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Ihre Augenbrauen wandern ironisch zur Stirn. ?Einen ganzen Sommer lang!?, fühle ich mich genötigt nachzuschieben. ?Der Linksverkehr zumindest ist geblieben...?, sagt sie und zeigt mir ihr feines, spöttisches Lächeln. ?Genießen Sie Ihre Reise!? SIE Erinnerung... Akustische Fläche, surreal SIE ?an die Gesichter, die Kleider der Leute, die Stimmen im Pub, an Regen, der in Fetzen vom Himmel fällt. An das Licht, wenn die Sonne den schwarzen Himmel durchbricht, dieses irre Licht, braun-gelb-pastellgrün, die alten Männer am Straßenrand... Erinnerung an Brenda in Killybegs, Sean in Edenderry... Der erste Eindruck? Ein Land im Baufieber. Neubausiedlung an Neubausiedlung, Reihenhaus an Reihenhaus. Wir sitzen im Auto und schweigen. Als müsste das Land in wenigen Tagen neu aufgebaut werden, denke ich. Die Insel wirkt rastlos. Klar, der Aufschwung, das Wirtschaftswunder, Irland, der ?keltische Tiger... Was hatten wir erwartet? Stille? Stillstand? Die reine Natur? Wir fahren ein Stück an der Ostküste entlang. Steigen irgendwo aus, laufen barfuß ans Meer. Meer, Möwen SIE Ein Kahn schaukelt im Wasser. Kleine Wellen lecken an den geteerten Brettern... Die Luft ist wie Samt. ER Wie alt mag Sean jetzt sein? 70? Oder noch älter? SIE Meinst du, wir würden sein Haus wiederfinden? ER Weiß nicht. Ja, doch, vielleicht... Musik ER In Edenderry sind wir nachmittags um drei. Die Stadt hat sich ausgedehnt wie Hefeteig. Autoschlangen. Wir kommen nur im Schritttempo vorwärts. SIE Edenderry, County Offaly: ?Klein, geduckt, Schlaf vortäuschend?, steht in den alten Notizen: ?Jeder kennt jeden.? ER Wir suchen die Straße, wir finden sie nicht. ?Entschuldigung? Kennen Sie Sean Dunne?? ?Ich bin noch nicht lange hier?, sagt die Frau mit osteuropäischem Akzent. ?Sean Dunne?? Der alte Mann in der Bar kratzt sich das Kinn, ?Sean Dunne...? ?Sean Dunne... Der ist doch gestorben! Ja, der ist tot.? Ein letzter Versuch. Die Frau mit dem Hund, die fragen wir noch. Die Frau nickt: ?Der hat ein Geschäft, oder? Es gibt einen Sean Dunne, der hat ein Internetcafé.? SIE Ein Internetcafé? Das passt nicht. Das Haus sah anders aus. Kleiner irgendwie, davor war ein Garten. Die Frau am Tresen sieht mich an, als wolle sie mein Gesicht Maß nehmen: ?Ich kenne dich.? Und schon kommt ihr Mann zwischen den Computern hervor. Sean SIE Er wirkt blasser als damals. Eingesunkene Ringe unter den Augen, ein paar Falten unter dem Kinn, das Haar weiter auf dem Rückzug. Er ist um nichts dicker geworden. Es ist Sean, unser Sean, der Auswanderer, der ewige Pendler zwischen England und Irland... Wir waren ihm auf Achill Island begegnet. Sein Zelt stand direkt neben unserem. Später haben wir ihn in Edenderry besucht. O-TON Sean Oh, it?s a lot of diference. 15 years ago? ER Könnt ihr euch erinnern? Edenderry vor 15 Jahren? Eine bedrückende Stadt, sagt Sean später beim Tee. Keine Arbeit. Jeder wanderte nach England, Amerika oder Australien aus... Wir Iren, die letzten Deppen, wisst ihr noch? Überall mussten wir um Einlass bitten... Auf sein Gesicht legt sich ein Leuchten, als hätte jemand von innen eine Kerze angezündet. O-TON Sean A radioprogramm resend about letvian village? ER Er habe neulich im Radio von einem Dorf in Lettland gehört, dort lebten 164 Menschen. 60 sind in übriggeblieben. Und wisst ihr, warum? Alle anderen sind in Irland. In Irland! Das ist der Boom, sagt Sean stolz. SIE Ich überlege, wie damals die Küche aussah. Ich erinnere mich an den Kühlschrank, ein uraltes Modell mit abgeplatzter Emaille und an das durchgesessene Sofa. O-TON Sean For the last ten years? ER In den letzten zehn Jahren sind viele aus England zurückgekommen, sagt Sean. Eine halbe Million Iren kehrten nach Hause zurück. Und jetzt? Kommen die Menschen zu uns. SIE Wir sitzen auf Barhockern an einem meterhohen Küchentresen. Mein Blick wandert von oben durch den Raum. Die Ohrensessel und das wuchtige Sofa in königlichem Rot, der Teetisch, antik, die Schrankwand, edel; alles neu. Sean über die Firmen, die sich in Irland niedergelassen haben. ER Als ihr hier wart, hatte Edenderry 4000 Einwohner, sagt Sean und legt Käse auf sein Sandwich. Jetzt sind es 7000. Und in ein paar Jahren werden wir über 15000 sein. Phyllis und ich fliegen drei oder viermal im Jahr in den Urlaub. Wie jetzt war es noch nie. So ein großer Wohlstand... O-TON Sean ?Great prosperity SIE Und wie geht es dir? Sean sieht mich verwundert an. Wie es ihm geht? O-TON Sean Very good. We opened this office 14 years ago, it got better every? ER Besser mit jedem Jahr, sagt Sean und reibt Daumen und Zeigefinger in nervösen Kreisbewegungen gegeneinander. Stephen und David, meine beiden Söhne, bauen sich ein eigenes Haus. Der eine ist Computerexperte, Tag und Nacht beschäftigt, der andere Zimmermann, auch er arbeitet viele Stunden, sonnabends, sonntags. Es gibt ja so viel Arbeit, sagt Sean. Das ist der Boom. Ein Telefon klingelt SIE Als wir das letzte Mal hier waren, da hast du gesagt, du bist ein Landjunge, der in der Stadt welkt und stirbt... Gehst du noch jeden Morgen in die Felder? O-TON Sean The country is disappearing? SIE Na ja, die Landschaft ist verschwunden, weil dort Häuser gebaut werden. Die Landschaft wird eben kleiner. Er zwinkert mir zu. Aber wir können immer noch in die Berge gehen oder auf die Inseln. Letztes Jahr hat der Tourismus einen Rekord gehabt, acht Millionen Besucher. Die Hotels, Bed & Breakfast, alles war belegt. Ich zwinkere zurück: Also?! Wie geht es dir, Sean? O-TON Sean ER Heute habe ich mehr Komfort, vor 15 Jahren habe ich das Leben auch genossen, antwortet er. Ich hatte weniger Geld, aber eine gute Zeit. Nächstes Jahr bin ich 70. Dann gehe ich in Rente und habe wieder eine gute Zeit. Und dann besuche ich euch in Berlin. Sean schaut auf die Uhr. Der Tee ist ausgetrunken, das Sandwich gegessen, die Pause beendet. Das Internetcafé schließt erst um 22 Uhr. Noch viel Arbeit... Musik SIE Wir fahren weiter. Schöne Abenddämmerung. Der Tag zieht sich zurück. Ich gehe meinen Gedanken nach. Die Leute machen einmal Urlaub, und dann kommen sie auf den Geschmack, hat Sean gesagt. Sie haben ein Auto, und dann möchten sie ein größeres. Sie haben Geld und wollen mehr. So ist das Leben, so sind die Menschen, so ist die menschliche Natur. Sean hat recht. War mir das alte Irland lieber? Woanders will man immer das, was man zu Hause nicht mehr bekommen kann! Es ist Mai, der Rhododendron blüht, wir fahren Richtung Süden. ER Stradbally, County Waterford. Maureen SIE Alles an Maureen ist rund. Als hätte sie jemand erschaffen für ein ?Friendly family home of Ireland?. Die Zimmer wirken sanft: taubenblau der Teppich, veilchenblau das Meer von Kissen, himmelblau die Bettwäsche aus Satin... Auf einer weißen Schale liegen Likörpralinen in Silberpapier. Zur Begrüßung gibt es selbstgebackene Mürbeteigtörtchen mit Apfelmus. Und ein Lächeln, das zur rundlichen Ordnung von Maureen Reynolds passt... O-TON Maureen ?We do it 27 years?? SIE Vor 27 Jahren hat sie begonnen, Bed & Breakfast anzubieten. Damals war alles ganz anders. Da war kein Fernseher, kein Tee und Kaffee, den du serviert bekommen hast, es war alles sehr einfach. Sehr anders. Zimmer und Bett. Noch ein Stück Kuchen? fragt Maureen. Dann läuft sie in die Küche und kommt mit einer Landkarte wieder: Das hier ist ein herrlicher Spazierweg! Und von dort hat man einen großartigen Ausblick! Und heute Nacht gibt es in unserem Dorf irische Musik. Im Pub, Stimmen, Fernseher ER Abends um neun ist der Pub noch leer. Ein einsamer Trinker sitzt am Tresen und sieht gedankenverloren auf den riesigen Flachbildschirm. Der Wirt putzt den Zapfhahn. SIE Eine Frau kommt wie ein Windhauch herein. Ihr Kleid ist schwarz, das Dekollete tief, der Mund kirschrot, die Haut weiß wie Milch. Sie sitzt da und schaut in ihr Glas. ER Zehn Uhr. Die Tür klappt auf und zu, der Wirt füllt Glas um Glas, der Raum füllt sich Mensch um Mensch. Gleich wird es losgehen. SIE Die Frau im schwarzen Kleid steht auf und entschwindet, wie sie gekommen ist. Und die Musik? ER Viertel nach zehn. Endlich. Zwei Burschen Anfang Zwanzig tragen Instrumente herein. Ein alter Mann, schwer auf seine Krücken gestützt, müht sich Schritt für Schritt vorwärts. Ein Mädchen legt ihm drei Kissen auf den Stuhl und hilft ihm beim Hinsetzen. Vom Tresen her naht ein Mann Mitte Vierzig, rotes Gesicht, in seinen Bauernhänden ein Tablett mit Bier. Liam und seine Familie. Es kann losgehen. Die Musik beginnt ER Liams Knie wippen auf und nieder, sie folgen dem Rhythmus der Finger, die trommelnd auf der Bodhrán tanzen. Der schlaksige Junge neben ihm spielt das Banjo, als wolle er mit Barney McKenna von The Dubliners wetteifern. Liams Tochter streicht die Fiddle und schwingt ihren Oberkörper im Takt, der Großvater sitzt im Lehnstuhl und bläst inbrünstig auf seiner Mundharmonika. SIE Warum hört kaum jemand zu? Die Gäste schwatzen, als hätten sie die Neuigkeiten eines ganzen Jahres auszutauschen. Die vier spielen wie auf einer einsamen Insel, an die meterhohe, dröhnende Wellen schlagen. Mitten im Spiel legt das Mädchen die Fiddle aus der Hand, greift nach ihrem Handy, schreibt eine SMS. Der Junge sieht sich im Raum um. Die Hände greifen blindlings nach den Knöpfen seiner Ziehharmonika. Liam schlägt mechanisch den Rhythmus, der Großvater starrt müde vor sich hin. O-TON Liam May be next week can different? ER Ach, weißt du, sagt Liam, in der nächsten Woche kann es schon wieder ganz anders sein. Andere Musik, andere Leute. Und manche reden und hören trotzdem zu. Die Menschen gehen in den Pub, weil sie gern reden. Viele leben allein, da ist der Pub der beste Platz, jemanden zu treffen und zu reden. Das ist eben so... Gesang Liam SIE Dann faltet Liam die Arme vor der Brust, klopft mit einem Fuß den Takt und beginnt zu singen, die Augen in eine Ferne weit außerhalb des Raumes gerichtet. ER Als der Boom begann, erzählt uns Maureen am nächsten Morgen, holte die Tourismusbehörde englische Beraterfirmen ins Land. Seitdem gibt es ein Strategiekonzept, so nennt man das wohl. Die Musiker bekommen Geld von der Gemeinde, dafür spielen sie dann einmal die Woche... Nur - in Stradbally gibt es ja kaum Touristen. Müder Beifall, Musik SIE In Dungarvan ist da schon mehr los, sagt Maureen und serviert ein gewaltiges Frühstück: Massen von Schinken und Rührei türmen sich auf unserem Teller, dazu gibt es in Butter gebratene Pilze, gegrillte Tomaten, Würstchen, Blutwurstbuletten, die hier Pudding heißen, Müsli und Cornflakes, Erdbeeren und Joghurt, Toast und Sodabrot. Beim Abschied steckt uns Maureen ihre süßen Pralinen in die Tasche. Stadt ER In Dungarvan beginnen wir ein Spiel. Es heißt: ?Leute angucken und raten, aus welchem Land sie kommen?? Man kann es natürlich nur spielen, wenn man die Leute danach fragt. Also entscheiden wir uns für ein Internetcafé. Computer ER Die junge Frau mit dem dunklen Pagenkopf? Ihr Gesicht? SIE Ich tippe auf Ungarn. O-TON Honorata I come from Poland and i am here over two years? ER Sie kommt aus Polen und hört auf den schönen Namen Honorata. O-TON Honorata SPRECHERIN Seit zwei Jahren bin ich in Irland, weil mein Vater hier war. Der verdient auf dem Bau so viel, dass es zu Hause für die ganze Familie reicht. Ich war 23, hatte mein Ökonomiestudium gerade beendet, da bin ich einfach mitgegangen. Fast zwei Jahre habe ich in einem Imbiss gejobbt, Fish and Chips verkauft, sechs Tage die Woche, zehn bis zwölf Stunden am Tag. Wie viel ich verdiente? 500 bis 600 Euro in der Woche. Jetzt habe ich mein eigenes Internetcafé eröffnet. Die Iren sind wirklich sehr nett. Als ich hierher kam, war mein Englisch sehr, sehr, sehr schlecht. Wenn ich in einen Laden oder ein Büro kam, wusste ich nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Wie soll ich sagen? Die waren aufmerksam. Sie sind einfach freundlich gegenüber den Polen, Tschechen und Deutschen. Ja. Es sind hier viele Polen, Tschechen, Ungarn, Ukrainer, aber sehr, sehr viele Polen. Fast 800. Es ist mein zweites Zuhause hier. Ich möchte hier bleiben für eine lange, lange Zeit. Ich denke nicht, dass ich nach Polen zurückgehen will. Aber mein Vater, der will zurück. Ja, mit Sicherheit. Ich würde hier gern ein Haus kaufen, hoffentlich. Ich muss sehen, wie das Geschäft läuft und hoffe, ich mach ein bisschen mehr Gewinn. Dann sehen wir weiter. Musik ER Am Abend kommen wir in Bantry an. Es ist Sonntag. Die Leute sind unterwegs... Wir werfen einen Blick in eines der Restaurants: weiße Tischdecken, Menübestecke, Gläser für Weiß- und Rotwein. Ein Blick auf die Karte: Fish and Chips kosten 16 Euro. In einem anderen Restaurant, gleich gegenüber: Steak mit Pommes Frites für 28 Euro. Wir kaufen im Supermarkt Brot, Käse und Tomaten und setzen uns draußen an einen Tisch. Er steht direkt vor einer Bar, die ?Taverne? heißt. Halbwüchsige Jungs ER Halbwüchsige Jungen kommen alle paar Minuten heraus auf die Straße, um eine zu rauchen. Ihr Alkoholpegel steigt von Zigarette zu Zigarette. Jugendliche: ?Hey Jim... ER Hey Jim, ruft mir einer zu: Hast Du Crack? Hast Du Crack, Jim? Dann steigt er auf einen Tisch und wiegt sich selbstvergessen in den Hüften. Drinnen fließt das schwarze, cremige Bier in gewaltigen Strömen. Altes Ehepaar SIE Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bleibt ein Ehepaar empört stehen. Früher, da mussten sie ihr Geld zu Hause abliefern. Heute haben sie alles für sich. Und was machen sie damit? Saufen sich die Hucke voll mit Bier, schimpft die Frau. Bier? Das ist Whiskey in Wassergläsern, sagt ihr Mann. Der Lärm der vorbeifahrenden Autos verschluckt ihre Stimmen. Die Jungs und die Folkmusic ER Die Bar wird jetzt quasi von innen nach außen gestülpt. Man trifft sich zur nächsten und zur übernächsten Zigarette. Ein Jeep kommt um die Ecke gefahren und bringt Folkmusic mit. Die Jungs laufen auf die Fahrbahn. Sie stoppen ein Auto; sie steigen aufs Dach. Stoppendes Auto, Tanz auf dem Dach ER Ein wilder, ein ekstatischer Tanz. Als müssten sie noch einmal das Leben so richtig spüren, bevor morgen die Welt untergeht. Sonntag in Bantry... Musik SIE Der vierte Tag und immer noch kein Regen. Der Himmel ist wolkenlos. Hier brechen alle Klischees und alle Klischees blühen auf: Der Rhododendron wirft sein vornehmes Lila in die Landschaft, die ersten Fuchsien tupfen ihr feuriges Rot daneben, der Ginster ergänzt die Farbenpracht mit verführerischem Gelb. Wir fahren Richtung Westen. Wer könnte Westcork und den Ring of Kerry auslassen?! Dort hat die Natur große Klippen an den Rand des Ozeans gesetzt. Wir fühlen uns wie Bergsteiger, die in große Höhen klettern und plötzlich geht ihnen der Sauerstoff aus. Die vielen neuen Ferienhaussiedlungen? Zu protzig, zu viel Stein, zu viel Beton. ER Komm, lass uns ein Stück weiterfahren. Straße mit leiser Musik ER Dingle, County Kerry. Die Straßen eng, die Fassaden der Häuser bunt, die Shops voll mit karierten Tweedmützen, Schafwollpullovern und weißen Linnen. Vor einem Buchladen bleiben wir stehen. Von innen sind Ausschnitte aus verschiedenen Zeitungen an die Scheibe geklebt. SIE ?Es sieht aus, als wäre eine Masernepidemie über Irland hereingebrochen. Satellitenaufnahmen aus den letzten Jahren zeigen, dass die Entwicklung in Irland chaotisch ist. Lasst euch nicht täuschen von den Hochglanzbildern von nebelumhüllten Bergen und wilden weiten Moorlandschaften. Viele Fotos sind alte Aufnahmen aus den Archiven...? ER Ob er uns die Zeitungsartikel kopieren könne? fragen wir Brian, den Verkäufer. Und schon ist er mitten in seinem Lieblingsthema. Irland ist das Land der größten Planlosigkeit, sagt er und seine Mundwinkel bewegen sich nach unten. O-TON Brian So if you sell your sell your land? SPRECHER Die Bauern verkaufen ihr Land. Über Nacht werden sie Multimillionäre. Es heißt immer: ?Die armen Bauern, die armen Bauern!? Es geht im Moment nicht um Entwicklung, sondern um die Zerstörung Irlands. Alles wird Bauland. Das macht die Landwirtschaft tot, das ist unerträglich. Wenn ich Farmer werden will, habe ich heute gar keine Chance mehr. Weil das Land so teuer ist. Das kleine Stück neben meinem kostete eine halbe Million. Ist doch toll für einen Farmer. Du musst nicht mehr über Kühe nachdenken. Einer sagt: Ich baue ja nur ein Haus. Und der nächste sagt auch, ich baue ja nur ein Haus, und so weiter und so fort. Und jeder baut da, wo er sein Land gekauft hat. Jeder darf auf seinem Land bauen. Egal, wie. Alles ist möglich, nichts ist geschützt. ER Brinas Kehlkopf wippt vor Zorn auf und ab. Man geht davon aus, sagt er, dass Dingle in der nächsten Zeit um etwa 350 Einwohner wachsen wird. Und wie viele Häuser sind geplant? Er tippt sich mit dem Finger an die Stirn: 300! Obwohl der Häuserboom eigentlich schon vorbei ist. Guckt euch um, wie viele Häuser leer stehen, sagt er mit einer Miene finsterer Vorahnung. Wohin soll das führen? Eine riesige Welle donnert wie ein Unwetter heran SIE Wir machen einen Abstecher auf die Halbinsel Dingle. Vom Atlantik stürmt es gegen die Fensterscheiben. Am westlichsten Zipfel rollen die Brandungswellen donnernd in die Bucht, schlagen wild und wollüstig an die schwarzen Klippen und werden zu weißem Schaum gerührt. Schneefelder eines Meeresvulkans. Ich beuge mich über den Grat der Klippen und kann mich nicht satt sehen. Bei diesem Anblick wird jedes neue Haus zur Fußnote der Natur. Sicher, die Wildgänse sind zurückgekehrt. Sie bauen sich ihr Nest nah an der Gischt. Wer kann es ihnen verdenken? Und plötzlich beginnt es sanft und heiter zu regnen. ER Wir fahren zurück nach Dingle. Zeit, sich ein Bett zu suchen. ?Old Mill House? - das klingt gut. Bei Veronica SIE Veronica sieht aus wie ein hübscher munterer Vogel. Auf ihrem Kopf wippt eine Art Pferdeschwanz, ragt wie ein Staubwedel in die Höhe. Wenn Gäste an Veronicas Haus klopfen, dann präsentiert sie nicht ihre Zimmer, nein, Veronica präsentiert sich selbst, ihr ganzes quirliges Wesen, ihren wippenden Haarwedel, ihren heftigen Ausdruck, und, wenn?s Not tut, auch ihre Kinder. David muss heute seine Akkordeonkünste vorführen, und Rachel, die ihrer Mutter fast aufs Haar gleicht, trällert dazu. Veronica und Kinder SIE Veronica öffnet die Tür zur Straße und sammelt so ihre Gäste ein. Die werfen nur einen kurzen Blick in die Zimmer mit Aussicht auf den öden Hinterhof. Sie bleiben ja nicht wegen der Zimmer, sie bleiben wegen Veronica. ER Wir verabreden uns für den Abend. Veronica kommt eine geschlagene Stunde zu spät. Ob wir Tee möchten? Auf dem Weg zur Küche wird Veronica leider am Tee kochen gehindert. Das Telefon klingelt. Veronica telefoniert. Telefon, Veronica telefoniert ER Darüber vergeht wieder eine halbe Stunde. Musik, Veronica telefoniert ER Veronica telefoniert mit dem Malermeister Brendan O?Dea. Zwei Zimmer soll er ihr renovieren, zwei kleine, wohlgemerkt, macht 120 Euro pro Tag. Na gut. Aber der Malermeister Brendan O?Dea sagt, er bringe noch einen zweiten Mann mit, anders ginge es nicht. Macht also noch einmal 120 Euro pro Tag. Na gut. Aber er brauche drei Tage, sagt Brendan O?Dea, macht also 780 Euro plus Mehrwertsteuer, ohne Rechnung, Cash. Veronicas Geste ist eindeutig. Sie könnte dem Malermeister Brendan O?Dea den Hals umdrehen. O-TON Veronica Now in the moment? SIE Zur Zeit ist es so, beginnt sie und zieht ihre Augenbrauen dabei mächtig in die Höhe? SPRECHERIN Wenn du einen kleinen Auftrag hast, dann wollen die Handwerker das nicht mehr machen. Elektriker, Zimmerleute und so, die wollen am liebsten nur noch für die internationalen Multis arbeiten, die 50 oder 100 Häuser bauen. O-TON Veronica Now everybody built houses, they built second homes? SIE Wir haben alle unseren Traum sagt Veronica und zieht galant ihren Mund schief. Der Traum von Dingle begann mit Hollywood. Mit Hollywood? O-TON Veronica Oh it did in 1969 when I was? SPRECHERN Es war 1969, ich war elf Jahre alt, da wurde in Dingle der Film ?Ryans Tochter? gedreht, mit Robert Mitchum, dem großen Hollywoodstar, wisst ihr? Wir Mädchen mussten alle unseren Namen aufschreiben. Und wir hofften natürlich alle, in diesem Film mitzuspielen. Am Abend sagte ich zu meinen Eltern: Ich werde es schaffen. Und dann habe ich auf den Anruf gewartet, doch der kam nie. Aber Dingle wurde durch den Film berühmt SIE Und du, Veronica? Was hast du gemacht, um berühmt zu werden? Ich habe einen Priester geheiratet. Veronica lacht. Und alle haben gesagt: Diese verrückte Nudel. Erst kutschiert sie durch die Weltgeschichte, und dann angelt sie sich ausgerechnet einen Priester. O-TON Veronica Well i started in 1982? SPRECHERIN 1982 ging ich nach Südafrika. Ich hatte damals einen Typen da. Einen Monat wollte ich bleiben, daraus sind sechs geworden. Ich mochte Südafrika. Und dort habe ich eine Menge Australier und Neuseeländer kennen gelernt, die reisten um die Welt. Sie sagten: Du hast einen Job? Fünf Tage die Woche von morgens bis abends? Dafür ist doch das Leben zu kurz. Also ging ich nach Australien und traf einen Neuseeländer. Dem folgte ich nach Neuseeland. Von dort ging ich nach Vancouver? Später, in Sydney, traf ich einen Typen, der sagte: Was, du kommst aus Dingle? Du wirst es nicht glauben, ich spare mein ganzes Geld, ich mache jeden Job, bis ich genug zusammen habe, um in Dingle zu leben. Und das war ein Franzose. Dann gewann ich eine Aufenthaltsgenehmigung für Amerika. Also bin ich nach New York gegangen... Musik SIE Veronica löst den Gummi aus ihrem Haar und schüttelt es kräftig. ?Mein Großvater hat mir dieses Haus überschrieben...? Sie springt auf. Wir haben noch zehn Minuten Zeit, um ein Bier zu ordern. Los! Rennen wir. ER Wir schauen bei O?Flahertys vorbei. Keine Lifemusik heute. Nichts los hier, sagt Veronica und läuft weiter, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Wir kleben an ihren Fersen. Aus dem ?Small bridge? dröhnt Musik. Im Pub ER Hier ist es rappelvoll. Veronica manövriert uns durch die Massen bis zum Tresen. Was für eine Frau! Sie ordert nicht nur Bier, sie ordert auch Menschen. Ein Blick, und schon ist sie mit John und Kathy aus New York im Gespräch. Was bist du, ein richtiger Sheriff? Und alles echt? Sie kneift in Johns Oberarme. Am nächsten Morgen stehen John und Kathy mit ihren Koffern vor Veronicas Tür. Frühstück ohne Veronica SIE Aber dann gibt es ein Problem. Die Gäste müssen mit Tom vorliebnehmen. Tom ist Veronicas Mann, der ehemalige Priester. Ein großer, schlaksiger Kerl, der nicht viel redet. Und das Frühstück sieht aus, als fühle sich Tom noch immer dem Armutsgelübde verpflichtet. Die englische Lady am Nachbartisch rümpft die Nase: Kein Müsli, kein Obst, kein Joghurt, nur ein einziges Spiegelei und dieser jämmerliche Lappen von Schinken. Hier wird ja selbst am Toast gespart. Aus der Küche dringt der Geruch von altem Fett. Und Veronica? Beglückt die Gäste in ihrer zweiten Pension, unten am Hafen. Musik ER Wir fahren weiter Richtung Norden. SIE Es ist, als malte ein Pinsel mit riesigem Schwung den Himmel schwarz. Die Wolken hängen wie Beutel über dem O?Connor Pass. Als hätten sie nur auf uns gewartet, platzen sie exakt in dem Moment, als wir oben ankommen. Keine Sicht! Plötzlich malt der Pinsel eine Sonne in den Himmel. Lichtwechsel. Farbenwechsel. Alles wird klar, selbst die Gedanken: Wo sind eigentlich die alten Männer geblieben? Damals saßen sie überall am Straßenrand. Ich habe noch keinen einzigen gesehen. ER Vor Galway weitet sich die Straße zur Autobahn. Rechts und links große Industriehallen. Autohäuser aus Glas bilden ein Spalier in die Stadt hinein. Galway, Straßenmusik SIE Dieser Mai hat eine gewisse Leichtigkeit, viel entblößte Haut, nackte Zehen in Sandalen, Gelächter vor den Pubs. Rauchverbot drinnen heißt Begegnung draußen. Wo kommt ihr her? fragt eine Frau Mitte 40. Feine Fältchen um den Mund, Zöpfe wie ein Hippie-Girl, auf dem T-Shirt der Aufdruck: ?Cannabis is good for you!? Aus Berlin? Oh, ich war lange in Deutschland, in Österreich habe ich meinen Mann kennengelernt... O-TON Margret ?So ist das Leben. Geht alles rundum...? SIE Das Leben ist wie eine Welle, sagt sie. Mal schwimmt man oben, mal unten. Irland schwimmt jetzt oben. Und ich? Halte mich gerade so über Wasser. Sie prostet uns lachend zu. Ich hab?s gut gehabt in Deutschland. Ich hoffe, die deutschen Gastarbeiter haben es auch gut bei uns. Guckt mal da drüben, der Engländer, der jobbt hier in Galway als Keller. In Margrets grünen Augen sitzt eine leises Funkeln, wie bei einer Katze: Ein Engländer! Ihr versteht, was ich meine? O-TON Magret Well, I left Ireland in 1982. Weil damals, es hat keine Arbeit gegeben. Und denn jeder ist ausgewandert. When I wantet to have a child, than come back here. It?s a good? SIE Acht Jahre war Margret im Ausland. Sie ist zurückgekommen, als sie ein Kind wollte. Irland ist ein guter Ort für ein Kind, sagt sie. Ihr Mann wollte Musik machen, auch dafür ist Irland besser als Deutschland. Wenn du jung bist, denkst du, dein eigenes Land ist das Letzte. Besonders wir in Irland kennen dieses Gefühl, isoliert und engstirnig zu sein. O-TON Magret The Irish people still quiet spiritual... SIE Die Iren sind immer noch sehr spirituell und naturverbunden, sagt Margret. Aber jetzt ist das Geld die neue Religion. Jetzt haben sie keine Zeit mehr zu musizieren oder andere Dinge zusammen zu machen. Ich denke, in schlechten Zeiten kommen eine Menge guter Dinge zum Vorschein und in guten Zeiten eine Menge schlechter Seiten. Straße, eine Norwegergruppe singt, Stimme eines altes Mannes Sie Guck mal, diese Gangster, schimpft ein alter Mann und zeigt auf den Afrikaner, der gerade seine Trommel auspackt. Kommen alle her, leben auf unsere Kosten, wollen gute Jobs und unser gutes Geld. Alles Gangster, Gangster. ER Im Café sind wir mit Marlena verabredet. Die Kellnerschürze unter dem kurzen Mäntelchen, rotes Handtäschchen, so kommt sie angelaufen. O-TON Marlena My name is Marlena, probably like Marlena Dietrich? SIE Für Marlena gibt es nur ein Wort: Reizend! Sie hat ein fein geschnittenes Gesicht, umrahmt von einer flotten Kurzhaarfrisur. Ihre Gäste schaut sie durch eine Monokelbrille an, zugewandt, aber immer ein bisschen distanziert. Zumindest, solange sie im Dienst ist. Jetzt, in der Mittagspause, zwitschert sie ungezwungen los. Warum sie nach Irland gekommen ist? O-TON Marlena The first reason is.... SPRECHERIN Zuerst, weil ich Englisch lernen wollte. Ich konnte nicht mehr als: Guten Tag, mein Name ist Marlena, ich komme aus Polen, ich suche Arbeit. Ich bin aus der Generation, die in der Schule noch Russisch gelernt hat. Der zweite Grund ist: Nach dem Studium habe ich in Polen keine Arbeit gefunden. Und der dritte Grund: Ich spare für eine lange Reise nach Lateinamerika. Nach diesem Sommer ist es hoffentlich soweit. ER Marlena liebt ihr Heimatstädtchen in der Nähe von Poznan. Aber Arbeit ist für eine Kulturanthropologin nicht so leicht zu finden. Unglücklicherweise sucht ihr Mann einen anspruchsvollen Job in derselben Branche. Und ehe sie zu Hause sitzen und nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen sollen, kellnern sie lieber in Galway. Unfortunately ? unglücklicherweise ? scheint eines von Marlenas Lieblingswörtern zu sein. Allerdings ? ohne dass sie das Gegenwort fortunately verwendet... O-TON Marlena For polish people you have everthing... SPRECHERIN Für Polen findest du hier alles. Du findest polnische Zeitungen, polnisches Fernsehen... Einige Iren empfangen uns sehr offen und warmherzig, andere sagen, die Polen sind überall, wir hassen sie, sie sind dreckig, sie klauen uns die Jobs. Ich habe einen irischen Chef, der hasst die Polen total. Er zeigt das auch offen. ?You fucking polish girl!? sagt er. Ihr kommt nach Irland! Und ich antworte: Könnt ihr euch nicht erinnern an Irland vor 40 oder 50 Jahren, als die Situation die gleiche war wie heute in Polen? Die Iren gingen in die USA und Großbritannien auf der Suche nach einem besseren Leben. Oh, nein, nein, sagt er. Manchmal ist das wirklich hart. Für mich ist das Wichtigste herauszufinden, was mich wirklich glücklich macht. Ich verzichte lieber auf Geld und mache das, was mir Spaß macht. Ich möchte in einem Museum arbeiten oder in einer Kultureinrichtung, ich möchte nach Hause zurück. Ich vermisse es so sehr. Das ist nicht einfach. Ich hoffe, dass es in Polen besser wird, doch unsere Regierung ist so schlecht, aber das ist ein Extrathema, darüber könnten wir zwei Tage lang reden. ER Marlena nippt an ihrem Cappuccino, pickt ein paar Krümel vom Schokoladenkuchen auf unserem gemeinsamen Teller, guckt auf die Uhr. Ich muss wieder los, mein Chef ist streng, sagt sie. Gebt mir eure Email-Adresse, ich schicke euch ein paar Fotos aus Südamerika. Dann steht sie auf, greift nach ihrem Handtäschchen, und schon ist sie verschwunden. Wir fahren weiter Richtung Norden. Musik SIE Killybegs in Donegal ist unser nächstes Ziel. Die kleine Hafenstadt, in der wir vor zwölf Jahren Brenda trafen. Brenda hatte damals ihren Ehemann Mike verlassen, und die Klatschbasen zerrissen sich die Mäuler darüber. Wir wollen wissen, wie es Brenda O Sullivan ergangen ist. ER In ihrem Haus wohnt eine Familie aus Lettland. Keiner weiß, wo Brenda heute lebt. SIE Auf der Suche nach Brenda finden wir Larry. Als er die Tür seines Hauses öffnet, möchte ich am liebsten gleich wieder umkehren. Wie ein zerschundener Kater sieht er aus. Als hätte man ihn früh in die Wildnis ausgesetzt, ihm das Fell gerissen, das Auge verletzt, die Manieren geraubt. Während er mit mir redet, pult er sich in den arg beschädigten Zähnen: Wollen Sie sich die Zimmer ansehen? Ich sage nur aus Höflichkeit: Ja. Zögerlich betrete ich sein Haus... Große Fenster, ein traumhafter Blick auf den Hafen, einfach die Möbel, behaglich die Atmosphäre. ?Ein Glas Rotwein?? fragt Larry. Ich sage verwundert: Ja! Larry SIE Es dauert nicht lange, und wir sitzen vor seinem Haus, trinken Rotwein und plaudern. Sein Nachname ist Barnes. Nicht sehr irisch, oder? Der Name ist nordirisch, sagt Larry. Meine Mutter ist aus Donegal, aber sie hat einen Belfaster geheiratet. Es war nicht gerade einfach, wie ihr euch vorstellen könnt. Sie, eine Katholikin, er ein Protestant... Sie haben in England geheiratet, gingen dann nach Belfast, dann nach Killibegs, sie passten nirgendwo hin, darum sind sie wieder nach England gegangen... Da wurde Larry geboren. ER Ein Auto der gehobenen Mittelklasse hält vor dem Haus. Larry stellt uns seinen großen Bruder Stephen vor. Vor Larrys Haus SIE Was für ein ungleiches Paar! Ein jung gebliebener englischer Herr und ein zu früh gealterter irischer Bengel. ER Stephen jedenfalls hat eine Geschichte, die man bei einem Klassentreffen wunderbar vorzeigen könnte: Geboren in den Bergen von Donegal, zur Schule ging er in Lancashire in Nordengland, das College besuchte er in Hampshire in Südengland, er fand eine Frau, bekam zwei Kinder und einen sicheren Job bei der British-Telekom. Jetzt ist er zurückgekehrt in die Berge von Donegal. Wegen des Booms? O-TON Stephen Well, Killybegs is change. The big fishing boom has gon? ER Boom? Hier gibt es keinen Boom, erwidert Stephen. Wir haben einen ausgebauten Hafen, eine moderne Fischfabrik, aber der Fischfang ist zurückgegangen in Killybegs. Weil sie nicht mehr so viel fangen dürfen. Die EU hat Irland auf die Beine gebracht, aber sie hat den Fischfang gestoppt. Den Boom, den gibt es in Dublin, wo die Multis sitzen, aber nicht hier in Kyllibegs. Ich bin wegen der Natur zurückgekommen und weil ich jetzt Rentner bin. Stephen hat den typischen Donegal-Akzent, stimmt?s? sagt Larry. Larry SIE Kommen wir also zu Larry. Was könnte Larry beim Klassentreffen erzählen, gesetzt den Fall, er würde überhaupt hingehen? Ich habe zehn Jahre lang meine schwer demenzkranke Mutter gepflegt, könnte er sagen. Ich habe sie gewaschen, gefüttert, ihr die Windeln gewechselt... Sie ist vor drei Wochen gestorben... Ich biete Bed & Breakfast an, könnte er sagen. Und abends brate ich für meine Gäste fangfrischen Fisch. Dazu gibt es Gemüse mit Pellkartoffeln und spanischen Wein. Und zum Dessert backe ich Apfelkuchen. Dafür verlange ich acht Euro, so etwas findet ihr sonst kaum noch in Irland. Das könnte Larry sagen, aber was würde er wirklich erzählen? Ich habe einen Bruder, so würde er beginnen, der heißt Stephen, und der hatte 40 Jahre lange einen sicheren Job bei der englischen Telekom. Er besitzt hier ein Ferienhaus, würde er fortfahren, und er baut sich noch ein größeres daneben. Und du, Larry? Vielleicht würde ja mal einer nachfragen. Larry würde eine Pause machen, die Schultern heben und lakonisch antworten: Ich habe jeden Job gemacht, den ich kriegen konnte. Eine Frau, Kinder? Ich habe meine Mutter gepflegt. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Und dann würde er wieder über seinen großen Bruder reden. Im Pub, Musik ER Abends sitzen wir mit Stephen und Larry im Pub. Ihr habt nach dem Boom gefragt. Ich erzähle euch eine Geschichte, sagt Stephen. Ein Mann ist in Dublin zu Reichtum gekommen. Also kaufte er hier vor zehn Jahren das erste Grundstück. Er setzte ein paar Häuser drauf und verkaufte sie. Die Sache lief gut. Also kaufte er noch mehr Land und setzte wieder eine stattliche Anzahl von Häusern drauf. Die Banken gaben ihm großzügige Kredite und selbst die Behörden konnte er um den kleinen Finger wickeln. Für diesen Mann läuft die Sache gut. Er bestimmt hier die Preise. Es ist sein Boom. ?Ich habe ein Haus, mir geht es gut.?, sagt Larry. ?Und wenn immer mal einer kommt, der ein Zimmer sucht, dem brate ich Fisch.? Musik, stilles Tal SIE Wenn ihr Irland sucht, sagt Stephen plötzlich, dann kommt in unser Tal, wo unsere Mutter geboren wurde. Da findet ihr sie, die irische Stille. Wir finden sie wirklich. Jetzt können wir uns getrost auf die Rückreise machen. Musik SIE Halt an! Da! Der erste alte Mann am Straßenrand! An der Straße mit einem alten Mann SIE Er heißt Patrick Duffick, ist groß und schwer und hat eine Haut wie grobe Leinwand. Als wir das letzte Mal hier waren, sage ich, saßen überall alte Männer am Straßenrand und schauten den Autos hinterher. Sie sind verschwunden. Sie scheinen der letzte zu sein... Der alte Patrick kratzt sich sehr ernsthaft das Kinn. O-TON Patrick When I was growing up... SIE Na ja, früher, da standen die Großmütter und die Großväter zusammen an der Ecke vor ihrem Haus und hielten einen Schwatz. Und heute? Die jungen Leute haben Arbeit und müssen weit fahren. Und die Großväter und die Großväter passen auf die Enkelkinder auf. Keiner hat mehr Zeit, miteinander zu reden. Meine Nachbarn, die haben vier Jungen und ein Mädchen. Zwei arbeiten in Dublin, einer in Australien, einer in Galway, und die Tochter in Belfast. Sehr traurig, aber so ist es. Aber sie treffen sich doch ab und zu im Pub, oder nicht? Ich habe noch nie in meinem Leben Alkohol getrunken, sagt der alte Patrick und lächelt weise. Und trotzdem bin ich 81 Jahre alt geworden. 7up, das ist meine Medizin. Wohin wollt ihr? Nach Dublin? Ich hoffe, das Wetter hält. Damit ihr eine angenehme Reise habt. Werdet ihr wiederkommen nach Irland? Musik ER Die Fahrt nach Dublin dauert nur wenige Stunden. Wieder sitzen wir schweigend im Auto. SIE Woran denkst du? ER Mir gehen die Zeilen von Edna O?Brian nicht aus dem Kopf. Musik vermischt sich mit einem Zitat aus der Sendung ?Irland 1995? SIE Irland zu verlassen bereitete mir keinen Trennungsschmerz. Ich nahm das Postschiff, wie die meisten anderen auch, blieb die ganze Nacht auf, dachte daran, wie Mister Thakery und Mister Heinrich Böll mit dem Schiff hergekommen waren, um müßig über Irland zu schreiben? Musik verschluckt den Text - 1 -