jahier, Einaudi taucht aus dem Sturm wieder auf. Die überall verstreuten Lektoren werden zurückkehren ebenso wie die Mitarbeiter, aber Sie werden schon von dem unersetzlichen Schaden gehört haben, den das Haus durch den Tod von Leone Ginzburg erlitten hat. Für uns bedeutet es, uns zukünftig noch mehr zu engagieren, und Sie sind einer von denen, die uns dabei helfen müssen. Geben Sie uns Bescheid, wie es Ihnen in Bologna ergangen ist, wie es um die Stadt bestellt ist und wie es um Ihre Arbeitsprojekte steht: Conrad, Molière, Arden of Feversham, Ben Johnson usw. Für uns ist besonders Conrad wichtig. In der Erwartung guter Neuigkeiten grüßt Sie herzlich, Pavese Regie: Musik, Nino Rota, Tutto Fellini, Track 8 Erzählerin Pavese und Einaudi verstanden die verlegerische Arbeit aus dem Geist der Kritik heraus und waren von der gesellschaftlichen Relevanz der Literatur überzeugt: Bücher sollten Italien zu einem freieren Land machen. Mit der Veröffentlichung von Proust, Hemingway, Morante, Bulgakov, Adorno, Benjamin, Gombrich, Panofsky und Roland Barthes schrieb Einaudi Kulturgeschichte. O-20, O-Ton Roberto Cerati (voice over)/ Sprecher Unser Verlag hatte die Tischreden von Luther im Programm. Einaudi berief sich häufig auf dieses Buch, denn Gespräche bei Tisch sind die einfallsreichsten, wo man extrem frei ist, wo einem Geistesblitze kommen, man sich mitreißen lässt, Anregungen äußert, die zu Ideen werden, aus denen irgendwann ein Projekt entstehen kann. Es ging soweit, dass Einaudi genau wissen wollte, was jemand tat, wohin er ging. Wenn einer von uns fehlte, fragte er nach, und wenn es dann hieß, derjenige sei in Florenz, dann sagte er, "hoffentlich bringt er etwas Gutes nach Hause". Wir waren immer in Aktion und haben daraus Dinge geschaffen, nichts Statisches, Fixiertes oder Formalisiertes, es war ein kontinuierlicher Prozess, eine ewige Bewegung. Erzählerin Der Verlag übte auch auf junge Intellektuelle eine große Anziehungskraft aus. Cesare Cases, Jahrgang 1920, einer der bedeutendsten italienischen Germanisten, 2005 verstorben, wurde in der Nachkriegszeit Mitarbeiter bei Einaudi. O-21, O-Ton Cesare Cases (voice over)/ Sprecher Pavese besaß einen großen Einfluss im Verlag. Er ist praktisch der Gründer von Einaudi, gemeinsam mit Ginzburg. Er war auch der einzige, der Einaudi etwas entgegen setzen konnte. Manchmal hing er ein Schild an seine Tür: "Pavese streikt heute, weil Lektor XY nicht bezahlt wurde". Das schien damals eine Gewohnheit Einaudis zu sein. Pavese hat sich mit Einaudi auseinander gesetzt. Es waren alles sehr sperrige Menschen, die wenig sprachen. Und er war die Koryphäe dieser kleinen Gruppe. Zitator Du bist von den großen Zeremonienmeistern abgesegnet. Sie sagen dir: Du bist vierzig, und du hast es geschafft, du bist der Beste deiner Generation, du wirst in die Geschichte eingehen, du bist eigenwillig und authentisch... Hast du dir das mit zwanzig nicht erträumt? Na und? Ich werde nicht sagen: ‚Ist das jetzt alles?' Ich wusste, was ich wollte, und ich weiß, was es wert ist, jetzt, da ich es habe. Ich wollte nicht nur das. Ich wollte weitermachen, darüber hinausgehen, noch eine Generation schlucken, dauerhaft werden wie ein Hügel. Also keine Enttäuschung. Nur eine Bestätigung. Ab morgen (stets die nötigste Gesundheit vorausgesetzt) wird unbeirrbar weitergemacht. Erzählerin Eine Zeit lang klappte das. Pavese schloss mit dem Kurzroman Die einsamen Frauen über die erfolgreiche Modedesignerin Clelia und das Mädchen Rosetta, das sich am Ende vergiftet, seine Turiner Trilogie ab. Die beiden Heldinnen lassen sich als eine zwiegesichtige Doppelgestalt deuten, Projektionen von Paveses Gemütsschwankungen: tätig und schöpferisch die eine, schwermütig und voller Lebensangst die andere. Literarisch war Pavese mit der ausgewogenen Komposition des Romans, den markanten Figuren und der kristallinen Sprache auf den Höhepunkt seiner Möglichkeiten gelangt, was sich ein paar Monate später durch die Auszeichnung mit dem renommierten Premio Strega bestätigen sollte. Zuvor, am 24. November 1949, feierte der Verlag die Veröffentlichung der Trilogie: Zitator Respektvolle Glückwünsche der Kollegen. Position des Arrivierten. Dem jungen Calvino von der Höhe des Alters herab Ratschläge gegeben; ich habe mich entschuldigt, dass ich sehr gut arbeite: In deinem Alter war ich auch etwas hintendran und in einer Krise. Hat mir jemals einer so etwas gesagt, als ich fünfundzwanzig war? Nein, ich bin in einer wilderness groß geworden, ohne mich aufzuhängen, mit dem Stolz, in diesem Unbekannten mein Atoll vorzubereiten und eines Tages plötzlich heraus zu kommen und, wenn die anderen es merken würden, schon ganz groß zu sein. Es scheint, dass mir das gelingt. Das ist meine Kraft. Regie: Musik (auf Musik), Il Neorealismo Italiano, CD 1, Ossessione, Nino Rota, Track 9 Erzählerin Silvester 1949 lernte Pavese bei Freunden in Rom die Schwestern Constance und Doris Dowling kennen, zwei amerikanische Schauspielerinnen aus New York, die wegen des neorealistischen Kinos nach Italien gekommen waren. Antonioni, die sparsamen Inszenierungen, so etwas gefiel den beiden. Doris hatte eine Rolle in Giuseppe de Santis' Bitterer Reis ergattert. Der Schriftsteller begeisterte sich sofort für die Pläne der Schwestern und begann in manischer Eile, Stoffe für Drehbücher zu entwerfen. Im März verbrachte Connie zur Erholung einige Tage in dem Winterkurort Cervinia. Pavese begleitete sie. Zitator Der Schritt ist schrecklich gewesen, und doch ist er getan. Unglaubliche Sanftmut ihrerseits, Worte der Hoffnung, Darling, Lächeln, lange wiederholte Freude, mit mir zusammen zu sein. Die Nächte in Cervinia, die Nächte in Turin. Sie ist ein Mädchen, ein normales Mädchen. Und doch ist sie es - schrecklich. Aus der Tiefe meines Herzens: So viel verdiene ich nicht. Erzählerin (auf Musik): Connie kehrte nach Rom zurück, Pavese bombardierte sie mit Liebesbriefen, hoffte auf eine dauerhafte Beziehung, aber für Constance schien es nur eine Affäre gewesen zu sein. Sie reiste in die USA ab, mit dem Versprechen, in zwei Monaten nach Europa zurückzukehren. Vielleicht fände Pavese ja ein Drehbuch für sie. Pavese korrespondierte wöchentlich mit Doris, aber das tröstete ihn kaum. Als er am 24. Juni 1950 zum Finale des Premio Strega nach Rom kam, begleitete sie ihn. Es gibt Fotos, auf denen Doris im schulterfreien Abendkleid neben ihm sitzt. Zitator In Rom die Apotheose. Und damit? Alles bricht zusammen. Die letzte Süße habe ich von D. erhalten, nicht von ihr. Der Stoizismus ist der Selbstmord. Erzählerin Es ist das altbekannte Muster, aber dieses Mal erholte sich Pavese nicht mehr. Dass gleichzeitig die innenpolitische Dynamik der Nachkriegszeit zu erstarren begann und sich ein Misslingen der gesellschaftlichen Umgestaltung abzeichnete, mag hinzugekommen sein; ausschlaggebend für Paveses immer schwerere Depression war es nicht. Er bemühte sich kurze Zeit um eine Frau namens Pierina, suchte verzweifelt nach irgendeiner Form von Kontakt. Zitator Je bestimmter und genauer der Schmerz ist, um so mehr schlägt der Lebenstrieb um sich und fällt der Gedanke an Selbstmord. Es schien leicht, wenn ich daran dachte. Und doch haben kleine Frauen es getan. Man braucht Demut, nicht Stolz. All das ist ekelhaft. Nicht Worte. Eine Geste. Ich werde nicht mehr schreiben. Erzählerin Mitte August kam Pavese vorzeitig nach Turin zurück, mietete sich in der menschenleeren Stadt ein Zimmer im Hotel Roma, gleich gegenüber vom Bahnhof Porta Nuova. Seine Schwester war so beunruhigt, dass sie ihren Urlaub abbrach. Pavese übernachtete noch zwei, drei Tage zu Hause in der Via Lamarmora. Am Wochenende schützte er eine Reise vor, ließ sich von Maria den Koffer packten und ging wieder in das Hotel Roma. Regie: Atmo A 2, Hotel Roma, - Questa è la camera, è stata lasciata com'era, stile anni 50, il telefone, la disposizione della camera è uguale, i mobili sono quelli di una volta, magari il letto è nuovo, nello stile d'epoca, proprio anni cinquanta (kurz stehen lassen) Erzählerin (auf Atmo) Das Zimmer im Hotel Roma gibt es heute noch, es wird täglich vermietet. Die Möbel seien dieselben wie an jenem heißen Augusttag 1950, erklärt mir die Dame von der Rezeption. Ein schmales Bett, ein roter Sessel, ein kleiner Tisch, im Stil der Zeit. Eine Ausgabe seines letzten Buches Gespräche mit Leuko legte Pavese auf den Nachttisch und schrieb hinein: "Ich verzeihe allen und bitte alle um Verzeihung. In Ordnung? Tratscht nicht zu viel darüber". Dann rührte er achtundzwanzig Tüten Schlafpulver in ein Wasserglas. Am Abend fand ihn ein Zimmermädchen. O-22, O-Ton Cesare Cases (voice over)/ Sprecher Niemand hat seinen Selbstmord erwartet, aber er besaß diese suizidalen Neigungen, denn er kam mit den Frauen nicht zurecht. Die Schriftstellerin Elsa Morante mit ihrer spitzen Zunge sagte einmal, "Pavese ist geizig, er geizt sogar mit seinem Samen". Deshalb hat er sich umgebracht. O-23, O-Ton Fernanda Pivano (voice over)/ Sprecherin 2 Ich war in Turin und erfuhr morgens davon. Ich bin gleich zum Verlag gerannt, wir standen dort herum, alle wie versteinert. Ich mag nicht daran denken, ich denke lieber an seine Gedichte. Seine Gedichte kann man nicht umbringen, sie werden immer weiter leben. Was auch passiert, die Gedichte existieren. Für den, der sie lesen mag. O-24, Renata Einaudi (voice over)/ Sprecherin 1 Wir waren vielleicht auch zu naiv und haben ihn geneckt und gesagt, "Ach, komm', Du findest bald eine andere Amerikanerin, die dich trösten wird." Das war vermutlich falsch. Der Ärmste. Andererseits... Was hätten wir tun können. Es war mitten im Sommer, niemand von uns war in der Stadt. Er hat wohl alle Freunde am Abend vorher angerufen. Wenn jemand von uns da gewesen wäre, hätte er vielleicht noch gezögert. Stattdessen... O-25, O-Ton Roberto Cerati (voice over)/ Sprecher Paveses Tod war ein ungeheurer Schock für uns alle. Denn Pavese war damals schon sehr bekannt, er war eine Autorität, geschätzt und gefürchtet. Eine Persönlichkeit des literarischen Lebens, und er hatte sehr viele Beziehungen, man muss sich nur seinen Briefverkehr anschauen. Aber ich muss sagen, dass es auch ein Moment war, in dem wir dank dieser gemeinsamen Lebensform, die wir kultivierten, noch viel näher zusammen gerückt sind. Der Verlag hat sich aufgerichtet und gesagt, gut, sehen wir, was wir zustande bringen. In dieser schwierigen Situation gelang es dem Verleger, alle beieinander zu halten ohne jemanden zu verlieren, im Gegenteil, die vorhandenen Energien noch zu verstärken. O-26, Sprecherin 2/ O-Ton Fernanda Pivano (voice over) Pavese war ja ein sehr zurückhaltender Mensch, aber er besaß eine absolut trockene Art, das allgemeine Elend zu kommentieren - nicht das materielle Elend, sondern das innere Elend. Das waren richtige Lektionen. Pavese war ein großartiger Lehrer des Lebens. Regie: Musik, Ludovico Einaudi, Track 4, ab 2'03 Zitator (auf Musik): Für alle hat der Tod einen Blick. Der Tod wird kommen, und er wird deine Augen haben. Das wird sein wie das Aufgeben eines Lasters, als erschiene im Spiegel ein totes Gesicht, als lauschte man geschlossenen Lippen. Stumm werden wir in den Abgrund steigen. Aussprachen: Cesare Pavese - Tschèsare Pawese Leone Ginzburg - wie auf Deutsch Ghinzburg (bitte nicht Dschinsburg!!!) Natalia - Natalìa (so betont es die Familie) Einaudi - Äinaudi (nicht "ei"!) Regina Coeli - Redschina Cöli Roberto Cerati - Tscherati Elsa Morante - Elßa Morànte (Falls Zweifel bestehen, bitte anrufen, denn die Aussprachebank kennt viele der Eigennamen nicht!) Mögliche Kürzungen: - Zitator S. 3 kürzen: "... kennen lernen möchte." Schnitt, wieder rein bei: "Ich hätte Ihnen so viel zu sagen..." - O 11 weg - O 15 weg - Zitator S. 16, Brief an Jahier streichen, oben bei der Erzählerin dann auch letzten Satz kürzen - S. 19 Zitator unten weg, nach "Pavese begleitete sie." Falls nötig, auch noch Zitator oben auf derselben Seite kürzen, dann nach "Premio Strega bestätigen sollte" Kürzung, Musik, rein bei "Silvester 1949..." - Bei großer Zeitnot: nach O-15 Schnitt, mit Gedicht S. 13 wieder rein 2